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Alltagsgeschichten für Menschen, die vor dreißig Jahren beinah noch jung waren. Und alle anderen.
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Seitenzahl: 354
Vorbemerkung
Marks Ort
Beobachtung einer anderen
Der Mann im Smoking
Blocked
Vier Frauen
Der große Tag
Auf der Mauer
Fremd
Der Hammer
Judith, der Stern und die Erinnerung
Projektmanagement
Im dunkelblauen Kamelhaarmantel
Das Bisschen...
Maike und Konrad
Das hier ist der zweite Band der Erzählungen. Nur falls Sie das nicht bemerkt haben. Es hätte auch der erste sein können, wenn Indien vor Göttingen gewesen wäre. War es aber nicht, für mich jedenfalls.
Oder wenn Göttingen weniger wichtig gewesen wäre. War es aber auch nicht. Für mich. Nur kleiner. Dafür länger. Und ein bisschen vielleicht sogar bis heute.
Nach Indien bin ich nach oft zurückgekehrt. Nach Göttingen nur noch einmal. Um einen Freund zu begraben. Das eine Mal reicht.
"Was muss man denn, Mark, was?" schrie Julia. Ihr kranker Mann starrte zum Fenster hinaus, antwortlos, und seine Hände krampften um sein leeres Glas. Julia war wütend, sie war jetzt oft wütend, und sie schrie oft, seit Mark vom Arzt gekommen war und ihr gesagt hatte, dass er bald sterben würde. Aber Mark konnte es nicht mehr ertragen, dass Julia schrie.
Mark wusste, für Julia war es wichtig, dass sie schrie, darum sagte er nichts. Er merkte nur, jedes Mal wenn sie schrie, stürzte er ein bisschen tiefer in das schwarze Nichts, das ganz innen in ihm war, aus dem nie etwas gekommen war, nie, nicht bis zu jenem Morgen. An diesem Morgen war er aufgewacht und hatte gewusst, dass er Krebs hatte.
Er hatte es gewusst, bevor er zum Arzt ging und die letzte Gewissheit erhielt, was die Symptome der letzten Wochen bedeuteten. Das plötzliche Husten, der schlechte Geschmack im Mund nach dem Aufwachen, die unregelmäßige Verdauung. Da hatte er gewusst, dass die sorgfältig zusammengenagelten Bretter, die über jenem schwarzen Loch lagen, morsch geworden waren. Vielleicht würde etwas nach oben kriechen, ganz sicher würde er nach unten stürzen, in jedem Fall hielten die Bretter nicht mehr stand.
Wenn ich ganz in jenem Loch bin, werde ich sterben, dachte Mark jetzt. Es war kein neuer Gedanke, er hatte diese Gewissheit schon vor drei Monaten gewonnen, da wusste er gerade mal zwei Wochen, was geschehen würde.
Julia wütete weiter, als sei sie noch in seiner Geschichte. Sie war vielleicht auch noch in seiner Geschichte, aber nur gerade noch so weit, wie er noch hinausragte aus jenem Schwarz. Das war nicht mehr sehr weit, und selbst dieses Wenige schwand mit jedem Mal, dass sie schrie.
Mark wünschte sich nicht, zu sterben. Er fürchtete den Tod, jetzt, da er aufgehört hatte, das Sterben zu fürchten. Es gab noch so viel zu sagen, so viel zu tun. Er wollte Dinge tun, die zu tun er niemals auch nur erwogen hätte, wenn nicht so plötzlich alles anders, so überschaubar kurz geworden wäre.
"Siehst du das, siehst du das?" schrie Julia gerade. Sie nahm die kleine Kupferplastik, die auf seinem Schreibtisch stand, und sie warf sie an die Wand, dass sie verbeulte und die feinen Drähte rissen. Mark hatte dieses undefinierbare Etwas immer gemocht, es war eine der ersten Plastiken gewesen, die Julia für ihn gemacht hatte. Damals, als der Mond noch Licht für ihn hatte.
Dann kniete Julia vor den Resten und weinte verzweifelt. Ihre Hände, die sonst so sanft und so geschickt waren, versuchten ungelenk, die Beulen auszudrücken, Drähte wieder über polierte Dornen zu schlingen. Was soll das noch, dachte Mark. Drückt man Pestbeulen aus, vertreibt das vielleicht den Tod aus ihnen? Sie ist eben jetzt zerstört, weg, und was von ihr bleibt, ist alles, was von ihr jemals noch sein wird.
Er dachte nur flüchtig, dass es mit ihm ähnlich war, auch mit Julia, und dass dieser Gedanke einen widerwärtigen Geschmack von Plattitüde hatte.
"Lass doch", sagte er schließlich. "Komm zu mir, lass uns schlafen."
Und als sie hilflos aufstand, sagte er doch noch: "Bring sie mit."
Da lagen sie dann, und als Julia aufgehört hatte, zu weinen und sich zu entschuldigen, schlief sie ein. Mark lag wach. Durch die gelegentlichen Schmerzen hindurch spürte er kalt und gratig die zerstörte Plastik an seinem Bauch. Sie war wie das Kind, das sie nie gehabt hatten. Sie hatten nie ein Kind gehabt, weil sie beide nie eines wollten, aber vor allem weil er Angst vor Julias Wutausbrüchen hatte. Das hatte er immer für sich behalten, und wenn Julia das manchmal mutmaßte, hatte er es bestritten. Selbst Frank hatte er nie davon erzählt, und sie hatten einander sonst immer alles erzählt. Aber das war seine Sache gewesen, ganz allein, das hatte er mit sich ausgemacht. Jetzt war er froh, dass er so entschieden hatte. Vielleicht hätte er keinen Krebs gekriegt mit einem Kind. Aber das war eine Frage, die sich jetzt nicht mehr beantworten ließ. Und wenn da doch ein Kind gewesen wäre, er konnte ja kaum den Schmerz in Julias Augen ertragen, das war noch schlimmer als ihre Wut, wie sollte er da einem Kind begegnen, wenn es ihn verlor?
Was du wirklich nicht ertragen kannst, ist etwas anderes, dachte er jetzt. Du verlierst sie, du kannst sie nicht an dir halten, obwohl ihr beide das doch so verzweifelt wollt, vielleicht gerade deshalb nicht. Du verlierst sie, noch bevor du dich in diesem schwarzen Loch verlierst. Das geht einem alles zwischen den Händen durch, das ist wie Spinnweben bloß noch. Und dann mit einem Kind? Dass dein Sterben dich zu einem Fremden machte für das Kind, lange bevor du tot bist, das könntest du vielleicht noch ertragen. Aber dass dein Kind, dein eigen Fleisch und Blut, und das ist kein dämlicher Ausdruck, dass dieses Kind dir fremd wird, lange bevor du tot bist, das könntest du nie und nimmer ertragen.
