Der Geruch von verbranntem Eukalyptus - Ennatu Domingo - E-Book

Der Geruch von verbranntem Eukalyptus E-Book

Ennatu Domingo

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Beschreibung

Wer bist du, wenn du aus zwei Welten kommst? Dieses beeindruckende und mutige Buch lässt uns über Herkunft, Mehrfach-Identitäten, Ungleichheit, Feminismus und Rassismus neu nachdenken. Und auch darüber, welche Rolle Sprachen spielen, wenn wir wissen wollen, wer wir sind. In »Der Geruch von verbranntem Eukalyptus« erzählt Ennatu Domingo aus ihrem Leben als Mädchen im ländlichen Äthiopien, ehe sie nach dem Tod der Mutter und des Bruders als Siebenjährige Anfang der 2000er-Jahre von einer katalanischen Familie adoptiert wird. Als Erwachsene lässt ihr die Frage nach den Ursachen für das Elend der äthiopischen Landbevölkerung, vor allem der Frauen, keine Ruhe. Zugleich ergründet sie für sich, wie es ist, mit mehr als einer Identität zu leben, und was es bedeutet, die Sprache der eigenen Kindheit zu verlieren und zurückzugewinnen. Ihr Text hilft , die immer noch vorherrschenden bevormundenden und eurozentrischen Haltungen gegenüber Afrika abzubauen. Die Autorin zeigt uns, was eine nomadische Existenz bedeutet, und nimmt uns mit auf eine Reise durch verschiedene, ineinander verwobene Erzählebenen. »Der Geruch von verbranntem Eukalyptus« ist nicht nur eine packende Lektüre, sondern ein notwendiger, unverzichtbarer Text, um unsere Welt zu verstehen. »Wir sollten uns Gesellschaften wünschen, die miteinander verbunden sind durch Menschen, die in verschiedenen Kulturen aufgewachsen sind und Brücken bauen können: zwischen den Kulturen, den Sprachen, den Ideologien.« Ennatu Domingo »Der Geruch von verbranntem Eukalyptus lässt sich nicht so einfach in eine literarische Kategorie einordnen. Es ist gleichzeitig eine Liebesgeschichte und ein Schlachtruf, ein Klagegedicht und eine Hymne. Es ist eine fesselnde Pflichtlektüre, die vor Zärtlichkeit strotzt und kompromisslos in ihren Einschätzungen und Erkenntnissen bleibt.« Maaza Mengiste

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Ennatu Domingo

Der Geruchvon verbranntemEukalyptus

Über Herkunft,Sprache undZugehörigkeit

Aus dem Katalanischen

von Michael Ebmeyer

Inhalt

Am Fenster

Ein neuer Krieg im Norden

Der Luxus des Schweigens

Im Schatten des Warka

Wir sind nie zu Hause angekommen

Über doppelte Identität

Die türkisfarbene Tür von Gondar

Dekulturalisierung

Die Klänge der Erinnerung

Von Nairobi nach Addis Abeba

Der Geruch von verbranntem Eukalyptus

Anmerkung der Autorin

Glossar

Danksagung

Über die Autorin

Über den Übersetzer

Am Fenster

Wir fuhren von Dansha in Richtung Wereta, in einem überfüllten, stickig heißen Bus, in dem ein penetranter Schweißgeruch hing. Die Luft war so dick, dass uns das Atmen schwerfiel, und die Straße aus trockenem Lehm so schmal, dass es jedes Mal, wenn wir auf ein anderes Fahrzeugtrafen, schien, als würden wir von der Piste abkommen. Ständig musste der Fahrer vor großen Schlaglöchern bremsen und sie umkurven, damit der Bus nicht kippte. Er schaukelte wie ein Schiff bei Sturm auf hoher See. Ich saß am Fenster, mit meinem kleinen Bruder auf dem Schoß. Ich war sieben Jahre alt und er drei, doch er wog fast nichts. Mikaele hatte hohes Fieber und war so schwach, dassernichteinmal mehr weinte. Selbst wennervor Durst oder Hunger gewimmert hätte, ich hätte ihm nichts geben können: Unser Dabo* hatten wir aufgegessen, unser Wasser ausgetrunken. Gepäck hatten wir keines dabei, nur ein paar Birrs; alles, was wir besaßen, trugen wir am Leib. Durch die verschmutzte Fensterscheibe blickte ich hinaus auf die ebene Landschaft, die wir hinter uns ließen. Noch war Trockenzeit, doch wir näherten uns dem grüneren, feuchteren und eher bergigen Teil Äthiopiens. Abund zu über holten wireinen Pferdekarren oder eine Gruppe von Frauen, die am Straßenrand gingen, mit Bündeln voller Gemüse auf dem Kopf oder mit Schirmen, um sich vor der Sonne zu schützen. Die Stöße, die den Bus durchfuhren, ließen meine Stirn gegen die Scheibe prallen.

