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Männer haben für alle Bereiche des Lebens ein weibliches Wesen: eine Sekretärin, eine Gattin, eine Haushälterin, eine Köchin, ein Kindermädchen … und was habe ich? – In diesem Moment fiel es mir ein. Das war die Lösung! Es könnte so schön sein: Die erfolgreiche Journalistin Karla übernimmt die Moderation einer Fernsehshow – und merkt leider zu spät, dass sie weder mit der Zielgruppe, noch mit deren Lieblingsthemen etwas anfangen kann: Waschbrettbäuche, Tattoos, Piercings. Auch privat läuft es überhaupt nicht rund für die Mutter von vier Kindern. Da hilft nur eins: Ein Mann muss her. Einer, der mit dem Nachwuchs zurechtkommt, ihr ohne Murren jede Arbeit abnimmt und keinerlei Ansprüche an sie stellt. Kurz: Karla verlangt nach einem Wunder und bekommt – immerhin – einen Au-pair-Jungen. Doch der entpuppt sich als etwas ganz anderes, als sie erwartet hätte … Eine tragikomische Liebesgeschichte, ein Blick hinter die Kulissen einer Kuppelshow und ein höchst eleganter Mord: Der Bestseller von Hera Lind, einer der erfolgreichsten deutschen Unterhaltungsautorinnen aller Zeiten. "Hera Lind schreibt Romane, deren Lästerton die Herzen der stolzesten Frauen trifft." Die Zeit
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Seitenzahl: 611
Veröffentlichungsjahr: 2023
Hera Lind
Roman
Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.
Männer haben für alle Bereiche des Lebens ein weibliches Wesen: eine Sekretärin, eine Gattin, eine Haushälterin, eine Köchin, ein Kindermädchen … und was habe ich? – In diesem Moment fiel es mir ein. Das war die Lösung!
Es könnte so schön sein: Die erfolgreiche Journalistin Karla übernimmt die Moderation einer Fernsehshow – und merkt leider zu spät, dass sie weder mit der Zielgruppe, noch mit deren Lieblingsthemen etwas anfangen kann: Waschbrettbäuche, Tattoos, Piercings. Auch privat läuft es überhaupt nicht rund für die Mutter von vier Kindern. Da hilft nur eins: Ein Mann muss her. Einer, der mit dem Nachwuchs zurechtkommt, ihr ohne Murren jede Arbeit abnimmt und keinerlei Ansprüche an sie stellt. Kurz: Karla verlangt nach einem Wunder und bekommt – immerhin – einen Au-pair-Jungen. Doch der entpuppt sich als etwas ganz anderes, als sie erwartet hätte …
Eine tragikomische Liebesgeschichte, ein Blick hinter die Kulissen einer Kuppelshow und ein höchst eleganter Mord: Der Bestseller von Hera Lind, einer der erfolgreichsten deutschen Unterhaltungsautorinnen aller Zeiten. „Hera Lind schreibt Romane, deren Lästerton die Herzen der stolzesten Frauen trifft.“ Die Zeit
Widmung
Hauptteil
Danke
Für Charles, Casper und Theo und für Diego und Michela Glaus in meinem Lieblingshotel Albergo Losone
Nebenan stand eine dicke Dame. Sie war nackt, bis auf ein hautfarbenes Mieder, das ihren ausladenden Hintern nur spärlich bedeckte, und ein Höschen, über das ihr Bauch in welligen Falten hing.
»Bei Ihrem kleinen Problem können wir Ihnen selbstverständlich helfen«, sagte eine Männerstimme.
»Ach, Doktor, ich wäre Ihnen ja so dankbar«, freute sich die Dicke. »Nicht weil mein Mann mich nicht schön fände. Aber ich würde einfach gerne schlank sein. Sie wissen schon: das persönliche Wohlfühlgefühl!« Sie kicherte nervös.
»Gib mir mal die Malerkreide«, befahl der Doktor über die Schulter. Ein weißbekittelter Arm erschien im Blickfeld. Ich hoffte, er würde die Tür nicht zuschieben.
»Stehen Sie bitte mal gerade. Nicht den Bauch einziehen!« Der Arzt beugte sich über die Fettmassen. Ich konnte nicht sehen, was er tat, aber ich konnte es ahnen.
Die Dame kicherte. »Das kitzelt!«
»Sie haben ein kombiniertes Unterbauch-Oberbauch-Taillen-Hüften-Problem«, stellte der Arzt fest. »Das ist nicht in einer Sitzung zu erledigen.«
»Ach, Herr Doktor! Ich habe doch Zeit!«
»Haben Sie sich schon über die Finanzen Gedanken gemacht?«
»Ach, Herr Doktor! Ich habe doch Geld!«
»Und natürlich die Rreiterhosen«, mischte sich eine weibliche Stimme ein. »Wilfrried, da würde ich eine kombinierte Gesäß-Obärrschänkäll-Unterrschänkäll-Waden-Knie-Fettabsaugung vorrschlagän. Da kriegst du aus jedem Schänkäll sechs Liter raus!« Soviel ich mitgekriegt hatte, gehörte diese Stimme der Gattin des Meisters. Erstens sagte sie Wilfried zu ihm, und zweitens sah sie aus wie Dolly Buster. Auch im Gesicht. Selbst die Lippen waren künstlich aufgeblasen. Ihre Augenbrauen verloren sich irgendwo in Richtung Haaransatz. Außerdem sprach sie wie Dolly Bustäär. Vielleicht war sie es!
Ich rutschte nervös auf meinem Wartezimmersessel hin und her. Mein Gott, war ich tief gesunken. Ich saß tatsächlich bei einem Schönheitschirurgen! Ich, Karla Stein, fast vierzig, geschieden, vier Kinder, eine Schwester.
Einerseits: wie peinlich!
Andererseits: wie unterhaltsam! Zu belauschen, wie das Doktorpaar Dickmadam auszuhöhlen trachtete. Auszuhöhlen, dachte ich und kicherte schäbig in mich hinein. Im wahrsten Sinne des Wortes! Was es nicht alles gibt!
Amüsiert griff ich nach einem Praliné, das auf gläsernem Tischchen zwischen vielen leckeren Schokoriegeln und Toffifees der wartenden Dame harrte. Mit vollem Munde blätterte ich in dem Hochglanzprospekt herum, den Dolly Buster mir überreicht hatte, bevor sie ins Beratungszimmer gegangen war. Neben dem Foto eines Frauenkörpers, der entweder Nadja Auermann oder Claudia Schiffer gehörte (der Kopf war leider abgeschnitten), stand in großen blauen Buchstaben: »Figurkonturierung durch Fettabsaugen in Tumeszenz-Lokalanästhesie.« Toll sah die Auermann-Schiffer aus. Wie einfach das war! Ich packte mir ein krokantiges Nussplätzchen aus. Wozu denn noch fasten, wenn es solche Methoden gibt! Einfach Fett absaugen. Wie Staub saugen.
»Meine Freundin hat gesagt, es können Dellen zurückbleiben«, durchbrach die Frau das arbeitsintensive Schweigen im Nebenzimmer.
»Wir sind in der Lage, mit feinsten Kanülen bildhauerische Feinstmodellierung vorzunehmen, gnädige Frau«, sagte Wilfried zu der Dicken.
»Und – tut das weh?«, fragte die Dame bänglich.
»Wir spritzen Ihnen eine Kochsalzlösung unter die Haut, die sich im Laufe der nächsten Stunde verflüssigt, und dann saugen wir sie zusammen mit den Fettzellen wieder ab.«
»Tja«, sagte die Dame, »ich weiß nicht …«
Schade, dachte ich. Warum ist sie so mutlos und unentschlossen?
»Wirr versätzen Sie gärrne auf Wunsch in Dämmerschlaf«, gurrte Dolly. Ihre Augenbrauen waren jetzt bestimmt unter den Haaransatz gekrochen. »Es gibt abärr auch viele Patientinnen, die wollen zusähen.«
Au ja, au ja. Ich wippte auf meinem Stühlchen hin und her.
»Ach, besser nicht«, wehrte die Dickmadam kleinlaut ab.
»Wir haben hier Färnsäherr und Viddeoanlage und Stärreoanlagge und was immär Sie wünschen.«
Och, dachte ich. Nicht schlecht. Da kann man, während man wie ein Frosch aufgeblasen wird, derweil ein bisschen »Fliege« oder »Meiser« gucken. Und Pralinen reichen sie einem ja auch.
»Und das Resultat?«, fragte die Dame. »Wie sehe ich danach aus?«
»Obwohl die Fettabsaugung nach Tumeszenz-Lokalanästhesie oft zu sensationellen Ergebnissen führt, gnädige Frau, kann man bei Ihnen natürlich nicht erwarten, dass Sie die Gewebekonsistenz einer achtzehnjährigen Twiggy erreichen werden.«
»Und was ist mit der Cellulite? Meine Freundin sagt nämlich, sie hat nach der Operation mehr Dellen gehabt als vorher!«
»Da wird sie bei einem Quacksalber gewesen sein«, sagte Wilfried verschnupft.
»Ja, die war da bei so einem Schönheitschirurgen, den hatte sie vorher bei Vera am Mittag gesehen.«
»Solche Auftritte habe ich nicht nötig«, sagte Wilfried. »Ich gehe nicht ins Fernsehen, und ich inseriere nicht in Zeitschriften.«
»Und was machen Sie dann mit dem Fett?«, fragte die Dame.
»Hier!« Wilfried kramte in einem Wandschrank herum.
Ich hörte ihn klappern. »Anderthalb Liter, anderthalb Liter, anderthalb Liter, anderthalb Liter, ein Liter, ein Liter, ein halber Liter.« Wilfried keuchte leise.
Besorgt reckte ich den Hals. Armer Wilfried. Was tat er da?
»Das hat er alles aus einer einzigen Patientin rrausgeholt«, sagte Dolly Buster stolz.
Ich lugte unfein durch den Türschlitz. Neben dem Meister standen tatsächlich sechs Eimer mit gelblicher Flüssigkeit auf dem Tresen.
»Donnerlüttchen«, staunte die dicke Dame im Slip. Sie drehte mir ihren delligen Hintern zu. Ich überlegte blitzschnell, wie viel Eimer Wilfried allein mit ihrer rechten Arschbacke füllen würde.