Aber nicht erst, wo du hingehst, dort wo du bist, in jenem Schwarz und Leer und Tief, schon dorthin kann dir keiner folgen, und da ist es egal, ob Julia fortrennt davon, vor dir, vor sich, vor dem, was du dann bist. Es ist dein Dunkel, davor sich alles verliert, und alles andere Verlieren ist nur zeithaft dagegen. Denn Frodo ist irgendwann allein mit dem Ring, in seiner Welt des Leidens, in seiner Welt der Einsamkeit, und das Feuerrad dreht sich vor seinen Augen, wenn es längst die ganze übrige Welt verschlungen, nein, aus der Wirklichkeit vertrieben hat.
Vielleicht ist der Tod kein Ort, nur ein Nichtort. Aber diese Dunkelheit, in der ich bin, die ist ein Ort, und sie ist Frodos Rad, nur dass sie nicht in lodernden Flammens steht, bloß tropft von asphaltenem Schlamm.
Vielleicht ist es mein Ort. Vielleicht ist das mein Ort, und es ist nur mein Ort. Nicht, weil keiner mir dorthin folgen kann. Sondern weil ich immer schon in ihm war, wie eine Schnecke in ihrem Haus. Ein schreckliches, ein eigentlich unbewohnbares Haus. Aber mein Haus. Ich hab es immer schon ganz ausgefüllt, und nur weil die Krankheit mich immer kleiner macht, gehe ich immer tiefer hinein in dieses Schwarz.
Julia machte plötzlich ein Geräusch im Schlaf, und er sah im Zwielicht des Mondes, dass sie lächelte, ganz kurz. Das freute ihn. Früher hatte es ihn geärgert, wenn Julia im Schlaf lächelte. Jetzt nicht mehr. Er hatte früher gedacht, sie erlebte ohne ihn etwas Schönes, und er erlebte alles gerne mit ihr, weil es so schön war, wenn sie sich freute. Da war es dann, als hätte sie ihm etwas weg genommen, das er nie gehabt, worauf er keinen Anspruch hatte, das er aber dennoch mehr alles andere haben wollte, einfach nur, weil er es nicht hatte.
Mark wusste, dass viele Leute ihn zu abgeklärt, zu gelassen fanden, oder vielleicht zu lethargisch, zu phlegmatisch. Das hatte auch Julia heute wieder wütend gemacht: dass er nicht aufbegehrte; dass er nicht wütete; dass er nicht Gott verfluchte und haderte mit seinem Schicksal, mit den Ärzten oder doch wenigstens mit seinem eigenen Körper. Aber wenn Mark allein war und sich selbst betrachtete, wusste er, das war keine Ruhe, das war keine Abgeklärtheit: das war die Arroganz desjenigen, der recht behalten hatte. Es war nicht so, dass Mark jemals ernsthaft daran gedacht hatte, irgendwann einmal Krebs zu bekommen. Aber ohne sagen zu können, wann oder wie, war er immer sicher gewesen: irgendwann würde das Dunkel, das in ihm war, ihn verschlingen. Oder nein, irgendwann würde er einfach nur in dieses Dunkel zurücktreten, wie das Wettermännchen zurück tritt ins Wetterhäuschen, am Ende der Regenwolkenzeit. Dann tritt das Wetterfräulein heraus und balanciert seinen Sonnenschirm.
Er sah Julia an, die in seinem Arm lag. Meine kleine Wetterfrau, dachte er und streichelte vorsichtig ihre Stirn. Sie murmelte etwas, und dann nahm sie seinen rechten Arm und drückte ihn ganz fest an sich und ließ ihn nicht mehr los, bis auch Mark eingeschlafen war.
Am nächsten Morgen fühlte er sich erschöpft und zerschlagen. Schlaf brachte ihm nur wenig Erholung, die Schmerzmittel verhinderten das. Gegen Morgen verloren sie rapide an Wirkung, dann schlief er vielleicht ein bisschen richtig, wie früher. Bis die Schmerzen ihn weckten und er wusste, dass es wieder Zeit war.
Früher fand er Spritzen widerlich, jede Blutabnahme war ein Albtraum gewesen. Inzwischen waren die Spritzen zwar immer noch widerlich, trotzdem war das jetzt etwas anderes. Sie gehörten zu ihm, das Widerliche gehörte zu ihm.
Vielleicht würde er Julia eines Tages widerlich werden. Vielleicht begann er schlecht zu riechen, paranoid zu werden, vielleicht würde er gewalttätig sein, bevor er dann endgültig in jenem Dunkel verschwand. Das hoffte er, darauf wartete er: das würde es Julia leichter machen. Darin sah er seine letzte Aufgabe: Es ihr leichter zu machen. Nicht sich; dafür hatten Ärzte und Pharmazeuten zu sorgen, und er vertraute ihnen ganz. Aber ihr wollte er es leichter machen, und dass er so offensichtlich daran scheiterte, machte ihn dann doch manchmal wütend und verzweifelt.
Vielleicht wäre es mit einem Hirntumor leichter gewesen, da gehörten solche Dinge ja fast schon zur Normalität, nach allem, was man hörte. So aber blieben sie lediglich eine mehr oder weniger wahrscheinliche Nebenwirkung seiner Medikamente, und etwas, das er keinesfalls selbst hätte vortäuschen können.
Frank will, dass ich wütend bin, Julia will es auch, dachte er milde amüsiert. Aber er konnte es nicht. Da war nun einmal keine Wut, die ihm folgen konnte in jenes Dunkel, in dem er nun immer tiefer und unrettbar versank. Da war nur Schweigen, das lag schon weit jenseits aller Schmerzen, aller Wut und allem, auch dem letzten Sehnen.
Frank hatte ihm dieses Gedicht geschickt, von Dylan Thomas, der sich totgesoffen hatte. "Geh nicht höflich fort in dieses Gute Nacht, wüte!, wüte, dass das Licht da umgebracht."
