Der geheime Wert der Zeit - Thomas Erle - E-Book
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Der geheime Wert der Zeit E-Book

Thomas Erle

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Beschreibung

Auf der Suche nach der ältesten Uhr aus dem Schwarzwald erfährt der reiche Fabrikantensohn und Müßiggänger Friedrich Karmann, dass im Leben mit Geld nicht alles zu erreichen ist. Der Besitzer der Uhr, ein knorriger Bauer auf einem einsamen Hof, stellt ihm stattdessen drei seltsame Aufgaben, die er lösen soll. Nach der Begegnung mit seiner bisher unbekannten Schwester wird Karmann mit einem Schicksal konfrontiert, das ihn dazu bringt, all seine bisherigen Überzeugungen vom Sinn des Lebens anzuzweifeln.

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Thomas Erle

Der geheime Wert der Zeit

Roman

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG („Text und Data Mining“) zu gewinnen, ist untersagt.

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[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © DutchScenery / istockphoto;

MICHAEL WORKMAN / istockphoto

ISBN 978-3-7349-3126-0

Widmung

Für Rosemarie

Zitate

»Manche Zeit wird uns entrissen, manche unvermerkt entzogen, manche fließt fort. Doch am schimpflichsten ist der Verlust, der aus Unachtsamkeit geschieht.«

Seneca (1–65), römischer Philosoph, Dramatiker, Naturforscher, Politiker, Stoiker

*

»Ein jegliches hat seine Zeit, und alles, was unter dem Himmel geschieht, hat seine Stunde.«

»To everything there is a season, and a time for every purpose under heaven.«

Bibel, Prediger 3,1

Kapitel 1: Der Flug

Eine riesige Faust schüttelte das Flugzeug. Die Passagiere in der Kabine der 1. Klasse fuhren mit einem Ruck zusammen.

Friedrich Karmann gelang es eben noch, das Weißbrotsandwich auf seinem Plastiktablett vor dem Herunterfallen zu retten. Reflexartig packten die Finger seiner anderen Hand den Becher mit dem Sekt, den ihm die freundliche Flugbegleiterin der European International Airlines mit einem routinierten Lächeln kurz zuvor eingeschenkt hatte.

Friedrich Karmann stemmte die Füße fest auf den Kabinenboden. Der nächste Stoß konnte in jedem Moment kommen. Stattdessen tönte neben ihm ein spitzer Schrei, gefolgt von einem »O my god!«, wie es eine Hollywoodschauspielerin nicht besser gekonnt hätte.

Seine Sitznachbarin am Fenster hatte nicht so gut reagiert wie Karmann. Der Inhalt ihres Tomatensaftbechers war übergeschwappt und breitete sich in Sekundenschnelle über ihre himmelblaue Bluse aus.

Karmann konnte ein zufriedenes Grinsen kaum verbergen. Seit dem Abflug vom Londoner City-Airport hatte ihn diese Stimme genervt. In breitem Südstaaten­slang belehrte sie Karmann seit einer halben Stunde über die Unzuverlässigkeit und den mangelnden Komfort europäischer Fluggesellschaften, dass es so etwas selbstverständlich in den States nicht gebe und dass sie durch die Umstände gezwungen war, diesen Flug zu nehmen, und es sei ganz bestimmt das letzte Mal.

Karmann machte keine Anstalten, ihr zu helfen oder zumindest in ihre Schimpfkanonade einzustimmen. Diese bekam nun die vorbeieilende Stewardess zu hören.

»May I draw your attention, please!«

Über den Köpfen tönte die sonore Stimme des Flugkapitäns. Nach der routinemäßigen Durchsage von Flughöhe, Geschwindigkeit und derzeitiger Position folgte das, was die erschreckten Passagiere hören wollten. Es war von »two or three little bumps above the channel« die Rede, über die man sich aber keine Sorgen machen müsste.

Wie zur Bekräftigung erschütterte im selben Moment ein weiterer heftiger Stoß die Maschine. Obwohl ihm etwas mulmig zumute war, musste Karmann lächeln. Das typisch britische Understatement, die seit Generationen gepflegte und perfektionierte Gewohnheit, die Scheu vor Unangenehmem in Beiläufiges zu verpacken. Oder sich in die Betrachtung des Wetters zu flüchten, das auf den Inseln jederzeit für unverfänglichen Gesprächsstoff sorgte.