»Und was machen Sie mit dem Fett?«, wiederholte die Dame ihre Frage.
»Sie können es sich gerrne als Andänken mit nach Hause nähmen«, lockte Dolly. »Das machen viele!«
Ich dachte an das kleine Holzdöschen mit der Aufschrift »Milchzähne«, das mein kleiner Oskar stolz im Schulranzen mit sich herumtrug. Vielleicht wollte diese Dame ihre Fettmassen fortan stolz in mehreren Eimern mit sich rumtragen.
Kichernd ließ ich mich wieder in den Sessel fallen. Eigentlich war es doch recht unterhaltsam hier. Entspannt griff ich nach einem Schokoriegel.
Ein Jahr war es her, auf den Tag genau ein Jahr, da hatte Paul mir ein Fax gereicht: »Guck mal, da fragt dich jemand, ob du mit deinem Sender verheiratet bist! Es ist der sender.«
»Zeig her.« Ich riss Paul das Fax aus der Hand. Dass Paul immer meine Faxe zuerst lesen musste! Aber so war er, der Paul. Mir in allen Dingen des Lebens immer einen Schritt voraus. Seit wir uns kennengelernt hatten. Er war ein Mann und deshalb per se klüger, reifer, erfahrener.
»Sehr verdächtig«, sagte Paul. »Da will dich einer abwerben.«
»Mit dem Sender verheiratet, so’n Quatsch«, hatte ich gemurmelt.
Katinkalein hatte mit Knetgummi gespielt, und die Jungen waren in der Schule. Normalerweise saß ich um diese Zeit am Schreibtisch und bereitete mich auf meine wöchentliche Sendung »Endlich allein« vor. Eine Sendung von geschiedenen Frauen für geschiedene Frauen. Mit Tipps und Tricks, Talk und Themen rund um Scheidung, Alleinerziehen, Unterhalt, Job, Karriere, Au-pair-Vermittlung und so weiter. Das Interessante war, dass über vierzig Prozent unserer Zuschauer männlich waren. Die Einschaltquote stieg konstant. Es war eine gute Sendung. Ich arbeitete viel, aber ich lernte auch viel.
Paul fand es allerdings nicht gut, dass ich als Gattin eines so berühmten Dirigenten, wie er es war, auch noch arbeitete. Er wollte mich als »Frau an seiner Seite«. Es ärgerte ihn bisweilen, dass meine Quoten besser waren als seine. Er leitete ein internationales Jugendorchester und eine eigene Fernsehsendung mit Namen »Vorsicht: Kultur«.
Paul fand, dass eine Frau, besonders eine, die mehrere Kinder hatte, zu Hause zu bleiben hatte. Er erwartete, dass ich die drei Kinder versorgte und abends nach seinen Konzerten mit einem warmen Essen auf ihn wartete. Ich hatte mehrmals angeregt, dass er bei den Kindern bleiben und mich mit einem warmen Essen erwarten solle, aber für diese Art von Scherzen hatte Paul keinen Sinn.
Da ich ersteres nicht ausschließlich und letzteres niemals tat, waren wir in letzter Zeit nicht mehr besonders gut aufeinander zu sprechen.
Paul warf mir vor, dass ich ihn nicht mehr liebte.
Für ihn hieß »lieben« nämlich zu Hause sitzen und warten. Ich warf Paul vor, dass er mich nicht mehr liebte. Für mich hieß »lieben« nämlich leben und leben lassen. Als mir wohlmeinende Freundinnen – übrigens Frauen, die von Beruf »Gattin« waren und sehr viel Zeit hatten, ihre Nase in Dinge zu stecken, die sie nichts angingen – auch noch zutrugen, Paul habe immer mal wieder ein Verhältnis mit dem einen oder anderen Orchestermädel, mochte ich erst recht nicht mehr zu Hause sitzen und mit dem warmen Essen auf ihn warten. Und meine Sendung »Endlich allein« machte mir immer mehr Spaß.
Ich vertiefte mich in das Fax.
»Sehr geehrte Frau Stein«, lautete die Überschrift des Schreibens, das von einem renommierten Sender namens der Sender aus München kam, »mit Interesse sehe ich seit Jahren Ihre Sendung ›Endlich allein‹. Nun möchte ich anfragen, ob Sie mit Ihrem derzeitigen Sender verheiratet sind. Wenn nicht, würde ich Ihnen gern ein Angebot machen, das Sie vielleicht noch mal in eine ganz andere Richtung führen könnte. Finanziell kann ich Ihnen gut und gerne das Vierfache dessen anbieten, was Sie zurzeit verdienen. Habe ich Ihre Neugier geweckt?
Oda-Gesine Malzahn
Redaktionsleitung ›Wört-Flört‹«
»Klar hat die meine Neugier geweckt«, murmelte ich.
»So? Dann bist du ja noch weniger bei den Kindern als bisher«, maulte Paul, der gerade Zeitung las.
Paul war vormittags immer zu Hause, weshalb er aber mitnichten jemals etwas tat, das mit Kindern oder Haushalt zu tun hatte.
»Sie bietet mir das Vierfache an Geld!«
»Das hab ich gelesen.« Paul muffelte in seine Zeitung hinein. Männer können es schwer ertragen, wenn Frauen mehr Geld verdienen als sie. »So einen schwachsinnigen Scheiß wirst du ja wohl nicht machen.«
»Warum nicht?«
»Wenn du dich mit so etwas Niveaulosem abgibst wie mit diesem ›Wört-Flört‹, dann ist das das Ende unserer Beziehung.«
Aha. Das waren klare Worte. Paul hatte mir schon oft das Ende unserer Beziehung angedroht. Ich beschloss, die Drohung endlich mal ernst zu nehmen.
»Warum?«
»Du hast zwischen diesen jungen Leuten nichts verloren. Mach dich nicht lächerlich. Du hast drei Kinder und wirst nächstes Jahr vierzig.«
»du hast drei Kinder und wirst nächstes Jahr fünfzig!«, gab ich zurück.
Das war natürlich völlig blöd, denn bei Männern ›gildet‹ so was nicht.
Ein Wort gab das andere. Ich solle nicht immer Äpfel mit Birnen vergleichen, schrie Paul mich an, ich sei eine völlig verunglückte Emanze geworden, seit ich diese schreckliche Scheidungssendung moderiere, und er könne es nicht länger ertragen, in seinem eigenen Haus wie ein ungeliebter Gast behandelt zu werden, der sich auch noch selber den Kaffee aus der Kaffeemaschine holen müsse.
Ich höhnte, dass er sich eine Hausmutti hätte erwählen sollen, als er sich damals entschloss, sich zu vermählen.
Er habe mich mal als attraktive und lebensfrohe Frau geliebt, beschwerte sich Paul, und er habe sich ein Nest gewünscht und ein Haus und eine Familie, das stünde ihm doch wahrlich zu bei dem schweren Beruf, den er ausübe.
Ich entgegnete, dass auch ich mir all das gewünscht hätte, da auch ich einem anstrengenden Beruf nachginge.
Paul schmollte, dass er mich niemals dazu gezwungen habe.
Ich entgegnete keck, dass auch ich ihn nicht dazu zwänge, seinem Beruf nachzugehen. Und dass ich mehr verdiente als er, schmierte ich dem Armen auch noch aufs Butterbrot.
Wir versöhnten uns zwar an diesem Tag vorübergehend wieder miteinander, aber ich ließ mich nicht im Geringsten davon abbringen, mir dieses Fax von Frau Malzahn sehr gründlich durch den Kopf gehen zu lassen. Auch auf die Gefahr hin, dass mein Gatte mich verließe.
»SENTA?!«
Immer wenn ich etwas auf dem Herzen hatte, schrie ich nach Senta. Senta war für mich wie eine Mutter. Stand mit ihrer schneeweißen Rüschenbluse in der Küche, schälte Kartoffeln oder schnippelte Möhren, beschäftigte derweil noch ein bis drei Kinder mit Malbüchern, Hausaufgaben oder Knetgummi und war obendrein noch voll aufnahmefähig. Senta hatte stets für alle ein offenes Ohr. Sie war schon immer der Familienmensch gewesen – im Gegensatz zu mir, die ich gar nicht schnell genug aus dem Haus herauskommen konnte. Und ausgerechnet ich kriegte ein Kind nach dem anderen, während Senta ledig und kinderlos geblieben war.
Schon stand sie da, das Küchenmesser in der Hand, und sprach: »Ja, Schwesterherz?«
»Kennst du ›Wört-Flört‹?«
»Den Nougatriegel?«
»Die Sendung!«
Senta wischte sich die Hände an der Küchenschürze ab. »Das ist nicht gerade was sehr Niveauvolles. Früher war es mal ganz nett, da hat es die Oda-Gesine Malzahn jahrelang selbst moderiert, aber das war in den Sechzigern. Dann ist sie plötzlich vom Bildschirm verschwunden. War ’ne sehr attraktive, charmante und elegante Frau. Der Schwarm aller Männer damals! Paul kennt die bestimmt noch. Danach haben verschiedene junge Männer ›Wört-Flört‹ moderiert. Die hatten alle irgendeinen charmanten Akzent.«
»Ich habe keinen«, sagte ich. »Und was ist das für ’ne Sendung?« bohrte ich nach.
»Eine Jugend-Kult-Sendung«, sagte Senta. »Alles junge schöne Menschen. Auf der einen Seite einer allein, in der Mitte ’ne Wand, auf der anderen Seite drei, der eine und die drei sehen sich gegenseitig nicht, die hören sich nur.«
»Dann spielt es also keine Rolle, ob sie schön und jung sind?«, fragte ich.
»Doch! Die sehen alle sehr sexy aus. Aber das Erstaunliche ist: Die sind alle wahnsinnig witzig, schlagfertig und intelligent. Da fragt einer was, und blitzschnell geben alle drei auf der anderen Seite eine originelle Antwort. Ohne zu stocken oder auch nur zu überlegen! Und keiner sagt dasselbe wie sein Vorgänger! Das ist schon sensationell.«
»Und was ist der Sinn der Sendung?«
»Na, das ist halt ’ne Kuppelshow! Für Singles! Am Schluss machen sie eine Reise mit dem ›Wört-Flört‹-Jet«, lachte Senta.
