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Hauptkommissar Stefan Margret und seine SOKO stehen vor einem Rätsel, denn der Giftgasanschlag auf das Finanzamt am frühen Morgen ist nicht das, wonach es aussieht. Brauchbare Spuren gibt es auch keine.
Erst als die Ermittler die Nachforschungen vorantreiben, indem sie ungewohnte Wege beschreiten, wird nach und nach ein teuflischer Plan sichtbar.
Doch der Täter ist ihnen immer einen Schritt voraus.
Kommissar Margret setzt alles auf eine Karte, um das Leben Unschuldiger zu retten, und gerät nun selbst in Lebensgefahr.
Kann er diesen bizarren Fall lösen, bevor weitere Morde geschehen?
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Niemand bemerkte an diesem frühen Montagmorgen den dunkel gekleideten Mann, der leise die Haustür aufschloss, zwei Stockwerke nach oben schlich und dort ebenso geräuschlos in seine Wohnung gelangte.
Vor den Fenstern hingen Rollos, wenig Licht drang in den Raum. Der Mann schaltete den Fernseher an. Morgenmagazin, Sportberichterstattung. Die Nachricht hatte sich also noch nicht verbreitet. Er warf den Kaffeeautomaten an und sah, wie sich wenig später der braune, duftende Strahl langsam in den Becher ergoss.
Er trank einen Schluck und wanderte im Raum umher. Das Pochen in seinen Schläfen war nicht mehr so stark, sein Atem beruhigte sich allmählich. Geschafft. Alles lief wie am Schnürchen. Rein, zack, raus. Genau nach Plan. Das traute ihm niemand zu – strikt nach Plan zu handeln. Zu impulsiv, sagten sie. Unbeherrscht. Diesmal nicht. Zwar mit Unterstützung, aber geschafft.
Im Fernsehen immer noch das Morgenmagazin. Das Wetter. Regen, wie immer. Es sollte noch trüber werden. Wie recht sie hatten, die Meteorologen, wenn auch auf eine andere Art und Weise. Er schaltete auf den Newskanal. Immer noch nichts. Ruhig bleiben, dachte er. Die Nachricht wird kommen. Wieder Morgenmagazin. Jemand stellte ein neues Kochbuch vor.
Er ging zum Fenster, schob mit dem Finger das Rollo etwas zur Seite, nur einen kleinen Schlitz. Nichts. Niemand. Keiner war ihm gefolgt. Er hatte gut aufgepasst und Tage vorher die Flucht mehrfach geübt. Mit dem Fahrrad zu fliehen, war in Nordstadt um diese Zeit genau die richtige Strategie. Dadurch blieb er flexibel und konnte Wege fahren, wohin kein Auto ihm folgen konnte.
Er setzte sich in einen schwarzen Ledersessel, der mit einem über Eck stehenden Sofa eine Sitzgruppe bildete. Er atmete tief durch und merkte, wie allmählich die Anspannung von ihm abfiel. Trotzdem pulsierte sein Blut im Kopf noch. Im Fernsehen nichts Neues. Die hatten doch keine Nachrichtensperre verhängt? Eher nicht, denn jeder wusste, wie wichtig die ersten Stunden nach der Tat für die polizeilichen Ermittlungen sind. Vielleicht feilten sie noch an der richtigen Message. Er trommelte mit den Fingern auf der Sessellehne.
Das Telefon klingelte. Die Nummer kannte er. Er schaltete den Fernseher auf lautlos und drückte auf Annehmen.
