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Der Weg der Versöhnung für Töchter und Mütter Auf der Beerdigung ihrer geliebten Großmutter lernt Julia deren beste Freundin Charlotte kennen. Julia fühlt sich von Charlottes lebenslustiger Art angezogen. Diese lebt allein mit ihrer Katze Frigga in einem alten Häuschen umgeben von einem verwunschenen Garten. Charlotte lädt Julia ein, sie dort zu besuchen. Nach anfänglichem Zögern wagt sie sich zu Charlotte. Die beiden sprechen über das Leben, die Erwartungen der Mütter an die Töchter und umgekehrt. Julia leidet seit langem unter der schwierigen Beziehung zu ihrer eigenen Mutter. Charlotte gibt ihr konkrete Hilfsmittel an die Hand, um sich den Schwierigkeiten zu stellen, und durch ihre Lebensklugheit und die Weisheit der Pflanzen findet Julia allmählich einen Weg der Heilung und Versöhnung. Wer sich selbst versteht, kann sein Herz öffnen Julias Weg der Selbstliebe und Selbstakzeptanz öffnet ihr eine neue Sicht auf sich selbst. Indem sie sich besser versteht, wächst auch das Verständnis für ihre Mutter. Viele praktische Übungen von Charlotte helfen ihr dabei, sich die wahren Hindernisse anzuschauen – und den Weg der Versöhnung und Liebe zu gehen. Ein Muss für alle Töchter, die Schwierigkeiten mit ihren Müttern haben (und umgekehrt) – ein erzählter Ratgeber mit vielen praktischen Übungen und Lebensweisheiten zum Ausprobieren und Selbsterfahren.
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Seitenzahl: 189
Veröffentlichungsjahr: 2025
Yngra Wieland
Wie ich die Liebe zu meiner Mutter wiederfand
Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.
Der Weg der Versöhnung für Töchter und Mütter
Auf der Beerdigung ihrer geliebten Großmutter lernt Julia deren beste Freundin Charlotte kennen. Julia fühlt sich von Charlottes lebenslustiger Art angezogen. Diese lebt allein mit ihrer Katze Frigga in einem alten Häuschen umgeben von einem verwunschenen Garten. Charlotte lädt Julia ein, sie dort zu besuchen. Nach anfänglichem Zögern wagt sie sich zu Charlotte. Die beiden sprechen über das Leben, die Erwartungen der Mütter an die Töchter und umgekehrt. Julia leidet seit langem unter der schwierigen Beziehung zu ihrer eigenen Mutter. Charlotte gibt ihr konkrete Hilfsmittel an die Hand, um sich den Schwierigkeiten zu stellen, und durch ihre Lebensklugheit und die Weisheit der Pflanzen findet Julia allmählich einen Weg der Heilung und Versöhnung.
Wer sich selbst versteht, kann sein Herz öffnen
Julias Weg der Selbstliebe und Selbstakzeptanz öffnet ihr eine neue Sicht auf sich selbst. Indem sie sich besser versteht, wächst auch das Verständnis für ihre Mutter. Viele praktische Übungen von Charlotte helfen ihr dabei, sich die wahren Hindernisse anzuschauen – und den Weg der Versöhnung und Liebe zu gehen.
Ein Muss für alle Töchter, die Schwierigkeiten mit ihren Müttern haben (und umgekehrt) – mit vielen praktischen Übungen zum Ausprobieren und Selbsterfahren.
Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de
Widmung
Ringelblume
Rose
Brennnessel
Kamille
Distel
Sonnenblume
Mohn
Anemone
Gänseblümchen
Malve
Verbene
Anhang
Die Weisheit der Pflanzen in Charlottes Garten
Übungsteil – Vitamine für die Seele
Nachwort
Dank
Für meine Tochter Laura, in tiefer Liebe und mit ganz viel Stolz auf dich.