»Wohin?«
»Ach, so in die nähere Umgebung. In der nächsten Sendung erzählen sie, wie es war. Manchmal haben sie sich verliebt, manchmal nicht.«
Ich schwieg verblüfft. »Und wieso kenne ich diese Sendung nicht?«
»Keine Ahnung! Sie kommt allerdings zu einer Sendezeit, in der Mütter ihre Kinder ins Bett bringen. Kurz vor acht.«
Klar. Für Mütter war »Wört-Flört« wohl auch nicht gedacht. Was sollen Mütter mit »Wört-Flört« ?
Ich runzelte die Stirn. »Für eine solche Sendung bin ich doch überhaupt nicht geeignet!«
»Finde ich auch«, sagte Senta.
»Und Paul findet das erst recht. Wieso will die ausgerechnet mich?«
»Frag sie doch«, sagte Senta.
Mit einer angemessenen Verspätung von siebeneinhalb Minuten betrat ich das Edelrestaurant des Bayrischen Hofes, wohin Frau Malzahn geladen hatte. Mein »Zimmer« war eine Suite im dritten Stock, bestehend aus zwei riesigen Schlafzimmern mit je einem Doppelbett, einem Wohnzimmer, einem Konferenzraum, zwei Bädern und drei Ankleidezimmern. Für diese eine Nacht war der Aufwand ein bisschen übertrieben, fand ich, aber andererseits fühlte ich mich schwer gebauchpinselt. Frau Malzahn breitete den roten Teppich für mich aus! Was führte sie nur im Schilde?
Ich suchte nach einer gutaussehenden, gepflegten Dame von Mitte Fünfzig, so wie Senta sie beschrieben hatte.
Da saß sie. Tatsächlich. Mein Gott. So ein Schock.
Frau Malzahn war dick. Um nicht zu sagen fett.
Ein riesiger wabernder Fettkloß mit grauen Haaren im schwarzen Zweimannzelt. Sie hatte ihre Massen erstaunlich wirtschaftlich auf dem geschwungenen Stuhl, der mit rötlichem Samt überzogen war, verteilt. Sie lachte mich freundlich an. Das flößte mir Vertrauen ein.
Bleiben Sie liegen, wollte ich sagen, als sie sich bemühte aufzustehen, um mich zu begrüßen. Ich beherrschte mich und lächelte verbindlich.
»Sie sehen viel besser aus als im Fernsehen!«. sagte Frau Malzahn, während sie sich schnaufend wieder in ihren Stuhl fallen ließ. »Viel jünger und schlanker und natürlicher und netter.«
Ich wertete das als einen gelungenen Auftakt. Leider konnte ich keines ihrer Komplimente erwidern. Gern hätte ich gesagt: Sie sehen viel dicker aus, als meine Schwester Sie geschildert hat, viel älter und fetter und grauer und schlampiger – aber ich unterließ es.
»Danke«, sagte ich stattdessen schlicht.
»Wie kommt das, dass Sie so nett und natürlich aussehen?«
»Ich bin so nett und natürlich.« Was hatte sie denn gedacht?
»Ein Grund mehr, zu uns zu kommen«, sagte Frau Malzahn. »Ich suche eine nette und natürliche Frau mittleren Alters. Und genau das sind Sie.« Dabei lachte sie breit.
Ihr Hals wabbelte. Sie hatte was Grünes zwischen den Zähnen. Ein Fitzchen Schnittlauch oder Spinat oder so was. Ich starrte sie an. Aber ich war mir des Ernstes der Lage durchaus bewusst. Eine Frau von Welt lacht nicht und glotzt nicht, wenn ihr Geschäftspartner was zwischen den Zähnen hat.
»Aus der Tatsache, dass Sie gekommen sind, schließe ich, dass Sie keinesfalls mit dem bisherigen Sender verheiratet sind«, dröhnte Frau Malzahn.
»Ich halte nicht viel vom Heiraten«, lächelte ich.
»Das höre ich gern«, sagte Frau Malzahn mit fettem Timbre. »So gefallen Sie mir.« Sie spendierte mir ein herzliches Grinsen.
Vielleicht war es auch Blattsalat oder Dill.
Frau Malzahn winkte dem Kellner, der auch dienstbeflissen herbei glitt, und bestellte als Aperitif Champagner und als Vorspeise Kaviar.
»Sie sind die Frau von dem … Dings …?«
»Ja«, sagte ich.
»Und? Lässt der sie …?«
»Was?«
»Machen. Also arbeiten. Dürfen Sie tun, was Sie wollen?«
»Bin ich verheiratet oder strafgefangen?«, fragte ich zurück.
Frau Malzahn lachte, dass ihr Gaumensegel flatterte. »Sie gefallen mir unheimlich, Mädchen.«
»Sie mir auch.«
»Ich hoffe, es ist Ihnen recht, wenn wir Kaviar nehmen?«
Klar. Ich nickte. Mir war Kaviar sehr recht. Senta und ich, wir löffelten abends beim Fernsehen immer mal gerne zwei, drei Kilo Kaviar, und unseren Kindern schmierten wir den aufs Schulbrot.
»Wir sind übrigens nicht die Einzigen, die heute Abend neue Verhandlungen führen«, sagte Frau Malzahn und wies auf einen der Nachbartische.
Da saß ein junger Mann im Designeranzug, aus dem ein aus gemergelter borstiger Kopf ragte, und speiste Wachteleier mit einer blonden Mageren, die ihre millimeterkurzen Strähnen zu klebrigen Zipfeln geigelt hatte. Sie hatte einen weißblau gestreiften Sträflingsanzug an, der an den Knien zerrissen war. Die Beiden sahen aus, als kämen sie aus jahrelanger Gefangenschaft in Sibirien und wären noch nicht dazu gekommen, sich die Haare zu waschen beziehungsweise ein bisschen nett zu machen, bevor sie Wachteleier aßen. Der männliche Sträfling war unrasiert.
»Das ist der Gusti Satthaber mit der Stella Potatoe«, sagte Frau Malzahn. »Die will er für sein neues Nachrichtenmagazin.«
Gusti Satthaber war Programmchef eines Privatsenders, darüber war ich informiert. Aber was wollte er mit der mageren Zotteligen?
»Die Stella Potatoe hat bis jetzt bei VIVA die Hitparade moderiert«, gab Frau Malzahn Auskunft. »Aber die will jetzt was Seriöses machen.«
Was die dicke Frau Malzahn alles wusste. Ich hatte mein Lebtag noch nicht VIVA geguckt. Meine Kinder waren noch nicht in dem Alter. Die Zippelige war mir völlig unbekannt.
»Apropos seriös«, sagte ich. »Erzählen Sie mir von ›Wört-Flört‹!« Natürlich hatte ich mir inzwischen »Wört-Flört« angesehen. Mein erster Eindruck hatte sich nicht ganz mit dem von Senta gedeckt, aber auch nicht mit dem von Paul, der das Ganze für komplett niveaulosen Schwachsinn hielt.
»Wir sind der absolute Quotenrenner im Vorabendprogramm«, sagte Frau Malzahn. »Im Winter erreichen wir sieben Millionen Zuschauer, im Sommer immer noch fünf. Unser Publikum ist jung und trendy, deswegen die Differenz: Im Sommer gehen die alle kraxeln und segeln und paragliden und … na, wie heißen die Dinger mit Rollen, Sie wissen schon, nicht Rollschuhe, sondern …«
»Rollerblades«, sagte ich.
»Genau«, sagte die dicke Frau Malzahn.
»Und wie kommen Sie nun ausgerechnet auf mich?«
»Sie sind doch DIE Scheidungsfrau in Deutschland, nicht, Schätzchen? Sie haben Ihr eigenes Publikum. Solche, die schon mal auf die Schnauze gefallen sind. Die Umfrage des Forsa-Meinungsforschungsinstitutes beweist: Die Geschiedenen schauen alle wieder ›Wört-Flört‹. Und die paar Millionen hätten wir gern dazu.«
»Wer ist wir?«
»Der Sponsor der Sendung, die Firma ›Nesti-Schock‹, und wir, DER SENDER.«
Ich staunte. Nicht zuletzt über die Worte »Schätzchen« und »Schnauze«. Und das in diesen heiligen Hallen. Aber Frau Malzahn war halt schon lange mit der Jugend-Kult-Sendung verwachsen. Da redet man locker in solchem Jargon.
Der Kellner servierte den Champagner. Ich hatte Angst, dass sie zu ihm sagen könnte: »Verpiss dich, Alter!«
»Außerdem«, triumphierte Frau Malzahn, »ist das der PR-Gag: Deutschlands Scheidungsfrau moderiert eine Kuppelshow!«
Wir stießen an. Frau Malzahn ließ mich wieder den grünen Schnippel zwischen ihren Zähnen sehen.
»Auf einen gewinnbringenden Abend!«
Wir tranken.
Frau Malzahn wandte sich, soweit das bei ihren Massen möglich war, zu dem Programmdirektor der Konkurrenz um und schrie: »Prost, Gusti! Viel Erfolg mit der geilen Kleinen!« Dann lachte sie schallend.
Gusti lächelte gequält und prostete mit seinem Mineralwasser herüber. Die Zippelige steckte sich eine Zigarette an und ließ uns ansonsten nur ihr gestreiftes Hintergesicht schauen.
»Ist die nicht ein bisschen zu … ausgeflippt für ein Nachrichtenmagazin?«, fragte ich.
»Der Sender schiebt jährlich Milliarden Verluste«, antwortete Frau Malzahn zufrieden. »Die müssen verdammt an ihrem Image arbeiten. Nur noch Alte und Kranke, die da einschalten. So Leute, die auch das Klassik-Zeugs von Ihrem Mann gucken. Nichts für ungut, Schätzchen. Aber die Jungen zappen weg. Laut einer Forsa-Umfrage schaut nur noch jeder achte Bundesbürger unter fünfunddreißig diesen Sender, während in Alters- und Pflegeheimen von morgens bis abends Satthabers Sender eingeschaltet ist. Klar, dass der Gusti am Stock geht. Sieht richtig alt aus, der arme Junge. Dabei ist er erst vierunddreißig!« Sie prostete dem armen Herrn Satthaber noch einmal herzlich zu und lachte schadenfroh.
»Na so was«, bemerkte ich verwundert.