»Hallo.«
»Sie haben es noch nicht gebracht. Ist was schief gegangen?«
»Nein. Es lief alles wie geplant. Keine Sorge.«
»Gut. Wie viele?«
»Vielleicht zehn. Ich habe nicht gezählt.«
»War sie dabei?«
»Ich glaube nicht. Urlaub hatte sie keinen. Vielleicht hatte sie sich versteckt. Die Teeküche war abgeschlossen.«
»Hat dich jemand erkannt?«
»Nein. Ging alles ganz schnell.«
»Gut. Also weiter nach Plan.«
»Ja. Genau. Treffen wie vereinbart, wenn sich die ersten Wogen gelegt haben.«
»Klar. Ich bereite alles Weitere vor. Wir wollen ja umfassend informiert sein.«
»Richtig. Bis dann.«
»Pass auf dich auf.«
»Du auch.«
Er drückte den roten Knopf auf dem Display und schaute auf den Bildschirm. Jetzt kam Bewegung in die Sache. Die Moderatorin unterbrach ihre Ansage, das Hintergrundbild wechselte. Sie bekam Zettel zugesteckt, die sie rasch überflog. Sie hob die Augenbrauen, der Mund öffnete sich ein wenig. Dann schaute sie nach links und rechts. Ein Zeichen von Überraschung. Ein leichter Anflug von Angst war auf ihrem Gesicht zu sehen oder täuschte er sich da? Am unteren Rand des Bildschirms blendete der Sender eine durchlaufende Schrift ein:
+++ Breaking News. Anschlag auf das Finanzamt in Nordstadt. Mehrere Opfer. +++
Er musste grinsen. Genauso hatte er sich das immer wieder ausgemalt und jetzt war es eingetreten. Der Wortlaut war fast identisch mit seinen Vorstellungen. Er holte sich einen zweiten Becher Kaffee, setzte sich wieder in den Sessel und ließ den Ton stumm. Wie gebannt schaute er auf den Newsticker und sog jedes Wort ein. Jetzt erneuerte der Sender den Stream.
+++ Breaking News. Beim Anschlag auf das Finanzamt in Nordstadt voraussichtlich ein Dutzend Tote. Gelände von den Sicherheitsbehörden abgeriegelt. +++
Schritt zwei in der Kommunikation. Ungefähre Zahl der Opfer, mehr nicht. Er ging ins Bad und nahm eine heiße Dusche. Die nächste Nachricht würde etwas dauern. Zeit, sich auf den Tagesjob vorzubereiten. Es läuft, wie es laufen muss, dachte er. Er pfiff. I don’t like Mondays.
Der Mann trocknete sich ab und setzte sich in den Sessel. Er biss in einen Apfel. Granny Smith. Wieder wechselte die Newszeile auf dem Bildschirm.
+++ Breaking News. Anschlag auf Finanzamt. Erste Anzeichen deuten auf Giftgas hin. Zahl der Toten unklar. +++
Der Mann im Sessel nickte. »Na also, geht doch«, murmelte er und griff nach einem weiteren Apfel.
Er blickte mit den Augen auf einem blauen Müllsack, den er gestern Abend auf dem Sofa deponiert hatte. Er stand auf und steckte die gerade getragene Kleidung hinein. Dann band er den Sack sorgfältig zu. Auf dem Bildschirm erschien eine neue Nachricht.
+++ Breaking News. Bei Giftgasanschlag auf Finanzamt 13 Tote. Einer oder mehrere Täter. Kein Bekennerschreiben. Terrorakt nicht ausgeschlossen. +++
Der Mann schaltete den Ton des Fernsehgerätes wieder auf laut. Der Sender kündigte in einer halben Stunde eine Sondersendung an. Ein Reporter vor Ort wurde live zugeschaltet. Wortreich teilte er mit, dass er auch nichts Näheres wusste. Bilder von Passanten und Schaulustigen. Auch sie hatten nichts gesehen oder gehört. Interviews mit Betroffenen. Einige weinten.
Er schaltete den Fernseher aus. Zeit, zu gehen. Er hängte sich eine Tasche um und griff sich den Müllsack. Genauso geräuschlos, wie er gekommen war, verließ er die Wohnung. Vor der Haustür stopfte er den Sack in einen Müllcontainer. In einer Stunde kam die Müllabfuhr. Dann würde er bereits bei der Arbeit sein und erstaunt die neuesten Nachrichten von seinen Kollegen entgegennehmen. Alles lief nach Plan.
Hauptkommissar Stefan Margret schaute in den Spiegel und dachte nur ein Wort: Urlaub.
Er nahm sich an diesem Morgen keine Zeit, sich genauer anzuschauen, wusste er doch, wie er im Moment aussah: Dunkle Schatten unter den Augen, leicht gräulicher Teint, Dreitagebart und erste graue Haare in seinem ansonsten braunem, dichten Haarschopf.
