Das andere Prinzip Trotz - Knut Stang - E-Book

Das andere Prinzip Trotz E-Book

Knut Stang

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Beschreibung

Beiträge aus verschiedenen Perspektiven zu einer moralischen Leitbilds des fortgesetzten Aufbegehrens gegen die angeblichen Unbedingtheiten des Seins, der Politik oder der Natur.

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Vorangesetzte Nachbemerkung

(Nach der Lektüre zu lesen)

Zehn Jahre? Schon? Den Dübel ook, Kaptein, oder wat?

Vor zehn Jahren habe ich die Akademie mit einem ersten Tagungsband zu Wort kommen lassen, anliegend der zweite. Was zu sagen ist, steht folgend, das hätte hier in der einleitenden Nachbemerkung nichts zu suchen. Aber natürlich, Danksagungen gehören an diese Stelle, darunter insbesondere den vielen Freunden und Kollegen, denen ich immer wieder mal meine verrückten Ideen vor die Füße schmeißen durfte. Namentlich nennen möchte ich hier vor allem Stefan Harms, Gefion Apel, Christian Nimtz, Mahzad Hoodgarzadeh und Frank Huismann.

Ein literarisches Selbstgespräch ist vor allem eins: ein Selbstgespräch. Man gerät leicht in den Ruf, ein wenig meschugge zu sein, wenn man mit sich selbst diskutierend durch die Fußgängerzone schlendert, insbesondere, wenn man nicht zur Ehrenrettung eine Freisprecheinrichtung im Ohr vorweisen kann. Aber ich bin jetzt über fünfzig, die Zahl der Leute, deren Einschätzung meiner Zurechnungsfähigkeit mir nicht mehrfach mehrfarbig wurstegal ist, nimmt offensichtlich rapide ab, auch wenn die Null wohl nie ganz erreicht werden wird.

Wie der erste Band der Akademie-Vorträge enthält auch dieser nichts, für dessen Originalität ich mich verbürgen kann. Etliches dürfte so oder ähnliches schon von Leuten geäußert worden sein, die sich mit den behandelten Themen deutlich besser auskennen als ich. Ist ja irgendwie auch ganz schmeichelhaft. Aber immerhin habe ich mich bemüht, die unmittelbar genannten Bezugsstellen mit den entsprechenden Verweisen zu versehen. Das ich dabei, insbesondere wo es um Verschwörungstheorien geht, auch Werbung für Publikationen machen musste, deren Tendenz nicht bis ins letzte meinen eigenen Vorstellungen entspricht, ist zwar betrüblich, ließ sich aber leider nicht vermeiden.

Letztendlich habe ich mich in diesem Buch wenigstens genauso oft geirrt wie in dem vorangegangenen Akademieband oder in jedem anderen meiner Bücher. Wenn ich wenigstens nicht die seinerzeitigen Irrtümer ganz und gar wiederholt habe, will ich schon zufrieden sein.

Grassel, im Oktober 2015

Inhalt

Karl Robert Schorle, M.A.: Wenn Niederlagen zu Erfolgen werden: Statt eines Geleitworts

Arlt Neeskens: Was sich zusammenfindet, und was nicht

Bernd Schierbrook: Was wir nicht sind

3.1 Eigentlich eine simple Frage

3.2 Sinn ohne Dort

3.3 Das hierseitige Dort im Anderen

3.4 Stufen zum Sinn

3.5 Zwischen Geburt und Tod

3.6 Stufen zum Glück

3.7 Trotz und Sinn

3.8 Zitierte Publikationen

Martin Kladerer: Notizen zu Tolkien

4.1 Mittelalter ohne Klerus

4.2 War Tolkien ein Rassist?

4.3 Anachronismen

4.4 Skizze und Gemälde: Das Niggle-Writing

4.5 Die Geister der Erde: Halblinge, Bombadil, Beorn

4.6 Tolkien und Blake

4.7 Zusammenfassung

4.8 Zitierte Publikationen

Bengt Malte Schmickler: Der Topf am Ende des Regenbogens

5.1 Der Chor der Jammrigen

5.2 Die Legenden des Reaganismus

5.3 Steuern und Kredite

5.4 Staatsaufgaben und der aufgegebene Staat

5.5 Die Freiheit des Einzelnen als Aufgabe des Gemeinwesens

5.6 Die Rückgewinnung staatlicher Verfügungsmöglichkeiten

5.7 Alternativlosigkeit und Fantasielosigkeit

5.8 Fazit

5.9 Zitierte Publikationen

Jacqueline Merot-Beconde: Der Begriff des Richtigen in der Geschichtswissenschaft

6.1 Warum Geschichtswissenschaft kein leichtes Unterfangen ist

6.2 Sprechen über Geschichte

6.3 Der Begriff des Richtigen und die Kontextualität von Aussagen

6.4 Der Begriff der Vergangenheit

6.5 Temporalität und Wahrheit

6.6 Der Begriff der Gegenwart

6.7 Das Gestern im Heute: Kombinatorik und Amalgamisierung

6.8 Wahre und falsche Aussagen über die Geschichte

6.9 Wahrheit, Wissen und Verstehen

6.10 Die historische Wahrheit als Berufsziel

6.11 Zitierte Publikationen

Charles Lewis Whitey: Als würd bei Nachbars eine totgeschlagen

7.1 Aktuelle Vorbemerkung

7.2 Gewalt gegen Frauen im Internet

7.3 Prostitution und Menschenhandel

7.4 Unsere ach so aufgeklärten Freunde

7.5 Soziologie, Moral und geltendes Recht

7.5.1 Die beliebige und die prädestinierte Segregation

7.5.2 Was die Seele tut mit der Gewalt

7.6 Was man tun kann

Elias Koeldemans: Heraklit und Adam Smith

8.1 Heraklit und die Zitierer

8.2 Der Krieg als schöpferische Kraft

8.3 Der Konflikt in der Wirtschaft

8.4 Konflikt und Kooperation in der Wirtschaftstheorie

8.5 Kooperatives Handeln als Leitkultur großer Unternehmen

8.6 Kooperative Unternehmensführung im Kontext von Liberalismus und Kapitalismus

8.7 Fazit

8.8 Zitierte Publikationen

Bertha Graanz: Die andere Seite der Gitterstäbe

9.1 Gefängnishaft gab es schon immer

9.2 Gefängnisse sind notwendig

9.2.1 Klarheit des Zwecks von Gefängnishaft

9.2.2 Eignung von Gefängnishaft zur Erreichung dieses Zwecks

9.2.3 Vorhandensein alternativer Mittel zur Erreichung des Zwecks

9.3 Gefängnisse sind gerechtfertigt

9.4 Gefängnisse wird es immer geben

Haldert Gudmunsson: Das Ich und sein Ich: Individuelle Kohärenz und Vielheit

10.1 Einleitung: 666 oder die Zahl des Tiers

10.2 Kohärenz und Konsistenz

10.3 Die dreistufige Inkohärenz

10.4 Die Welt ein Scherbenhaufen: Die Inkohärenz des Physischen

10.4.1 Vielheit der erlebten Welt

10.4.2 Vielheit der vermittelten Welt

10.4.3 Vielheit der vermuteten Welt

10.5 Die Korrespondenz von Mensch und Umwelt

10.6 Wer bin ich, und wenn ja wieviele: Die Inkohärenz des Körpers

10.7 Wer bin wir: Die Sehnsucht nach der kohärenten Seele

10.7.1 Die unäre Seele als Mythos der europäischen Philosophie

10.7.2 Die Sehnsucht nach der inneren Kohärenz

10.7.3 Was hilft mir denn die eine, diamantene Seele?

10.8 Jenseits der Fragmente: Das Ich und sein Körper

10.8.1 Der Rückgriff auf die Kohärenz des Körpers

10.8.2 Vielheit und die Selbstheit des fragmentarischen Ichs

10.9 Zusammenfassung und Ausblick

10.10 Zitierte Publikationen

Georg Porten: Verschwörungstheorien für jedermann

11.1 Verschwörungen, Theorien und Verschwörungstheorien

11.2 Das Bild der Verschwörung

11.3 Frühe Verschwörungstheorien

11.4 Katharer, Ketzer, Hexen

11.5 Juden, Jesuiten, Illuminaten und Spatzen

11.6 Verschwörungstheorien heute: Milizen, Katrina und die Morgellonen

11.7 Die Popularität von Verschwörungstheorien

11.7.1 Ich sehe was, was du nicht siehst: Individualpsychologische Erklärungen

11.7.2 Wenn ihr draußen seid, dann sind wir drinnen: Soziologische Erklärungen

11.7.3 Feinde nützen mehr als Freunde: Politologische Erklärungen

11.8 Das Ende der Verschwörungstheorien

11.9 Anhang: Das können wir besser

11.9.1 Lolek, Lech und Bolek

11.9.2 Die Sonne geht auf: Sun, Apple und die anderen

11.9.3 Wenn Eva geschossen hätte…

11.9.4 Schwarze Erde, braune Herren

11.9.5 Wer nach Westen fliegt…

11.9.6 Steuerhinterzieher und Bordelle

11.10 Zitierte Publikationen

Albert Svargt: Was ist Philosophie?