Seine Nachbarin interpretierte die Ansage offenkundig völlig anders. Sie war in den Sitz zurückgesunken und umklammerte mit weiß hervortretenden Knöcheln ihre Sitzlehnen. »Oh my god!«

Karmann sah auf die Uhr. Er hoffte, dass das schlechte Wetter über dem Ärmelkanal nicht zu weiteren Verspätungen oder Umwegen führen würde. Im schlimmsten Fall würde das Flugzeug umkehren müssen.

Dabei durfte er keine Zeit mehr verlieren. Nachdem ihn das Telegramm über den plötzlichen Tod seines Vaters erst über Umwege erreicht hatte, war er sofort aufgebrochen. Aus dem Taxi heraus war es ihm erst nach einigen vergeblichen Anrufen mit viel Glück gelungen, einen Platz auf dem Linienflug nach Basel zu buchen, nur um in ­Heathrow zu erfahren, dass sich sämtliche Abflüge wegen des schlechten Wetters auf unbestimmte Zeit verzögerten.

Warum die Beerdigung bereits morgen früh stattfinden würde, hatte ihm die Sekretärin von Dr. Breitscheider, dem engsten Vertrauten seines Vaters und Geschäftsführer der Karmann AG, nicht sagen können.

Oder wollen.

Seit Friedrich Karmann sich von der Familie getrennt hatte, war die Verbindung zu seinem Vater völlig abgebrochen. Der Alte konnte ihm nicht verzeihen, dass er an der Übernahme des Betriebes keinerlei Inte­resse gezeigt hatte. Der Traum des Vaters von Karmann und Sohn hatte sich zerschlagen. Friedrich hatte andere Pläne. Als künftiger Besitzer eines der größten deutschen Software-Unternehmen sich mit Verträgen, Bilanzen und Kapitalerträgen zu beschäftigen, konnte er sich nicht vorstellen. Er ließ sich seinen nicht unbeträchtlichen Erbteil frühzeitig ausbezahlen und vergnügte sich seither als Bonvivant nach eigener Lust und Gutdünken. Seinem Vater blieb nichts anderes als der Name, den er seinem Sohn mitgegeben hatte.

Anfangs hatte Karmann daran gedacht, auch dies der Vergessenheit anheimgeben zu wollen. Wer hieß heute noch Friedrich? Der Name war nicht hip und in schon gar nicht. Am Ende hatte er es seiner Trägheit und Gleichgültigkeit zu verdanken, dass auf seinen mit schlichtem Goldrahmen eingefassten Visitenkarten immer noch der Name seines Vaters stand.

Karmann dachte an die Kiste, die gut verstaut im Handgepäckfach über den Sitzen mit ihm reiste. Die alte englische Taschenuhr war ein echter Schatz. Karmann hatte durch einen seiner vielen Informanten erst vor wenigen Tagen erfahren, dass die Uhr aus der Werkstatt von Thomas Tompion auf der Uhrenmesse in Leicester zur Versteigerung stehen würde. Seine Konkurrenten, ein brasilianischer Industrieller und ein bedeutendes Uhrenmuseum in Lyon, hatte er mühelos überboten. Die Uhr schloss die letzte Lücke in seiner Sammlung mitteleuropäischer Uhren des 18. Jahrhunderts. Er wollte diese Uhr unbedingt, und er hatte sie bekommen. In dieser Welt war für Geld alles zu bekommen.

Er hatte die Lektion früh gelernt und angewandt. Für den schnittigen Lamborghini in der Spezialausführung des Mailänder Designerstudios ebenso wie das voll digitalisierte Haus am Waldrand in der besten Lage von Freiburg. Was er sich in den Kopf gesetzt hatte, war mit Geld zu regeln.

Mit den Frauen war es nicht so einfach. Dabei wäre es ein Leichtes gewesen. Es gab nicht wenige, die gut aussehend, jung und attraktiv waren, und die mehr oder weniger geplant seine Wege bei diversen Partys und Empfängen gekreuzt hatten. Doch wenn Karmann eines von seinem Vater als Erbe mitbekommen hatte, dann war es sein untrügliches Geschick, die Absichten der Menschen einschätzen zu können. Und hinter diesen Absichten steckte ausnahmslos die Gier nach Geld. Nach seinem Geld.