»Hier braucht jemand ganz dringend Erholung«, murmelte er. »Jetzt packen und dann nichts wie weg.«
Der letzte Urlaub war lange her. Kein Wunder, dass ihm die letzten Tage im Dienst immer schwerer gefallen waren. Gestern hatte er eine Zeugin angeschrien, weil sie seine Fragen zu umständlich beantwortet hatte und vorgestern hatte er einen Verdächtigen mit beiden Händen am Kragen gepackt und geschüttelt. Das hatte zwar eine gewisse Wirkung auf das anschließende Geständnis gehabt, aber ihm war klar geworden, er brauchte dringend eine Auszeit. Oberstaatsanwalt Lutz Legat stimmte nach seinem Hinweis auf die gute Aufklärungsquote zu, dass Margret sich vier Wochen aus dem Dienst, wie er es nannte, rausschießen konnte.
Der Kommissar inspizierte den gepackten Rucksack. Alles drin, kein Gramm zu viel. Wichtig für eine Wanderung in Skandinavien. Er zog sich die Wanderschuhe an, die er sich bereits vor einem halben Jahr gekauft und gut eingelaufen hatte. Er liebte es, vorbereitet zu sein, zumindest, was die Ausrüstung betraf. Die Route hatte er nur grob festgelegt. So blieb er flexibel. In vier Wochen, dachte er, würde man selbst im weiten Skandinavien eine Menge sehen können.
Das Telefon klingelte. Auf dem Display stand ›Lutz‹. Sicher wollte er ihm einen schönen Urlaub wünschen.
»Hallo und grüß Gott, Herr Oberstaatsanwalt. Du willst mir sicher eine gute Reise wünschen.«
»Hallo Stefan. Gut, dass ich dich noch erwische. Ich dachte schon, du wärst weg.«
»Bin ich im Prinzip auch. Ich wollte gerade zum Zug. Das Taxi müsste gleich hier sein.«
»Stefan, du musst deinen Urlaub um zumindest einen Tag verschieben. Ich brauch dich hier.«
»Das ist jetzt nicht dein Ernst, Lutz?!« Margret ballte die rechte Faust und spürte, wie ihm die Zornesröte in den Kopf schoss.
»Wir hatten den Urlaub doch abgemacht. Du hast selber gesagt, ich müsste mal dringend einen Tapetenwechsel vornehmen. Was kann denn schon so wichtig sein?«
»Du hast heute noch nicht ferngesehen, oder? Schalt mal ein.«
Widerwillig ergriff Margret die Fernbedienung und schaltete sein Gerät ein. Im TV waren Bilder vom Finanzamt zu sehen, eine Absperrung und jede Menge Neugieriger. In dicken Lettern hieß es über den Bildern ›Giftgasanschlag. Polizei tappt im Dunklen‹.
Margret hielt die Luft an und schaute gebannt auf den Bildschirm.
»Was ist da passiert?«
»Wissen wir noch nicht genau. Gegen sechs Uhr, kurz nach Öffnung des Finanzamtes für die Angestellten, hat ein Verrückter dreizehn Angestellte umgebracht. Bisher gehen wir von einem Täter aus, der offensichtlich über alle Berge ist.«
»Wer bringt denn um sechs Uhr morgens so viele Leute um?«
»Das wüsste ich auch gern, Stefan. Wir wissen auch noch nicht, ob es eine Amoktat war oder vielleicht sogar ein terroristischer Gewaltakt. Jedenfalls brennt die Hütte und du musst mit zum Tatort. Das LKA und der Verfassungsschutz rollen auch schon an. Der Krisenstab steht, ich soll den zunächst leiten. Ich brauche jetzt jeden erfahrenen Beamten und kann auf dich unmöglich verzichten. Ich hole dich gleich ab.«
Margrets Laune verschlechterte sich. Er versuchte es mit einem letzten Aufbäumen.