12.1 Eine alte Frage zu Beginn

12.2 Die Frage, was Philosophie sei, im gesellschaftlichen Diskurs

12.3 Philosophie – Interpretin der Ergebnisse der Wissenschaften?

12.4 Die Anfänge der Wesensbestimmung von Philosophie

12.5 Philosophie als Lebenshaltung

12.6 Klarheit der Begriffe: die Analytische Philosophie

12.7 Wissenschaft als Dienstleister

12.8 Philosophie als Dienstleister

12.8.1 Einigkeit in der Themenwahl

12.8.2 Einigkeit, was die leitenden Themen bestimmt

12.8.3 Konsensfähige Aussagen innerhalb der vereinbarten Themen

12.8.4 Konsens, was die aktuell relevanten Fragen der Philosophie sind oder sein sollen

12.8.5 Einhellige Antworten auf die aktuell relevanten Fragen

12.9 Was Philosophie ist, was sie soll und was sie außerdem vermag

12.10 Zitierte Publikationen

Arlt Neeskens: Statt eines Schlussworts: Der Aufbruch ins Sein

12.11 Zitierte Publikationen

1 Karl Robert Schorle, M.A.: Wenn Niederlagen zu Erfolgen werden: Statt eines Geleitworts

Als Bürgermeister einer kleinen Stadt hat man nicht viele offizielle Anlässe, zu denen man etwas mehr oder weniger Gehaltvolles zu sagen hat. Da ist es umso betrüblicher, wenn einem dann auch noch einer dieser wenigen Anlässe abhanden kommt.

Als ich vor drei Jahren in dieses Amt gewählt worden bin, habe ich von meinem Vorgänger, dem unvergessenen Dr. Schröder-Huppendohl, neben vielen anderen Aufgaben auch die schöne Pflicht übernommen, die alle fünf Jahre stattfindende Tagung der Akademie zu Bad Meinungen als Schirmherr zu begleiten und, soweit es in den bescheidenen Möglichkeiten der Stadt liegt, zu unterstützen.

Wenn in diesem Jahr erstmals seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs die Tagung nicht stattgefunden hat, so ist dies nicht als Ausdruck zu verstehen, dass die Stadt Meinungen sich nicht mehr hinter die erklärten Ziele derjenigen stellen will, welche seinerzeit die Tagung ins Leben gerufen haben. Unverändert fühlen alle Bürger von Bad Meinungen sich dem Geist der Aufklärung und des freien Gesprächs mutiger Denker verpflichtet. Meine Damen und Herren, Sie wissen jedoch auch, dass wir anders als frühere Verwaltungen der Stadt uns dem Gesetz strikter Haushaltsdisziplin unterworfen haben. Wir sehen darin mehr als in allem anderen einen Beitrag, dass auch unsere Kinder und Enkelkinder noch sorgenfrei in unserer schönen Stadt leben werden und die Verwaltung ohne Diktate des Landkreises oder der Landeshauptstadt auch weiterhin agieren kann.

Haushaltsdisziplin heißt aber eben auch, dass alle Ausgaben ohne Vorbehalte und Parteilichkeiten auf den Prüfstand gestellt werden. Hier hat manch ein lieb gewonnenes Ereignis, mancher Verein, manche traditionsreiche Einrichtung der Stadt Federn lassen müssen. Wir konnten hiervon auch die Tagung der Akademie, in der wir natürlich unverändert einen wichtigen Teil unserer Stadtchronik sehen, nicht gänzlich aussparen. Denn in der Vergangenheit hat die Stadt immerhin bis zu einem Viertel der unmittelbaren Aufwände für die Durchführung der Akademietagung übernehmen müssen. Gleichzeitig haben wir aber in diesem Jahr diverse zusätzliche Lasten schultern müssen, nicht zuletzt durch die erstmals auch durch unsere Stadt geleitete Landesrundfahrt der Radsportler, die, man muss das so sagen, nun einmal ein weitaus größeres Interesse der Öffentlichkeit findet als die alle fünf Jahre stattfindende Tagung der Akademie.

Letztlich musste die Verwaltung eine Entscheidung treffen, und man hat sich dies nicht leicht gemacht. Der Stadtrat hat zwei ganze Sitzungen fast ausschließlich auf diese Frage verwendet, ich selbst bin noch im Dezember vergangenen Jahres auf dem Landratsamt vorstellig geworden, um vielleicht doch noch zusätzliche Mittel zu beschaffen. Leider war es dann aber unumgänglich, die auf diese Art freigestellten Gelder für die Neugestaltung der Fußgängerzone vor dem Tagungsgebäude mitzuverwenden, was sicherlich mit Blick auf spätere Tagungen der Akademie eine sinnvolle und vernünftige Investition gewesen ist. Auch ist allseits bekannt, dass für unsere Stadt der Tourismus immer wichtiger wird. Warum sollen nicht auch die architektonisch so reizvollen Räume der Akademie hierfür geöffnet werden, nun da durch die Fußgängerzone ein direkter Anschluss zum Busparkplatz hinter dem Rathaus gegeben ist. Ich kann nur alle Leser dieses Buchs herzlich einladen, sich einmal, vielleicht auch im Rahmen eines Kurzurlaubs, die architektonischen, kulinarischen und künstlerischen Reize unser kleinen Stadt zu gönnen.

Was das vorliegende Buch betrifft, muss man es der Akademie nur umso mehr als Verdienst anrechnen, dass sie es trotz aller Beeinträchtigungen sich nicht hat nehmen lassen, die z.T., soweit ich weiß, bereits skizzierten Beiträge einiger Tagungsteilnehmer in dem Band zusammenzufassen, den Sie jetzt in Händen halten. Natürlich wäre es schön gewesen, die hier zusammengetragenen Gedanken und Ausführungen auch im Rahmen der Tagung und erhellt durch eine frische und muntere Diskussion zu Gehör zu bekommen. Aber auch in dieser Form meine ich, werden die Beiträge ihre Wirkung nicht verfehlen, haben sich doch auch in diesem Jahr wieder einige der ausgezeichnetsten Geister dieses Landes bereitgefunden, hierzu etwas beizutragen.

Ich meine daher, dass es der Leitung der Akademie, allen voran Herrn Dr. Nessken als ihrem Vorsitzenden, gelungen ist, eine scheinbare Niederlage in einen schönen Erfolg umzumünzen, indem diese, wie ich nicht zweifle, erstklassige Sammlung innovativen Denkens doch noch ans Licht der Welt gebracht werden konnte. Ich bin sicher, dass mit dieser Zähigkeit und dieser Kreativität auch und gerade in den Dingen des praktischen Lebens es der Leitung gelingen wird, in fünf Jahren dann auch wieder zahlreiche Freunde eines gehaltvollen Worts in den ehrwürdigen Räumen unserer schönen Akademie begrüßen zu können. Bis dahin hoffe ich, dass jeder Leser viel Nutzen und Gewinn aus der Lektüre der vorliegenden Beiträge ziehen und dass viele wichtige Diskussionen wie schon in der Vergangenheit hierdurch angestoßen und angeregt werden.

2 Arlt Neeskens: Was sich zusammenfindet, und was nicht

Die Geschichte der Akademie zu Bad Meinungen an der Glaubste ist eine Geschichte voll von Auf und Ab, das ist das Wesen der Geschichte überhaupt, könnte man sagen. In diesem Band sind einige der Beiträge versammelt, die wir eigentlich gehofft hatten, auf der Akademietagung zu hören. Diese Tagung ist entfallen, weil die Stadt Bad Meinungen an der Glaubste ihrer Budgetsteuerung andere Prioritäten gemeint hat geben zu müssen, als dies in der Vergangenheit der Fall gewesen ist. Dass eine Verpflichtung gegenüber der Tradition der Aufklärung und dem freien Spiel des Geistes höher zu werten ist als manches, was sich in Geld ausdrücken lässt, hat sich offensichtlich noch nicht in allen Winkeln unseres Landes oder auch unseres Denkens gleichermaßen verbreitet. Diese Akademie wird aber insbesondere hieran weiter arbeiten. Der Weg scheint doch noch länger zu sein, als wir alle noch vor wenigen Jahrzehnten vermutet hätten.