»Was dieser Sender braucht, ist ein knackiges Girl mit einem trendy Gesicht«, sagte sie. Ihr Halsspeck wabbelte. »Möglichst mit Nasenpiercing oder Ring im Nabel.« Sie wischte sich mit der fetten Hand über die Backen. Dabei verschmierte sie ihren Lippenstift.
»Das leuchtet natürlich ein«, sagte ich. »Das ist immens wichtig für ein Nachrichtenmagazin.«
Der Kellner brachte den Kaviar. Es war ein bescheidenes Häufchen schwarzglänzender Schuhcreme auf einem riesigen goldrandigen Teller, auf dessen leerer Hälfte eine halbe blässliche Toastscheibe kränkelte. Der Kellner drapierte liebevollpflichtfroh noch ein Ensemble aus Perlmuttlöffeln, Schälchen, Zitronenscheibchen im Wässerchen und allerlei überflüssigem Kram um uns herum. Automatisch wollte ich den ganzen Krempel wegschieben, weil meine Kinder zu Hause immer in alles reingriffen und mit dem Löffel auf Teller hauten und Schweinereien machten, bevor das Essen überhaupt angefangen hatte. Ich ließ es bleiben.
»Und Ihr Sender braucht kein trendy Gesicht?«, fragte ich, während ich zur äußersten von sehr vielen Gabeln griff. Mit Appetit stocherte ich im Kaviar herum. Ich war wirklich gespannt, wie dieses vielgepriesene Zeug schmeckte.
»Den Perlmuttlöffel, Schätzchen!« Frau Malzahn riss mir die Gabel aus der Hand und lachte sich kaputt. »Gott, was sind Sie süß!«
Herr Satthaber guckte sich gequält nach uns um.
Ich griff artig zu dem Perlmuttlöffel und mampfte das glibberige Zeug. Schmeckte wirklich nicht schlecht. Bisschen wässrig, bisschen salzig, bisschen fischig, aber dafür, dass ich ziemlich hungrig war, ging’s. Wie sang der Vater von Hänsel und Gretel, während er in Lumpen in seiner Bretterbude herumsprang und tanzte? »Trallalalaa, trallalalaa, Hunger ist der beste Koch!« Ich wusste das, weil ich »Hänsel und Gretel« schon sechsmal in Folge gesehen hatte.
Frau Malzahn verteilte ihren Kaviar gekonnt auf dem Toastschnittchen, bevor sie hinein biss. Ein kleines, glibberiges, glänzendes schwarzes Fischei blieb an ihrer Unterlippe kleben, so sehr sie auch kaute und mampfte. Und da soll man den ganzen Abend verhandeln und freundlich tun und darf nicht lachen und nicht sagen: »Sie ham da was, gehn Se ma Zähne putzen.« Hach. Ich hasse das.
»Also bei ›Wört-Flört‹ ist das ja so«, sagte Frau Malzahn, während sie krachend in ihren schwarzbestrichenen Toast biss, »dass die Sendung von den Kandidaten lebt. Ja? Ham Sie’s verinnerlicht?«
Ich nickte. Ja klar. Ich verinnerliche pausenlos alles, was um mich herum passiert.
»Die sind alle jung und knackig und trendy und witzig und sexy und frech. Ham Sie’s mal gesehen?«
»Klar, ständig!«, log ich. Meine Augen wurden zu Dollarzeichen, je länger ich darüber nachdachte, dass ich nicht nur mehr als Paul, sondern viermal soviel wie Paul verdienen würde.
»Die Kandidaten sind das Wichtigste! Für die Moderation brauchen wir eine unauffällige, ja, bürgerliche Person«, zischte Oda-Gesine, während sie mit der leinenen Serviette die Krümel aus ihren Mundwinkeln wischte. Nun war der Lippenstift auf der anderen Seite auch noch verschmiert.
»Ach so, nee, ist klar«, antwortete ich.
»Und Sie«, Oda-Gesine kaute und würgte und spülte mit einem Champagnerschlückchen nach, »sind natürlich die Bürgerlichkeit in Person. Mutter von einem Haufen Kindern, glücklich verheiratet mit so einem … Stabschwinger … nichts für ungut … Die Herausforderung schlechthin für eine Jugend-Kult-Sendung. Also ich setz voll auf Risiko. Wir brauchen einfach einen kleinen Skandal.«
»Ach so«, sagte ich.
»Hinterziehen Sie zufällig Steuern, oder haben Sie eine Affäre, von der noch niemand weiß?«
»Weder noch«, bedauerte ich.
»Kann ja noch kommen«, brummte Frau Malzahn. »Was nehmen wir zum Hauptgang?«
»Danke, ich bin satt«, wehrte ich ab.
»Das ist gut so«, freute sich Frau Malzahn. »Ich will eine schlanke Moderatorin.« Es schien ihr kein bisschen peinlich zu sein, dass sie die Formen eines Nilpferdes hatte.
Frau Malzahn hatte noch Lust auf Fisch. Mit Spinat und Knoblauch. Und Kartoffelgratin.
Der Kellner brachte die Weinkarte. Frau Malzahn schob ihre Brille auf die Nasenspitze und versenkte sich sehr konzentriert in die etwa sechzigseitige Mappe.
»Den achtundsechziger Fendant«, entschied sie.
Der Kellner entfernte sich mitsamt der dicken Mappe.
»Passen Sie auf, Schätzchen. Ich schreib Ihnen jetzt mal eine Zahl auf die Serviette«, sie kramte nach ihrem Kugelschreiber, »und dann sagen Sie mir ja oder nein.«
Sie kritzelte eine fünfstellige Zahl auf die leinene Serviette und schob sie mir hin. Mir wurde heiß.
»Im Monat?«, fragte ich vorsichtig.
Herr Satthaber spähte zu uns herüber.
»Oder was …?«, fügte ich verwirrt hinzu.
»Pro Sendung«, grinste Frau Malzahn.
Ich schielte zu dem Tisch mit Stella Potatoe und Gusti Satthaber hinüber. Tatsächlich. Da lag auch eine vollgekritzelte Serviette. Stella kritzelte gerade etwas dazu. Ob ich auch noch eine Null hinzufügen sollte?
»Tja, also …«, räusperte ich mich. »Wie hoch ist denn der Arbeitsaufwand für so ein … Format?«
»Die Arbeit machen wir, Schätzchen«, sagte Frau Malzahn.
Der Wein kam. Oda-Gesine prüfte die Flasche, ließ sich ein Schlückchen eingießen, kippte es herunter und sagte kurz angebunden: »O.K.«
Der Kellner merkte gleich: Jetzt kann man die Dame nicht mit Lappalien belästigen. Er schenkte uns hastig die Gläser halbvoll und verbeugte sich.
»Wir haben ein Team von sechzig Leuten«, sagte sie, als der Kellner davongeflogen war. »Die Firma gehört mir.«
»Nicht schlecht.«
»Perfekt organisierter Betrieb«, grinste die Chefin. »Vom Kandidatencasten über Transport und Organisation, Betreuung, Autoren natürlich, Gagschreiber, Negerer …«
»Negerer?«
»Ich halte nichts vom Teleprompter. Bei uns wird alles genegert. Auf große Pappschilder.«
»Ach so.«
»Dann haben wir natürlich jemanden für Ihre An- und Abmoderationen, die werden Ihnen wortwörtlich geschrieben, die stehen dann auf dem Neger.«
»Praktisch.« Unglaublich, wie die vom Fernsehen sich ausdrückten. Ziemlich geschmacklos.
»In meiner Sendung denkt sich keiner was selbst aus. Nur ich. Und meine Autoren arbeiten mir zu. Die anderen Autoren schreiben die Antworten für die Kandidaten.«
»Das leuchtet ein.«
»Dann gibt’s die Coaches, die üben mit den Kandidaten die Antworten. Muss ja alles auf den Punkt kommen. Wir haben pro Sendung nur vierundzwanzig Minuten. Da kann man nicht drauf warten, dass einer äh sagt oder rumstottert oder womöglich gar nichts sagt. Da muss alles haargenau in der Sekunde kommen, wo wir’s brauchen. Zack, zack! Das üben die. Den ganzen Tag.«
»Straff organisiert.« Ich nickte beeindruckt.
»Ja. So ist das«, konstatierte Frau Malzahn stolz.
»Funktioniert reibungslos. Sechzig Leute. Und auf alle kann ich mich verlassen.« Sie rieb sich zufrieden die Hände.
Der Fisch kam. Der Kellner balancierte andächtig zwei sehr starr glotzende tote, flache Fische auf zwei Teller, bettete sie in dunkelgrünen, im eigenen Saft schwimmenden Spinat, klebte hingebungsvoll ein Häufchen Kartoffelgratin daneben, streute Knoblauch- und Mandelflocken darüber, legte sorgfältig einen Zitronenschnitz dazu und drehte dann die Teller – »Vorsicht, heiß!« – unter Zuhilfenahme einer leinenen Serviette sorgfältig in die Richtung, von der aus die toten Fische am besten ihre Verspeiser anglotzen konnten.
»Guten Appetit.«
»Danke, ich kann nicht …«
»Ach, da kommt ja auch der Dieter«, freute sich Oda-Gesine und winkte einem braungebrannten, angegrauten Schönling mit eisblauen Augen zu. »Der verhandelt hier auch immer.« Und richtig! Dem Eisblauen folgte eine vollbusige Blonde im Hosenanzug mit Krawatte. Sie hatte diesen genervten Blick von »Bitte erkennt mich doch nicht immer alle!« und guckte gelangweilt auf ihre Handtasche. Der Kellner schoss aus seinem Verlies und riss die rotsamtenen Stühle zu Recht, auf dass der Eisblaue und die Vollbusige sich darauf fallen lassen konnten.
»Dann natürlich Maske und Kostüm«, nahm Oda-Gesine den Faden wieder auf, während sie ihren Fisch in zwei Stücke riss. »Da legen wir allergrößten Wert drauf. Die müssen top aussehen, die Jungs und Mädels, nicht nur top, sondern hip! Mega-trendy. Das ist oberste Pflicht!«
Ein graues Haar, das schon lange über ihrer Brille gehangen hatte, fiel in den Fisch. Sie nahm den Zitronenschnitz, wrang ihn über dem Fisch aus, ließ ihn an den Tellerrand fallen und stopfte sich den ersten Bissen in den Mund.