»Lutz, kannst du nicht den Behrens mitnehmen? Du weißt, wie wichtig der Urlaub für mich ist.«
»Stefan, der Behrens ist okay, aber ich brauche jemanden, der auch mit dem LKA umgehen kann. Und wenn ich richtig liege, übernehmen die den Fall sowieso. Das heißt, du fährst spätestens in zwei Tagen. Dann arbeitet der Behrens denen zu und du betrachtest das in aller Ruhe aus der Ferne. Komm, gib dir einen Ruck und lass uns zumindest zusammen den Tatort besichtigen. Anschläge haben wir hier nicht jeden Tag.«
»Zwei Tage, mehr nicht.«
»Okay, Deal. Und jetzt komm raus. Ich stehe mit dem Wagen vor der Tür.«
Widerwillig stellte Margret den Rucksack in die Ecke. »Zwei Tage, dann bin ich hier weg«, murmelte er und schloss die Wohnungstür hinter sich. Sein Gefühl sagte Stefan Margret etwas anderes.
Sie fuhren nur eine kurze Strecke, der Tatort lag am Rande der Innenstadt in der Nähe von Margrets Wohnung. Die Polizei hatte das Verwaltungsgebäude großräumig abgesperrt. Trotzdem ließen viele Schaulustige es sich nicht nehmen, einen Blick auf das Geschehen zu werfen.
Margret fluchte: »Immer das Gleiche. Gaffer.«
Legat parkte den Wagen in einer Seitenstraße. Sie stiegen aus und gingen auf einen Polizeibeamten zu, der beim Absperrband stand.
»Hallo Norbert, ganz schön was los«, rief Margret ihm zu.
»Hallo Herr Hauptkommissar. Ja, heute ist ein besonderer Tag. So viel Aufmerksamkeit bekommen wir nicht alle Tage«, entgegnete der uniformierte Beamte und versuchte ein Lächeln. Es gelang nicht, auch weil er merkte, dass der Kommentar angesichts des Geschehens unpassend war. Er räusperte sich.
»Die anderen sind auch schon da«, sagte er dann und zeigte auf die Fahrzeuge der Feuerwehr und des Technischen Hilfsdienstes. »Die werden wir auch alle brauchen. Der Katastrophenschutz ist informiert, ebenso der Landkreis. Das volle Programm halt.«
Margret nickte.
»Verdammtes Durcheinander«, murmelte Legat. »Was ist das denn für eine Truppe dort?« Er zeigte auf eine Gruppe in Zivil, die sichtlich geschockt von einigen Personen betreut wurde.
»Das sind die Psychos, ich meine, unsere Katastrophenbetreuer, die anderen sind Mitarbeiter des Amtes. Alle richtig fertig. Ist ja auch kein Wunder.«
»Und was ist das da hinten?«, fragte Margret den Beamten und zeigte Richtung Straße, wo eine Schar schwarz gekleideter Menschen mit Spruchbändern herumlief.
»Das scheint eine Art Demo zu sein. Leute, die gegen den Staat sind. Tritt jetzt vermehrt auf,« erläuterte Norbert.
»Reichsbürger?«, fragte Lutz Legat.
»Kann sein,« entgegnete der Beamte. »Von hier aus schwer zu erkennen. Wundert mich, dass die hier in aller Herrgottsfrühe schon rumlaufen.«
»Danke Norbert. Das betrachten wir später. Wir gucken uns jetzt erst einmal den Tatort genauer an.« Margret wandte sich zu Legat. »Suchst du nach dem Leiter des Finanzamtes und schaust nach den Einsatzleitern?«
Legat nickte stumm.
»Gut, ich gucke nach den Opfern und versuche, was von den Ärzten zu erfahren. Ich schlage vor, wir treffen uns später.«
Legat nickte erneut.
Margret ging Richtung Haupteingang. Dort lagen einige mit Tüchern verdeckte Opfer auf dem Boden. Ein Mann in weißem Ganzkörperanzug stand daneben und tippte auf seinem Tablet. Er erkannte Margret und nickte.