Auf einmal erblickte ich aus dem Augenwinkel einen Lehrer von der Schule in Dansha unter den Fahrgästen. Ich war in meinem Leben nur einen einzigen Tag zur Schule gegangen, sehr unwahrscheinlich, dass er mich erkennen würde, aber vorsichtshalber verbarg ich mein Gesicht unter meiner Netela aus weißer Baumwolle und schloss die Arme fester um Mikaele. Ich wollte nicht, dass der Lehrer mich fragte, wie es meiner Mutter ging. Man sah doch, wie krank sie war. Yamrot saß neben mir und hatte sich kurz vorher in den Mittelgang des Busses erbrochen. Die Leute um uns herum musterten uns angewidert. Sie hustete heftig, und ihre Netela war voller Blutflecken. Niemand hatte Anstalten gemacht, uns zu helfen. In dem Moment hätte uns das auch wenig genutzt. Yamrots Zustand schien hoffnungslos.

Der Bus fuhr bis Gondar. Ich wusste, die Reise von Dansha nach Wereta dauerte zwei Tage. Gondar lag auf halber Strecke. Vielleicht würden wir wieder die Nacht an der Haltestelle verbringen müssen, um auf unseren Anschluss zu warten. Was ich nicht wusste: Diese staubige Landstraße würde mich an einen Horizont bringen, den ich mir damals nicht einmal hätte vorstellen können.

*Die amharischen Wörter sind im Glossar ab Seite 147 erklärt.

Ein neuer Krieg im Norden

Am 4. November 2020 erwachte ich am frühen Morgen in einer kleinen, behaglichen Wohnung in der Innenstadt von Brüssel. Draußen herrschte noch stockdunkle Nacht, die Straßen waren still und leer. Ich streckte die Hand unter der Bettdecke hervor, um mein Telefon vom Nachttisch zu nehmen. Mit mechanischen Fingerbewegungen öffnete ich Twitter.

»Der äthiopische Premierminister Abiy Ahmed hat eine militärische Intervention in Tigray angeordnet«, las ich in einem Tweet, der gerade viral ging. Die Augen der ganzen Welt waren auf die USA gerichtet, wo bei der Präsidentschaftswahl Joe Biden und Donald Trump gegeneinander antraten. Und in Tigray, einem der zehn Bundesstaaten der Republik Äthiopien, war das Internet abgeschaltet. Blackout. Komplette Nachrichtensperre.

Nun konnte ich nicht mehr schlafen. Ich wusste, binnen weniger Stunden würde dieser Tweet zu einer internationalen Schlagzeile werden. Meine Muskeln spannten sich an. Mir war klar, so wie die meisten Leute konnte ich dann nichts weiter tun, als zuzuschauen, wie die Zahl der Toten anstieg, wie die Informationen, die tröpfchenweise durchsickerten, manipuliert wurden, um uns über den Lauf der Ereignisse zu verwirren. Am Ende würde wieder das Schweigen eintreten, es würde Raum zum Nachdenken schaffen, und es würde den Weg für die nächste Welle der Gewalt frei machen. Die Situation ließ mich an einen Wassereimer voller Löcher denken, und es fehlten die Hände, um sie abzudecken. Ein Verhaltensmuster, das sich in dem Land verfestigt hatte und schwer zu durchbrechen war.