Es war Freitag, und ich stand vor dem Grab meiner Großmutter. Erst letzte Woche hatte die Beerdigung stattgefunden. Meine Oma Pauline. Als sie noch da war, hat sie mir immer beigestanden, wenn ich Schwierigkeiten hatte. Wer würde mir jetzt zuhören und mich trösten? Mein Herz wurde noch schwerer bei diesem Gedanken. Ich starrte auf die verwelkten Blumen und erinnerte mich an die Besuche bei Oma, als ich klein war, an Ostern und in den Sommerferien. An das uralte Märchenbuch mit der seltsamen Schrift, aus dem sie mir wundersame Geschichten vorlas, die unvergesslichen gefüllten Pfannkuchen, die nur bei ihr schmeckten, auch wenn meine Mutter das gleiche Rezept benutzte. Die Leichtigkeit in Großmutters Schritten, wenn wir zusammen einkaufen gingen. Nun war sie nicht mehr da. In den letzten Monaten war sie Stück für Stück verschwunden, bis sie nur noch stumm und bleich dalag, wie die Laken, in die sie gebettet war. Jeden Freitagnachmittag hatte ich sie besucht, manchmal nur für kurze Zeit, weil ich die Stille nicht länger aushielt. Ich erzählte ihr von meinem Leben, ohne mich rechtfertigen zu müssen oder Widerrede zu bekommen oder das Gefühl, nicht gut genug zu sein. Es war wohltuend und gleichzeitig schlimm. Sie war der einzige Mensch in meinem Leben gewesen, bei dem ich mich immer verstanden fühlte, der mich so nahm, wie ich war. Stets hatte sie sich Zeit für mich genommen und nie versucht, mich zu verändern.
Wer würde mich jetzt in den Arm nehmen, wenn ich mich schlecht fühlte, weil es zwischen meiner Mutter und mir wieder einmal eskaliert war? Selbst bei der Beerdigung hatte Mama es sich nicht verkneifen können, mir zu zeigen, wie unzulänglich ich war. Unpünktlich, unpassend angezogen, unzuverlässig. Sie musste es gar nicht aussprechen, ich konnte es in ihrer Gestik und Mimik sehen. Sie hatte es sich nicht nehmen lassen, alles selbst zu organisieren, so wie sie immer alles selbst machte und mich damit ausschloss. Ich musste daran denken, wie ich bei der Beerdigung neben ihr hinter der Urne hergegangen war. Zu gern hätte ich nach ihrer Hand gegriffen, um mich weniger einsam und verloren zu fühlen, aber sie schien mich gar nicht wahrzunehmen.
Wann hatte Mama aufgehört, mich liebevoll zu berühren? Ich konnte mich nicht erinnern. Als sie mich angerufen hatte, um mir zu sagen, dass Großmutter gestorben sei, hatte sie nicht geweint. Sie war gefasst und ruhig gewesen, es wäre das Beste für Großmutter, sie sei friedlich eingeschlafen, was wolle man denn mehr. Ich war in Tränen ausgebrochen, hatte unkontrolliert ins Telefon geschluchzt.
»Ach, Julia«, hatte Mutter gesagt, »mach es dir doch nicht immer so schwer«, und ich hatte wieder einmal einfach aufgelegt.
Ich wollte es schwer haben, ich war traurig, verstört und allein. Mein Freund David war weit weg, vor ein paar Wochen war er der Karriere wegen für ein Jahr nach London gegangen. Wir sahen uns nur selten, meist am Laptop, das war einfach nicht das Gleiche. Meine beste Freundin Sanna hatte gerade ein Baby bekommen und hätte nicht weniger erreichbar für mich sein können, hätte sie in einem anderen Universum gelebt. So verkroch ich mich im Bett, weinte das ganze Wochenende und fühlte mich hundeelend. Am Ende wusste ich nicht mehr, ob ich um Oma weinte oder weil ich unglücklich war, ohne genau zu wissen, warum.
Mitten in meinen Gedanken am Grab nahm ich aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahr. Jemand war wie aus dem Nichts neben mir aufgetaucht. Die alte Frau trug ein langes weißes Kleid, darüber eine Art Kimono mit schwarzen und roten Punkten. Ihre silbrig weißen Haare reichten ihr bis über die Schultern und umwehten sie wie ein Schleier. Ein Amulett hing an einem weißen Lederband um ihren Hals, drei Schnörkel aus Silber. Etwas an ihr erinnerte mich an eine sehr alte Elfe, es war, als käme sie aus einer anderen, geheimnisvollen Welt. Sie bückte sich und legte einen großen Strauß gelber und orangefarbener Blumen auf das Grab. Als sie sich aufgerichtet hatte, blickte sie mir direkt in die Augen, und ich spürte eine seltsame Wärme in meiner Brust.
»Ich bin Charlotte«, sagte sie, als sei damit alles erklärt.