»Hi Stefan. Schöner Mist. Guck dir das an. Dreizehn Opfer. Das habe ich so noch nicht gesehen.«
»Hi Lutter. Lange nicht gesehen. Was ist denn genau passiert?«
Margret schaute auf den kleinen Mann, den er um zwei Köpfe überragte. Dr. Manfred Lutter, tatsächlich fast kleinwüchsig und ein in Fachkreisen geschätzter Arzt, guckte zerknirscht.
»Der Täter hat die Opfer wahrscheinlich mit einer Art Gift angegriffen. Wie genau, kann ich noch nicht sagen. Im Halsbereich, also da, wo ich mit einer Spritze hineinstechen würde, kann ich so auf den ersten Blick nichts Auffälliges erkennen. Auch im Kopfbereich nichts. Wenn ich nicht wüsste, dass hier jemand eingedrungen ist und die Leute angegriffen hat und ich den hier einzeln angetroffen hätte, dann wäre ich von Herzstillstand oder etwas Ähnlichem ausgegangen. Das ist seltsam.«
»Keine Anzeichen eines Kampfes?«, fragte Margret.
Der Arzt hob ratlos die Hände und schüttelte den Kopf.
»Nee, nichts.«
»Da werden die Gerichtsmediziner sehr gründlich untersuchen müssen. Ich befürchte fast, die finden nichts,« sagte Dr. Lutter.
»Wieso glaubst du das?« Margret hob die Augenbraue.
»Nur so ein Gefühl. Das scheint mir generalstabsmäßig geplant und durchgeführt worden zu sein.«
»Tja, könnte sein,« meinte Margret. Er rieb sich sein Kinn. »Seltsam. Haben wir Zeugen?«
»Einen von der Security. Namen weiß ich nicht. Musst mal einen Kollegen fragen. Hat aber wohl auch nichts gesehen. War im anderen Gebäude.« Dr. Lutter zeigte auf einen kräftigen und drahtigen Mann im schwarzen Outfit, auf dessen Rücken in großen Buchstaben ›Security‹ stand.
»Okay, mit dem unterhalte ich mich später. Wir sollten erst nachsehen, ob es noch andere Opfer gibt und dann alle zusammen in die Rechtsmedizin bringen. Ich brauche so früh wie möglich Todesursache und Begehungsweise.«
Dr. Lutter nickte.
»Geht klar, Margret. Wir beeilen uns. Die Kollegen suchen das Gebäude schon ab.«
Margret schaute sich um und entdeckte den Kollegen Frank Rother.
»Hey Rother. Warst du als Erster am Tatort?« Margret ging auf ihn zu.
»Ja, war ich. Wir erhielten einen Anruf von dem Wachmann und waren zehn Minuten später hier«, entgegnete der Polizist.
»Okay, was habt ihr gesehen?«, fragte Margret.
»Zwei Tote vor dem Haupteingang.«
»Ich denke, der war zu.« Margret hatte einen Notizblock gezückt und schrieb hinein.
»Ja, war der auch, aber eines der beiden Opfer hatte wohl noch die Kraft, den aufzuschließen und das war’s dann«, sagte Rother.
»Und was habt ihr gemacht?«, wollte Margret wissen.
»Dann sind wir zu zweit ins Gebäude rein.«
»Ohne Gasmaske?«, fragte Margret erstaunt.
»Wir wussten nicht, was los war. Wer rechnet denn mit so etwas. Und außerdem kam uns einer entgegen, der zunächst noch lebte. Das sah nicht nach Gas aus. Also, wir gingen rein und entdeckten in den Fluren und in den Dienstzimmern lauter Leichen. Die waren umgefallen wie die Fliegen und sofort tot«, berichtete der Polizist.
»Gab es eine Spur vom Täter?«
»Nein. Niemand. Nur die Toten. Richtig gespenstisch.« Rother schüttelte sich. »So etwas habe ich in meiner langen Polizeilaufbahn bisher nicht gesehen.«
»Okay. Die Leichen hier vorne, sind das alle?« Margret zeigte auf die verhüllten Opfer.