Ich betrachtete alles mit Argwohn. Wann würde sie sich das Haar aus dem Mund ziehen? Ich guckte lieber auf Dieter und die Schöne.
Die Schöne rauchte. Dieter kritzelte etwas auf die Serviette. Die Schöne blickte genervt zur Decke. Dieter strich das Gekritzel durch und schrieb etwas Neues. Die Schöne warf einen Blick darauf, aber sie war immer noch nicht begeistert. Dieter redete auf sie ein.
»Du bekommst natürlich einen eigenen Maskenbildner und einen eigenen Kostümberater, Schätzchen«, sagte Frau Malzahn, während sie den Fisch weiter von seinem Gerippe zerrte. Ich bemerkte mit Überraschung, dass sie mich bereits duzte. Also hielt sie mich für schon gekauft. »Ich arbeite nur mit der Top-Garde.« Sie steckte sich einen Bissen in den Mund und friemelte nach einer Gräte. »Hmsch … schind natürlich alle schwul.« Jetzt hatte sie die Gräte. Sie tupfte sich mit der Serviette, auf der die fünfstellige Zahl stand, die Mundwinkel ab. Nun hatte sie auch noch Kugelschreiber am Mund. »Für dich denk ich mir die junge, schlichte Linie, ganz natürlich, gedeckte Farben, unauffällig-bürgerlich halt.«
»Also der Kontrast zu den Kandidaten«, sagte ich.
»Dasch schowieso«, nuschelte Frau Malzahn, während sie das graue Haar zwischen den Zähnen hervorzog. »Du wohnst natürlich im Bayrischen Hof oder wo immer du willst, fliegst Business dass, hast einen eigenen Fahrer und kriegst, was du brauchst!«
Ich hatte ein gutes Gefühl mit Frau Malzahn.
»Also, was ist?«
»Ich denk drüber nach«, versprach ich.
»Hier wird nicht gezaudert. Ich biete dir viermal soviel Kohle, wie du bisher verdient hast. Bei einem Viertel Arbeitsaufwand. Use it or loose it.«
»Ich muss mich jetzt sofort entscheiden?«
»Spätestens bis zum Nachtisch«, sagte Frau Malzahn.
Ich dachte an Paul und daran, wie oft er mir schon das Ende unserer Beziehung angedroht hatte. Ich dachte an die dumme Tuschelei, seine Orchestermädels betreffend, und an seine Bemerkung, dass ich doch für eine Jugend-Kult-Sendung viel zu alt sei.
»Ich mach’s.«
Frau Malzahn lachte fett und machte sich über meinen Fisch her.
»Ich hab mit meinen Leuten gewettet, dass ich dich kriege, Schätzchen!«
»Um wie viel?«, fragte ich vorsichtig.
»Um fünf Mark«, sagte Frau Malzahn. »Übrigens, du kannst mich Oda-Gesine nennen.«
Paul zog auf der Stelle aus.
»Das muss ich mir nicht bieten lassen«, sagte er. »Nicht bei meinem Ruf.«
»Musst du auch nicht«, hatte ich geantwortet. »Leben und leben lassen. Heiraten heißt nicht besitzen.«
Paul fand seine beruflichen Dinge wichtiger als unsere Familie. Er ging. Ich war darüber nicht betrübt. Wir hatten uns einfach auseinandergelebt.
Senta zog auf der Stelle bei uns ein. Wenn ich meine Sendung »Endlich allein« moderierte, wohnte sie sowieso immer bei uns. Da Paul für nichts in unserem Hause zuständig war, half sie mir mit dem Haushalt und den Kindern, so gut es ging. Senta liebte die Kinder, als wären es ihre Eigenen. Waren sie ja auch irgendwie. Senta ersetzte nicht nur den Vater, sondern mich gleich mit. Sie war von Geburt an die perfekte Hausfrau. Sie genoss es, die Haushaltsmanagerin und Dame des Hauses zu sein. Ich selbst lege weder Wert auf einen solchen Posten, noch habe ich hausfrauliche Fähigkeiten, ich mag weder backen noch basteln, noch bügeln, ich glaube, ich habe ein paar männliche Anteile in meinem Charakter, was ich inzwischen nicht mehr als Schande empfinde. Ich bin ein Jäger und Sammler und muss mindestens einmal in der Woche einen Flieger besteigen, sonst bin ich nicht glücklich. Paul ist eigentlich genauso. Aber er ist ein Mann, und bei Männern ist das normal. Bei Frauen nicht.
Von Paul trennte ich mich, weil er meinen Lebensstil nicht länger ertragen mochte. Er wollte, dass ich genauso wie meine Schwester Servietten falte und Familienfeste organisiere, Blumen in große Vasen ordne und um Mitternacht mit einem warmen Essen auf ihn warte.
Paul vertrat immer die Auffassung, dass nicht alles gleichzeitig funktioniert und dass ich mich zwischen Karriere und Kindern entscheiden müsse. Für ihn selbst galt das natürlich nicht, weil nur Frauen sich zwischen Beruf und Familie zu entscheiden haben. Ich habe mich entschieden, und zwar für Karriere und Kinder und damit gegen ihn.
Ich bin einfach kein Familienmensch. Jedenfalls verstehe ich nicht das unter Familie, was Paul oder Senta darunter verstehen. Ich habe einen Horror vor Familienfesten. Nichts finde ich grauenvoller, als mit fünfzig rotgesichtigen Verwandten einen runden Geburtstag feiern zu müssen, womöglich noch in einem gutbürgerlichen Kellergewölbe, in dem ein Büfett mit Melonenschiffchen und Geflügelsalat aufgebaut wurde. Weder das Ans-Glas-Klopfen von gönnerhaften Verwandten mit den darauf folgenden hölzernen Reden (die sich schlimmstenfalls noch reimen) noch den Alleinunterhalter mit der Hammondorgel, der bei jedem Witz einen Tusch spielt, finde ich prickelnd. Auch nicht mit viel Alkohol. Runde Geburtstage und Taufen und Erstkommunionen und silberne, goldene oder sonstige Hochzeiten jagen mir einen Schauer über den Rücken. Kurz vor solchen Familienfesten kriege ich immer akute Magen-Darm-Infekte. Ich glaube, das sind schon übertrieben viele männliche Anteile, man könnte auch sagen, egoistischer Starrsinn.
Aber so bin ich. Und seit ich auf die Vierzig zugehe, lasse ich mich einfach nicht mehr verbiegen. Dachte ich.
Und dann begann die eigentliche Geschichte.
»Gnädige Frau, wenn Sie nun weiterkommen wollen?« Dolly Buster kam federnden Schrittes in den optisch ansprechenden Wartebereich geeilt und hielt mir die Tür zum Beratungszimmer auf. Wilfried saß inzwischen an seinem gläsernen Schreibtisch. Von der lebenden Problemzone mit dem hautfarbenen Slip war nichts mehr zu sehen. Vielleicht löste sie sich gerade nebenan in Wohlgefallen auf. Ich spitzte die Ohren, ob das Aufgeblasenwerden Geräusche machen würde. Doch alles war still.
Das Erste, was mir auffiel, war der Napf mit den Schokoriegeln, der auf des Meisters Schreibtisch stand. Waren das nicht diese »Wört-Flört«-Schokoriegel? Wenn das kein Zufall war!
»Möchten Sie?« Wilfried sah mich über halbgerundete Brillengläser hinweg mit diabolischem Lächeln an.
»Nein danke.«
»Was kann ich für Sie tun, gnädige Frau?«
»Ich würde gern blitzartig wieder gertenschlank sein. Ich habe vor zwei Wochen mein viertes Kind gekriegt, soll aber eine Jugend-Kult-Sendung moderieren.« Ich zuckte ratlos die Schultern.
»Kein Problem für uns, gnädige Frau. Sie werden nach drei Stunden wieder so aussehen wie vor neun Monaten. Zeigen Sie uns ein Foto von der letzten Sendung, die Sie noch schlank moderiert haben, und wir bildhauern Sie wieder hin.«
»Soso, das geht also?«
»Dafür gibt es ja heute modernste Techniken. Unschöne Fettpolster, die sich auch nach Diät und Schwangerschaftsgymnastik hartnäckig halten, können problemlos entfernt werden. Durch die Tumeszenz-Lokalanästhesie …« Der Doktor sah mich über seine Brillengläser an. »… Wissen Sie, was das ist?«
»Tumescere ist lateinisch und bedeutet aufblähen, aufblasen, aufdehnen.«
Der Doktor war beeindruckt. Ich grinste ihn an. Ja, hätte ich ihm denn sagen sollen, dass ich seine ganzen Erklärungen für die dicke Dame im Nebenzimmer belauscht hatte?
»Kommen Sie.« Wilfried wies mir den Weg in den Nebenraum. Ich hoffte, ich würde die Dicke beim Eingeweichtwerden erwischen. Sie war aber nirgends zu sehen.
Der Doktor hatte gerade seine Malerkreide zur Hand genommen, als meine heißgeliebte Schwester Senta – wie immer todschick im Nerz und mit perfektem Make-up – mit strahlendem Lächeln zur Tür hereinkam. Seit ich mein Paulinchen hatte, war auf Senta überhaupt nicht mehr zu verzichten.
»Die Mädels schlafen. Lass sehen! Was wird der Meister machen?«
Der Doktor betrachtete meine gepflegte Schwester über die Brillengläser hinweg.
Sie flirtete sofort kokett: »Das hat mich hier schon immer mal interessiert. Können Sie wirklich überflüssige Pfunde wegschnippeln?«
»Wir schnippeln nicht, wir saugen«, sagte Wilfried.
»Guck mal in den Schrank, dann siehst du die Eimer«, sagte ich.
Wilfried hechtete zum Schrank und holte die Eimer raus. »Anderthalb Liter, anderthalb Liter, anderthalb Liter, anderthalb Liter, ein Liter, ein Liter, ein halber Liter«, keuchte er.
»Das hat Wilfried alles aus einer einzigen Patientin rrausgeholt!«, schnurrte Dolly Buster.