»Und ich sehe, wie traurig du bist.«
Verwundert blickte ich sie an. Die Fremde nahm meine Hand zwischen die ihren. Es war befremdlich und ungewohnt, die spontane Berührung der Hände einer Fremden, aber gleichzeitig war es ein tröstendes Gefühl. Es schien mir, als läge meine Hand sicher und geborgen in einem warmen, trockenen Nest, und ich wünschte, diese Verbindung würde nicht so schnell aufhören. Ich schluckte.
»Ich vermisse meine Freundin Pauline auch sehr«, sagte Charlotte, »wir kannten uns seit unserer Kindheit.«
Ich sah in ihr Gesicht mit den unzähligen Knitterfältchen um die blauen Augen, wie Sonnenstrahlen, ein liebevolles Lächeln, das mein Herz erreichte. Jetzt konnte ich meine Tränen nicht länger zurückhalten. Ich weinte meinen ganzen Kummer heraus, und Charlotte hielt mich fest in ihrer Umarmung. Wenn diese Umarmung nur ewig dauern würde.
»Jetzt ist Großmutter nicht mehr da, und ich fühle mich verloren und allein. Ich weiß überhaupt nicht, wie es weitergehen soll«, brachte ich zwischen den Schluchzern heraus, die aus meinem tiefsten Inneren hervorbrachen.
Ich hielt inne. Ich konnte doch eine Wildfremde nicht einfach mit meinen Sorgen und Problemen überfallen!
Sie blickte mich mitfühlend an.
»Wenn du magst, kannst du gerne mit zu mir kommen. Ich wohne nicht weit von hier. Wir setzen uns in den Garten, trinken einen schönen Kräutertee und plaudern ein wenig.«
Dieses Angebot war ziemlich ungewöhnlich von einer Fremden. Doch seltsamerweise erschien es mir gleichzeitig ungeheuer verlockend. »Danke, das wäre wundervoll«, sagte ich leise.
Als wir schweigend nebeneinanderher gingen, spürte ich eine unerklärliche Aufregung in mir aufsteigen, als würde gleich etwas ganz Besonderes geschehen.
Sei nicht albern, ermahnte ich mich. Was soll denn schon Großartiges passieren? Ich trinke Tee mit einer fremden alten Dame, sonst nichts.
Das Schweigen zwischen uns war nicht unangenehm. Wo ich sonst versucht hätte, die Stille mit Small Talk zu füllen, kam sie mir hier ganz entspannt und richtig vor.
Wir erreichten eine kleine Straße, den Rotdornweg. Nie zuvor war ich hier gewesen. Gesäumt von rot blühenden Bäumen kuschelten sich rechts und links kleine Häuser in die Gärten wie in grün gepolsterte Nester. Charlotte ging auf ein altes Häuschen zu. Dort rankten sich anmutig pinkfarbene Blumen um einen verwitterten Holzzaun, im hohen Gras dahinter nickten mir weiße, lila und gelbe Blütenköpfe zu. Was für eine Blütenpracht mitten in der Stadt! Sie öffnete das Gartentor und ließ mich eintreten. Erst viel später wurde mir bewusst, dass ich mit diesem Schritt eine völlig neue Welt betreten hatte. Im Garten standen im Schatten eines alten Apfelbaums drei Korbstühle und ein Tisch. Auf einem der Stühle entdeckte ich eine pummelige Katze, die zu einem Fellball zusammengerollt in den Kissen schlief, den Kopf hingebungsvoll in den Pfoten vergraben.
»Das ist Frigga, meine Mitbewohnerin«, sagte Charlotte.
»Du kannst sie duzen, mich übrigens auch. Mach es dir gemütlich, ich bereite uns derweil einen Tee zu.«
Sie verschwand im Haus. Ich setzte mich und betrachtete die schlafende Katze. Ihr glänzendes Fell war kupferfarben, schwarz und goldgelb gestromt und lud zum Liebkosen ein, aber ich wollte das Tier nicht stören.
»Hallo, Frigga«, sagte ich leise.
Ein Ohr drehte sich beinahe unmerklich in meine Richtung, die weißen Schnurrhaare vibrierten leicht, mehr Begrüßung hielt Frigga für überflüssig.