Es fehlen dadurch in diesem Band wichtige Beiträge, deren Autoren mit einer reinen Drucklegung nicht einverstanden gewesen sind. Nicht wenige haben zu Recht darauf hingewiesen, dass erst der Vortrag und der sich daran anschließende Diskurs im Rahmen der Akademietagung das eigentlich Besondere der Dilettantenvorträge ausmacht. Auch wollte man in einer solchen Form trotzigen Aufbegehrens ein klares Zeichen setzen gegen den in diesem Jahr nun einmal zu verzeichnenden Traditionsbruch. Ich werde weiter unten auf die Bedeutung und Dimension von Aufbegehren und Trotz noch eingehen und meine in der Tat, dass genau deshalb auch die nun nicht in diesem Band vorhandenen Aufsätze allein schon durch ihr Fehlen einen wichtigen Beitrag zum Gesamtanliegen darstellen. Dennoch ist es schade, dass dadurch vieles hier nicht erscheint, aber vielleicht in der nächsten Tagung – wir werden wieder versuchen, eine solche abzuhalten – vorgetragen werden kann. Erwähnen möchte ich daher hier nur zwei Beiträge, die dadurch für immer dahin sind. Adalbert Schick ist leider verstorben, bevor er seinen Beitrag zur Theorie der globalen Parallelphänomene am Beispiel des Pyramidenbaus in verschiedenen Teilen der Welt fertigstellen konnte. Wir verneigen uns in Erinnerung an diesen großen Lehrer und Forscher, dessen Lebenswerk im Bereich der elliptischen Kurven sicherlich noch weit in die Zukunft wirken wird. Wir haben dem Wunsch seiner Erben entsprochen, den uns vorliegenden, aber noch nicht von letzter Hand bearbeiteten Beitrag nicht zu veröffentlichen. Zweitens wäre hier Kerstin Siggebord anzuführen, deren Beitrag erst auf Basis eines mit den Zuhörern durchgeführten Experiments zur Kommunikation zwischen Hunden und zufällig ausgewählten Probanden zustande gekommen wäre. Sie wird dieses Experiment an anderer Stelle durchführen und entsprechend dann dort ihre Erkenntnisse veröffentlichen. So ist immerhin der wissenschaftlichen Gemeinschaft nichts, nur unserem vorliegenden Band ein wichtiger und zweifellos interessanter Beitrag verloren gegangen.

Dennoch ist es aber m.E. gelungen, hier eine recht stattliche Sammlung zusammenzutragen, zumal der eine oder andere die Gelegenheit genutzt hat, dann auch etwas ausführlicher seine Gedanken darzulegen, als dies im Rahmen eines Vortrags möglich gewesen wäre. Zudem haben die meisten Autoren auch anders, als es sonst Tradition der Dilettantenvorträge ist, ihre Aufsätze mit Verweisen auf die unmittelbar genannte Literatur versehen. Vor allem aber konnten wir in mehreren Fällen den Autoren bereits frühzeitig die Beiträge in diesem Band wenigstens in einer ersten Fassung zur Verfügung stellen. Insbesondere Haldert Gudmunsson hat in seinem Beitrag hierdurch an mehreren Stellen auch Bezug nehmen können auf andere in diesem Band befindliche Aufsätze, darunter vor allem jene von Bernd Schierbrook und von Albert Svargt. Schließlich will ich hier auch den Ergänzungsteil des Beitrags von Georg Porten nennen, der in einer Vortragsveranstaltung sicher der begrenzten Zeit zum Opfer gefallen wäre. Ich habe gerade diese Seiten, ich gestehe es, stellenweise durchaus auch mit Vergnügen gelesen. In diesem Fall tritt für mich deutlich zutage, wie eng beieinander Realität, Fantasie und eben auch Satire manchmal liegen.

Alle Beiträge durchzieht jedoch noch etwas anderes, und es war dies auch ein zusätzliches Motiv, diese Aufsätze trotz des Entfalls der ihnen eigentlich vorausgehenden Tagung zusammenzustellen und in den Druck zu geben. Es ist dies das Prinzip Trotz, welches dem Band daher auch den Namen gegeben hat. Sie werden freilich dem Beitrag von Bernd Schierbrook entnehmen, dass wir hier von einem Prinzip Trotz sprechen, dass deutlich anders gemeint ist als es seinerzeit im bekannten Werk von Robert Jungk der Fall gewesen ist. Daher haben wir diesen Band als „Das andere Prinzip Trotz“ betitelt. Es bildet vielleicht nicht wirklich einen roten Faden, der quasi alle Beiträge in diesem Band durchzöge, ist aber doch mehr als nur ein gelegentliches Motiv. Das führt mich zu der Überlegung, dass, wenn doch eine ganze Reihe interessanter Autoren, wie wir sie hier versammelt haben, ohne sich untereinander großartig abzustimmen, die eine oder andere Form von Trotz als wichtiges Element ihrer Beiträge einführen, dieser vielleicht insgesamt ein noch nicht hinreichend diskutiertes oder auch nur beschriebenes Element dessen ist, was man meist mit dem unschönen Wort „Zeitgeist“ bezeichnet. Oder vielleicht eher noch Element eines Geists, der Zeitgeist werden sollte, dies aber jedenfalls heute vielleicht noch nicht ist.

Was meine ich damit? Die vergangenen Jahrzehnte waren stark geprägt von verschiedenen Spielarten eines schlichten Engineering in allen Wissenschaften, aber auch in der Politik und auf weite Strecken sogar in der Kunst. Wir haben uns, jeder einzelne, oftmals sehr rasch abgefunden mit den angeblichen oder tatsächlichen Gegebenheiten des Felds, auf dem wir uns bewegten. Jede beliebige Disziplin wurde auf diese Art zur Kunst des Machbaren, um einmal einen Ausdruck von Bismarck zu verwenden. Aber es war dies dann immer auch eine Reduktion der Kunst auf das Machbare, auf das lediglich Machbare eigentlich. Und wir haben alle zu wenig, zu selten, mit zu wenig Hartnäckigkeit gefragt und immer wieder nachgefragt, ob das, was uns als machbar erschien oder was andere als die Grenzen des Machbaren umrissen haben, tatsächlich die Grenzen unseres Tuns bildet. Das Festhalten an etwas, von dem scheinbar längst festzustehen scheint, dass es nicht geht, nicht klug ist oder keine Mehrheitsfähigkeit aufweist, das mag dem einen oder anderen als Trotz oder Sturheit ausgelegt werden. Ich erinnere an dieser Stelle an die viel zu früh verstorbene Regine Hildebrandt, die oft einen Satz benutzt hat, der dann auch den Titel eines Buchs über sie bildet: „Erzählt mir doch nich, dasset nich jeht!“ Wir akzeptieren alle zu schnell, dass dieses oder jenes nicht geht und vergessen dabei, dass das Verwirklichen dessen, was wir denken oder träumen, nicht selten erst die Wirklichkeit erschafft, in der es möglich ist.

Unser Ehrenpräsident, Elias Koeldemanns, hat die Tagungsteilnehmer im Vorfeld der Erstellung des vorliegenden Bands dazu ermuntert, ihre Vorträge mögen sich in mehr als nur der erwarteten oder vielleicht auch beabsichtigten Hinsicht als ungehalten erweisen. Denn es ist, so meine ich dies verlängern zu dürfen, nun in der Tat gerade dies ungehaltene Aufbegehren, dieser vielleicht ganz kindische, jedenfalls bestimmt kindliche Unverstand, was sich auf mittlere Sicht vielleicht geradezu als Leitstern und Licht in dunkler Nacht des Denkens erweisen wird.

Auch die weiteren Beiträge in dieser Zusammenstellung sind in der einen oder anderen Hinsicht ein deutlicher Beleg dafür, wie zeitgemäß, ja wegweisend dieses neu definierte Prinzip Trotz ist. Nicht nur Elias Koeldemanns hat das in seinem eigenen Beitrag, auf den wir naturgemäß besonders stolz sind, sehr deutlich gemacht. Charles Lewis Whitey meint man in seinen Zeilen geradezu gegen Türen und Möbel treten zu hören, und auch Bertha Graanz lässt trotz schweizerischer Vornehmheit und intellektueller Zurückhaltung an ihre Verärgerung über die unzureichende Grundlegung unserer heutigen Strafrechtspraxis keinen Zweifel.

Sie wissen vielleicht, dass die Kinderpsychologie den Begriff der Trotzphase inzwischen weitgehend durch den Begriff der Autonomiephase ersetzt hat, weil dem Begriff des Trotzes eine starke Wertung innewohnt. In der Autonomiephase erreicht das Kind mehr oder weniger weitgehend die Herausbildung einer eigenständigen Ichkonzeption in klarer Abgrenzung von der Welt der Anderen. Dabei schlägt es oft über die Stränge, muss das tun, um sich im ersten Moment vielleicht weiter zu distanzieren, stärker abzugrenzen, als das der Sache nach notwendig wäre. Ansichten und Meinungen werden entsprechend nicht zurückgewiesen, sie werden zurückgeschleudert, Unmut wird nicht durch Stirnrunzeln ausgedrückt, sondern durch Toben und Schreien. Zugleich begreifen wir in dieser Phase häufig auch, dass es keine unbedingte Korrelation zwischen unseren Bedürfnissen und Wünschen und deren Erfüllung gibt. Enttäuschung ist ein biografisches Element, das in dieser Phase oft zum ersten Mal in unser Leben tritt.