»Nein. Wir haben noch fünf gefunden. Die liegen im Empfangsbereich. Hier ist kein Platz mehr. Eventuell gibt es mehr, die Kollegen suchen noch. Aber es scheint bei dreizehn Opfern zu bleiben.«
»Gut, danke für die Info, Rother. Gibt es außer dem Wachmann weitere Augenzeugen?«, fragte Margret. »Außer dem Mann von der Security.«
»Eine Frau hatte sich zur Tatzeit in der Teeküche eingeschlossen. Hat aber einen Schock und ist nicht ansprechbar. Der Arzt hat ihr ein Beruhigungsmittel gegeben und veranlasst, sie ins Krankenhaus zu fahren. Sicher ist sicher. Meinte jedenfalls der Lutter«, berichtete der Wachtmeister.
»Danke Rother.«
Der nickte kurz.
»Sonst noch etwas Auffälliges?«, fragte der Kommissar.
»Na ja, nicht direkt auffällig,« sagte Rother, »aber mir ist bei den Zimmern der Opfer aufgefallen, dass die Namensschilder neben der Tür weg sind.«
»Weg? Was heißt weg?« Margret schaute den Beamten an.
»Nun, also … ich wollte eine Liste mit den Namen machen und habe keine Schilder gefunden. Und dann ist mir aufgefallen, dass alle anderen Türen Namensschilder haben. So wie bei uns im Büro.«
»Seltsam,« bemerkte der Hauptkommissar. »Ob das Absicht war?« Margret machte sich eine Notiz in seinem Block. »Ich kümmere mich darum. Danke, Rother.«
Margret suchte den Bereich nach dem Oberstaatsanwalt ab.
Oberstaatsanwalt Lutz Legat stand neben einem Mann, der einen grauen Anzug trug und auch ansonsten unscheinbar wirkte. Ein Gesicht, das man sofort wieder vergaß. Er konnte seine Tränen kaum zurückhalten und vermittelte auch ansonsten nicht den Eindruck, als ob er der Situation gewachsen war. Verständlich, dachte Margret.
»Herr Heller, das ist Hauptkommissar Stefan Margret von der Kripo. Stefan, Herr Heller, der Vorsteher des Finanzamtes«, stellte Lutz Legat die beiden vor.
»Herr Heller war zur Tatzeit zu Hause und wurde von unseren Leuten hergebracht,« fasste Legat das Geschehen zusammen.
»Ich bin immer noch erschüttert«, sagte der Amtsvorsteher. In seine Augen traten erneut Tränen. »Gestern habe ich ihnen noch die Hände geschüttelt. Was soll ich jetzt machen?«
Heller schaute Margret ratlos an.
»Am besten schicken Sie alle Mitarbeiter nach Hause. Schließen Sie das Amt für eine Woche. Haben Sie einen Pressesprecher?«, wollte Margret wissen.
»Ja, den Herrn Meiners, der steht dahinten«, sagte Heller und zeigte in den hinteren Bereich des Vorhofes.
»Okay. Ich spreche mit ihm. Wir setzen eine Nachricht an die Medien ab, dass hier erst einmal dicht ist und richten eine Hotline ein. Die übernehmen die Kommunikation für Sie. Wir arbeiten da mit einer erfahrenen Firma zusammen. Dann haben Sie erst einmal Ruhe. Kommen Sie bitte nachher auf unsere Wache. Wir brauchen Ihre Aussage und besprechen dann alles Weitere«, sagte Margret.
Der blasse Amtsvorsteher nickte dankbar und schlurfte von dannen.
»Wie weit bist du, Stefan?«, fragte der Oberstaatsanwalt den Kommissar. »Wenn ich das richtig sehe, kommen gleich LKA und Staatsschutz vorbei. Wahrscheinlich übernehmen die dann. Außerdem möchte der Polizeipräsident gebrieft werden. Man muss kein Prophet sein, um vorauszusagen, dass das Kreise ziehen wird. Dahinten fahren auch schon die ersten TV-Übertragungswagen vor. Am besten, wir bringen die Leichen unauffällig vom Tatort weg und sichern alle Beweise.«
»Okay, Lutz, ich sorge für den Abtransport«, sagte Hauptkommissar Margret. »Die Ergebnisse sind in der Tat mau. Das Ganze könnte für uns verdammt ungemütlich werden.«
»Ich informiere jetzt den Präsidenten und begrüße unsere Freunde vom LKA. Das da hinten in dem Wagen dürften sie sein.« Legat zeigte auf drei dunkle Limousinen mit dem Kennzeichen der Landeshauptstadt.