Überall im Garten wucherten Blumen in leuchtenden Farben, alles wirkte harmonisch und natürlich, wie der verwunschene Garten einer Elfe. Über einer Schale aus bemoostem Stein, die mit Wasser gefüllt war, schwirrten zwei Libellen. Ich schloss die Augen und nahm einen tiefen Atemzug. Die Sonne wärmte sanft mein Gesicht, und ein lauer Wind wehte Blütendüfte zu mir. Der Schmerz in meinem Herzen schien ein wenig gelindert zu werden, als hätte jemand eine heilende Salbe aufgetragen. Charlotte kam mit einem Tablett, beladen mit Tee und einem Schokoladenkuchen. Schwungvoll goss sie grünlichen Tee in die Blümchentassen. Mit ruhigen Handbewegungen schnitt Charlotte zwei üppige Stücke des Kuchens ab und legte sie auf die Teller. Saftig, schokoladig und mit einer dicken Glasur stand der Kuchen in völligem Widerspruch zu meiner mir selbst auferlegten Diät. Genüsslich schob ich mir die erste Gabel voll Kuchen in den Mund, mit einem Hauch von schlechtem Gewissen. Der Kuchen schmeckte so köstlich, wie er aussah. In der letzten Zeit hatte ich meinen Frust, meine Trauer und meine Einsamkeit viel zu oft mit Knabberzeug und Schokolade bekämpft und mir geschworen, bevor ich David in London besuchen würde, mindestens fünf Kilo abzunehmen, und auch, um keine kritischen Blicke meiner Mutter ertragen zu müssen. Sie war gertenschlank und eisern, was ihre Ernährungsgewohnheiten betraf, auch in dieser Beziehung das Gegenteil von mir. Meist sagte sie nichts, aber die Art, wie sie mich anschaute, sagte alles.
Das hier ist ein besonderer Tag, eine besondere Situation und eine außergewöhnliche Begegnung, dachte ich trotzig. Ich wischte mir den Mund an der Leinenserviette ab und nahm einen Schluck Tee. Er schmeckte zitronig und herrlich erfrischend.
»Woher kanntest du meine Oma?« Das Du kam mir noch schwer über die Lippen.
Charlotte sah mich über den Rand ihrer Tasse hinweg an.
»Wir waren Schulfreundinnen. Gleich am ersten Schultag haben wir uns kennengelernt und waren für lange Zeit unzertrennlich. Dann hat das Leben unsere Wege auseinandergeführt, aber wir hielten immer die Verbindung, auch wenn die Abstände groß waren. Und als unsere Männer gestorben waren und Pauline hierher zurückzog, sahen wir uns wieder öfter.«
Bei mir dachte ich, wie unterschiedlich die beiden Frauen doch waren, trotzdem war eine enge Freundschaft zwischen ihnen möglich gewesen. Oma Pauline sanft, still und zurückhaltend, Charlotte dagegen kraftvoll, das Herz auf der Zunge und spontan, wie es schien. Mutter und ich waren auch sehr verschieden. Vielleicht gab es Hoffnung.
»Dann kennst du auch meine Mutter?«
Charlotte betrachtete mich mit einem undefinierbaren Blick.
»Was heißt schon kennen? Sagen wir so, ich weiß um die Schwierigkeiten, die die beiden miteinander hatten. Pauline litt sehr darunter, dass sie nicht wirklich miteinander geredet haben.«
Die unangenehme Stille, die oft zwischen meiner Mutter und mir herrschte, kam mir in den Sinn. Da war so vieles, was ausgesprochen werden wollte, aber nicht herausdurfte. Wenn wir uns trafen, musterte sie mich regelmäßig bei der Verabschiedung mit einem langen, prüfenden Blick, der mir beinahe körperliche Schmerzen bereitete, ja, als würden sich Dornen in mein Herz bohren, weil ich mich darunter unzulänglich und klein fühlte. In diesen Momenten wünschte ich so sehr, sie würde etwas sagen, nur einen Satz, der die Kühle zwischen uns nahm, aber es geschah nicht, und dann wollte ich nur noch weg.
Es war mir jedoch nicht bewusst gewesen, dass auch meine Mutter und meine Großmutter Schwierigkeiten miteinander gehabt hatten. Seit meine Oma wieder in unsere Nähe gezogen war, hatte meine Mutter ihr Leben organisiert und sie dabei unterstützt, den Alltag zu bewältigen. Sie hatte den Umzug ins Heim veranlasst, nachdem Oma mehrmals in ihrer Wohnung gestürzt war. Wirkliche Herzlichkeit hatte es auch zwischen ihnen nicht gegeben, es sei denn, sie hatte im Verborgenen stattgefunden, aber das wurde mir erst in diesem Augenblick bewusst. Ich konnte mich nicht daran erinnern, dass sie sich umarmt hatten.