Den Trotz als Moment unseres Denkens in den intellektuellen Diskurs zu bringen, scheint daher zunächst den Ideen der Rationalität und Aufklärung, welchen die Akademie zu Bad Meinungen sich verpflichtet fühlt, zuwider zu laufen. Man hält an offensichtlich widerlegten Ansichten fest, man bemüht ein erhebliches emotionales Reservoir, wo nüchterner Verstand vollkommen hinreichend wäre.

Es gibt bekanntermaßen die verbreitete Neigung, von einem Gegensatzpaar aus Rationalität und Emotionalität zu sprechen. Aber tatsächlich erzeugt unsere Emotionalität den gesamten Seinsraum unserer Eigenwahrnehmung und umschließt damit auch alles Rationale. Das eigentliche Gegensatzpaar in diesem Raum ist, hingewendet auf die Rationalität, mithin nicht die Emotionalität, sondern e verbo ipso die Irrationalität. Jene aber ist nicht synonym zur Emotionalität, sie ist synonym zu einer inneren Haltung des Handelnden. Diese Haltung, die man Irrationalität nennt, ist die Gleichgültigkeit gegenüber der Begründbarkeit des eigenen Handelns.

Wenn einer sagt, es ist mir egal, welche Begründungen ich für mein Handeln nennen kann, heißt das nicht, dass es solche Begründungen nicht geben kann; es heißt auch nicht, dass er diese nicht kennt. Da Handeln immer aus Gründen geschieht, kann man immer auch Begründungen formulieren, die insoweit zutreffend sein können, wie sie auf einer richtigen Annahme über diese Gründe beruhen. Doch ist nicht auszuschließen, dass ich meiner Handlungsgründe unsicher, mithin zu Begründungen nicht imstande bin. Es kann aber auch sein, dass ich diese möglichen Begründungen durchaus kenne, über sie aber nicht Rechenschaft ablegen mag.

Für Irrationalität ist dies alles im wahrsten Sinne gleichgültig. Sie weist die Forderung nach Begründung der eigenen Handlung zurück: als lächerlich, als Zeitverschwendung, als unlösbar, als belanglos.

Mithin wäre Rationalität zunächst der Wunsch, die eigenen Handlungen begründen zu können, sowie die Tätigkeit, über diese Begründungen bzw. über die hierdurch formulierten Gründe des Handelns nachzudenken. Es wäre sodann aber im sozialen Miteinander auch der Wunsch, diese Begründungen kommunizieren zu können. Dies hat zwei Erfordernisse: Zum einen muss man die jeweilige Begründung kommunizieren können, sie muss also in eine Form gebracht werden, die sie intersubjektiv verstehbar macht. Dies erfordert immer eine Form von Sprache, und sei es auch die Sprache von Kunst oder Musik. Zweitens muss die Begründung aber so sein, dass man sie nicht nur kommunizieren kann, sondern dass man sich auch bereit dazu findet. Nicht jeder Handlungsgrund ist sonderlich schmückend, wenn man ihn anderen berichtet; manches ist geradezu peinlich. Ein rationaler Mensch wird also auch versuchen, so zu handeln, dass das Vertreten seiner Beweggründe, also das Begründen seiner Handlungen, nicht zu Beschämung, Skandal oder gar Gefängnisaufenthalt führt.

Der Trotz ist keine Haltung, welche sich der Forderung nach Begründbarkeit des eigenen Handelns verweigert. Er wird auch häufig zu Unrecht gleichgesetzt mit einer Haltung, die Ansichten auch dann nicht aufgeben will, wenn Vernunft und gute Gründe dagegen sprechen. Aber das ist hier nicht der Fall. Das Festhalten an unseren Ideen aus einem Moment des Trotzes heraus speist sich eher aus einem starken Misstrauen gegenüber den allzu leichten und schnell gefundenen Argumenten gegen unsere Ideen. Wer einer neuen Idee entgegen wirft: „Tun Sie das nicht, das haben wir noch nie so gemacht!“, muss damit rechnen, dass ihm ein „Ist mir doch wurscht!“ entgegenschallt.

Es hilft ein wenig, das Wort „Trotz“ im ursprünglichen Sinne zu verstehen: Es ist der Trotz sprachgeschichtlich eng dem Trutz verwandt, also dem kämpferischen Widerstand. Auch dieser ist in gewissem Maß unvernünftig, ist aber zugleich auch vernünftig hinsichtlich des eigentlichen Ziels, nämlich der Wahrung der eigenen Autonomie gegen den Versuch eines anderen, uns seiner Verfügungsgewalt zu unterwerfen. Schon deshalb ist der Trotz, also das Aufbegehren gegen die Macht des tatsächlich oder auch nur scheinbar Faktischen eine unmittelbare Voraussetzung, die Freiheit zu gewinnen und zu verteidigen, welche unabdingbare Voraussetzung jeder Autonomie ist. Und es ist zur Freiheit vielleicht der einzige Weg, den zu beschreiten nicht voraussetzt, dass er schon bis zu seinem Ende beschritten ist. Auch in größter Unfreiheit kann der Mensch zum Trotze finden. Das nützt ihm dann vielleicht nichts mehr, aber es erlaubt ihm eine Stiftung seiner Identität aus diesem Erleben des eigenen Trotzes heraus. „Ich bin, der widersteht“, kann eine durchaus sinnvolle Seinsdefinition werden.

Insgesamt ist also der Trotz ein wichtiger Krückstock der Einsichtsmehrung, auf den gestützt sie auf der Straße der Ahnungslosigkeit vorwärts humpelt. Wie viele Fallstricke dabei ihrer lauern, das ist auch etwas, womit sich direkt oder zwischen den Zeilen der eine oder andere der nachfolgenden Beiträge auseinandersetzen wird. Das betrifft nicht nur die hier wiedergegebenen Gedanken und Einsichten, sondern mindestens hier und da auch ein stures Festhalten nach dem Suchen nach Antwort, wo andere vielleicht längst gesagt haben, dass zu antworten in dieser Frage nicht möglich, oder wenn, so doch jedenfalls kaum hilfreich und zielführend sein könne. Die Autoren in diesem Band sagen mehrheitlich, Sie werden das bemerken: „Na und? Ist mir doch wurscht!“

3 Bernd Schierbrook: Was wir nicht sind

Bernd Schierbrook ist den meisten Lesern wahrscheinlich vor allem aufgrund seiner sportlichen Erfolge bekannt, war er doch einer der ersten, denen es gelang, in nur einem Jahr alle zwölf bedeutenden Meerengen der Welt zu durchschwimmen. Darüber hinaus ist er seit geraumer Zeit ein wichtiger Forscher und Lehrer im weiten Feld der praktischen Sportwissenschaften.

3.1 Eigentlich eine simple Frage

Also das ist leicht zu sagen: Was wir nicht sind: Wir sind nicht unsterblich. Leider. Oder zum Glück. Keine Ahnung. Je nach dem.

Was das dann heißt, ist natürlich eine ganz andere, wahrscheinlich auch eine deutlich kompliziertere Frage.

Also noch mal von vorn.

Um zu beantworten, was wir nicht sind, kann man vielleicht zunächst mal festhalten, was wir sind. Das mag Wunder nehmen, neigen wir doch eher dazu, der Frage, was wir sind, uns darüber anzunähern, was wir denn offensichtlich oder jedenfalls mit großer Wahrscheinlichkeit nicht sind. Egal, sehen Sie es mir nach, dass ich es viel leichter finde, eine freche Hypothese in den Raum zu werfen, was wir sind, um diese dann zur Grundlage meiner weiteren Ausführungen zu machen.

Vielleicht schütteln wir erstmal den Ballast von uns. Heißt, ich möchte alles zurückweisen, was man zwar hier und da noch glaubt oder doch jedenfalls als möglich nicht bestreiten mag, was zu glauben es aber eigentlich keine Veranlassung gibt. Das betrifft insbesondere die vornehme Zurückhaltung, derer sich der eine oder andere hinsichtlich eigentlich längt hinreichend geklärter Fragen befleißigt. Anders gesagt, Agnostiker sind Feiglinge, die eine Restwahrscheinlichkeit nicht bestreiten mögen, dass das Licht im geschlossenen Kühlschrank vielleicht doch an sein könnte. Sie wissen ziemlich genau, wie und durch wen ein Kühlschrank konstruiert wird, wie er funktioniert, kennen seine historische Entwicklung, sind im Bilde, was Elektrizität ist und dergleichen. Und dann kratzen sie sich am Kopf und sagen: Naja, aber völlig ausschließen kann man es trotzdem nicht.

Dagegen möchte ich hier sagen: Es gibt keinen Gott, es gibt keinen Teufel, keine Engel, es gibt keine Seele als eigenständige Entität, es gibt auch kein Leben vor der Zeugung oder nach dem Tod, Horoskope, Homöopathie und Chiliasmus sind einfach bloß Quatsch.