Die äthiopische Zentralregierung sagte, die TPLF (Volksbefreiungsfront von Tigray) habe den Armeestützpunkt in Humera angegriffen, eine der truppenstärksten und am besten ausgerüsteten Militärbasen im Land. Was diese Basis so wichtig machte, war ihre Nähe zu Eritrea, das bis kurz zuvor noch als die größte Bedrohung für Äthiopien gegolten hatte. Auch wenn der Krieg gegen Eritrea, 1998 begonnen, seit 2000 beendet war, blieb die Basis in Humera weiterhin gefechtsbereit, um eventuelle Attacken auf die Grenze abzuwehren. Der Angriff auf diesen Stützpunkt war ein Angriff auf die Einheit Äthiopiens. Aber handelte es sich wirklich um einen Präventivschlag der TPLF? Kein Zweifel bestand daran, dass die äthiopische Zentralregierung seit Monaten versuchte, die Regionalregierung von Tigray zu stürzen. Aus Tigray stammte die alte Elite, die Äthiopien drei Jahrzehnte lang regiert hatte und die sich den Reformen und dem politischen Wandel widersetzte, für die Abiy Ahmeds Regierung stand. Zudem waren wenige Tage vor dem Angriff auf den Militärstützpunkt äthiopische Truppen beim Vormarsch auf Tigray beobachtet worden. Die Staatsregierung hatte die militärische Kontrolle über die Städte Dansha, Humera und Mek’ele zurückgewonnen, führte aber auch danach einen Guerillakrieg gegen die TPLF, im Bündnis mit eritreischen Soldaten.

Mit vierundzwanzig Jahren befand ich mich über fünftausend Kilometer von Äthiopien entfernt, die Orte meiner Kindheit wurden bombardiert, und nie zuvor war ich so verwirrt gewesen, was meine Wurzeln betraf. Auch hatte ich mich noch nie so enttäuscht und naiv gefühlt – denn ich hatte gedacht, der Weg zur politischen Stabilität, Schlüssel für die Entwicklung des Landes, würde einfach sein. Es sah aus, als wären die Staatsregierung und die Regierung von Tigray zu dem Schluss gekommen, um das demokratische und prosperierende Äthiopien zu bauen, das sie wollten – und das die Bevölkerung einforderte –, sei es nötig, sich im Kampf um die politische Vorherrschaft selbst zu zerstören.

Zum ersten Mal in meinem Leben fand ich Dansha und Humera in den internationalen Nachrichten wieder. Mir zog sich der Magen zusammen. Ein Gefühl, das ich inzwischen gut kannte: Es zwang mich, meine Identität neu zu definieren, die Verbindungen zu meinen Wurzeln neu zu ordnen und zu straffen. Ich bemühte mich, die Bilder der Straßen von Dansha und Humera zu rekonstruieren, die mein Gehirn schon vor zu langer Zeit gelöscht hatte. Ich hatte gehört, nur der Schmerz könne verlorene Erinnerungen zurückbringen, und meinen eigenen Schmerz hatte ich so sehr verinnerlicht, dass schon das Bild einer Frau mit einem schläfrigen Kind auf dem Rücken bei mir einen Kloß im Hals auslöste und mir die Tränen in die Augen trieb. Ein Bild, aus dem der opportunistische westliche Journalismus ein Klischee gemacht hatte, das ich aber zugleich als Spur einer Szene aus meiner eigenen Vergangenheit in mir trug. Ich konnte nur noch verschwommen sehen, war nicht imstande, weiterzulesen, und klickte einen anderen Artikel an.

Im Juli 2003, als Siebenjährige, erklärte ich in der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba meinen neuen Eltern, Anna und Ricard, dass ich in Dansha und in Humera gelebt hätte. Ihre äthiopischen Freunde Kumbi und Teddy dolmetschten für uns. Sie sprachen perfekt Spanisch, mit kubanischem Akzent, denn als Waisenkinder und Soldatensöhne waren sie in den Siebzigerjahren zum Studieren nach Kuba geschickt worden, im Rahmen einer Art Austauschprogramm unter kommunistischen Ländern, das Fidel Castro ins Leben gerufen hatte. Als sie die Vermutung äußerten, ich sei aus Welkait (einer Verwaltungseinheit des Bundesstaates Amhara, die unter der TPLF-Regierung an Tigray angeschlossen und dann im Krieg von 2020 von den amharischen Truppen zurückerobert wurde), wiederholte ich, dass ich zusammen mit Yamrot, meiner Mutter, auf den Baumwollfeldern zwischen Dansha und Humera gearbeitet hätte.