»Sie hat einfach alle Sachen von Oma ausgeräumt, kaum dass sie gestorben war. Ich wäre gern dabei gewesen, um ihre persönlichen Dinge zusammenzupacken. Viel war es ohnehin nicht mehr. Es hätte mir vielleicht dabei geholfen, sie loszulassen. Ihr Nicht-mehr-da-Sein zu verarbeiten, zu trauern. Verstehst du das?«
Diese Worte brachen unvermittelt aus mir hervor. Meine Mutter hatte nur den Kopf geschüttelt, als ich mich getraut hatte, ihr das Gleiche zu sagen wie jetzt Charlotte, nachdem sie schon alles erledigt und mich vor vollendete Tatsachen gestellt hatte. Es hätte schnell gehen müssen, warum sollte man einen Monat unnütz Miete zahlen und jemand anderem den Platz wegnehmen. Außerdem hätte sie nicht gedacht, dass es mir wichtig sei.
Charlotte hingegen nickte. »Ich kann dich sogar sehr gut verstehen. Als mein Mann starb, habe ich sehr lange gebraucht, bis ich mich daran wagte, seine persönlichen Dinge auszusortieren.«
Ich war dankbar für ihr Verständnis, für den Gleichklang zwischen uns, der sich dadurch noch verstärkte. Ob wir eine ähnliche Geschichte hatten? Zu gern hätte ich sie nach ihrer Mutter gefragt, aber es schien mir nicht richtig.
»Immer entscheidet meine Mutter alles allein. Die Beerdigung zum Beispiel. Meine Oma konnte Lilien nicht ausstehen. Totenblumen hat sie die immer genannt und wollte sie auf keinen Fall auf ihrer eigenen Beerdigung. Meine Mutter muss das doch auch gewusst haben!«
»Deshalb habe ich Pauline Ringelblumen ans Grab gebracht. Das sind ihre Lieblingsblumen.«
Auch das hatte ich nicht gewusst. Mir wurde warm ums Herz.
Charlotte fuhr fort. »Ringelblumen erinnerten Pauline an den Garten ihres Elternhauses, die wuchsen dort üppig, wie ein gelboranger Teppich rund ums Haus. Sobald sie begannen zu blühen, hatte sie immer einen Strauß davon in ihrem Zimmer stehen. Aber ganz abgesehen davon haben die kleinen Sonnenräder eine besondere Bedeutung in der Sprache der Blumen.«
Verwundert sah ich sie an. »Die Sprache der Blumen?«
Meine Gastgeberin piekte mit der Gabel den Rest ihres Kuchens auf und verspeiste ihn genüsslich, während ich gespannt auf ihre Antwort wartete. Sie ließ sich Zeit, nahm in aller Ruhe noch einen Schluck Tee.
»Die Sprache der Blumen ist uralt. Schon die alten Ägypter wussten um sie. Die symbolische Bedeutung von Blumen und Pflanzen zieht sich durch die ganze Geschichte der Menschheit. Nimm beispielsweise die Ringelblume, die auch Sonnenbraut genannt wird, sie gilt als Symbol für die Sonne und den Lebensweg eines Menschen.« Charlottes Augen leuchteten. »Die Ringelblume ist auch eine Wetterfee. Sind ihre Blüten um sieben Uhr morgens noch geschlossen, erwartet uns ein Regentag. Der lateinische Name, Calendula, weist auf die Möglichkeit hin, das Wetter anhand der Blüte vorhersagen zu können. In England heißt sie Marigold, und es wird ihr eine besondere Beziehung zur Mutter Maria zugeschrieben. Zu guter Letzt wird sie aber auch Totenblume genannt, ihres eigenartigen Geruchs wegen. So schließt sich der Kreis – von der Geburt bis zum Tod, und das alles vereint in einer kleinen Blume.«
Ich schwieg, weil ich keine kluge Antwort auf so viel geballtes Wissen parat hatte. Das Einzige, was mir dazu einfiel, war die Szene aus meinem Lieblingsbuch Alice im Wunderland, als Alice in den Blumengarten kommt und die Blumen sie anschreien und sie als hässliches Unkraut beschimpfen. Ungefähr so fühlte ich mich zurzeit auch, ein Unkraut, für das es keinen Platz im Garten zwischen all den prachtvollen Blumen gab. Ich seufzte tief. Charlottes warmer Blick ruhte auf mir. Es kam mir vor wie eine sanfte Aufforderung, mich ihr mitzuteilen. Meine Kehle fühlte sich schwer und wund an. Wenn ich jetzt damit beginnen würde, über mein derzeitiges