Vielleicht bleiben wir mal einen Moment bei dem einfachsten der aufgeführten Begriffe, nämlich dem Wort „Gott“. Ich hätte diesen kleinen Vortrag auch nennen können: Was Gott nicht ist. Neben vielem anderen ist er nämlich vor allem eins nicht: existent.

Über Gott sprechen, heißt natürlich über etwas zu sprechen, davon ich nichts verstehe. Das gilt in anderen Themen als eher unfein, aber wenn man über Gott spricht, nimmt man am ehesten übel, wenn jemand von sich behauptet, er verstünde etwas von Gott oder womöglich gar mehr als andere. Höchstens dem Papst ist der eine oder andere diese Haltung zu vergeben bereit, andere aber auch in diesem Fall und in diesem Fall sogar ganz besonders nicht. Nun ja.

Was meinen wir, wenn wir Gott sagen? Damit meine ich zunächst noch nicht unsere christlich-abendländische Vorstellung von Gott, nur einfach irgendeine, die Menschen irgendwo auf diesem Planeten haben. Nun, zunächst stellt sich hier das altbekannte Übersetzerproblem. Nehmen wir mal die gängigen Wörter verschiedener Sprachen, die wir mit „Gott“ zu übersetzen gewohnt sind. Offensichtlich haben die vielen tausend Götter des hinduistischen Glaubens kaum etwas mit unserer Idee eines alleinigen Gottes zu tun. Trotzdem reden wir hier von Göttern, nicht von Dämonen oder Geistern, ebenso wie hinsichtlich etwa der germanischen Götter, die aber in der christlichen Rezeption dann zu Dämonen umdefiniert wurden. Wotan etwa soll eine Art Rentnerdasein als Anführer der Wilden Jagd fristen und hat es in dieser Rolle in jüngerer Zeit sogar in das eine oder andere Computerspiel geschafft.

Es scheint wenig zu geben, was den gemeinsamen Kern bildet, der uns berechtigt, Wotan, Vishnu, Wakan Tanka und Verdandi allesamt mit demselben Begriff zu belegen wie Jahwe oder den Dreifaltigen Gott der Christen. Schon dessen Bild hat durch die Jahrtausende offensichtlich so viel an Wandlung mitmachen müssen, dass man allenfalls biografisch hier noch von Identität reden kann.

Einiges Religionswissenschaftler sehen als gemeinsamen Kern des Gottesbegriffs lediglich an, dass es sich um ein übernatürliches Wesen handeln soll, welches die Menschen zu ehren verpflichtet sind. Dann wäre aber, jedenfalls in den Augen der Satanisten, auch der Teufel ein Gott. Zudem verschiebt das die Diskussion nur auf die Frage, was eigentlich „übernatürlich“ bedeutet. Außerhalb der Naturgesetze stehend? Außerhalb der uns bisher bekannten Naturgesetze stehend? Ersteres gibt es mit einiger Sicherheit nicht, letzteres hingegen sichert dann in der Tat jedem viertklassigen Außerirdischen Göttlichkeit, was wiederum die Anhänger des allerdings jedenfalls bisher nicht vergöttlichten Erich von Däniken leidlich freuen sollte.

Nehmen wir aber mal die jüdische Religion mit ihren beiden missratenen Kindern, dem Christentum und dem Islam. Da hat sich irgendwann die Ansicht herausgebildet, Gott sei allmächtig und allwissend, er habe die Welt geschaffen und bestrafe bzw. belohne den Menschen für seine jeweiligen Handlungen in dieser Welt, manchmal noch in derselben, auf jeden Fall aber in einer jenseitigen Welt. Als Gott wiederum sei er gut, fürsorgend usw., während das Böse in der Welt lediglich Ergebnis der menschlichen Willensfreiheit sei, welche er uns habe gewähren müssen, weil sonst im gottgefälligen Handeln kein Verdienst zu sehen sei.

Ein Blick in die Welt lässt nun drei Antworten auf diese Vorstellungen zu. Entweder Gott hat die Welt geschaffen, wie sie sich darstellt. Dann ist er kein liebender, sorgender, allmächtiger Gott. Oder er ist so, wie die jüdisch-christlich-islamische Tradition behauptet. Dann ist unsere Wahrnehmung der Welt fehlerhaft, ja möglicherweise dramatisch falsch. Oder, drittens, es gibt keinen Gott.

Im Grunde muss man sich entscheiden: Glauben wir wenigstens halbwegs unseren Sinneswahrnehmungen, unserem analytischen Denken, unserer Logik und dergleichen, wenn auch mit allen Einschränkungen und offenen Fragen, dann können wir nicht an Gott glauben. Oder wir glauben an Gott, dann sagen wir uns in essentiellen Fragen von unserem Verstand los und behalten bloß noch ein bisschen Gebrauchsvernunft, damit wir es heil zum Supermarkt schaffen und daselbst nicht ausschließlich Schokoriegel erwerben.

Was zeigt uns das Beispiel unseres Umgangs mit dem Begriff „Gott“? Offensichtlich leben und bewegen wir uns wundervoll in einer Art Raum voll wenig oder gar nicht definierter Begriffe, die genauso lange funktionieren, wie wir sie nicht definieren, während jeder Versuch, ihnen genau eine, zudem eng umrissene Bedeutung zuzuweisen, uns zweierlei deutlich macht: Unsere herkömmlichen Vorstellungen der Bedeutung jener Begriffe trägt nicht, und es ist unmöglich, eine andere, erst recht von allen geteilte Vorstellung zu finden. Folglich ist es nicht nur, um Wittgenstein zu antworten, nicht möglich, klar zu sagen, was sich überhaupt sagen lässt, wir verstellen uns auch mit dem Versuch, etwas klar zu sagen, jeden Weg in eine funktionierende Kommunikation hinein.

Zugleich zeigt das aber auch noch etwas anderes. So wie wir andere Kulturen, andere Religionen hinsichtlich ihres Gottesbegriffs in einem ersten Schritt über unseren eigenen verstehen, so – jedenfalls in unserem Fall – europäisch ist das Bild der fremden Kultur. Dennoch sehen wir, dass wir nicht gezwungen sind, dabei zu verharren, sondern den außereuropäischen Gottesbegriff dahingehend überprüfen können, ob die Götter der Maori zum Beispiel ebenfalls männlich, allmächtig, allwissend, dreifaltig und dergleichen sind. Kleiner Hinweis am Rande: Sie sind es nicht, auch wenn es mit Rangi und Papa ein göttliches Urpaar gibt. Übrigens, Papa ist die Frau in diesem Paar.1

Das zwingt uns zu einem fortlaufenden Diskurs über die Bedeutung unserer Wörter und Ausdrücke, ein Diskurs, der zunächst einmal uns selbst, dann aber auch anderen ein besseres Verständnis verschafft, was wir aktuell, zum jetzigen Zeitpunkt mit diesen oder jenem Begriff zu sagen versuchen. Wohl gemerkt, zu sagen versuchen, denn jede Kommunikation ist immer auch ein Versuch hinein in ein Nebelland von Sprache, in dem wir auch dann beliebig spektakulär auf Grund laufen können, wenn wir eigentlich das Schiff, in dem wir segeln, aufs Beste zu kennen glauben.

3.2 Sinn ohne Dort

Warum habe ich jetzt so lange darüber gesprochen, was Gott nicht ist, wenn ich doch eigentlich darüber reden wollte, was wir Menschen nicht sind. Nun, erstaunlich viele Weltkonzepte erklären den Menschen als etwas hin auf etwas anderes, meistens, wenn auch nicht immer, in seiner Hinwendung zu Gott. Sorry, aber da ist nun mal nichts, dahin wir uns wenden könnten. Und deswegen müssen wir mal schauen, ob von einer wie auch immer gearteten Sinnhaftigkeit unseres Seins und So Seins mangels sinnstiftenden Gottes eigentlich noch irgendwas übrig geblieben sein kann.

Gut, wenn Sie aus dem Zustand der Schockstarre erwacht sind und auch die spontane Entrüstung sich halbwegs gelegt hat, will ich fortfahren zu skizzieren, was wir in meinen Augen sind.

Der Göttinger Philosoph Günther Patzig hat mal ein großartiges Büchlein geschrieben, worin er der Frage nachgegangen ist, ob es eine Ethik ohne Metaphysik geben bzw. wie diese aussehen kann. Wenn der Sollensraum der Ethik dem Seinsraum der Welt deckungsgleich ist, fragt sich, ob eine Letztbegründung des Sollens aus dem Sein heraus erfolgen kann oder eines Ankerpunkts bedarf, der sich außerhalb ihres Bezugsrahmens befindet. Das Ergebnis war, dass es nicht nur möglich ist, eine solche Begründung zu geben, sondern dass es im Gegenteil wahrscheinlich unmöglich ist, eine nicht in diesem Bezugsrahmen liegende, also metaphysische Begründung so zu formulieren, dass sie für alle Menschen zwingend, also nicht nur der Frage überlassen bleibt, ob jemand aus außerrationalen dem zu folgen bereit ist oder nicht.2

Entsprechend kann man die Frage stellen, ob dem Menschen eine intransitive, also autonome Sinnstiftung möglich ist, die das Hier nicht in Hinsicht auf ein Dort begründet, sondern ausschließlich aus dem Hier schöpft. Um diesem ein bisschen näherzukommen, möchte ich daher zunächst einmal ein paar triviale Einsichten aufführen.