In der freien Zeit zwischen den verschiedenen bürokratischen Hürden, die Anna und Ricard überwinden mussten, um mich rechtmäßig zu adoptieren, suchten wir in Addis Abeba nach einer guten Landkarte, auf der meine Herkunftsorte verzeichnet wären. Ich wusste damals nicht, was eine Landkarte war. Ich konnte weder schreiben noch lesen. Und wie schwierig es war, eine Karte zu finden, auf der die Ortsnamen Dansha und Humera vorkamen! Sie schienen nicht zu existieren, doch ich beharrte darauf, dass ich in diesen Städten gelebt hätte. Nie war mir so klar gewesen, wer ich war und woher ich kam.

Bei der Ethiopian Mapping Authority mussten wir einen Antrag stellen, um die Karte zu erhalten: Wir sollten erklären, wofür sie brauchten. Kaum drei Jahre zuvor war der offene Krieg mit Eritrea beendet worden. Die Militärstützpunkte waren weiterhin mit voller Truppenstärke besetzt, denn der mit dem Abkommen von Algier im Jahr 2000 geschlossene Friedensvertrag besagte lediglich, dass beide Seiten – das schon damals von Isayas Afewerki regierte Eritrea und Äthiopien unter Premierminister Meles Zenawi – die Waffen ruhen lassen würden, um sich auf den Grenzverlauf zwischen dem noch jungen unabhängigen eritreischen Staat und Äthiopien zu einigen. Der konkrete Streitpunkt blieb ein Dorf namens Badimme, das von der äthiopisch-eritreischen Grenzkommission Eritrea zugeordnet worden war und von der eritreischen Regierung als strategische Enklave zur Überwachung der Grenze genutzt, von Äthiopien jedoch weiterhin als Teil seines Staatsgebiets beansprucht wurde. In den Jahren danach sollte sich die Abspaltung Eritreas und damit des Zugangs zum Roten Meer als tiefgreifender Verlust für Äthiopien erweisen, denn als Land ohne Küste war es nun auf Häfen der Nachbarstaaten angewiesen, um am Welthandel teilzuhaben.

Ich verließ Äthiopien mit einer offiziellen Landkarte im Gepäck, auf der die wichtigsten Schauplätze meines kurzen Lebens markiert waren. Von Süden nach Norden malte ich Kreise um Wereta (wo ich, so hatte es immer geheißen, geboren war), um Gondar, Dansha und Humera. Sie zogen sich als eine Linie in westlicher Richtung, von der eritreischen Grenze bis zur Grenze zum Sudan. Mit sieben Jahren ließ ich alles zurück, was ich kannte. Beim Blick durchs Fenster der Ethiopian-Airlines-Maschine auf die weitläufige, immer kleiner werdende Stadt Addis Abeba, entfernte ich mich von den mir vertrauten Landschaften mit dem Gefühl, dass mir dort nichts blieb und dass ich nie wieder dorthin zurückkehren würde.

Tatsächlich kehrte ich drei Jahre später, also 2006, zusammen mit Anna und Ricard zurück nach Dansha. Ich war zehn Jahre alt und erkannte weder die Straße noch das Haus wieder, in dem ich gelebt hatte. Die Erfahrung, dass mein Gedächtnis derart blockiert sein kann, zeigt mir, wie zerbrechlich der menschliche Verstand ist. Wer wäre ich ohne meine komplexe Identität? Vermutlich würde ich die Welt nicht so sehen, wie ich sie sehe, vermutlich hätte ich nicht die gleichen Ambitionen, vermutlich wäre ich ruhiger und hätte weniger Angst vor Armut und vor dem Scheitern.

Meine Eltern wollten unbedingt bis in die Stadt Humera fahren, damit wir alle Orte meiner unsteten Kindheit besucht hätten. Es war eine lange Reise über schwierige Landstraßen, von Addis Abeba aus. Bei der Ankunft waren wir emotional und körperlich gleichermaßen erschöpft. Allerdings verspürte ich eine innere Ruhe bei dem Gedanken, dass es nun nicht mehr weiterging. Denn in Humera endet Äthiopien, uns blieb also gar nichts anderes übrig, als dort anzuhalten.

In der Stadt selbst war ich nie zuvor gewesen. Mit Yamrot waren wir immer außerhalb geblieben, wir hatten in den Baumwollfeldern kampiert. Ich weiß nicht, wie lange wir dort gewesen waren. Wahrscheinlich kürzer, als ich denke. Wahrscheinlich erkannte ich deshalb kaum etwas wieder, obwohl der Name Humera so ein wichtiger Bezugspunkt in meiner Geschichte ist, eine Art Leuchtturm.