"Ich habe für euch kein Licht mehr", hatte er Frank gesagt, als sie ein paar Tage später telefonierten. "Mir ist nur ein Dunkel geblieben, und das bleibt, weil das Licht einfach fortgegangen ist und jetzt anderswo spazieren geht. Tut mir leid, in meiner Geschichte gibt es keine Mörder."
"Du trägst deinen Mörder in dir", hatte Frank geantwortet, und Mark hatte nur den Kopf geschüttelt und traurig gedacht, dass er das Frank nie würde erklären können.
Ich weiß ja, was du von mir willst, dachte Mark jetzt, und was Julia von mir will, was ihr alle von mir wollt. Aber ich habe keine Wut übrig für euren Schmerz: Ich habe keine Wut mehr für mich.
Julia war jetzt zur Arbeit. Marc wollte, dass sie arbeiten ging. Auch deswegen hatte sie ihn angeschrien. Er wusste, was sie da quälte: Sie wollte, soviel nur ging, von ihm haben in diesen letzten Monaten; wie jemand, der noch einmal viel trinkt, bevor er dann in die Wüste ziehen muss. Aber wenn er ihr schon nicht seine Nächte geben konnte, wie sollte er ihr da seine Tage geben? Diese endlosen Tage, die auch ihm nicht gehörten, und noch nicht einmal den Ärzten, auch wenn die so taten, als wären es ihre. Sondern die den Dunkelheiten gehörten. Die schon gar keine Tage mehr waren und auch nicht Nacht, nur einfach eine Nichtzeit, schon totes Land, schon ein Feld mit nichts als Steinen: die Sahelzone seines Todes. Eine Nichtzeit eben in einem Nichtort, wo ich dann ganz Nichtjemand bin, dachte er: das ist der Tod.
Jetzt wurde es Zeit, dass seine Mutter anrief. Sie rief immer an, jeden Morgen, immer, wenn sie meinte, jetzt sei Julia gerade so lange im Geschäft, dass ihn die Einsamkeit ankommen müsse. Tatsächlich war er nie einsam um diese Zeit, und außerdem hasste er es, wenn sie seinen Beteuerungen zum Trotz wieder durchblicken ließ, es sei ja wohl Julias Entscheidung gewesen, weiter arbeiten zu gehen, und ihr sei das einfach nur fremd und zuwider.
Seine Mutter ließ noch etwas auf sich warten, und Mark dachte darüber nach, ob er einsam war. Nein, dachte er, und wenn, könnte Mama mich da nicht rausholen. Wie denn, Mama, wie? Als ich noch klein war, hattest du doch alle Chancen der Welt, mich aus meinem Loch zu holen. Du hast es damals nicht getan, was macht dich denken, du vermöchtest es jetzt?
Das ist nicht einsam, dachte er. Einsam kann man nur sein, wo andere sein könnten und nicht sind. Aber wo ich bin, dort in jenem Dunkel, dort ist es gleichgültig, ob noch ein anderer dort ist, auch nur dort sein kann: denn ich selbst werde nicht dort sein, wenn ich erst ganz dort bin. Und auf dem Weg dahin, nichts bleibt einsam auf diesem Weg: Weil nichts bleibt.
Jetzt klingelte das Telefon.
"Hallo, Mama."
"Geht es dir gut, Junge?"
Sie könnte wenigstens Hallo sagen, dachte Mark verärgert.
"Nein, Mama, es geht mir nicht gut. Ich habe so ein bisschen Krebs, schon vergessen?"
"Red nicht in diesem Ton mit mir, Mark. Krankheit ist keine Entschuldigung für Unhöflichkeit."
Doch, ist es doch, dachte Mark überrascht, und dann fiel ihm auf, dass er es gut fand, wenn seine Mutter so mit ihm redete. Wenn Julia ihn anschrie, erreichte ihn das nicht; aber wenn seine Mutter das tat, war es etwas anderes.
Vielleicht ist es aber auch nur besser, als wenn sie heult oder meinen Zustand abfragt wie das Bulletin eines sterbenden Papstes. Ich bin noch nicht tot, Mama, ich weiß nur bald nicht mehr, woran man das erkennt. Das sagte er natürlich nicht, sondern hörte zu, wie sie von Tante Lotte erzählte, die hatte den Speicher aufgeräumt, und Vicky, seine durchgedrehte Schwester, hatte ihren neuen Typen zu Hause vorbeigeschleppt.
"Den kannte ich schon", sagte Mark nur.
Das war schon immer so gewesen. Wenn Vicky einen neuen hatte, was ziemlich oft geschah, brachte sie ihn erstmal zu Mark. Ihr neuer Freund hieß Frank, wie Marks bester Freund, aber da endeten die Gemeinsamkeiten auch schon. Mark hatte ihn vom ersten Moment an nicht leiden können. Das war selten der Fall bei ihm, dass er Menschen nach dem ersten Eindruck beurteilte, aber Frank - dieser Frank - hatte auch nichts getan, den ersten Eindruck zu verwischen. Als er Mark informierte, er sei stellvertretender Leiter des Sozialamts in Herne, hatte Mark geantwortet, er habe Krebs und sei zeitweilig stuhlinkontinent.
Eigentlich war er das nur ein paar Tage gewesen und auch nur wegen der Medikamente, die sie ihm gegeben hatten, und wegen der Bestrahlung, und überhaupt hatte er es fast immer bis zum Klo geschafft. Aber das betretene Gesicht des stellvertretenden Sozialamtsleiters von Herne und Vickys Mischung aus Ärger und unterdrücktem Lachen waren diese kleine Ungenauigkeit mehr als wert gewesen. Danach war das Gespräch irgendwie auf Zehenspitzen verlaufen, trotz Julias Versuchen, die Situation doch noch zu retten.
Vicky hatte als erste akzeptiert, dass Mark sterben würde. Mark war älter als sie, und dass Leute sterben, die älter als man selber sind, ist doch klar, hatte sie irgendwann gemeint. Damit war alles gesagt gewesen, blieb nur die Frage offen, zu welchem sie dann zukünftig ihre neuen Kerle schleppen würde. Wahrscheinlich wird sie den letzten heiraten, den sie mir bringt, dachte Mark, und hoffte nur, er werde lang genug leben, dass es nicht auf den stellvertretenden Sozialamtsleiter von Herne hinauslaufen würde.