Zuerst und vor allem sind wir Tiere, das will ich mal als Ausgangspunkt annehmen. Zwar ist auch dieser Begriff reichlich unscharf; trotzdem kann er helfen, und sei es nur, um zunächst einmal zu überlegen, was denn eigentlich allen Tieren gemeinsam ist.

Das Tier wird geboren, es lebt, es beschafft sich Nahrung, es schläft in halbwegs regelmäßigen Intervallen, vielleicht vermehrt es sich, und irgendwann stirbt es. Vielleicht hat Krankheit den Tod gebracht, vielleicht Gewalt, manchmal war es einfach nur die Zeit, die es den Selbstheilungskräften des Tieres unmöglich machte, länger mit den wachsenden Abnutzungserscheinungen des Organismus Schritt zu halten.

Nun können wir nicht sicher sagen, wieviel Tiere von sich selber wissen oder voneinander, dass sie sterben werden. Ob sie wenigstens ahnen, dass sie sterblich sind, wird gemeinhin bezweifelt. Ob sie überhaupt ein Denken haben, das hinreichend entwickelt ist, um sich ein Konzept von Ich zu machen und dies in Zusammenhang zu setzen nicht nur zu einer insgesamt umgebenden Welt, sondern auch zu anderen Wesenheiten in dieser Welt, die offensichtlich ebenso einem Konzept von Ich unterliegen, also wissen, dass sie sind und als solche sich von anderen absetzen.

Man darf getrost annehmen, dass nicht alle Tierarten hier gleich weit fortgeschritten sind, zudem es unter Tiefseeschwämmen wie unter Delfinen eine Schwankungsbreite der Intelligenz geben mag, die den einen deutlich, den anderen aber deutlich weniger deutlich im Grenzbereich von Genialität platziert hat. Sicher aber ist, dass der Mensch zu den Tieren gehört, welche diese Konzepte intellektuell gesehen wenigstens mit, vielleicht überhaupt am weitesten gemeistert und entwickelt haben. Der Mensch gehört also zu den Tieren, die um ihre Sterblichkeit wie auch um Sterblichkeit insgesamt wissen.

Das macht den Menschen zu einem Tier, das im Bewusstsein unausgesetzter und unüberwindbarer Bedrohtheit lebt. Voraussetzung hierfür ist zweierlei. Erstens die Einsicht in unsere Unvollkommenheit, also die Tatsache, dass der Mensch in nichts, nicht in seinen Fähigkeiten, nicht in seinen Erkenntnissen und Einsichten, nicht einmal in Verständnis seiner selbst frei von Defiziten und Behinderungen ist. Arnold Gehlen, den ich freilich aus bekannten Gründen äußerst ungern hier nenne, hat dafür den Ausdruck des Menschen als Mängelwesen geprägt.3 Danach ist der Mensch das Tier ist, dass mehr als alle andere Arten mit derlei Defiziten geschlagen ist, weil seine Befähigungen nicht zu Ende entwickelt sind. Zudem weiß der Mensch um diese Mängel oder könnte jedenfalls darum wissen. Dadurch sind für Gehlen diese Mängel die genetisch vorgegebenen Motoren unserer Entwicklung, während man in ihnen häufig eher Hemmnisse einer sonst deutlich rascher, vielleicht auch erfreulicher verlaufenden Entwicklung sehen würde. Wären wir in jeder Hinsicht vollkommen, müsste unsere Sterblichkeit uns nicht unbedingt schrecken, da auf dem Weg dorthin ja eigentlich nichts schiefgehen könnte. Aber wir wissen um unsere mehr oder weniger große Unvollkommenheit und die Unausweichlichkeit, dass angesichts dieser Unvollkommenheit fast alles, was wir beginnen, einem massiven Risiko des Scheiterns ausgesetzt ist. Das macht uns mit etwas Glück bescheiden, mit etwas weniger Glück ängstlich und verzagt.

Zweite Voraussetzung aber und auch nötig für das zuerst Genannte ist eine Einsicht in die Tatsache, dass es eine Gegenwart gibt und ein zeitlich Anderes, das man gemeinhin Zukunft nennt. Das, was der Fall ist oder was der Mensch jedenfalls der Fall zu sein meint, kann dann verglichen werden mit dem, was der Fall sein wird, möglicherweise oder vielleicht nur unter ganz bestimmten, unwahrscheinlichen Voraussetzungen der Fall sein wird. Dabei ist zunächst unübersehbar, dass es eine Zukunft geben wird, in welcher der sterbliche Mensch als Individuum nicht mehr sein wird. Doch bei dieser mehr oder weniger unerfreulichen Erkenntnis bleibt es leider nicht. Die Einsicht in die individuelle Bedrohtheit des unmittelbaren Seins greift rasch über von bloßer Sterblichkeit auf die Einsicht in die zu oft unzureichende Kongruenz des Erreichten mit dem ursprünglich Angestrebten sowie in die zeitliche Begrenztheit des Erreichten. Was der Mensch hat, das droht verloren zu gehen, und was er anstrebt, wird er nicht oder nur zu einem Teil erhalten.

Dies setzt das tierhafte Verhalten des Menschen, sein Streben nach Nahrung, nach einer Befreiung von Leid und von Angst, nach einer möglichst erfolgreichen Verlängerung der eigenen Lebensspanne unter Vorbehalt. Wer weiß, dass er auch morgen noch wird essen müssen, wird es vielleicht nicht mehr als hinreichend empfinden, sich vom nächsten Strauch ein paar nahrhafte Beeren zu pflücken, es sei denn, er könnte sicher davon ausgehen, dass dieser Strauch mit solchen Beeren auch in Zukunft vorhanden sein und ihm auch in Zukunft unverändert zur Verfügung stehen wird. Sonst fände er sich vielleicht bemüßigt, für beides Sorge zu tragen, nämlich erstens den Strauch zu pflegen, zweitens ihn zu umzäunen und am Tor Wache zu stehen, dass kein anderer ihm den Zugriff auf diese Früchte streitig machen möge. Der Mensch ist damit ein Tier – vielleicht das einzige – welches sich um seine Zukunft Sorgen machen kann und dies in der Regel auch tut, nicht selten auch dort, wo es gar nicht nötig ist.

Daraus ergibt sich für den Menschen ein fortgesetzter Druck des Notwendigen, dessen Verfügbarkeit nie auf Dauer, allenfalls für den Augenblick sichergestellt ist. Der Mensch muss essen, er muss trinken, er muss sich vor Kälte schützen und dergleichen, wobei er nie sicher sein kann, dass auch nur diese unmittelbaren Erfordernisse morgen noch ebenso wie heute erfüllt sein werden.

Der Mensch ist mithin das Tier, das um seine Notwendigkeiten weiß, das weiß, mit wieviel Mühe und wie unzureichend es ihm gelungen ist, diese Notwendigkeiten jedenfalls für den Augenblick zu befriedigen, das weiß, es wird auch morgen vor dieselben Herausforderungen gestellt sein. Es macht heute schon Pläne für morgen, um einiges an Sicherheit zu gewinnen, und weiß doch, diese Pläne können alle scheitern, ja mehr noch, was heute gegeben, scheinbar auf immer und ewig gegeben ist, kann morgen allen Erwartungen zum Trotz doch verloren gehen. Der Mensch ist mithin das planende Tier, dem immer wieder Pläne scheitern und welches darum weiß.

3.3 Das hierseitige Dort im Anderen

Planen und Scheitern sind nur zwei Teile des menschlichen Seins. Es ist immer auch ein Sein auf andere hin. Der Mensch ist nicht vor die Wahl gestellt, ob er allein auf der Welt sein will oder in Gemeinschaft. Er hat vielleicht in begrenztem Maß die Wahl hinsichtlich der Art dieser Gemeinschaft, er kann sich auch lossagen von der Gemeinschaft. Aber noch als Robinson auf der einsamen Insel ist er Mensch hin auf andere, selbst wenn diese nicht zugegen sind, sondern nur eingebildet oder in der Erinnerung existieren. Und er ist Mensch hin auf andere – vor allem natürlich auf die Mutter – lange bevor er lernt, Mensch hin auf sich selbst zu sein.

Schon unsere Sprache ist kein um sich selbst kreisender Vogel, sondern eine Brieftaube auf dem Weg zu anderen. Wir bräuchten sie nicht, aber vor allem hätte sie nicht erfunden werden können, wenn nicht im Diskurs mit anderen. Vielleicht lassen sich nur von einer Person in einem sonst leeren Universum erfundene Sprachen denken; aber alle uns bekannten Sprache gehören hierzu nicht.