Ich war zehn Jahre alt und zum ersten Mal mit meiner eigenen Vergangenheit konfrontiert, mit meiner Trauer; auf der Suche nach den Empfindungen und den Bildern von früher. Nun erst wurde mir klar, dass Humera eine Grenzstadt zwischen Äthiopien und Eritrea war, und wie sehr sie sich von dem Bundesstaat Amhara unterschied, wo mich viele Leute als eine von ihnen erkannt hatten. Am Abend wurde in manchen Häusern Weihrauch entzündet und erfüllte die Luft mit seinem schweren, betörenden Duft.

Wir gingen über den Markt, betrachteten die Stände voller Orangen, die an langen Schnüren aufgehängten Bananen, die aus Holz geschnitzten oder aus Messing, Blech oder Pflanzenfasern handgefertigten Küchenutensilien. Die ganze Zeit begleiteten uns Kumbi, unser Dolmetscher, und Derriba, der Fahrer des Jeeps. Ich vermute, wir wären nicht bis dorthin gereist, wenn wir gewusst hätten, wie unsicher diese Gegend war. Am Ende kamen wir im UNO-Quartier unter, unser Jeep parkte zwischen den weißen Panzern und anderen Fahrzeugen der Blauhelme.

An einem Nachmittag setzten wir uns vor einem kleinen Bunna Bet an die Straße, und Kumbi, Ricard und ich spielten Dame. Das Spielbrett war aus Pappe, die Figuren Deckel von Mirinda- und Pepsi-Flaschen. Ich war beruhigt, denn an diesem Ort schien mich niemand zu kennen, und ebenso wenig musste ich diesen Ort kennen. Die Stadt und ihre Menschen verlangten nichts von mir und ich nichts von ihnen. Ich stand unter Schock, denn mir war das Werkzeug abhandengekommen, das ich brauchte, um mich zu verständigen: die amharische Sprache. Ich fühlte mich wie eine Schwindlerin. Eine Verräterin. Ich war Äthiopierin, aber vielleicht auch nicht mehr; ich bemühte mich, Äthiopierin zu sein, aber vielleicht wirkte ich nicht mehr wie eine Äthiopierin.

Als ich schon länger in Katalonien gelebt hatte als vorher in meinem Herkunftsland und mir klar wurde, dass meine katalanische und europäische Kultur meine äthiopische und afrikanische Identität immer mehr überlagerten, fing ich an, mich intensiv mit dem Thema Persönlichkeitsentwicklung auseinanderzusetzen. Ich hatte meine Schwierigkeiten mit der gängigen Opfererzählung, der zufolge ich meine Erfahrungen anhand der Kriterien Schuld, Individualität und Dankbarkeit zu formulieren hätte. Bei diesem Diskurs kam ich mir sehr klein vor. Von Schuld handelte er, weil den Gesellschaften, die humanitäre Hilfe leisteten, im Grunde nicht daran gelegen war, strukturelle Ungerechtigkeiten zu beseitigen, sondern nur daran, mit Wohltätigkeit ihr eigenes Gewissen zu beruhigen und sich einzureden, sie könnten damit das ungerechte System, von dem sie profitierten, in irgendein Gleichgewicht bringen. Individualität bedeutete für mich, meine innere Unrast auf die Frage zurückzuführen, warum ausgerechnet ich diejenige war, die nun außerhalb Äthiopiens lebte, und nicht ein anderes Mädchen aus Kombolcha, aus Dese oder von den Straßen Addis Abebas. Dabei hätte die richtige Frage gelautet: Warum wir und warum immer noch wir? Und was die Dankbarkeit betrifft, so verpflichtete sie dich, froh darüber zu sein, dass du die Chance hattest, fortzugehen; dass du aus einer »barbarischen, armen und ignoranten« Welt errettet worden warst. Ein Diskurs, der dich auf die Opferrolle festlegte.

Doch die Wirklichkeit ist wie immer komplexer. Ich spürte, dass ich entwurzelt worden war, verpflanzt in eine Gesellschaft, in der es mir fast unmöglich war, Rollenmodelle zu finden. Deshalb habe ich mich immer dagegen gesträubt, das zu sein, was ich sein sollte. Je launischer ich war, desto enger fühlte ich mich mit dem Mädchen aus den Bergen von Wereta verbunden, das ich in mir trug. Vielleicht ohne es zu wollen, nahm ich eine Haltung des stummen Protests ein. Ein Widerstand gegen das Vergessen, der sich mit der Zeit auch in einen Widerstand gegen mich selbst und gegen die neue Welt um mich herum verwandelte.