Als seine Mutter irgendwann dann doch aufgelegt hatte, nicht ohne Ermahnung natürlich, regelmäßig seine Medikamente zu nehmen und seine Arzttermine einzuhalten, überlegte Mark, was er mit dem Rest des Tages tun sollte, bis gegen halb fünf Julia zurückkehrte. Als vor ein paar Jahren sein Vater seine letzten Monate verbrachte, saß der müde Mann immer nur am Fenster und sah hinaus. Dass er etwas sah, hatte Mark damals nicht geglaubt und glaubte es immer noch nicht. Er hätte das auch gern gekonnt, aber wie krank er auch war: nach fünf Minuten wurde ihm langweilig. Er hätte etwas lesen können: aber wozu? Früher hatte er gelesen, um als belesen zu gelten, um Dinge zu lernen, um vielleicht auch zu einem besseren Menschen zu werden. Um all dies konnte es ihm jetzt nicht mehr gehen. Verwirrt bemerkte er, dass es ihm noch nie Spaß gemacht hatte, ein Buch zu lesen. Fast schämte er sich vor sich selbst, dann lachte er ein bisschen darüber.
Er blätterte in der Zeitung, er telefonierte mit Vicky und bot ihr an, Herne großflächig nieder zu brennen. Sie lehnte ab. Als dann am Nachmittag Julia kam, war er fast eingeschlafen. Das waren diese Eierschalenaugenblicke, da er keine Schmerzen hatte, und wenn sie sich wie jetzt einfach zu ihm legte, konnte er sie fast noch erahnen an jenem fremden Horizont. Dann erinnerte er sich fast, wie es gewesen war, wenn man glücklich war.
Später am Abend: als die Schmerzen kamen. Da legte Mark dann eine DVD ein, Julia mochte diesen Film, und er betrachtete die Männer und die Frauen mit schief gelegtem Kopf und wusste nicht mehr, ob sie nicht Insekten waren, und wenn nicht, warum nicht. Fremd war das alles sowieso, und die Zärtlichkeit von Hollywood nur eine Gottesanbeterin: der Tempel war leer.
"Fahren wir weg?" fragte Julia.
"Das willst du nicht fragen", sagte Mark. "Du willst fragen: Fahren wir ein letzte Mal weg, zusammen?"
Er sah seiner Grausamkeit nach, ein ledriges Blatt, das träge durch den Raum segelte und sich dann auf Julias Gesicht legte. Er wusste, dass sie jetzt weinte unter diesem Blatt, aber wenn sie sich nicht wehrte, konnte er ihr nichts leichter machen. Außer natürlich dadurch, dass er tatsächlich jetzt und hier den Löffel abgab. Bestenfalls.
"Fahren wir ins Elsass", sagte Julia
"Ich muss ins Krankenhaus", sagte Mark. Julia musste nicht sagen: "Wozu?"
"Wir müssen ins Elsass", sagte Julia, und Mark nahm interessiert ihre wieder gewonnene Sturheit an. Sie würde verlieren mit diesem Trotz, er war nicht in der Lage, diese Reise zu machen. Aber darauf kam es nicht an, ihr nicht, ihm schon gar nicht. Sondern dass sie in jenem Hell, jenem Blitzen war, wieder war, darin ihre Füße immer gewurzelt hatten, wo hinein auch ihr Herz und Sinn nun einmal und für immer gehörten.
Ich im Dunkel, du im Licht, dachte Mark. So war es immer. Es wird bald für immer, für uns und für immer so sein.
Als er spät in der Nacht Radio hörte, bellte draußen ein Hund. Mark in seinem Arbeitszimmer auf dem Ledersofa, die Augen offen, da war nur das Licht von der Anlage und das rote Lämpchen am Fernseher, den er seit Monaten nicht angeschaltet hatte. Er hatte immer allen misstraut, was einen einfach mitnahm. Mit dem Radio war es etwas anderes, das streckte nur eine Kinderhand aus, und dann sagte es: Komm. Was es zu sagen, was es zu geben hatte, konnte er in sich strömen lassen und durch sich hindurch und dann aus sich heraus. Und am Ende war nicht als wieder nur die Stille.
Aber manchmal muss einer den anderen trösten, dachte Mark. Wenn einer weint: wenn einer nicht weiter weiß: weil einer weiß, es geht ja doch weiter.
Vielleicht ist Traurigkeit der einzige Trost, dachte Mark. Aber seine Traurigkeit war ungeübt jetzt und hatte keinen Punkt mehr, wo solche wie sie noch siedeln konnten.
Der Tod ist keine Ausrede, dachte Mark. Er trank etwas Wasser. Einige der Medikamente machten durstig.
Alles wird weiter gehen. Und ich bin endlich zu Hause.
Als Kind war immer alles wichtig, und alles ging voran. Und es war nicht mein dunkles Heim, dass mich mit den Jahren lehrte, wie wenig wichtig ist. Vielleicht ist das nur Erwachsenwerden.
Erwachsenwerden hatte für ihn nie eine Rolle gespielt. Es war einfach geschehen. Erst jetzt, wo er nicht mehr viel erwachsener werden würde, fragte er sich, ob dieses Werden sich eigentlich abgeschlossen hatte, oder ob er nur daran nicht mehr Teil nehmen würde. Sie alle drehten sich und rannten und tanzten und sprangen und atmeten in den Übergängen, bestenfalls. Er nicht mehr.
Vielleicht ist Erwachsenwerden auch Langsamer Werden, dachte Mark jetzt. Vielleicht drängt alles dahin, dass nichts mehr wichtig ist und dass alles stehen bleibt. Oder drängt nicht dahin: aber wird so. Und das schon ist der Tod.
Oder es ist ein Verlieren. Von Träumen, von Sehnsucht, von Fragen. Aber was auch immer es ist, sehr erstrebenswert scheint es durchaus nicht zu sein. Warum soll ich dann da weiter mitmachen?
Ich war sowieso immer anders, dachte Mark. Aber er wusste, dass das nicht richtig war. Ja, er war anders gewesen, so wie jeder anders war. Doch erst diese Krankheit hatte ihn wirklich neu gemacht, hatte ihm geholfen durch das Grau in den Hospitälern, Schritt für Schritt hinein in jenes Dunkel, das allein sein eigen und ihm eigentümlich war.
Julia kann dahin nicht folgen, dachte Mark plötzlich, weil er sich gerade mal wieder selbst davon überzeugen musste, dass ihm da nichts, auch noch nicht einmal Julia fehlen würde. Und wenn sie wieder schreit und wieder etwas kaputt macht, wie solltest du wollen können, dass du dort anders als allein und dann nirgendwo wärest?