Lebensgefühl und all meine Baustellen zu sprechen, liefe ich zum zweiten Mal an diesem Tag Gefahr, in einem Meer aus Tränen zu ertrinken. In mir rangen zwei Seiten miteinander. Einerseits hatte ich Bedenken, meine Probleme vor einer völlig fremden Frau auszubreiten, andererseits sehnte ich mich so sehr danach, mich jemandem mitzuteilen. War es in Ordnung, mit einer Fremden so offen über meine tiefsten Gefühle zu sprechen? Charlotte war wie aus dem Nichts aufgetaucht, und es war, als sei sie der rettende Engel in meiner Einsamkeit. Wo sollte ich denn sonst hin mit meinen Sorgen und Zweifeln? Fremd hin, fremd her, ich vertraue ihr, entschied ich und hoffte, wenigstens dieses eine Mal die richtige Entscheidung getroffen zu haben.
»Solange du ungelöste Konflikte mit dir herumschleppst, wirst du dich einsam und schwer fühlen«, erklärte sie mir, »es hilft, darüber zu sprechen.«
Ich sehnte mich nach Gesellschaft, nach Verständnis, nach einer Orientierung, die ich offensichtlich irgendwo auf meinem Weg verloren hatte. Der Schmerz über Omas Tod hatte etwas in mir ausgelöst, und es war, als ob aller Kummer, alle Probleme sich nun zusammengerottet hätten und sich wie eine Mauer vor mir auftürmten.
»Möchtest du wissen, was mir geholfen hat, wenn ich es schwer im Leben hatte?«, fragte Charlotte leise.
Ich nickte.
»Ich habe meine Probleme aufgeschrieben. Dann hatte ich sie schwarz auf weiß vor mir und konnte besser damit umgehen. Und mit der Zeit habe ich herausgefunden, dass viele der Probleme in meinem Leben auf die Beziehung zwischen meiner Mutter und mir zurückgingen.«
Voller Zweifel sah ich sie an. Was sollte sich an meinen Problemen mit meiner Mutter und all den anderen Dingen in meinem Leben ändern, wenn ich sie auf einen Zettel schrieb?
»Geh einen ersten Schritt, und schreib alles auf, was in deinem Leben nicht stimmt. Dann kannst du es Stück für Stück angehen«, hörte ich Charlotte sagen.
Von einer nahen Kirche schlug es sechs.
»Oje, schon so spät!« Ich sprang auf und sah sie erschrocken an. »Ich habe dir deinen ganzen Nachmittag gestohlen.«
Charlotte lachte.
»Ganz bestimmt lasse ich mir keine Nachmittage stehlen, wer weiß schon, wie viele mir noch bleiben. Ich habe die Zeit gern mit dir verbracht, und wir können das gern wiederholen, wenn du Lust hast. Aber bevor du gehst, schneiden wir dir einen Strauß Ringelblumen.«
An der Haustür umarmte ich sie spontan, genoss ihre zarte Berührung, ihren Duft nach Lavendel, Erde und Sandelholz. Am Gartentor drehte ich mich noch einmal um. Charlotte lehnte im Türrahmen, Frigga strich ihr um die Beine, eine freundliche Elfenhexe und ihre Katze blickten mir nach. Ich musste einfach fragen.
»Darf ich vielleicht schon nächsten Freitag wiederkommen?«
»Sehr gern. Wenn das Wetter gut ist, können wir ein wenig in der Erde wühlen.«
Ich ging durch den lauen Sommerabend, rosarote Blütenblätter unter meinen Füßen. Mein schlechtes Gewissen regte sich. Versuchte ich gerade, die Lücke, die Oma hinterlassen hatte, mit Charlotte zu füllen? War das nicht unfair beiden Frauen gegenüber, weil ich Charlotte als Ersatz benutzte und Oma darüber vergaß? Diese Gedanken führten unmittelbar zur nächsten Frage. Wann hatten diese zermürbenden Selbstzweifel begonnen, das ständige Hinterfragen meiner Gedanken, Gefühle und Entscheidungen? Ich trudelte orientierungslos durchs Leben wie ein Blatt, das der Wind mal in die eine, mal in die andere Richtung blies. Versunken in Gedanken und erfüllt von den Eindrücken des Nachmittags bei Charlotte ging ich nach Hause. Doch irgendwo in einem tiefen Winkel meiner Seele fühlte ich plötzlich einen Schimmer, als wäre dort in Charlottes zauberhaftem Garten ein winziges Samenkörnchen gepflanzt worden.