Der Luxus des Schweigens

Im Jahr 2020 hatten die strikten Lockdown-Maßnahmen aus Anlass der Coronapandemie zur Folge, dass die globalen Handelsketten abrissen und, zumindest vorübergehend, Millionen Menschen in Äthiopien ihre Arbeit verloren. Betroffen waren vor allem die Jüngeren, die am Beginn ihres Berufslebens standen, und diejenigen, die im informellen Sektor tätig waren und außer ihren täglichen Einnahmen nichts hatten. Wie viele Eltern in Äthiopien mussten nun feststellen, dass sie ihren heranwachsenden Kindern keine Zukunft bieten konnten? Wie viele hätten ihre Kinder sonst wohin geschickt, um ihnen eine Ausbildung zu ermöglichen? Mit nur fünfzig Euro im Monat konnte ich dafür sorgen, dass die Tochter eines befreundeten Paares in Addis Abeba eine gute Schule besuchte, inklusive aller Bücher und Materialien. Die Situation dieses Mädchens war mir eine Mahnung: Zwar hatte ich selbst die Umgebung gewechselt, aber die Menschen, die jemand wie ich zurückgelassen hatte, mussten ihren Alltag weiter unter prekärsten Umständen bestreiten.

So wie viele junge Erwachsene in Katalonien war ich von zu Hause ausgezogen und dachte, es sei für immer. Mein erster Job hatte mich nach Kenia geführt, und als ich nun wohl oder übel zurückkam und die von der spanischen Regierung verhängte Ausgangssperre bei meinen Eltern absitzen musste, fühlte es sich für mich an wie Noch mal ganz von vorne. Und ich wusste ja nicht, wie lange es dauern würde, bis die Welt wieder den gewohnten Rhythmus hätte. Es war von einer »neuen Normalität« die Rede.

Anfang Oktober 2020 wurde mir dann ein Schuman-Stipendium gewährt, für meinen zweiten Job: Ich sollte in Brüssel für das Europaparlament arbeiten, im Bereich der Beziehungen der EU zu den afrikanischen, karibischen und pazifischen Ländern. Es schien mir ein großes Privileg, in einem solchen Umbruchmoment für diese Institution tätig sein zu können. Den rechtlichen Rahmen für das Verhältnis der Europäischen Union zu den 79 Mitgliedsstaaten der sogenannten AKP-Gruppe bildete noch das im Jahr 2000 geschlossene Cotonou-Abkommen, als Nachfolgevereinbarung zum Lomé-Abkommen von 1975. Nun aber waren die Verhandlungen für ein wiederum neues Abkommen angelaufen. Die EU wurde als politische Akteurin in Afrika mittlerweile stark infrage gestellt, denn sie wirkte befangen in ihrer historischen Mission, überall ihre Werte und Ideologie durchzusetzen. Im Licht des gewachsenen politischen Selbstvertrauens auf dem afrikanischen Kontinent hatten viele von uns den Eindruck, dass Europa sich den Rhythmuswechsel noch nicht klarmachte. In den Jahren zuvor war die EU zudem in eine Sinnkrise gerutscht, deren schrillste Anzeichen der Brexit und der Aufstieg reaktionärer und antidemokratischer Tendenzen in Ländern wie Polen und Ungarn, aber auch in Spanien waren. Diese politischen und sozialen Verwerfungen ließen die Europäische Union als einen Organismus erscheinen, der global den Anschluss zu verlieren drohte und von dessen Glaubwürdigkeit als »Wertegemeinschaft« immer weniger übrig blieb. Nun galt es, Afrika als Kontinent mit großem eigenem Potenzial anzuerkennen. Viele Regierungen weltweit versuchten längst, vom Reichtum des afrikanischen Kontinents zu profitieren, wo 60 Prozent der Bevölkerung junge Menschen waren. Langfristig setzte die EU dort ihre Relevanz aufs Spiel, zumal wenn es Afrika gelang, die Unterstützung, die es von anderen aufstrebenden geopolitischen Akteuren erhielt, zum eigenen Gedeihen zu nutzen.