Irgendwann dachte er, dass nicht nur er es Julia leichter machen wollte. Vielleicht schreit sie nicht, dachte Mark, um es sich, nur um es mir leichter zu machen: dieses Versinken im Nicht.
Das Radio schwieg in Nachricht und Musiken. Das Radio war sein wichtigster Freund.
Dann wurde er wach, Julia war nicht im Bett, vielleicht war sie kurz im Bad. Draußen war alles noch still, noch nicht einmal Autos waren zu hören. Der Tag kauerte über der Stadt und wurde grau von innen her. Von außen eher hell, obwohl: keine Sonne, noch nicht. Nur hell. Dann: Ein Zug läuft in den Bahnhof, in der Ferne. Jetzt sind die Geräusche zurück. Für Mark beginnt wieder ein Tag. Er sehnt sich nach seinen verlorenen Tränen.
Mit unwilliger, mit wütender Gebärde schüttelte sie sich die Zeit aus den Haaren. Ich könnte nur noch schreien, den ganzen Tag, den ganzen Tag lang, ununterbrochen, dachte sie. Überhaupt, was ist, dass du dich nicht umbringst, mehr als – Phlegma: es gibt nichts, was dafür spricht, nichts, was dagegen spricht, ich kann es tun, ich kann es lassen, und weil du faul bist, lässt du es. (Ihr fiel auf, dass sie anfing, sich immer dann in der zweiten Person anzudenken, wenn sie sich beschimpfen wollte.)
Im Grunde hangelt man sich nur von einem Plan zum nächsten, manchmal wird sogar was draus, ein Stück davon, aber meistens nicht; blöde Schlampe.
Häufig scheiterte sie weit mehr als ihre Projektion, die doch alle Schuld auf sich nehmen sollte wie ein weiblicher Uschebti. An sich und an den immer gleichen Widrigkeiten ihrer Pläne, vor allem dann, wenn sie diese nicht aus sich selbst durchführen konnte, sondern angewiesen war auf die Hilfe anderer Menschen. Das lag nicht an diesen, sondern an ihr, und sie wusste das, sie stieß Menschen vor den Kopf, sie war zu hart, zu unfreundlich, zu rasch, sie wollte zu viel, war zu total in ihren Ansprüchen. Wenn wir etwas machen, sollten wir es ganz machen, sagte sie immer, die meisten Menschen schlossen aus einer solchen Äußerung auf einen fleißigen Menschen, aber sie war nicht fleißig, sie unternahm wenig, und wenn sie sich einmal aufraffte, dann wollte sie wenigstens hinterher das Gefühl haben, dass etwas Vollkommenes oder doch etwas fast Vollkommenes das Ergebnis gewesen war.
Aber es war nie vollkommen, und es war nur sehr selten fast vollkommen, und nie, wenn sie dabei auf andere Menschen nicht verzichten konnte.
Dabei liebte sie Menschen, in gewisser Weise. Wenn sie sehr lange allein war, überkam sie das Gefühl grenzenloser Liebe zu allen Menschen, selbst zu den Hässlichen: grenzenlose Liebe, eines Gandhi würdig. Unglücklicherweise ekelte es sie schon vor dem leichten Geruch, den der durchgeschwitzte Arbeiter vor ihr im Bus ausdünstete.
Sie hätte die Übelriechenden am liebsten alle getötet, mal aus altruistischem, mal aus ästhetischem Beweggrund. Sie fürchtete sich nicht vor dem Gesetz, schon lange nicht mehr, und diesmal war es auch keine Faulheit, die sie abhielt, aber erstens gab es einfach zu viele davon, und zweitens ekelte es sie so sehr vor diesen Menschen, ja mehr noch, vor fast allen Menschen und vor Männern im Besonderen, dass sie sich einfach nicht vorstellen konnte, sie zu berühren, und sei es mit einem Beil.
Der Tod muss stattdessen wunderbar sein, dachte sie. Es ist Pflicht, wenn man ihn denn bringen will, dass er so kommt wie ein Flüstern im Schilf. Ein stilles, rasches Sterben, und die Seele schwingt sich zum Nachthimmel empor, ein Reiher, sie geht hin zu einem vollkommenen Mond.
Ihr inneres Gelächter: ein Zucken und ein Fuchsgebell. Nach außen ganz Antikitsch, sehr durchgeistigt und Hand, die gezirkelt Kaffee umrührt in der Tasse. „Ich zahl dann.“ – „Sehr gern.“
Vielleicht wäre es schon genug, nur gerade diesen einen Kellner zum Weinen zu bringen.
Männer vergewaltigen, dachte sie. Frauen machen in sich verliebt.
Sie fand sich selbst ekelerregend.
Andererseits, keiner von uns ist mehr als ein Mopskopf, wenn es Nacht wird, mein Freund.
Das Verbotene meiner Lust trieb mich noch um, als die Lust als solche längst unbedeutend geworden war und schal. Die Stadt war jetzt leer: alle waren fort, Automaten hatten sie zurück gelassen, Automaten waren irrelevant, Automaten ersetzten die Lebenden höchst unzureichend nur.
Ich betrachtete mich irritiert in einer Schaufensterscheibe. Fragte mich dann, ob ein Erinnern anderer geblieben war, die hier früher standen und sich auch in der Scheibe spiegelten. Ich trat näher und leckte über die Scheibe, schmeckte aber nichts als ein bisschen Scheibenreinigungsflüssigkeit und Straßenablagerung.
Ein Automat sah sich irritiert nach mir um. Ich beachtete ihn nicht und steuerte einen interessanteren Winkel der Stadt an. Hellere Lichter, kältere Gesichter, Reime sind manchmal Hinweise auf eine dahinter verborgene Wahrheit.
Diesmal nicht.
Auch hier war es bedeutungslos. Es war einfach überall zu leer für eine Stadt. Aber ich wäre wahrscheinlich auch zu leer, wenn ich das Pech hätte, eine Stadt sein zu müssen.
In unbedingter Konsequenz stieß ich den Automaten weg, dessen Mundöffnung ich gerade für mein Begattungsorgan gemietet hatte. Der Automat lag auf dem Rücken und sah wütend aus und ein bisschen verängstigt, einen Moment lang, bevor ich ihm auf den Kopf trat.
Der Automat ist kaputt, dachte ich, als ich ging.
Sie wusste, was sich in Hier und Jetzt zu einem Wahr formt, wenn man es nur lässt. Sie fürchtete sich davor.