»Und was wollen Sie mit meiner Schwester machen?«
»Abgesehen von Ihrem Bauch-Hüften-Taillen-Oberweitenproblem sollten wir eine kombinierte Gesäß-Oberschenkel-Unterschenkel-Waden-Knie-Fettabsaugung vornehmen!« Der Doktor betrachtete mich kritisch.
»Ihre Lippen können wir durch Collagen- und Eigenfettunterspritzung oder durch Einbringen von Goretex-Implantaten verschönern. Dabei würden wir auch sofort Ihre Plisseefalten im Oberlippenbereich glätten.«
»Wilfrried, schau dir mal die Altersflecken und Krrähenfüße genauer an«, mischte sich Dolly Buster ein.
»Tja«, sagte Wilfried, »bei näherem Hinsehen entdecke ich auch im Mundwinkelbereich feinste Hautfältelungen und Pigmentflecken!«
»Mein Gott, ich bin ein Wrack«, stöhnte ich.
»Sie sind beim Fernsehen, gnädige Frau«, sagte Wilfried, indem er sich auf seinen fahrbaren Hocker sinken ließ. »Sie sind knapp vierzig. Und Sie haben vier Kinder. Da ist es Ihre Pflicht, der Natur ein wenig entgegenzuwirken.«
»Genau!«, rief Senta mit gespielter Entrüstung. »Es ist überhaupt eine Zumutung, Frauen über dreißig im Fernsehen anschauen zu müssen! Bei Männern ist das natürlich was anderes!«
»Sie haben ein Recht auf Ästhetik«, sagte Wilfried.
Mir war im Moment nicht ganz klar, ob er mich meinte oder die Zuschauer. »In Ihrem Fall rate ich zur Straffung, kombiniert mit einem kleinen Implantat. Silikon hat eine Konsistenz, die dem natürlichen Brustgewebe am ähnlichsten ist.« Er bückte sich erneut in Richtung Schrank und zauberte einen feuchten Beutel hervor. Genießerisch ließ er ihn in den Händen plätschern.
»Kommt nicht in Frage«, sagte ich. »Das Essen meines Säuglings wird nicht gepanscht!«
»Sie stillen noch?«
»Ja, natürlich! Was haben Sie gedacht?«
»Und dann wollen Sie … eine Jugend-Kult-Sendung moderieren …?« Wilfried warf den schlabbernden Busenbeutel ratlos in seinen Händen hin und her. Und sprach: »Ich kann Ihnen nur dringend zu all diesen Maßnahmen raten, gnädige Frau. Und zwar so schnell wie möglich. Das Publikum lässt sich nicht betrügen. Es ist sehr, sehr kritisch. Gerade das junge Publikum. Sie sind es Ihren Zuschauern schuldig, dass Sie an sich arbeiten!«
»Das sind ja interessante Denkansätze«, sagte ich.
Senta schüttelte mich. »Du fährst jetzt nach München und stellst einiges klar! Hier wird weder gesaugt noch geschnippelt! –Wiedersehen!«
Sie zog mich aus der gläsernen Praxis und knallte die Tür hinter uns zu.
»Na, wie war’s mit Frau Malzahn?«
Senta stand mit Katinka vor dem Kühlschrank und räumte halbgeschmolzene Spinatpäckchen und sonstige Tiefkühlkost aus dem Eisfach. »Katinkalein hat den Stecker rausgezogen. Jetzt müsst ihr drei Tage lang Spinat essen.«
»Ich hab den Stecker nur repariert!«, sagte Katinka wichtig. Sie sah zum Fressen aus. Ihre zarten goldblonden Härchen, die sich kein bisschen locken wollten, lagen wie ein Helm um ihr rundes Gesicht.
»Es war unerwartet unkompliziert. Als ich sagte, dass ich Paulinchen genauso lange stillen will wie die anderen Drei, war Oda-Gesine völlig begeistert. Sie hat gesagt, das sei ein besonders netter PR-Gag. Eine Moderatorin einer Jugend-Kult-Sendung, die getrennt lebt und ihr viertes Kind stillt. Das hat was, hat sie gesagt. Solche Trumpfkarten hat der Gusti Satthaber nicht.«
»Hast du dabei ein gutes Gefühl?«, fragte Senta.
»Nein.«
»Dann lass mir das Paulinchen hier. Ich schaff das locker mit allen vieren.«
»Ich weiß, Senta.« Meine Schwester hätte auch ein ganzes Waisenhaus alleine durchgebracht. In einer weißen Seidenbluse, die niemals schmutzig wurde. Bei ihr hätte alles wie am Schnürchen geklappt. Und ich hatte schon Probleme mit einem einzigen Kind. Aber gerade weil das so war, wollte ich ihr das jüngste Geißlein nicht auch noch lassen. »Paulinchen wird gestillt.« Das war das Einzige, was Senta nicht konnte.
Senta hatte Katinka die Ärmel hochgekrempelt. Katinkas speckige Händchen, mit denen sie morgens noch gemalt hatte, waren jetzt klebrig von Spinat.
»Ich muss hier aufräumen«, sagte Katinka mit Nachdruck. »Geht mal alle weg!«
»Machen wir!« Wir schleppten Paulinchen ins Wohnzimmer.
»Soll ich dir einen Tee aufschütten?«, fragte meine große Schwester. Sie war unglaublich fürsorglich und aufmerksam. Das hatte ihr der liebe Gott in die Gene gesteckt. Beim »Fürsorgetrieb« hatte ich dagegen nicht »hier« geschrien. Ich hatte den einfach nicht, diesen Sorge- und Hegetrieb. Dabei müssen Mütter so was doch haben!
»Au ja, bitte, das ist genau das Richtige. Aber ohne Milch und Zucker!«
»Du lässt jetzt den Quatsch mit dem Dünnerwerden!«, schnauzte Senta aus der Küche. »Du stillst dein Kind, hast du entschieden, und vorher nimmst du nicht ab, und wem das nicht passt, der kann ja gehen!«
Sie servierte mir liebevoll einen frischen Obstsalat.
Nach so einer Frau würden sich Tausende von Männern die Finger lecken. Wie oft hatte ich Paul schon vorgeschlagen, doch lieber Senta zu heiraten. Aber er war dann immer sehr böse geworden. Das gemeine Hausweibchen, das war dem großen Dirigenten nicht repräsentativ genug.
Dabei war Senta der größte Schatz der Welt. Sie kam, wenn sie gebraucht wurde, und ansonsten ging sie ihren vielseitigen Interessen nach. Sie hatte einen riesigen Freundeskreis, ging zur Volkshochschule, liebte Kunst und Antiquitäten, hatte ein Theaterabonnement und wanderte für ihr Leben gern. Aber immer wenn ich ein Kind gekriegt hatte oder sonst wie im Stress war, stand sie auf der Matte.
Senta legte den Arm um mich und streichelte Paulinchen das winzige Bäckchen.
Liebevoll betrachteten wir das kleine, zarte Gesichtchen, das sich vertrauensvoll an meinen Busen schmiegte. Sich vorzustellen, dass jemand Silikon rein tat in ihr Essen …
»Also dieses Gerede um die paar überschüssigen Kilos hört mir jetzt auf!« Sentas Ton duldete keinen Widerspruch.
»Oda-Gesine sagt, sie ist sicher, im Zeitalter der Quotenfrauen sind die Zuschauer toleranter geworden …«, sagte ich zuversichtlich.
»Toleranter!« Senta stieß entrüstet ein verächtliches »Pff!« aus. »Nur die männlichen Moderatoren im Fernsehen dürfen Bäuche, Glatzen, Tränensäcke und Falten haben!«
»Oda-Gesine sagt, sie will keine von diesen geklonten, unnahbaren blonden Schaufensterpuppen. Sie will eine Frau, der man ansieht, dass sie lebt.«
»Damit hat sie recht. Kluge Frau. Und DU lebst. Du stehst so was von mitten im Leben, das soll dir erst mal einer nachmachen!«
»Meinst du, das Publikum denkt genauso?«
»Das wäre ja das Letzte, jetzt klein beizugeben! Nur weil es ein paar Ewiggestrige nicht abgemischt kriegen, dass eine Frau Kinder haben und trotzdem vor der Kamera stehen kann!«
»Die Leute werden es vielleicht nicht alle akzeptieren …«
»Wenn du es jetzt nicht durchziehst, werden wieder Generationen nach dir sich nicht trauen! Lasst euch immer schön in ein Plastikkorsett pressen. Das Publikum kriegt, was es verdient!«
»Mag sein«, murmelte ich.
»Und du gehst auch zu keinem Schönheitschirurgen!«
»Aber alle Frauen, die in der Öffentlichkeit stehen, tun das! Lies mal die ›Bunte‹!«
»Nur die Frauen unterwerfen sich diesem Zwang! Meinst du, Herr Biolek, Herr Böhme oder Manfred Krug und all diese sympathischen, netten alten Herren aus dem Fernsehen lassen sich für 20000 Mark Fett absaugen? Oder Paul? Nichts für ungut, aber der hat auch so seine Problemzonen!«
»Senta, du hast ja so recht … Im Kopf ist mir das alles klar, aber werden die Zuschauer es hinnehmen, dass ich nicht nur eine vierfache Mutter bin, sondern auch so aussehe?«
»Dann bedien das Klischee eben weiter.« Senta erhob sich. Für sie war das Gespräch jetzt beendet.
»Und wenn sie mich zerfetzen?!«, rief ich hinter ihr her.
»Dann zerfetzen sie dich eben. Eine muss den Anfang machen! Apropos zerfetzen: Katinka ist in der Küche so verdächtig still!«
Meine rechte und meine linke Gehirnhälfte lieferten sich nächtens auf dem Kopfkissen ein erbittertes Wortgefecht:
– Du schaffst es nicht, es ist Wahnsinn, lass es sein, noch kannst du aussteigen.
– Was, spinnst du? Wieso aussteigen? Dies hier ist eine sensationelle Chance! Du bekommst sie nachgeschmissen! Alle breiten dir den roten Teppich aus! Senta übernimmt die Kinder, wenn du unterwegs bist! Wo findest du so eine Schwester?! Oda-Gesine tut alles, damit du dich wohl fühlst. Wo findest du so eine Chefin!?