In den Monaten nach jenem ersten Tweet in den Morgenstunden des 4. November 2020 hielten sich Dansha und Humera in den internationalen Schlagzeilen, während die EU und andere Institutionen daran scheiterten, den äthiopischen Ministerpräsidenten Abiy Ahmed zur Beendigung des »unnötigen« Krieges zu bewegen. Binnen weniger Tage sahen sich über 50.000 Menschen zur Flucht in den Sudan gezwungen; unter ihnen 12.000 Kinder, von denen viele sich selbst überlassen waren. Es bedrückte mich, dass die Entscheidung, diesen – oder jeglichen – Konflikt gewaltsam zu lösen, bedeutete, so vielen Kindern die Zukunft zu rauben. Was für eine Zukunft kann eine Gesellschaft überhaupt haben, wenn sie ihrer jungen Generation alle Chancen nimmt – sogar noch die Familie, den wichtigsten Halt, den ein Mensch in seinen ersten Lebensjahren braucht? Gewalt nährt sich vom Elend. Wir müssen viel wachsamer sein, was die Auswirkungen politischer Entscheidungen auf das Leben der Menschen betrifft. Es dürfen keine Waffen mehr an Regierungen geliefert werden, die diese nachweislich gegen die Zivilbevölkerung einsetzen. Wir dürfen es niemals normal finden, dass zugunsten einer privilegierten Minderheit fast die Hälfte der Weltbevölkerung in äußerster Armut lebt. Die Türkei, die Vereinigten Arabischen Emirate und Russland verkauften Waffen an die äthiopische Regierung, während auf der anderen Seite die Guerillagruppen minderjährige Jungen zum Kriegsdienst zwangen, im Verstoß gegen die UN-Kinderrechtskonvention.

Auf Twitter lernte ich, dass jede historische Tatsache sich zu komplett gegensätzlichen Zwecken ausschlachten lässt. Die Leute, die unter Decknamen Tweets kommentierten, waren das perfekte Objekt für soziologische Analysen – vor allem für die Beobachtung, wie sich Fake News in einem unregulierten Raum rasend schnell ausbreiteten. Die Desinformation ist zur wichtigsten rhetorischen Waffe meiner Generation geworden, von entscheidender Bedeutung im geopolitischen Wettbewerb.

In seinen Anfängen, um die Jahrtausendwende, war das Internet eine Offenbarung, ein wahres Instrument der Globalisierung. Der unmittelbare Zugang zu Informationen, auch an abgelegenen Orten, hat das Leben vieler Menschen verändert. Doch noch heute steht einem Großteil der Weltbevölkerung das Internet nicht zur Verfügung. Das ist ein schwerwiegendes Problem in einer Zeit, in der sich wesentliche Teile der Globalisierung im digitalen Raum abspielen. Nach wie vor wird der afrikanische Kontinent von den großen Wirtschaftsmächten besonders häufig mit Desinformationskampagnen überzogen. Und das kommt uns teuer zu stehen.

Als junge Frau, die begann, sich eine eigene Meinung zu bilden, war ich erschüttert vom Ausmaß der manipulativen Bosheit im Internet. Vor allem erschreckte mich die aufwiegelnde Wirkung, die ein paar in einem kritischen Moment geäußerte Worte mit dem Ziel, eine Situation zu destabilisieren, entfalten konnten. Die Ereignisse in Äthiopien am Bildschirm zu verfolgen, hatte mich gelehrt, dass die Grenze zwischen freier Meinungsäußerung und der politischen Instrumentalisierung und Monopolisierung von Information fließend ist. In Äthiopien, einem Land mit über 120 Millionen Einwohner*innen, nutzten im Jahr 2020 nur rund sechs Millionen die sozialen Medien und nur etwa 21 Millionen hatten überhaupt Zugang zum Internet. Dieses Ungleichgewicht hat großen Einfluss darauf, wie Informationen außerhalb der digitalen Welt weitergegeben und gedeutet werden. Und natürlich wirkt sich der geringe Grad an digitaler Vernetzung unmittelbar auf die Wirtschaftskraft des Landes und ganz Ostafrikas aus.

Was tun, wenn ein Staat nicht nur an seiner Verantwortung scheitert, Dienste flächendeckend zur Verfügung zu stellen, sondern auch daran, die öffentliche Ordnung