Abmagerung, Sportveranstaltungen, Mama und Papa besuchen, sich betrinken, wenn es nichts kostet. Und tief drin Gewissheit, es gibt ein Dazwischen der Welt, und da findet das Eigentliche, dem man vorenthalten wird, statt.
Selbst Lügen hatten keinen Geschmack, seit es nur noch Automaten gab. Automaten konnte man nicht anlügen, sie hatten keine Ahnung von Wahr oder Falsch. Es machte noch nicht einmal Sinn, sie zu bestehlen; ihnen gehörte nichts.
Mir gehörte alles, da es offensichtlich keine anderen mehr gab.
Wie hätte ich geliebt, wenn das noch möglich gewesen wäre.
Vielleicht.
Ich hatte geliebt. Wahrscheinlich hätte ich es gar nicht mehr gekonnt. Vielleicht war ich einer von denen, bei denen es mit dem einem Mal genug war.
Wir werden es nie erfahren, dachte ich. Es blieb zu lieben nichts zurück.
Jetzt wieder ordentlich: Die Bücher, den Einkauf, zuletzt der Geschirrspüler.
Den Geschirrspüler hasste sie auch.
In einer Automatenwelt bezahlt der Mensch mit Automatengeld.
Schon wieder ein wahrheitsmöglicher Reim. Ich lachte; ich war die letzte Rückzugsfestung ernsthaft menschlichen Humors.
Ich verachtete mich, weil ich ohne Automatengeld nicht existieren konnte. Ich bekam genug davon, aber ohne Arbeiten wäre das nicht gegangen. Arbeiten, keine Vergnügungen. Arbeiten, die von Automaten bezahlt worden waren. Dafür gaben sie mir Geld. Mit dem Geld bezahlte ich andere Automaten. Mit dem Geld brachte ich andere Automaten dazu, für mich zu tun, was ich wollte, dass sie es taten.
Es war von Anfang an ein Fehler gewesen, Automaten eigenen Willen zuzuweisen.
Immerhin, glühendes Eisen hatte eine so reinigende Wirkung auf die Haut von Automaten. Danach waren sie fast menschlich, für eine Weile.
Mehr als eine Weile war in jedem Fall irrelevant.
"Gib mir das wieder."
"Nein."
"Aber es gehört mir. Ich hab's gefunden."
"Mama, Innie haut mich immer."
Carola drehte seufzend den Wasserhahn zu, soweit das ging. Ein bisschen tropfte er eben, da gab es wenig zu diskutieren.
Sie fragte sich, warum es ihr jenseits allen Wissens so erstrebenswert erschien, sich jetzt rücksichtslos zu betrinken.
Das Handy, ihre Schwester. Natürlich. Ohne Blick auf das Display, ohne eigens ausgesuchten Klingelton wusste sie, dass es ihre Schwester sein würde. Sie wusste das, weil sie plötzlich Lust gehabt hatte, sich zu betrinken.
Sie liebte ihre Schwester. Ihre Wut. Ihre Unberechenbarkeit. Diese stillen, verletzlichen Anflüge in ihrem Gesicht.
Aber natürlich, dachte Carola, kann man auch lieben, wer einem fürchterlich auf die Nerven geht.
Nur ganz kurz fragte sie sich, ob das auch für ihre Kinder galt.
In das Bild, das für einen Moment ihren Geist ganz beherrschte, brach wieder die Wirklichkeit ein, widerwärtig, bösartig, laut und ohne Ideen. Ein im Ofen erzeugter Edelstein ist nichts wert, dachte sie. Erst der, auf den ich in der Wüste stoße, ganz zufällig, ist vollkommen. Mithin ist auch jeder gesuchte und hergestellte Tod nichts wert. Aus Versehen, beiläufig, einem, gegen den man nichts hat, den Hals durchschneiden. Oder aus einem schnellen Auto auf Passanten feuern. Alles andere: nur Zweckdienliches. Nicht wahr. Nicht echt.
Denk ich an Tod, denk ich an mich, doch sprech ich von anderen. Denn spräch ich von mir, verlangte dies Hoffnung, nicht sterblich zu sein. Nicht meine Baustelle.
Es gab Gesetze, die mich banden, Versprechen, die ich gegeben hatte, mir selbst zunächst, das ließ mich nicht, auch wenn die Welt, in der ich lebte, längst nichts mehr mit der Welt zu tun hatte, der ich meinen Schwur gegeben hatte. Denn obgleich es nicht so aussah, tatsächlich hatte alles Versprechen, ja sogar alles Treu Sein und Lieben immer nur mit mir selbst zu tun, und ich war noch immer derselbe, war immer noch der, der ich immer gewesen war, obgleich auch dies nicht so schien.
Nur ein Mensch hat das Recht, die Gedichte anderer Menschen zu lesen. Und ich schlage jeden Automaten, den ich mit einem Wordsworthband, einem Rilke oder auch bloß Fried in irgendeiner U-Bahn sehe
Eine kurze Weile, amüsierte Nacht angefüllt mit Nichtigkeit, sie saß tagelang auf dem Balkon und bewegte sich nicht, und sie rief keinen an, auch Carola nicht. Das war besser so, denn sie war wieder gefährlich, und es war besser, wenn sie jeden fernhielt von sich. Oder sie Sorge trug, dass keiner geprüft werde, ob es ihm gelänge, sich von ihr auf einigem Abstand zu halten.
Dann war das überstanden, vielleicht war es nur der Vollmond gewesen. Sie verschlief einen Tag, hinterher zog sie die Schuhe an, um zu laufen. Die alte Strecke, sie lief den Fluss hinunter, über die Wiesen, zum Bach. Sie fand ihn ausgetrocknet.
Entsetzt starrte sie in das leere Bett, sah den Schmutz, der sich in der Betonrinne gesammelt hatte, da, wo sie im Frühling durch das reißende Wasser watete, wo sie in den vergangenen Monaten leichtfüßig und fast arrogant über ein immer schmaler werdendes Rinnsal gesetzt war. Ich habe es nicht sehen wollen, dachte sie verwirrt. Wer, Bruder, wer hat dich tot gemacht?
Als hätte ich hierher Tiere zu treiben, die so lange hilflos wanderten durch ein staubiges Land, so sehr trifft mich deine Verdorrung.