»Wie im Film«, entgegnete der Kommissar.
Nachdem die Mitarbeiter des LKA kurz Tatort und Leichen inspiziert hatten, wurden die Opfer in Särgen in Autos geschafft. Als die Wagen abfuhren, wusste Margret, dieser Fall würde der bisher schwierigste seiner Polizeilaufbahn werden. Den Eindruck des Oberstaatsanwaltes, dass das LKA oder der Staatsschutz übernehmen würden, fand er zwar verlockend. Seine Erfahrung sagte ihm allerdings, dass er Skandinavien so schnell nicht betreten würde.
Der Polizist ging in das Foyer des Amtes, wo sich inzwischen die Aufregung gelegt hatte. Irgendjemand hatte sogar Kaffee gekocht. Das umtriebige Herumirren der Beteiligten war einer fast schon beängstigenden, effektiven Routine gewichen. Doch Margret wusste, dies war alles nur äußerlich. Jeder bemühte sich, das Grauen der Tat mit zigmal geübten und praktizierten Routinehandlungen nicht zu sehr an sich heranzulassen. Das würde erst am Abend geschehen, wenn man vermeintlich ein wenig Abstand gewonnen hatte und im heimischen Sessel saß.
Margret schaute auf den großen Bildschirm, der an der Wand hing. Statt Steuertipps des Amtes sah er Bilder eines Nachrichtenkanals. Eine Hubschrauberkamera verfolgte die Leichenwagen, die in einem Konvoi fuhren. Eine gespenstische Szene. Jetzt blendete das Nachrichtenmagazin einen neuen Stream ein:
+++ Opfer des Anschlags geborgen. Totenfahrt in die Rechtsmedizin. +++
Margret entdeckte den Security-Mitarbeiter an einem der Kundentische. Er hielt sich an einer Tasse Kaffee fest und starrte an die weiße Wand. Seine kräftige Gestalt war in sich zusammengesunken und er wirkte wie ein Häufchen Elend. Margret zeigte seinen Ausweis vor.
»Sie sind von der Sicherheitsfirma, oder? Was ist passiert?« Margret setzte sich neben den Mann und zückte seinen Notizblock.
»Ja stimmt, ick bin Tom Starke. Security,« stellte sich der Mann vor.
»Und Berliner, wie man hört«, entgegnete Margret.
Tom Starke guckte irritiert, besann sich dann auf die Frage und erstattete Rapport.
»Also, icke war in dem anderen Jebäude wegen dem Kopierer. Der war kaputt«, fing Starke an.
»Aha. Ich dachte, Sie machen Security und nicht Kopierer«, fragte Margret.
»Ja, nee, sicher, normal schon. Aber der Hausmeister ist krank und Kopierer kann ick,« beeilte sich Tom Starke zu sagen. »Also, ick war drüben und dann hörte ick Schreie.«
»Wie das?«, unterbrach ihn Margret. »Sie waren doch im anderen Gebäude.«
»Ja, nee, stimmt schon. Die Schreie kamen ja von zwei Mitarbeitern aus dem Gebäude, die gesehen hatten, das drüben in dem anderen Gebäude jemand rausgelaufen und umgefallen war. Und danach noch einer. Deshalb die Schreie.«
»Okay«, entgegnete Margret und griff nach der Kaffeekanne, die ein Mitarbeiter auf den Kundentisch gestellt hatte.
»Und das waren jetzt Bedienstete oder der Täter?«
»Ja, nee, das waren welche von uns, ich meine Mitarbeiter des Hauses«, sagte der Sicherheitsmann.
»Und der Täter oder die Täter? Haben Sie den gesehen?«, fragte Margret.
»Nee, nüscht zu sehen.«
»Und sonst?«, hakte Margret nach.