So war es nie zu mehr als unzähligen flüchtigen Bekanntschaften, kurzen leidenschaftlichen Affären und brüchigen Beziehungen gekommen. Die Suche hatte er inzwischen so weit aufgegeben, als dass er seinen Traum von der großen Liebe aufgegeben oder zumindest hintangestellt hatte. Falls es sich ergab, würde es gut sein. Falls nicht, würde er es nicht als Mangel betrachten. Es gab Wichtigeres im Leben des Mittvierzigers. Friedrich Karmann war zum Beziehungspragmatiker geworden, eine Konstellation, die ihm ausreichend Zeit und Freiheiten gab, sich mit dem zu beschäftigen, was ihn wirklich interessierte.

Allmählich beruhigten sich die Windböen. Als das Flugzeug die französische Kanalküste erreichte, lobte der Bordlautsprecher ganz im Dienste des kundennahen Service das besonnene Verhalten der Passagiere, versprach für den Rest des Fluges angenehmes Wetter und nannte als voraussichtliche Landezeit in Basel-Mulhouse 13:30 Uhr European Standard Time.

Karmann fluchte. Das würde nicht reichen. Die Beerdigung war für 15 Uhr angesetzt. Auschecken, Security, Gepäck, zum Parkplatz, dann eine Stunde mit dem Auto. Wenn alles klappte.

Trotzdem. Er wollte es versuchen. Er wollte das letzte Band zur Familie nicht kappen. Vielleicht würde er seine Mutter treffen, die sich aus dem Staub gemacht hatte, als er ein Baby war. Kindermädchen, Tagesmutter, Internat am Bodensee. Als Ersatz hatte sein Vater sich bemüht, ihm von allem das Beste zu bieten.

Außer Zeit. Vater hatte nie Zeit. Nicht für seine Frau und erst recht nicht für ein kleines Kind. Friedrich Karmann war nicht Sohn, er war Nachfolger. Von Beginn an.

Nun war der Patriarch tot. Verbittert bis zum letzten Tag. Er konnte nicht verzeihen.

Vielleicht konnte es Karmann. Er hatte zu keiner Minute bereut, seine eigenen Wege zu gehen. Er wusste, dass dies nur alleine möglich sein würde. Ohne Vater, ohne Familie.

Seine Gedanken gingen zurück zu der Kiste im Gepäckfach. Er würde es zelebrieren. Wie jedes Mal, wenn er seiner Sammlung ein neues Stück hinzufügen konnte. Die Sammlung, die ihm allein gehörte und die niemand anderes zu Gesicht bekam. Nicht einmal die Haushälterin, die sich ansonsten um alle Belange und Notwendigkeiten kümmern musste. Die Putzfrau betrat das Zimmer einmal im Monat für eine Stunde unter seinen wachsamen Augen.

Das Uhrenzimmer war sein Heiligtum und sein Refugium gleichermaßen. Hier fiel alles von ihm ab, es gab keine Sorgen, keine Verpflichtungen. Nur Freude an dem, was er sah und hörte.

Die Tompion-Uhr war nur ein Teil der Ausbeute, die er von der Messe mitgebracht hatte. Karmann griff in die Innentasche seines Armani-Sakkos und holte einen Umschlag hervor. Darin lag zusammengefaltet ein Zettel mit einer Adresse. Eine Adresse im Schwarzwald.

Johann Thoma, Bauer im Mathieshof. Der Mensch, der ihm ermöglichen würde, sich den Traum seines Lebens zu erfüllen.

Der Jaguar schnurrte zufrieden durch das Markgräflerland nach Norden in Richtung Freiburg. Der beginnende Feierabendverkehr war noch spärlich und hielt Karmann nicht auf. Ebenso wenig lenkten ihn die in unregelmäßigen Abständen im Rückspiegel auftauchenden Boliden mit Schweizer Kennzeichen ab, die mit Vorliebe, befreit von der lästigen 120-km/h-Beschränkung zu Hause, die A5 als legale Rennstrecke nutzten.

Karmann hätte lässig mit ihnen mithalten können. Was er auch gerne manchmal tat, zum Spaß. Dann beschleunigte er so weit, dass er in das verblüffte Gesicht des Sportwagenfahrers neben ihm grinsen konnte, nur um kurz darauf das Gas deutlich zurückzunehmen und sich wieder in die monotone Reihe der Durchschnittsfahrer zurückfallen zu lassen.