Wenn ich auf den Automaten lag, kam ich mir wieder jung vor, eine Weile. Nein, nicht, weil sie fünf oder zehn Jahre jünger waren als mein gegenwärtiger Körper, sondern weil ihre unbekümmerte, technikbedingte Ignoranz mich an eine Zeit erinnerte, da ich noch die Jahre gezählt hatte, die verstrichen. Dann hatte ich nur noch Jahrhunderte gezählt und Jahrtausende, Zeitalter, irgendwann nur noch die Universen, die ich hatte werden und vergehen sehen, dieweil mein unmittelbares So Sein sich in ein Leben von ein paar Jahrzehnten ballte. Irgendwann hatte auch das aufgehört, jetzt schwang ich gelegentlich im Rhythmus der verstreichenden Zeit, und dann war es gut, denn dann vergaß ich, dass ich nicht mehr wusste, wie alt ich war.
Und die ganze Zeit wusste ich über meine unbedingt fortbestehende Fähigkeit zu lieben, hätte ich nur noch ein einziges Mal einen Menschen treffen dürfen. Das war erst erheiternd, dann warm, schließlich die Hölle, aber eine Hölle, die ich lächelnd willkommen hieß, weil auch sie ein sehr alter Bekannter war.
Ergo stand ich auf, ließ das eine Automatenmädchen da sitzen in dem rauchigen Automatenrestaurant, mein Gesicht war ernst. Hätte ich zu lachen begonnen, es hätte die Dächer abgehoben von den einschlafenden Häusern. Aber ich war ein unauffälliger Mensch, ich ließ mein Gelächter, wo es war: Es gehörte nur mir.
Ich muss eine andere werden, wenn es werden soll, dachte sie. Eine andere, eine heilere. Wer übersetzen will, muss übersetzt worden sein. Wer heilen will, muss heil sein oder sterbend, und meine Zeit ist eine Gebärzeit jetzt, keine Sterbestunde.
Carola soll kommen und mich trösten. Ach nein, das wäre vielleicht zu gefährlich. Und ihre Kinder, wie sind eigentlich ihre Namen? Wusste ich das mal?
Sie schob ihre Hände auf den Knien vor und zurück, als sei darunter eine Abdeckplatte, die man nur wegbewegen müsse, um ganz ungeahnte Schätze zu finden. Aber da war nichts. Da war nie etwas.
Ich habe es nicht sehen wollen, dachte sie. Es war die ganze Zeit da, aber ich habe es nicht sehen wollen. Ich war zu sehr mit mir selber beschäftigt, mit meinen heiteren und schmerzlichen Problemen. Du hattest dir ein Bleibendes ausgedacht; als könnte es das geben, dachte sie und nannte sich „Liebchen“, weil sie das von Lotti Huber gehört hatte und im Alter gern so gewesen wäre wie Lotti Huber.
Sie richtete ihr Gesicht in den Wind, und sie lauschte seiner Rede. Aber es war, als höre sie die Worte eines Irren, Fetzen nur, keine Botschaft, Verwirrung, und unter allem Schmerz, langdauernder Schmerz.
Sie schloss die Augen und erdachte sich ihren Geist als einen Wanderer zwischen den glitzernden Säulen von Traumzeit. Doch dort fand sie nur Leere und verbrannte Hügel, keinen Raum zum Überleben, es war so schlimm, dass sie zurückkehren musste.
Es war die ganze Zeit da, murmelte sie. Und ich wollte es nicht sehen. Das Werden: ein Sternenschmerz. Den empfinden auf Erden nur die Schwangeren, die Dichter und die besten der Getreidekörner im Mahlwerk.
Eine jede von uns heilt die Welt, empfängt sie aus seinem Tod ein Leben.
Nein, Liebchen. Gebären ist gebären, ist nicht Himmel, nicht Erlösung: ist, was es ist, und als dieses reicht es hin.
Wenn ich allein war, weinte ich manchmal. Ich war sicher, dass meine Tränen Heilkraft hatten. Aber es war niemand mehr da, den ich hätte heilen können. (Für die Automaten genügen Schraubenschlüssel und Ölkännchen, für beides bin ich nicht zuständig.) Ich wusste, dass ich bald erblinden würde, und in der Übergangszeit galt es meine Augen oft zu waschen und vorzugsweise mit meinen eigenen Tränen.
Bin ich erst blind geworden, wird mir die Welt als heimeliger Ort erscheinen. Ich werde die Automaten zu schätzen wissen, vielleicht werde ich sogar vergessen, dass es nur Automaten sind und es vor Zeiten außer mir noch andere Menschen gab. Ja es wird sein, als wäre ich selbst ein Automat geworden; nur dass jene nicht blind sind, sondern grundsätzlich unbegabt zu sehen. Das ist ein Unterscheiden, das sie nicht wegbekommen werden. Ein Stein ist nicht taub, ein Baum nicht gehbehindert. Automaten können nicht sehen. Sie können ja noch nicht einmal lieben, und das können ja anscheinend sogar Amöben und niedere Mollusken.
Steine lagen neben dem toten Bett, sie legte sich auf die Erde, sie presste ihre rissigen Lippen darauf, als könne sich die Geschichte von Bach und Gestein ertrinken lassen.
Ihr wurde übel, sie erbrach sich in zwei, drei stechenden Schüben.
Ein Radfahrer fuhr oben auf dem Damm vorbei, sie ahnte, dass er zu ihr blickte, einen Moment unschlüssig, ob es hier vielleicht etwas zu erretten, vielleicht etwas zu erobern gäbe. Aber dann kam er wohl zu dem Schluss, dass sich das eine wie das andere nicht lohne, und fuhr einfach weiter.
Sie nickte bei sich. Es war gut so. Es war gut, wenn die Leute weiterfuhren. Anhalten, was sollte das bringen? Bestenfalls eine gewisse pikierte Verwirrtheit, schlimmstenfalls eine weitere Wagenladung Chaos in ihrem Leben, in dem das Radfahrers sowieso.
Obwohl dem ein bisschen Chaos mit Sicherheit nicht zum Nachteil gereicht hätte.
Manchmal hörte ich das Feuer zu mir sprechen, das ich nicht mehr lodern sah. Erblindung schreitet schleichend fort. Das machte es nicht leichter.