»Ja, nee, nichts sonst. Voll das Chaos.«
»Geht es bitte etwas genauer?« Margret zupfte an seiner Jacke und trommelte mit den Fingern an der Jeans. »Herrgott, lassen Sie sich nicht alles aus der Nase ziehen. Was passierte genau?« Margret verlor langsam die Geduld mit der Fachkraft für Sicherheit.
»Ja, ich hab‹ dann allen gesagt, sie sollen im Gebäude bleiben.«
»Und?« Margret war jetzt kurz vorm Platzen.
»Ja, dann habe ich eure Kollegen um Verstärkung angefunkt«, entgegnete Tom Starke stolz, so als habe er eine Heldentat vollbracht.
»Und dann sind Sie ins Gebäude gegangen, richtig?«, fragte Margret nach.
»Ja, nee, nicht sofort. Ick wusste doch nicht, was da los war. Das sah nach Amok aus und ick hab‹ doch keene Waffe nicht.« Tom Starke rutschte auf seinem Sitz hin und her. Ihm war jetzt sichtlich unwohl.
»Okay, Sie hatten Schiss und haben Ihre Arbeit nicht gemacht und nach den anderen geguckt. Sehe ich das so richtig?«, hakte Margret nach.
»Na ja, so kann man das nicht sehen. Wir sind ja hier nicht im Film. Aber dann bin icke ja mit den Beamten da rein und habe die Leute auf den Fluren gesehen, wie sie da alle wie tot gelegen haben«, berichtete Starke.
»Die waren ja auch tot, oder?«
»Genau. Keiner rührte sich.«
»Und vom Täter oder von den Tätern keine Spur?«, setze Margret nach.
»Genau. Keine Spur. Da war niemand.«
»Irgendeine Ahnung, wie der oder die reingekommen sind? Um die Uhrzeit war doch der Haupteingang noch zu, oder?«
»Genau. Den schließe icke erst um neun auf und es war erst kurz nach sechs. Wer steht denn so früh auf und bringt dann Leute um?«, sagte der Security-Mann.
»Eine gute Frage, Mister Security«, entgegnete Margret. »Eine verdammt gute Frage.«
Das Polizeipräsidium lag am Innenstadtwall, ein altehrwürdiges Gebäude aus dem vorletzten Jahrhundert. Auch der große Saal, in dem es von uniformierten Menschen geradezu wimmelte, wirkte mit seinen dunkelbraunen Holzwänden und dem großen Kronleuchter wie aus einer vergangenen Zeit. Nur der Beamer und die Leinwand, die Fotos des Tatortes zeigten, belegten, dass diese Sitzung in der Jetztzeit stattfand.
Der Polizeipräsident hatte noch am Nachmittag des Anschlages alle Beteiligten zur großen Runde eingeladen, um sich ein umfassendes Bild von der Lage zu machen. Gleichzeitig wollte er Handlungsfähigkeit demonstrieren. Er stand vor Kopf des langen U-förmigen Tisches und betätigte eine schwere, wahrscheinlich auch aus einem anderen Jahrhundert stammende Handglocke.
»Ruhe bitte! Wir fangen jetzt an.« Er ließ seinen Worten eine kurze Pause folgen, woraufhin der Rest der Teilnehmer schwieg.
»Wir alle wissen, worum es geht. Wir müssen jetzt schnellstmöglich Licht ins Dunkel dieser schrecklichen Tat bringen. So etwas habe ich, und ich bin ja schon länger bei der Polizei tätig, noch nicht gesehen. Dreizehn Tote und kaum Hinweise. Die Presse lyncht uns dafür. Und die Bevölkerung erwartet von uns zu Recht, dass wir den Fall aufklären. Und, liebe Leute, das erwarte ich auch von Ihnen und das erwarte ich auch von uns. Wir werden dieses Verbrechen aufklären. Das lassen wir nicht mit uns machen. Nicht in dieser Stadt!«
Der Polizeipräsident sah sich um und blickte in entschlossene, zum Teil müde Gesichter. Sie hatten verstanden, das wusste er. Es würde nicht leicht werden, das wusste er. Andererseits, es hatte schon andere schlimme Fälle gegeben. Und alle waren aufgeklärt worden. Zum großen Teil jedenfalls.