Eine Spielerei, die er sich sogar gern eine kräftige Geldstrafe kosten ließ, falls er dabei erwischt wurde. Doch nicht heute, nicht jetzt. Es war weniger das Geld, das ihn besorgte, sondern der Zeitverlust, den es für ihn bedeuten würde.

Als Karmann zur Ausfahrt Freiburg-Mitte abbog, wurde ihm schmerzhaft bewusst, dass er verloren hatte. Die unvermeidlichen Bilder der Beerdigung liefen in ihm ab. Die Feier näherte sich bereits dem Ende, die Reden waren gehalten, die Lieder gesungen, die Tränen vergossen. Der Pfarrer hatte sich verabschiedet und das Trauern den Gästen überlassen. Was blieb, waren die letzten vertrauten Gespräche vor den Blumenbergen und aufgehäuften Kränzen. Aus bitteren Mienen der Familie wurde die Vorfreude auf den Leichenschmaus, die linkischen Bekundungen der Geschäftspartner wandelten sich erleichtert zum Austausch neuester Informationen.

Vor dem Freiburger Hauptfriedhof hinterließen die früh von der Feier Aufgebrochenen die besten Parkplätze, sodass Karmann in der Nähe des Eingangs parken konnte.

Er war nie zuvor hier gewesen. Das klassizistische Eingangsportal erinnerte ihn an einen Triumphbogen. Karmann verzog den Mund, als er unter den reich verzierten Bögen vorbei an steinernen Engels- und Heiligenfiguren den Friedhof betrat.

Welcher Sieg wurde hier gefeiert? Der Triumph des Todes, des unausweichlichen Siegers, vor dem niemand fliehen konnte – oder das Aufatmen der Lebenden, die draußen in der anderen Welt die Endlichkeit des Lebens vergessen durften.

Bis zum nächsten Mal.

Karmann war erleichtert, dass ihm all dies erspart geblieben war. Bei den ganz wenigen Begräbnissen, bei denen er teilgenommen hatte, hatte er sich stets unwohl und fehl am Platz gefühlt. Gefühle bei einer Beerdigung waren ihm stets falsch vorgekommen. Konnte man wirklich um einen Verstorbenen trauern? Karmann war der festen Überzeugung, dass das ganze Drumherum den Toten nichts mehr anging. Es war ihm noch nicht einmal egal, weil es niemanden mehr gab, dem es egal sein konnte. Die Blumen, der Sarg, die Musik, die mehr oder weniger tröstenden Worte eines Geistlichen hatten einzig den Sinn, die Zeremonie für die Teilnehmer erträglich zu gestalten. Trauergäste, die eingeladen waren oder sich aus eigenem Antrieb dazugesellten – sie gingen wieder nach Hause, pflichterfüllt, man hatte sich sehen lassen, Anteilnahme ausgedrückt durch die Teilnahme. Sie würden schon auf dem Heimweg sich austauschen, ob es eine ergreifende Feier war, ob der neue Pfarrer es besser gemacht hätte als der alte, ehrenwerte. Die Trauer würde der Erinnerung Platz machen und irgendwann abgelegt im Fundus des Lebens.

Und es gab die, die nahestanden, die Verwandten. Die Hinterbliebenen. Es waren die, die den Weg nicht mitgehen konnten, und schon gar nicht wollten. Jeder wusste, dass jeder einmal sterben würde, ohne Ausnahme. Und jeder verdrängte genau diese Gedanken, die sie sich fürchten ließen vor dem Unbekannten, für das es viele Namen gab, die alle falsch waren. Gefühle waren Erinnerungen an sich selbst, an das, was einem genommen wurde. Was hinter dem Schleier blieb, der ohne Erklärung sich senkte seit Tausenden von Jahren, seit der Mensch gelernt hatte, zwischen gestern und morgen zu unterscheiden.

Der Friedhof war riesig. Vom Eingangsbereich führte eine weit ausladende Allee direkt auf ein prachtvolles Gebäude zu, von dem Karmann annahm, dass es die Leichenhalle sein musste. Nach beiden Seiten zweigten Wege ab, die wohl zu den Gräberfeldern führten.

Karmann fragte einen der vorbeilaufenden Gärtner nach dem »Begräbnis Dr. Karmann«, worauf dieser bereitwillig zu einem der Wege deutete.

»Sie kommen zu spät!«

Karmann nickte und bedankte sich. Mehr musste er nicht wissen. Eine letzte Begegnung, eine letzte Reverenz, mehr war es nicht, und mehr wollte er nicht.