Manchmal stellte ich mich auf eine Brücke und sah unter mir die Lichter ihre Bahnen ziehen, sehnte nichts so sehr, als dass sich etwas, dass sich alles als zerstörbar erwiese. Und bezweifelte stets, dass es mir so sehr um die Zerstörung eigentlich ging. Vielleicht wollte ich nur aus meinem Letztleib ein Universum gebären. Da es zu mehr nicht reichte als gelegentlichem Koten und Urinieren, noch ein paar belanglosen Atem- und Furzentwehungen und einem gelegentlichen Schwallen von Spucke oder Sperma, fühlte ich mich nicht zufrieden. Ich fühlte mich, um beim Wortbild zu bleiben, allenfalls zukrieg. Ich sehnte mich, aber das wusste ich nicht, und erst recht nicht wonach.
Manchmal nahm ich einen Löffel, einen Schraubenschlüssel, einen Rasenrechen in die Hand und fragte sie, was sie eigentlich besser machte als die Automaten, die durch alle Straßen marschierten. Ich wusste die Antwort längst, aber ich wollte herausfinden, ob sie es auch wussten, ja ob sie überhaupt jemals ein wenig gedankliche Arbeit auf diese Frage verwendet hatten.
Ihre Hand glitt durch die trockenen Gräser, aber auch die hatten keine Geschichte zu erzählen.
Sie folgte dem trockenen Bachlauf bis dorthin, wo in einer Seitenrinne immer noch etwas Wasser stand. Das war jetzt auch so, aber ihr war nicht wohl bei dem Gedanken an das, was sie jetzt tun würde. Mit der Hand schöpfte sie in dem faulenden Schlamm; wenn mich jetzt einer sieht, stecken sie mich in die Klapsmühle, dachte sie.
Als sie den Schlamm runterschluckte, war es, als ginge sie in die Mitte des nun nicht mehr trockenen Bachs, ging in die Mitte eines Flusses, die algenbewachsenen Steine glitschig unter ihren Füßen, der Fluss war nicht ganz so tief wie sonst, aber das war nur die normale Trockenheit des Sommers, dagegen war nichts zu sagen.
In der Mitte des geträumten Flusses legte sie sich auf den Bauch, und dann sank sie im Wasser langsam tiefer. Das Wasser schob sie mit den Füßen voran flussabwärts, sie ließ es geschehen, achtete nur darauf, ihr Gesicht gegen die Strömung zu halten. Sie ahnte, dass sie träumte, als sie Mund und Nase ganz weit öffnete. So ließ sie den Fluss in sich hineinströmen, ließ ihn durch ihr Innerstes strudeln, Lunge und Magen füllen, weiterströmen durch jedwedes Gedärm, schließlich beim After wieder austreten.
Nicht genug, dachte sie, nicht genug. Ich verstehe ihn nicht, ich verstehe ihn einfach noch nicht. Die Krankheit – das Fremdsein – der Tod?
Da tat sie, was sie nicht hatte träumen wollen. Sie öffnete die Augen ganz weit und bestritt deren Existenz so grundlegend, dass eine Öffnung entstand in ihren Augenhöhlen, durch die strömte der todkranke Fluss direkt in ihr Hirn.
Einen erschrockenen Augenblick verharrte das Universum und starrte sie an. Für sie aber war das bedeutungslos. Denn ihr geträumtes Selbst stand jetzt vor ihr auf dem Farbspiel des Flusses, lachte, sprang leichtfüßig von Welle zu Welle. Dann eintauchend in diesen Fluss und in ihm vorwärts eilen, an den Höhlen der Medusen und Hydren vorbei, durch die Riffe verschwendeter Liebe, unter den Atollen der Einsamkeit, immer weiter und endlich zu den gläsernen Säulen, die jetzt schon Flusswasser mannshoch umspülte.
Carola hasste ihre Schwester, weil sie nie Wäsche legte und nie die Lindenstraße ansah.
Er stand dort oben, zwischen den Büschen, und richtete seinen Schwanz auf den Baum vor sich. Sie wusste, dass der Baum verdorren würde, auch wenn es jetzt vielleicht noch nicht geschah.
Woher dieser Hass, dachte sie und dann: Bin ich es, die das heilen kann? Und wer, wenn nicht ich?
Carola kannte das schon. Also blieb es mal wieder an ihr hängen. So war es immer. Wenn ihre Schwester sich eine Weile nicht gemeldet hatte, rief mit Sicherheit Mutti bei Carola an und beauftragte sie mit Nachforschungen. Carola fand ihre Schwester meist ziemlich schnell, weil es immer derselbe Ort war, zu dem sie ging: die Mündung des Bachs in den Fluss.
So war es auch diesmal. Sie lag am Ufer, wahrscheinlich wieder sehr bekifft oder diesmal vielleicht auch betrunken. Sie schlief.
Als Carola näher kam, sah sie, dass ihre Schwester unordentlich gekleidet war. So, als hätte sie Sex gehabt und dann die zerraufte Kleidung rasch und schlampig zu richten versucht, wäre aber eingeschlafen darüber. Carola war wütend. Sie hatte schon seit zwei Jahren nicht mehr gefickt, und im Freien überhaupt noch nie. Sie hatte ja die Kinder.
Du darfst den Kindern nicht die Schuld an allem geben, dachte sie manchmal. Aber etwas in ihr schrie nach einem bebarteten Mund, der sich um ihre Brustwarzen schloss.
„Komm, Schwester, wach auf, wir gehen heim.“
„Ja.“
Nach ein paar Schritten auf dem Weg:
„Wohin ist er gegangen?“
„Um Himmels willen, wer denn?“
„Der Fremde. Der mit dem Tod in den Augen.“
„Du hast geträumt.“
„Natürlich habe ich geträumt. Ich bin geflogen, und dann war er da, er flog auch, er war Dunkel, ich war Licht, und als sein Schwanz in mir war, schlugen daraus lodernde Flammen.“
„Steig ein, red nicht so’n dummes Zeug“, sagte Carola und dachte: Was interessieren mich deine Scheißdrogenficks?
Als sie in den Herbartweg einbog, überlegte sie, aber nur ganz kurz: Vielleicht ist sie vergewaltigt worden. Ihre Schwester schlief wieder, Carola musterte sie kurz, als sie an der Ampel halten mussten. Nein, entschied sie dann. Sie ist nicht vergewaltigt worden, Und dachte spöttisch: als hättest du darüber zu entscheiden.
Es war die Gier, die uns von den Automaten einst unterschied. Die Fähigkeit, Entsetzliches zu tun, die ich einst für unsere wichtigste Eigenschaft hielt, ist dagegen bedeutungslos. Auch Automaten tun entsetzliche Dinge: aber wir taten sie aus Gier.