– Die Kinder brauchen dich! Bleib zu Hause! Mach es nicht! Nächste Woche ist Elternabend. Karl kriegt auf dem Gymnasium neue Lehrer. Oskar hat ein Flötenvorspiel. Und Katinkalein bastelt in der frühkindlichen Fördergruppe eine Laterne! Eine gute Mutter geht mit ihren Kindern zu all diesen Veranstaltungen, jahrelang, unermüdlich, immer wieder. Sie steht am Rand und guckt zu.
– Das ist mir zu wenig, nur zuzugucken! Ich will selber etwas machen! Ich will mein eigenes Geld verdienen!
– Nein! Eine gute Mutter ist einunddreißig Tage im Monat bei ihren Kindern! Vierundzwanzig Stunden lang!
– Ich will aber einen Zipfel Eigenleben haben! So!!
– Egoistin! Rabenmutter! Du kommst in die Hölle!
– Nein, schrie der kleine Häwelmann. Komm ich nicht!
Los, alter Mond, leuchte! Und Häwelmann blies die Backen auf, weil er unersättlich war, der kleine Häwelmann, und blies und blies, und tatsächlich, sein Bett fuhr ein paar Zentimeter weiter.
Was? Fuhr mein Bett? War ich etwa eingeschlafen? Ich lauschte. Paulinchen. Also doch. Stillzeit.
Hastig sprang ich auf und lief barfuss über den Flur. Nur schnell, damit die anderen Drei nicht wach wurden!
Flugs holte ich das hungrige Säugetierchen zu mir ins Bett. Es dockte sofort gierig an. Ich strich ihm über die drei weichen Härchen. Paulinchen schmatzte. Zeit zum Weiterstreiten.
– Du bist eine schlechte Mutter, nörgelte die spießige Gehirnhälfte. Das arme unschuldige Säuglingswürmchen schleppst du mit in einen Fernsehsender. Zwischen Maske und Aufzeichnung wirst du es mal eben stillen, im Rennen womöglich! Das hat das kleine Menschenkind nicht verdient!
– Wieso! In vielen Ländern dieser Erde gehen die Mütter direkt nach der Geburt wieder aufs Feld. Sie schnallen sich das Baby um und arbeiten weiter. Kein Baby braucht Abgeschiedenheit. Das ist dummes Geschwätz.
– Doch! Es braucht Ruhe und Abgeschiedenheit und eine feste Bezugsperson. Wo es schon keinen Vater hat. Und Senta kannst du auch nicht vierteilen.
– Nein. Das will ich auch nicht. Senta ist die beste Schwester der Welt. Aber ich brauche noch mehr Hilfe.
– Waas? Noch mehr Hilfe? Kriegst du den Hals nicht voll?
– Männer delegieren auch. Männer haben für alle Bereiche des Lebens ein weibliches Wesen. Eine Sekretärin, eine Gattin, eine Haushälterin, eine Köchin, ein Kindermädchen.
Plötzlich setzte ich mich auf. Natürlich. Das war’s! Wie oft hatte ich in »Endlich allein« frisch geschiedenen Müttern, die wieder arbeiten wollten, Au-pairs vermittelt! Aber was ich brauchte, war kein Au-pair-Mädchen. Ein Au-pair-Männchen sollte es sein! Wir waren schon genug Weiber bei uns im Haus.
– Bist du verrückt? keifte die konventionelle, spießige, bürgerliche Gehirnhälfte. Wieso muss es ein Mann sein? Keine anständige Frau mietet sich einen Mann! Und schon gar nicht, damit er ihre Kinder hütet! Männer können das nicht! Das haben sie nicht in den Genen! Nur Frauen haben das Sorge-Hormon in der Hirnanhangdrüse!
– Quatsch, Das hat mit dem Geschlecht nichts zu tun.
– Völlig unmoralisch und voll aus der bürgerlichen Norm wieder mal. Paul wird überhaupt nicht mehr mit dir sprechen. Der arme Mann! Was musst du seinem bürgerlichen Hirn alles zumuten.
– Eine muss den Anfang machen, geiferte meine schlamperte Gehirnhälfte. Weißt du, was in der »Men’s Health« steht? schrie sie die spießige Gehirnhälfte an. »Es gibt Frauen, die muss man nicht heiraten, damit sie für einen putzen! Die machen das für Geld!« Also! Warum sollte das nicht auch umgekehrt gehen?
– Weil Frauen zum Hausarbeiten geboren sind, Männer aber zum Jagen und Sammeln! Das ist so! Das kannst du nicht ändern!
– O doch, rief meine unkonventionelle aufgeschlossene Gehirnhälfte. Das werde ich ändern. Damit wenigstens meine Kinder nicht mehr mit solch schwachsinnigen Klischees groß werden. Bei uns verdient die Mama das Geld und leistet sich ein Hausmännchen.
Ich fand meine Idee richtig gut. Das Au-pair-Männchen sollte ganz exklusiv während der »Wört-Flört«-Aufzeichnungen für mein Paulinchen dasein. Und während der übrigen Zeit würden meine Großen endlich einen Gameboy haben. Einen lebendigen.
– Aber warum muss es unbedingt ein Mann sein? bohrte die spießige Hälfte noch einmal nach, muss das denn sein?!
– Erstens kann ich so einen jungen Kerl viel leichter darum bitten, mir den Kinderwagen zusammenzuklappen und ins Auto zu wuchten. Oder das Paulinchen zu tragen. Oder einen Koffer oder zwei. Zweitens sollen meine Kinder mit der Selbstverständlichkeit aufwachsen, dass auch Männer den Abfalleimer rausbringen oder den Tisch abräumen oder eine Waschmaschine füllen können. Drittens lernt der Bursche was fürs Leben. Viel besser als beim Militär. Jeder junge Mann sollte mal in eine kinderreiche Familie gehen, bevor er zu den Waffen greift.
Meine unkonventionelle Gehirnhälfte jubilierte.
– Andere Mütter haben auch kein Au-pair-Männchen! keifte meine spießige Gehirnhälfte weiter auf mich ein. Warte nur, wohin das führt! Die Leute werden über dich reden!
– Die Spießer werden über mich reden. Sollen sie.
– Du bist eine schlechte Mutter!
– Nein. Ich bin keine schlechte Mutter. Ich bin eine berufstätige Mutter. Manche Menschen verwechseln das.
»Hier, Mama. Der Au-pair-Junge kommt morgen!« Karl latschte mit einem Fax, das er schon zum Flieger umfunktioniert hatte, ins Wohnzimmer.
»Na endlich!«
Der Behördenkram hatte sich viel zu lange hingezogen. Tatsächlich wollten diese stumpfsinnigen Burschen vom Ausländeramt tausend Dinge von mir wissen. Zum Beispiel, wie die Beschaffenheit des Gebisses meines Gastarbeiters sei. Als wenn ich dem je ins Maul geguckt hätte, dem geschenkten Gaul! Schrecklich, dieses alberne bürokratische Hin und Her und das »So geht das aber nicht« und »Vorschrift ist Vorschrift« und »Der Chef ist nicht im Hause« und »Der Sachbearbeiter ist zu Tisch« und »Wenn das jeder machen wollte«.
ICH war nicht jeder. Und ich wollte das so machen.
Hach. Dass das so schwer ist.
Endlich hatte dieser Au-pair-Bursche sein Visum und durfte einreisen. Aber erst nachdem ich bei diesen Amts-Dumpfbacken mit Presseberichten gedroht hatte.
Da hatte er ganz plötzlich sein Visum. Von heute auf morgen. Auf einmal war kein Sachbearbeiter mehr zu Tisch, und der Chef war im Hause.
»Mama, wieso willst du unbedingt einen Au-pair-Jungen?«
Karl lümmelte gelangweilt im Sessel herum und beobachtete mich beim Aufräumen. Ich hatte das Baby im Arm und Katinkalein am Bein.
»Damit ihr seht, dass auch ein männliches Wesen Tassen abräumen und Abfalleimer rausbringen kann. Ist doch alles eine Frage der Konditionierung.«
»Langweilig«, sagte Oskar.
Ich dachte an die armen Schweine, die mit neunzehn oder zwanzig beim Militär zum ersten Mal ein Handtuch falten oder ein Bettlaken geradeziehen müssen. Und dann kriegen sie einen Wischeimer in die Hand gedrückt und werden angeschnauzt, sie sollen ihr Spind putzen. Und dann? Dann stehen sie da mit ihrem Abitur und ihren Computerprogrammiertechniken, aber sie haben keine Ahnung, wie man einen Wischlappen ins Wasser taucht. Und sie fühlen sich als Versager und wollen nicht mehr dem Vaterland dienen. Aber dann kriegen sie Hausarrest, und der fette Unteroffizier mit den Stoppelhaaren und dem Doppelkinn reißt ihre Klamotten wieder aus dem Spind und brüllt sie an und fühlt hinterlistig unterhalb der Schubladen nach Staub, und dann müssen sie mit der Zahnbürste die Unterseite der Schubladen putzen. Und dann wollen sie nach Hause und weinen nachts heimlich auf ihrer Pritsche nach ihrer Mama. Das MUSS doch nicht sein. Davor kann man sie doch bewahren. Rechtzeitig.
»Außerdem braucht ihr einen großen Bruder, der mit euch Drachen steigen lässt und Fußball spielt und übers Gartenmäuerchen springt und im Wald auf Bäume klettert und lange Fahrradtouren unternimmt und sich richtig dreckig macht«, sagte ich.
Die Jungs bekamen leuchtende Augen. »Das macht der? In e-hecht?«
»Da will ich doch mal von ausgehen«, brummte ich.
Die Jungs hatten es verdient. Und es wurde höchste Zeit. Karl war elf und damit mitten in der Pubertät, und Oskar war sieben. Wir brauchten einen Mann im Haus.
Senta hatte erst sehr viele Einwände gehabt. »Aber so’n Junge ist es sicher nicht gewöhnt, im Haushalt zu helfen.«
Na und, verdammt! Dann gewöhnt er sich dran!
»Wenn sich einer nach dem Abitur entschließt, Au-pair-Männchen zu werden, dann ist er hochmotiviert«, widersprach ich eigensinnig. »Besser, er lernt’s auf diese Weise als später in der Ehe! Dann ist es meistens schon zu spät!«
»Trotzdem. Es ist ungewöhnlich, und du wirst dir nur wieder Neid einfangen. Erst trennst du dich von Paul, und dann mietest du dir einen Mann. Sie werden über dich reden. Und die Zeitungen werden darüber schreiben.«
»Das ist mir egaler als egal«, erwiderte ich. »Lass sie reden. Leute, die über andere reden, haben Langeweile. Sonst nix.«
Natürlich wusste ich, dass die Leute reden würden. Und natürlich war es mir nicht egal. Aber ich hatte mich dafür entschieden. Und es war meine Sache, was ich tat.