Das Grab war schon von Weitem zu erkennen. Die Helfer waren dabei, die reichlich gespendeten Gestecke aufzureihen, bei den Kränzen die Schleifen gut lesbar zu drapieren und die Menge der Sträuße in eine ansehnliche Form zu bringen.

Karmann blieb in einiger Entfernung stehen. Das war es also. Er fragte sich, was von dem äußeren Aufwand übrig bleiben würde. Die Geschäftspartner hatten sich mächtig ins Zeug gelegt, das Begräbnis bot ihnen endlich die Gelegenheit, die Bedeutung der Zusammenarbeit mit der Karmann AG öffentlich zu unterstreichen. Keiner durfte fehlen, keiner durfte sich nachsagen lassen, geknausert zu haben.

Karmann lächelte grimmig. Nicht dass es ihm etwas ausgemacht hätte, das Imperium seines Vaters ging ihn nichts mehr an. Doch die Vorstellung, dass spätestens in einer Woche die Blumen welk, die Kränze aufgelöst und die Schleifen angegraut sein würden, beruhigte ihn. Nichts war von Dauer, außer der einen letzten Endgültigkeit, die seinem Vater jetzt widerfuhr.

Auf der Bank unter den ausladenden Zweigen eines Johannisbrotbaumes saß eine Frau. Sie war dunkel gekleidet, in einem schlichten Kostüm mit schwarzen Strümpfen und schwarzen Lackschuhen. Ihr schwarzer Hut war leicht nach hinten gerutscht, sodass Karmann ihr Gesicht sehen konnte.

Er hätte nicht sagen können, ob die Frau schön war. Dennoch zog sie ihn auf merkwürdige Weise an. Die Augen blickten ernst und wach, zarte Fältchen umspielten ihre Stirn. Der Mund hatte sie leicht geöffnet, auf die Lippen hatte sie einen kaum wahrnehmbaren Stift aufgetragen. In der Hand hielt sie ein Sträußchen mit roten Blumen. Keine Rose.

Karmann spürte eine seltsame Scheu. Die Anwesenheit der Frau hielt ihn ab, ganz an das blumenüberhäufte Grab heranzutreten. Er fragte sich, wer sie war. Zur Verwandtschaft gehörte sie nicht, auch nicht zu der seiner früh verstorbenen Mutter. Eine neue Partnerin seines Vaters? Hatte der Hagestolz auf seine alten Tage noch einmal Frühlingsgefühle in sich gespürt? Die Frau war allerdings deutlich jünger, eher in seinem Alter.

Eine Freundin der Familie? Eine Geschäftspartnerin, die ihm gefühlsmäßig nahe gestanden hatte? Karmann überlegte, ob er sie ansprechen sollte, als sie plötzlich aufstand, die Blumen achtlos auf den Blütenberg legte und sich dann mit raschen Schritten entfernte.

Karmann sah hinter ihr her. Sie drehte sich nicht ein Mal um und war nach wenigen Augenblicken Richtung Ausgang verschwunden.

Karmanns Herz schlug schneller, als er vor der Tür des Uhrenzimmers stand. Gleich war es so weit. Er würde ein weiteres Prachtstück seiner Sammlung hinzufügen, der »Landkarte der Zeit«, wie er sie nannte.

Alles hatte mit dem Geschenk seines Onkels begonnen, mit der kleinen bescheidenen Taschenuhr, kaum von Wert, aber stets stolz an einer einfachen Kette getragen. Für Karmann war es damals ein Symbol des Erwachsenseins, die Macht über etwas Ungreifbares, das man nicht sehen, riechen oder hören konnte. Aber messen. Und damit beherrschen.

Das war natürlich lange vorbei. Nicht nur die Bewunderung für den anscheinend so mächtigen Onkel, der in der Familie von Karmanns Vater frühzeitig ausgebootet und aus der Firma gedrängt worden war.

Das Geschenk seines Onkels war ein äußeres Zeichen gewesen, Karmann hatte es als Aufforderung gesehen, seine Unabhängigkeit nach außen zu zeigen, sich täglich daran zu erinnern, indem er das Sichtbare zu seinem Spielzeug machte, zu seinem persönlichen Ausdruck der Vergänglichkeit.