Zu Hause stellte ich den Strauß Ringelblumen in einen Glaskrug, erfreute mich an den leuchtenden Gelb- und Orangetönen, fühlte mich Oma Pauline ganz nah und dachte über Charlottes Worte nach. Sanft nahm ich einen der Blütenköpfe zwischen die Finger. So eine kleine Blüte stand für den gesamten Lebensweg. Aus meinem Schreibtisch kramte ich ein Notizbuch heraus, das ich vor langer Zeit gekauft, aber nie benutzt hatte. Es war grün. Die Farbe der Hoffnung.
In den darauffolgenden Tagen verspürte ich keinerlei Lust, mich hinzusetzen und in das grüne Notizbuch zu schreiben. Ab und zu sah ich zum Schreibtisch hinüber, wo es lag und darauf wartete, dass ich ihm meine Probleme anvertraute. Am Sonntag hatte ich Sanna angerufen, in der Hoffnung auf ein gemütliches Plauderstündchen oder einen gemeinsamen Spaziergang im Park. Sanna erzählte mir müde, aber unverkennbar glücklich von ihrem Baby, leider hätte sie keine Zeit, ihre Eltern kämen sie besuchen. Sanna und Muttersein – für mich passte das immer noch nicht zusammen. Sanna war in unserer Teenagerzeit immer die Wildere und Verrücktere von uns beiden gewesen, hatte oft über die Stränge geschlagen. Nach dem Abitur hatte sie die Kunstakademie besucht, eigentlich wollten wir das zusammen machen. In vielerlei Hinsicht hatte ich ihr nachgeeifert, jedenfalls in Gedanken. Jetzt war sie Mutter einer Tochter, lebte mit ihrem Freund Simon und dem Familienhund zusammen, einer Promenadenmischung namens Jasper, und schien rundum zufrieden.
In meinem Job plätscherte alles so vor sich hin wie immer. Morgens quälte ich mich aus dem Bett, nachdem ich mindestens dreimal die Schlummertaste des Weckers gedrückt hatte, und hetzte dann ohne Frühstück ins Büro. Dort verrichtete ich lustlos meine Arbeit und fragte mich zum wiederholten Mal, was ich hier eigentlich tat. Nach dem Abitur war ich heilfroh gewesen, die Schule hinter mir zu lassen, und hatte zum Entsetzen meiner Mutter keine Ambitionen gehabt, ein anderes Studium zu beginnen, nachdem ich die Aufnahmeprüfung der Kunstakademie nicht bestanden hatte. Ich fiel in ein tiefes Loch, vertrödelte den Sommer und hatte keine Ahnung, was ich mit meinem Leben anfangen wollte. Schließlich entschied ich mich für ein Jahr als Au-pair in Helsinki und leistete danach ein Freiwilliges Soziales Jahr in einer Werkstätte für körperlich und geistig behinderte Menschen. All das machte ich zwar mit Freude, aber es war nichts Langfristiges für mich, und danach wusste ich immer noch nicht, was ich mit meinem Leben anfangen wollte.
Schließlich machte ich eine Ausbildung zur Bürokauffrau, einfach, weil ich dem Druck nicht mehr standhielt, den ich von meiner Mutter bekam. Die ständigen Fragen, was ich denn zu tun gedenke und wie es weitergehen solle, nagten zu sehr an meinen Nerven. Nach der Ausbildung nahm ich eine Stelle als Teamassistentin in einem großen Architekturbüro an, das praktischerweise einem Bekannten meiner Mutter gehörte, und machte mir vor, Architektur sei schließlich auch etwas Kreatives.
An einem Wochenende hatte ich in einem Klub David kennengelernt, und nun waren wir schon fünf Jahre zusammen. David war zielstrebig und ehrgeizig, das