Doch Sprache ist nur Teil unseres unausweichlichen zum und in den Anderen Gewendetseins. Die Notwendigkeiten des Menschen und sein Wissen um die Fortexistenz dieser Notwendigkeiten in die Zukunft hinein, sein fehlerhaftes und fehlschlagbedrohtes Planen für diese Zukunft vor allem finden nicht in der Leere eines existenzialistischen bloßen Seins statt, sondern sind Teil einer Kooperation in einer wie auch immer gearteten Gesellschaft. Anders ausgedrückt, der Mensch ist das Tier, welches dankbar annimmt, dass andere Tiere seiner Art etwas tun, was ein wenig mehr Sicherheit hinsichtlich jetziger oder zukünftiger Notwendigkeiten verschafft, und im Gegenzug bereit ist, einen entsprechenden eigenen Beitrag zu leisten.

Der moderne Mensch ist somit der arbeitsteilige Mensch. Wer sich fragt, was oder wer er ist, beantwortet heute diese Frage meist in Hinblick auf die Dinge, die er tut, um zu leben. Dies sind nicht mehr alle Dinge, die man hierzu tun könnte, die Menschen haben sich mehr oder weniger spezialisiert und lassen viel von dem, was hinsichtlich ihrer aktuellen oder zukünftigen Bedürfnisse getan werden muss, von anderen bewältigen, denen sie im Gegenzug in entsprechender Weise dienlich sind.

Was macht das aus des Menschen Leben? Es ist dies eine Zeitspanne, die mit der Zeugung beginnt, die mit dem Tod endet, die ein Davor oder danach nur als Gedachtes, aber nicht als Erlebtes aufweist. Zwischen den beiden Grenzpfählen der Geburt und des Todes bewegt sich der Mensch durch den Raum und durch die Zeit, wie jedes andere Tier bemüht, seine heutige Bedürfnisse zu befriedigen, wie vielleicht nicht jedes andere Tier bemüht, dies auch für zukünftige Bedürfnisse durch Planen und Vorbereiten sicherzustellen, eingedenk seiner unzureichenden Fähigkeiten und der allgemeinen Möglichkeit, dass Pläne schief gehen. Er tut dies im Zusammenspiel, manchmal auch in Konkurrenz oder in Feindschaft zu anderen Menschen, und er ist sich seiner Hinwendung zum Anderen in der Regel bewusst und handelt und plant unter Einbeziehung der heutigen und zukünftigen Existenz anderer.

Damit sind Menschen in einer merkwürdigen Ambiguität verfangen. Viele Richtungen der Philosophie haben den Menschen gesehen als Geworfenen in ein letztlich leeres Universum. Ich weiß von nichts als von mir, und was ich von mir weiß, mag Illusion, Irrtum oder Wunschdenken sein. Ich vermute, dass Zeit vergeht und mein Wirken in der Zeit die Welt gestaltet, aber beides weiß ich nicht sicher. Eine Sinnstiftung des Seins folgt diesem nach und ist nur auf dieses Sein hin denkbar, damit aber wie dieses zeithaft und von Irrtum und Fehlschlag bedroht, keinesfalls ewig und sicher. Nichts weiß ich, als dass ich bin, nicht jedoch was, wer oder wo. Aber andererseits verwendet dieser erste Satz bereits Begriffe wie „ich“ und „wissen“, die ich ohne das Kollektiv, in dem Sprache stattfindet, wahrscheinlich gar nicht finden könnte. Ist also das Vorhandensein von Sprache der Nachweis einer Denkwelt außerhalb der meinen? Nein, denn der Nachweis bedient sich bereits der Sprache, setzt also voraus, was erst bewiesen werden soll. Wenn nichts als nur ich existierte und ich hätte, warum auch immer, das Kollektivmonstrum der Sprache erfunden, erschaffen, erarbeitet, so würde mein Denken einen Rückweg in die Sprachlosigkeit nicht mehr finden. Ich könnte mir also eine Welt ohne andere nicht mehr vorstellen, die, so behauptet die Sprache aus ihrer Eigennatur heraus, Voraussetzung von Sprache sind. Aber dass ich mir das, ins Korsett der selbstgemachten Sprache geschnürt, nicht mehr vorstellen kann, heißt nicht, dass es notwendig nicht so sein kann.

Anders gesagt: Wir können von der Existenz der anderen nicht sicher ausgehen, vielleicht ist alles Illusion, erst recht aber sind die anderen in ihrem Verhalten uns gegenüber nicht berechenbar, nicht planbar. Zwar verstehe ich Wir, bevor ich Ich verstehe, aber aus diesem einmal gefundenen Ich scheint dann kein einfacher Weg zurück zum Wir zu führen. Das Gewendetsein in den anderen ist also kein natürlicher, kein einfacher Schritt, da er erfordert, einen Abgrund von Zweifel und Nichtwissen zu überspringen. Im Dort des Anderen findet das Ich sein Hier nur, wenn es sich im Hier zurücklässt. Je mehr Ballast ich mitnehme auf die Reise zum Anderen, umso geringer die Wahrscheinlichkeit, jemals diesen Ort zu erreichen. Doch ist dies ein Ort, wo ich immer schon war, da von dort mein Denken, meine Sprache stammen. Die Reise zum Anderen ist also auch eine Reise zu mir selbst.

3.4 Stufen zum Sinn

Aus dem Vorgesagten ergibt sich: Wir sind Tiere, die zunächst mal überleben wollen, dabei wissen, dass alles, was wir haben, von Verlust bedroht ist, und alles, was wir planen, schiefgehen kann. Wir wissen, dass unser Leben endlich ist und es weder ein Leben nach dem Tod gibt noch jemandem, der uns vorgibt, was der Sinn unseres Lebens zu sein hat. Damit bleibt uns nur das Streben nach Überleben, zweitens das Streben nach einem gewissen Maß von Glück als Zwecksetzung unseres Daseins. Dieses Glück ist zunächst die Abwesenheit von Unglück, dann aber auch etwas, das über die Befriedigung unserer bloßen Grundbedürfnisse hinausgehen kann. Erst hier beginnt die individuelle Sinnsetzung des Lebens, indem der Mensch sich fragt, was das sein kann, dieses Glück, das zu erlangen die Befriedigung von Hunger, Durst, Kälte, Schlafmangel, Angst usw. anscheinend in den meisten Fällen zur Voraussetzung hat, jedoch hiermit nicht gleichzusetzen ist.

Das ist etwas, das man insbesondere in den Wohlstandsgesellschaften beobachten kann. Menschen, von denen man objektiv vielleicht sagen kann, dass sie alles haben, aber jedenfalls sicher weiß, dass ihre Grundbedürfnisse hinreichend befriedigt sind, fragen sich, zum Teil verzweifelt, ob das schon alles gewesen sein soll. Ob da nicht mehr sein muss, ohne dass sie auch nur im Entferntesten angeben könnten, wo denn dieses Mehr zu finden sein kann oder was es überhaupt ist. Das scheint manchmal dazu zu führen, dass man, da nichts anderes zu entdecken ist, versucht, die Grundbedürfnisse ein bisschen mehr als normal zu befriedigen, wo das denn geht. Aber schon dieser Begriff, da „müsse“ mehr sein, zeigt, dass Menschen insgeheim eine äußere Setzung, eine nicht von ihnen selbst ausgehende Sinngebung erwarten. Man kann hier Gott in der Pflicht sehen, die eigenen Eltern oder notfalls die Gesellschaft, den Staat, meinethalben den jeweiligen Fußballverein. Bei näherem Hinsehen erweisen sich alle diese externen Sinngeber als ungeeignet, ihre Aufgabe zu erfüllen, zum Teil, weil sie, wie Gott, gar nicht existieren, in der Regel aber, weil ihre Sinngebungskompetenz einfach dadurch limitiert ist, dass sie auch wiederum aus Menschen bestehen, sodass der Mensch sein Sinnfindungsproblem nur auf andere delegiert, die vor genau demselben Problem stehen.

Anscheinend liegt hier ein mehrstufiges Sinnstiftungskonzept vor, welches ich im Folgenden darstellen möchte.

Zunächst einmal muss das Individuum seine Existenz voraussetzen können, was durch das cartesianische „cogito, ergo sum“ hinreichend belegt ist. Hinreichend belegt heißt dabei aber nur, dass wir innerhalb des durch unsere Sprache umgrenzten Raums unseres Denkens keine Alternative hierzu formulieren können. Wenn wir meinen, dass es eine Welt jenseits unserer in Sprache beschreibbaren Welt gibt, so wird auch Descartes‘ Beleg einer unmittelbaren Existenz, sagen wir mal, wacklig. Daher ist es zwingend, für eine autonome Sinnstiftung die Nichtexistenz einer metaphysischen Welt anzunehmen. Anders ausgedrückt, wo es Religion gibt, gibt es keine Moral. Dazu später.