Es war die Illusion, jemals die Herrschaft über die Zeit erlangen zu können. Karmann hatte sich dem Diktat der Termine, Ziele und Fristen entzogen, sobald er volljährig geworden war. Von da an hatte für ihn die wahre Herrschaft bedeutet, sich nicht von der Zeit beherrschen zu lassen.

Entschlossen drückte Karmann die Klinke herunter. Im selben Moment wurde eine Lichtinstallation in Betrieb gesetzt. Als seine Sammlung größer geworden war, hatte Karmann eine bekannte Schweizer Firma beauftragt, die Exponate ins richtige Licht zu rücken. Einen ganzen Tag lang waren die beiden Spezialisten aus Genf tätig gewesen, hatten verschiedene Blickwinkel ausprobiert, die Tageslängen ebenso berechnet wie die Jahreszeiten und mögliche Wetterkapriolen.

Das Ergebnis konnte sich sehen lassen. Karmann war jedes Mal aufs Neue entzückt, wenn er den Raum betrat, wenn seine Augen über die Landkarte der Zeit strichen, die Pendeluhren, die Standuhren, Taschenuhren und Schwarzwalduhren. Jede von ihnen war perfekt ins Licht gerückt, jede durfte die Würde ausstrahlen, die ihnen ihr Hersteller mitgegeben hatte.

Das helle, lichtdurchflutete Zimmer an der hangabwärts gerichteten Seite des Hauses hatte Karmann ursprünglich als Fitnessstudio geplant und eingerichtet. Davon war nichts mehr zu sehen. Den Platz der Sportgeräte hatten jetzt gläserne Vitrinen, glänzende Sockel und sanft geschwungene Wandnischen eingenommen, jedes Schmuckstück hatte seinen eigenen Platz.

Sämtliche Uhren standen still, die Zeiger in dem Moment verstummt, als ihr Antrieb abgelaufen war. Nur eine einzige Uhr war aufgezogen. Ein schlichtes, aber eindrucksvolles Werkstück eines alten Uhrmachers im Hochschwarzwald. Dessen Klarheit hatte Karmann vom ersten Blick an beeindruckt. Die Schilderuhr hing an der Wand, zwei Gewichte, die Tannenzapfen nachempfunden waren, dazu ein Messingpendel, das gleichmäßig hin und her schwang. Die schlichten Zeiger umkreisten ein helles Schild, bunt bemalt mit stilisierten Rosen und Ornamenten.

Karmann achtete darauf, dass das Pendel immer schwang. Im Rhythmus von Sonntag zu Sonntag zog er die dünnen Ketten nach oben, Woche für Woche, Monat für Monat. Einzig seine Haushälterin durfte diese Aufgabe übernehmen, wenn Karmann längere Zeit unterwegs war. Er hatte sie genau instruiert, wie sie es zu bewerkstelligen hatte.

Zufrieden betrachtete er die gleichförmige Bewegung und hörte auf das monotone Klicken des Laufwerks. Alles war gut, alles war in Ordnung.

Schon während der überstürzten Rückfahrt hatte Karmann sich Gedanken gemacht, an welcher Stelle im Raum seine Neuerwerbung am besten zur Geltung kommen würde. An der westlichen der vier Wände war noch eine größere Fläche frei geblieben. Karmann besah sich die Wand von beiden Seiten, dann nickte er zufrieden. Er überließ nichts dem Zufall. Gleich in den nächsten Tagen würde er einen Handwerker kommen lassen. Eventuell musste die Beleuchtung nachjustiert werden.

Am Ende ließ er sich zufrieden in den mit schwarzbraunem Leder bezogenen Eames-Lounge-Chair sinken und streckte die Beine auf dem Fußschemel aus.

Etwa eine halbe Stunde saß er so da. Im Raum war es bis auf das gleichmäßige Ticken der Pendeluhr vollkommen still. Karmann hatte die Hand flach auf seine Brust gelegt, atmete ruhig und entspannt. Sein Herzschlag. Seine eigene Uhr.

Karmann saß öfter in diesem Sessel. Manchmal spürte er, wie die beiden Rhythmen sich näherten, die Uhr und das Herz. Ein paar Mal war es ihm fast gelungen. Welch unbeschreibliches Gefühl, ganz im Takt der Zeit eingebunden zu sein, mitgetragen zu werden in den ewigen Moment, da dies geschah.