Der Junge, den ich heute vom Flughafen abholen wollte, war gerade mal neunzehn. Ich setzte große Hoffnungen in ihn, obwohl ich ihn noch nie gesehen hatte. Die Au-pair-Agentur hatte mir vier Bewerbungen geschickt. Ich hatte mir nur die Fotos angeguckt, sonst nichts. Und der Eine, der mit dem feinen Gesicht und den braunen Augen, der mit den kinnlangen dunkelbraunen Haaren, der musste es sein. Er hieß Emil und kam aus Südafrika.
Der uniformierte Wichtigmann im Flughafen kannte mich. Ich hetzte öfter mal kurz vor Ende der Eincheckzeit mit meinen zwei Köfferchen an ihm vorbei.
»Wo soll’s denn heute hingehen?« Der Uniformierte mit dem wichtigen Blick in seinem wichtigen Kontrollhäuschen taxierte mich prüfend. Ich hatte drei Kinder im Schlepp, schob einen Kinderwagen vor mir her, hatte zerdrückte Blümchen in der freien Hand und kein Flugticket.
»Nur die Treppe runter, Chef!«
Er nickte gnädig. »Aber nur ausnahmsweise!«
Dass so Wichtigtuer immer das letzte Wort haben müssen!
»Ausnahmsweise!« oder »Wenn das jeder machen wollte!«. Ich bin nicht jeder! Und Grenzen sind dazu da, überschritten zu werden. Kontrollhäuschen sind dazu da, umrundet zu werden. Und wichtige Wichtigmänner mit Wichtigblick und Wichtiguniform sind die Herausforderung schlechthin.
Wir bückten uns und wanden uns unter der Balustrade hindurch, um mit den Ankömmlingen aus Frankfurt die Rolltreppe hinunterzufahren.
»Mama! Das ist verboten!« Karl schämte sich fürchterlich.
»Ist doch geil!« Oskar fand alles toll, was verboten war.
Katinkalein wollte auf dem Arm getragen werden, weil das Menschengedrängel sie einschüchterte. Ich stellte den Kinderwagen in die Ecke, dahin, wo niemand rauchte.
»Aber jetzt nicht auf dem Kofferband rumfahren!«
Oskar hüpfte an meiner Hand, Karl muffelte etwas abseits vor sich hin, Katinkalein schmiegte sich schutzsuchend in meine Halsbeuge. Ich hielt Ausschau nach diesem Jüngling, der nun unser Leben teilen sollte.
Da quoll eine Masse Neuankömmlinge durch die Schwingtür. Das Kofferband begann sich zu drehen. Dicke, schwere Kästen und riesige Gepäckstücke glitten träge und zäh vorbei. Dies hier waren keine Geschäftsmänner mit One-Night-Samsonite, dies hier waren richtige Weltreisende. Sie kamen von überall her. Und Einer kam aus Südafrika. Welcher mochte es sein? Wir betrachteten Inderinnen in Saris, Amerikaner in bunten Hemden, Schwarze, die in bodenlange weiße Gewänder gehüllt waren, eine Gruppe Südamerikaner, die laut und temperamentvoll miteinander sprachen, eine Familie, die offensichtlich aus dem Iran kam – der Mann ging vorweg, und vier oder fünf verschleierte Gestalten folgten ihm in gebührlichem Abstand. Die Frauen hatten ein schwarzgerastertes Gitter vor den Augen.
Oskar starrte sie an. »Mama, warum sind die zugehängt?«
»Halt die Schnauze, du Arsch!« Karl war das alles schrecklich peinlich. Er klammerte sich an meinen Westenzipfel. »Los, Mama, lass uns gehen!«
»Weil niemand die sehen darf«, sagte ich. »Karl, bitte zerr nicht so an mir. Ich kippe sonst um.«
»Mama, ich will den Emil abholen!« Katinka hoppelte auf meinem Arm herum.
»Ja, mein Schatz. Wir holen den Emil ab. Karl, bitte organisier uns einen Kofferwagen, ja?« Ich stellte Katinka ab. »Kannst du solange die Blümchen halten?«
Karl fand es peinlich, einen Kofferwagen zu holen, aber Oskar wollte einen Kofferwagen holen und damit sofort allen Umstehenden in die Hacken fahren. Katinkalein fing an zu schreien, weil sie nicht auf dem Boden stehen wollte und weil sie nicht die Blumen halten wollte und weil sie jetzt endlich Emil abholen wollte!
Mir schoss die Milch ein. Schrecklich. Immer wenn ein Kind schrie, schoss mir die Milch ein. Egal welches Kind es war. Ein Stresssymptom, ganz klar. Mir schoss auch die Milch ein, wenn Oskar Flöte übte. Das war das schrecklichste Geräusch, das meine mütterlichen Milchdrüsen je gehört hatten. So viel Sauermilch konnte kein weiblicher Körper produzieren wie ich, wenn Oskar Flöte übte.
Ich sah mich gestresst unter den zweihundert Menschen um, die inzwischen in den Kofferbandsaal gequollen waren.
»Da ist er!«
Zwischen der amerikanischen Reisegruppe und der indischen Familie stand ein einsamer Junge mit kinnlangen braunen Haaren. Er hatte mindestens drei Winterpullover und eine dicke Jacke an. Ganz klar. In Südafrika war ja jetzt Winter.
Ich hob mein Katinkalein auf, setzte es auf die Kinderwagenkante und wühlte mich durch das Menschendickicht. Das ging nur, weil ich am Kinderwagen eine Fahrradklingel hatte. Oskarlein rollerte vergnügt mit seinem Kofferwagen hinterdrein. Karl fand das alles schrecklich peinlich und verharrte lieber in seiner Ecke.
»Mamaaa! Hier darf man nicht klingeln!«
»Ach, Junge, was man alles nicht darf!« Ich stupste meinen Ältesten ans Kinn und ging auf den einsamen Jüngling zu.
»Hello! You are Emil, aren’t you?!«
Wie blöd! Was hatte ich mir da zusammengefaselt? Du bist Emil, bist du nicht? Dabei wollte ich sagen: Tach, alter Junge, herzlich willkommen, wir haben dich sehnsüchtig erwartet, und zieh dir doch erst mal die drei kratzigen, verschwitzten Pullover aus!
Emil nickte verstört, und ich drückte ihn kurzerhand an meinen prallen Stillbusen, aus dem es unaufhörlich vor sich hin tropfte. »Welcome to Cologne!« Ich strahlte das einsame blasse und übernächtigte Wesen herzlich an und überreichte ihm die zerdrückten Blümchen. »This is Oskar, he is seven years old, and this is Katinka, she will be three next month.«
»Hi.« Emil lächelte schwach.
»Los, Kinder, sagt ihm hello!«
»Ich will dem nicht hello sagen!« Katinka zog es vor, wieder in meiner Halsbeuge zu verharren.
Oskar wollte Emil gleich mal einen dreifachen Kofferkarrenschlenker zeigen und rammte dem iranischen Scheich das Ding in die Waden. Ich entschuldigte mich mit dem bezauberndsten aller weiblichen Lächeln bei dem böse blickenden Großwesir. Mein Gott, dachte ich. Schnell weg. Wir wuchteten Emils schwere Koffer auf die Karre. Dann wuchteten wir Katinka auf die Koffer. Oskar wollte sofort auch auf die Koffer gewuchtet werden, und Katinka wollte wieder runter, weil sie sich lieber in meiner Halsbeuge verstecken wollte. Karl fand das alles schrecklich peinlich und drückte sich neben den Zollbeamten an der Schranke herum.
Mensch, Emil! Ich blickte wohlwollend auf den schüchternen jungen Mann an meiner Seite. Ab sofort tobst du mit meinen Kindern durch den Stadtwald, räumst die Spülmaschine aus, knibbelst die festgebackenen Beruhigungssauger vom Teppich, hältst meine bezaubernde Tochter bei Laune und schaukelst das Baby in den Schlaf! Und einmal im Monat fliegst du mit mir nach München. Kennst du »Wört-Flört«? Kennst du natürlich nicht.
»Karl! Ja, wo steckt er denn! I have another son, his name is Karl, but he is disappeared! He is a little bit shy, you know!«
Emil nickte blass und trabte hinter mir her, das Blümchen andächtig in beiden Händen. Wir schoben die Kinder und die Koffer und den Kinderwagen durch die Sperre und beteuerten, dass wir nichts zu verzollen hätten.
»Wieso hat der so dicke Sachen an?«, fragte Oskar beinebaumelnd.
»Weil in Südafrika Winter ist. Isn’t it? You have winter time now?«, schrie ich hinter mich, um Konversation bemüht. Wo Karl nur steckte! Der konnte sich doch nicht einfach so verkrümeln!
Katinka wurde mir nun doch zu schwer. Mein Busen schmerzte, sooft sie sich an ihn drückte. Nein, Kälbchen, muhte die Mutter-Kuh, du bist nicht das richtige Tier! Das richtige Kälbchen ist im Kinderwagen und schläft! Die Hitze eines Julimittags schlug uns entgegen. Mir lief der Schweiß den Rücken runter.
»Mama, du sollst Achterbahn mit mir fahren! Los! Wenigstens im Kreis! Schneller!« Oskar hatte nie den Sinn für den richtigen Augenblick. Nie.
Wir schoben durch die Autoschlangen, bis wir endlich auf dem Parkplatz waren.
Dort lehnte wie eine Fata Morgana in flirrender Hitze, mit lässiger Geste Lakritzschnecken verspeisend, Karl am Kleinbus. »Na endlich! Ich warte hier seit Stunden!«
»Das ist Emil«, sagte ich, während ich nach dem Autoschlüssel kramte. »This is my eldest son, Karl.«
»Hi«, sagte Emil scheu. »How are you?«
»Spricht der etwa kein Deutsch?« Karl ließ sich auf den Beifahrersitz fallen und schnallte sich an.