Karmann strich sanft über den Stoff seines Seidenpullis, den er sich übergezogen hatte, nachdem er wieder zu Hause war. Heute wichen die beiden Schläge deutlich voneinander ab. Sein Herz schlug schneller, so als wolle es der Zeit vorauseilen, früher am Ziel ankommen. Doch was war das Ziel? Gab es überhaupt eines?

Manchmal wünschte er sich, mit der Uhr sprechen zu können. Nur mit dieser einen, nur mit der, die sich bewegte, die auf ihre eigene Art am Leben war. Wusste die Uhr, wohin sie tickte? Wo war die Uhr, wenn sie niemand aufzog und sie zum Schweigen verurteilt war?

Karmann hatte gelesen, dass manche Menschen der Überzeugung waren, der Moment sei die einzige Realität. Die Vergangenheit nichts als Erinnerung, die Zukunft nur Hoffnung. Oder Furcht. Alles verschwindet im Jetzt. Im ewigen So-Sein.

Karmann konnte damit nichts anfangen. Sicher gab es zurückliegende Ereignisse, die er am liebsten wieder vergessen hätte – Streitereien, Neidereien, Fehlschläge. Aus und vorbei. Aber es gab sie, die schönen Erinnerungen, die noch Jahre später das Gefühl der Wärme in ihm wachriefen.

Als er die Großmutter besuchte und im Stall half, die Tiere zu versorgen. Einen ganzen Sommer lang.

Als Onkel Karl mit ihm die elektrische Eisenbahn aufbaute und er stolz die erste Runde selbst fahren durfte. Die schwarze Tenderlokomotive, der braune Niederbordwagen, die rote Kipplore.

Märklin. H Null. Analog.

An das Gefühl des Stolzes. Als er in das wunderbare Haus auf dem Lorettoberg einzog, der Freiburger Edelwohnlage, in der die Chance, überhaupt etwas zu bekommen, verschwindend gering war. Als es ihm gelungen war, sich von seinem Vater loszusagen. Und jetzt, ganz aktuell, als er den Zuschlag für die Tompion-Uhr erhielt.

Die Smartwatch an seinem Handgelenk und sein Magen erinnerten Karmann daran, dass er seit dem Putensandwich in der Wartehalle in Heathrow nichts mehr gegessen hatte. Seiner Haushälterin hatte er noch bis zum Wochenende freigegeben, schließlich hatte er nicht damit gerechnet, dass er gezwungen war, den Messebesuch vorzeitig abzubrechen.

Um sein Essen würde er sich selbst kümmern müssen. Zum Glück gab es gleich mehrere Restaurants in der Stadt, die einen Lieferservice anboten. Nach kurzem Überlegen entschied er sich für einen Anruf bei Sri Penh, einem Lokal, das er wegen seines gut gewürzten Currys schätzte.

Nach 20 Minuten läutete es, der Bote brachte die Bestellung. Karmann belohnte ihn mit einem satten Trinkgeld, dann setzte er sich zu Tisch und öffnete die Packung. Mit einem zufriedenen Seufzer genoss er den exotischen Duft, der ihm entgegenströmte. Gebratenes Gemüse mit Ingwer und Morcheln, dazu Hühnerfleisch.

Scharf. So wie er es liebte.

Kapitel 2: Jakes Zettel

Der Brief lag zwischen den Seiten eines Werbekatalogs für britische Kleidung.

Die waren schnell, die Engländer, dachte Karmann, als er sich an die ältliche Lady mit violetten Haaren erinnerte, die ihm am ersten Tag der Messe ein freundliches Gespräch über die Vorzüge echt englischen Tweeds aufgedrängt hatte. Karmann hatte sich gerettet, indem er seine Adresse auf einer Liste hinterließ. Das Werbegeschenk, ein geschmackloser Pin mit einer Bulldogge mit Tartan-Kappe, hatte er in den nächsten Papierkorb geworfen. Kurz darauf war die Episode vergessen, denn er hatte Jake getroffen, zum ersten Mal seit der Classic Watch Convention in Miami vor zwei Jahren.

Karmann zog den Brief hervor und betastete den Umschlag. Ein Rechtsanwaltsbüro aus Freiburg, dessen Namen ihm nichts sagte. Er hatte keine Ahnung, ob und wo er sich in irgendeiner Weise schuldig gemacht hatte. Vielleicht eine Frist versäumt? Mit dem Edelstahlbrieföffner schlitzte er sorgfältig den Umschlag auf.

In dem knappen Anschreiben wurde ihm mitgeteilt, dass er zur Verlesung des Testaments des verstorbenen Friedrich Karmann senior geladen wurde.

Karmann war erstaunt und verwirrt. Als er vor Jahren sein Erbteil ausbezahlt bekommen hatte, hatte er gleichzeitig eine Erklärung unterzeichnet, dass er fortan auf alle ihm zustehenden Ansprüche verzichtete. Er hatte bedenkenlos unterschrieben und von jenem Tag an sich jeglichen Gedankens an die Firma enthalten.

Was konnte das bedeuten? Gab es vielleicht doch noch einen rechtlichen Pflichtteil, der ihm jetzt zustand? Und wer würde nun den Betrieb bekommen?

Was gab es sonst? Etwas Persönliches? Karmann hatte früher mit dem mannshohen Globus geliebäugelt, der ihn schon als Kind beeindruckt hatte. Sein Vater hatte ihn bei einem Antiquitätenhändler in Genf erstanden und als Blickfang in seinem Arbeitszimmer aufgestellt. Er besaß einigen Wert und würde mit Sicherheit auch gut als Deko in den Uhrensalon passen. Rechtlich gehörte der Globus natürlich zum Gesamterbe, aber vielleicht hatte der alte Karmann in einem Anflug von Sentimentalität sich an die Stunden erinnert, als er mit seinem staunenden Sohn die Umrisse der fernen Länder nachfuhr.

Friedrich hatte sich eher für die fantasievollen Geschöpfe interessiert, die als Illustration in den großen Meeresflächen auftauchten – Seeschlangen, Wale, Krokodile, fliegende Fische und andere, die sich in seiner Vorstellung zu einer Welt verbanden, die schrecklich und geheimnisvoll gleichzeitig war, und die für viele Jahre Karmanns Vorstellung prägte.

Ein Blick auf das Datum verriet, dass der Termin bereits übermorgen sein sollte. Der Brief musste schon einige Tage gelegen haben. Karmann überlegte, ob er nicht im Büro des Anwalts anrufen und absagen sollte. Es gab nichts, was ihn bei einem solchen Treffen interessieren konnte. Vielleicht würde ein Rechtsvertreter seiner verstorbenen Mutter da sein, aber das war unwahrscheinlich.

Er beschloss, die Sache zunächst ruhen zu lassen. Es gab Wichtigeres zu tun. Und Spannenderes.

Es war Zeit, mehr über die Adresse zu erfahren, die er aus England von der Messe mitgebracht hatte. Eine einfache Anschrift, mehr hatte Jake O’Donell, sein Kumpel aus Detroit, nicht. Keine Telefonnummer, keinen Mail-Kontakt.

Jake hatte verschmitzt gegrinst, als er Karmann die Daten aufgeschrieben hatte. »Normalerweise würde ich mich selber darum kümmern«, hatte er vielsagend hinzugefügt, »aber dieses Mal lasse ich dir den Vortritt. Diese Art von Uhren ist nicht das, was ich bevorzuge. Außerdem ist das ja bei dir um die Ecke.«

Das konnte nach amerikanischen Entfernungsmaßstäben natürlich ebenso ein paar hundert Kilometer bedeuten, doch Karmann ahnte sofort, dass der Ort bei ihm zu Hause in der Nähe sein musste.

Mathieshof. Irgendwo im Schwarzwald. Der Hof des Bauern Mathias. Nie gehört.

Die Aussicht, die älteste existierende Schwarzwalduhr in seinen Besitz bekommen zu können, spornte Karmann an. Dafür wäre er überall hingefahren und hätte jeden Preis bezahlt.

Karmann warf den Computer an. Das Lexikon gab ihm vier verschiedene Orte mit diesem Namen an, allesamt im Hochschwarzwald. Das engte das Zielgebiet von vorneherein ein. Karmann betätigte erneut die Suchfunktion und navigierte durch die Kartenansicht. Die Höfe lagen allesamt irgendwo im Wald zwischen Furtwangen, Donaueschingen und dem Titisee. Das waren weniger als hundert Kilometer von hier, war also gut zu schaffen.

Doch wo sollte er anfangen? Er konnte die Adressen der Reihe nach abfahren, aber das dauerte. Karmann war ungeduldig. Er brauchte zumindest einen Namen.