Die cartesianische Existenzgewissheit lässt den Einzelnen allein in einem unbewiesenen und hinsichtlich Existenz und Eigenschaften unbeweisbaren Universum, in dem es jenseits dieser einen Einsicht keine Sicherheiten gibt. In einem nächsten Schritt muss der Mensch also ein Fülle von Annahmen hinsichtlich der ihn umgebenden Welt, davor aber hinsichtlich seiner selbst treffen, die alle mehr oder weniger plausibel oder durch erfolgreichen Beitrag zum täglichen Überleben abgesichert sind, aber nicht bewiesen und zumeist auch gar nicht beweisbar. Das beginnt bei der Annahme, dass der Mensch nicht nur einfach existiert, sondern jedenfalls einigermaßen in der Form, in der er sich selbst wahrnimmt, physisch und psychisch. Das setzt sich fort in diversen Annahmen über die uns umgebende Welt und endet in Annahmen über die Welt außerhalb unserer Welt, über die viele Menschen detailreich Auskunft geben zu können glauben, während andere meinen, dass da nichts ist, über das man sprechen könnte, weil unsere Sprache ihre Grenzen an den Grenzen unserer Welt – spätestens dort – findet, während noch wieder andere – wie ich – sagen, dass es außerhalb der Grenzen unserer Welt, die freilich nicht im Mindesten deckungsgleich mit den Grenzen unserer Sprache sind, schlicht gar nichts gibt.

Auf Basis dieser zwei Grundpfeiler – Existenzgewissheit und Umgebungspostulate – kann eine dritte Setzung erfolgen, nämlich die Definition, was das eigene Glücksmoment sein kann oder sein soll. Dies hat noch keinen Universalisierbarkeitsanspruch, sondern ist ausschließlich privat.

Erst in einem nächsten Schritt erfolgt die Prüfung auf Universalisierbarkeit. Dies kann man in Anlehnung an Kants Goldene Regel als Prüfung der eigenen Lebensmaxime dahingehend formulieren, ob man wollen kann, dass die eigene Maxime zugleich das Gesetz aller sein soll.

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Das heißt nicht, dass man anstrebt, diese Maxime tatsächlich zum Gesetz aller zu machen, sondern lediglich, dass man überlegt, wie weit man eine insgesamt erstrebenswerte Gesellschaft unter dieser Voraussetzung erreichen könnte.

Auf dieser Basis lassen sich dann die Rahmenbedingungen zur Erreichung dieses Ziels definieren, wobei die Frage, ob die Rahmenbedingungen mit wenigstens einiger Wahrscheinlichkeit erreicht werden können, unter Umständen auch zu einer Neuformulierung oder Relativierung des Ziels führen müssen.

Die individuelle Moral, also das eigene Sittengesetz, welchem Menschen ihr Handeln mehr oder weniger konsequent unterwerfen, aber auch die gesellschaftliche Sittlichkeit als der Versuch, ein allen Menschen verbindliches Kompendium von Verhaltensregeln zu erfinden, das die Umsetzung der individuellen Glückserreichung erleichtert, entstehen also beide erst nach dieser oben ausgeführten Kaskade. Wenn an irgendeiner Stelle die Kaskade durchbrochen wird, lassen sich die folgenden Schritte nicht mehr vollziehen. Deswegen sage ich, dass man sich entscheiden muss zwischen Religion und Moral. Kant vermutete, die Religion müsse trotz der grundlegenden Unbeweisbarkeit der Existenz eines Gottes oder von Göttern und trotz offensichtlicher Zweifelhaftigkeit der religiösen Setzungen im Staat aufrecht erhalten werden als Tragbalken der Moral.5 Dagegen meine ich, dass die Religion, also letztlich die Annahme einer Welt außerhalb der unserem Denken und unserer Sprache zugänglichen Welt, die Absage an die cartesianische Gewissheit und damit die Unmöglichkeit der Findung einer individuellen Moral, erst recht eines allgemeinen Sittengesetzes für die Gesellschaft bildet. Und das gilt für alle Spielarten von Religion bzw. für alle Ideen, welche ein Reich jenseits des Reichs unserer Sprache behaupten. Religion, Esoterik, der Glaube an Geister, Gespenster, Dämonen, Engel, Teufel, Tarotkarten, Reiki, Homöopathie, morphische Felder und was derlei Ideen mehr die Welt erfüllen, bedeuten letztlich immer eine Absage an die oben aufgeführte Kaskade und damit eine Absage an die Autonomie des Individuums und seine selbst zu verantwortende Wahl eines individuellen Glücksmoments und einer darauf basierenden Moral.

3.5 Zwischen Geburt und Tod

Nun gibt es beliebte Metaphern, die das Leben des Menschen als eine Reise bezeichnen, als eine Wanderung oder ähnliches, also als etwas, das an einem bestimmten Punkt beginnt, aber dann einem Ziel zustrebt, einer Vollendung, einem krönenden Abschluss, der möglicherweise auch gleich den Anfang von etwas Neuem darstellt.

Sorry, sehe ich nicht. Unser Leben hat zwar einen Anfang und ein Ende, aber es ist keine Reise. Wenn wir schon in Metaphern sprechen wollen, für mich ist das Leben eher eine Vulkaninsel. Sie taucht irgendwann aus dem Meer auf, irgendwann geht sie darin wieder unter. Die Materie, aus der sie besteht, war vorher schon da, geht auch nicht verloren, wenn die Insel versinkt. Aber die Insel als solche existiert nicht weiter unter dem Meer, so wie sie vorher nicht vorhanden war. Dass wir sie als Vulkaninsel ansprechen, ist primär davon abhängig, dass sie oberhalb der Wasserlinie aufgetaucht ist. Es hat diese Insel keinen Sinn, nicht von sich aus, schon gar keinen, der ihr quasi als Lebensaufgabe mitgegeben ist und sich erst im Moment ihres Versinkens zu erfüllen vermag.

Ist der Mensch also eingepfercht in dieses kurze Leben zwischen Geburt und Tod? Ja und nein. Denn wiewohl darin eingeschlossen, vermag er doch über die Grenzen dieses Lebens schauen und sich die Zäune, die ihn umschließen, wenigstens für kurze Momente einfach wegzudenken.

Zunächst einmal muss man dabei die Vergangenheit des Menschen, also die Zeit vor seiner Geburt, und die Zukunft, also die Zeit nach seinem Tod, von seinem Leben als seiner übergreifenden Gegenwart unterscheiden. Sodann gibt es aber einen deutlichen Unterschied zwischen Vergangenheit und Zukunft: Die vor der Geburt liegende Vergangenheit liegt zwar außerhalb der Wirkungsmöglichkeiten des Menschen, er kann sie, soweit man weiß, nicht mehr verändern. Aber sie hat oft genug dramatische Auswirkungen auf seine Erlebenswirklichkeit. Die Zukunft, soweit sie nach dem Tod des Menschen stattfindet, liegt mindestens in begrenztem Umfang noch im Bereich seiner Wirkungsmöglichkeiten, aber eigentlich außerhalb seiner Erlebenswirklichkeit. Demzufolge ist es Zeitverschwendung, darüber nachzudenken, ob die Welt vor der eigenen Geburt oder nach dem eigenen Tod in irgendeiner Weise beeinflusst oder gar verändert werden kann.

Doch ist es eine der großen Errungenschaft menschlichen Denkens, beide Begrenztheiten der eigenen Erlebenswirklichkeit überwunden zu haben. Menschen vermögen sich zukünftige und vergangene Situationen vorzustellen und ein Urteil darüber zu entwickeln, ob sie diese Situation für wünschenswert halten, halten würden, gehalten hätten oder eben nicht, gerade so, als wären sie selbst Teilnehmer dieser Situation, wären dies gewesen oder würden dies einmal werden. In gewisser Weise mag man das als Denkfehler bezeichnen, weil man eine Situation auf sich selbst bezieht, die das keinesfalls sein kann. Aber es erlaubt dem Menschen die Abstraktion von den nur eigenen Interessen zugunsten von Prinzipien oder Ideen, aber auch zugunsten anderer Menschen, zuvorderst meist der eigenen Kinder, deren Zukunft halbwegs akzeptabel Eltern auch noch für jene Zeit sich gerne vorstellen, in welcher sie mit großer Wahrscheinlichkeit nicht mehr existieren werden.

Auch die Projektion der eigenen Existenz in die Vergangenheit hinein kann eine Stärke sein, weil auch sie es erlaubt, Motive für sinnvolles oder vernünftiges Handeln zu stiften, die aus einer reinen Betrachtung des Augenblicks vielleicht nicht ausreichend motiviert sind. Der Blick in die Geschichte ist immer auch ein Überprüfen der eigenen Moral und Urteilsprinzipien in einem geschützten, weil bereits vollendeten und unveränderlichen Bezugsraum. So werden viele Menschen bei Berichten über den Holocaust, bei der Lektüre von Anne Franks Tagebuch zum Beispiel, emotional berührt. Wissend, dass sie diese Vergangenheit nicht mehr ändern könnten, fassen sie den Entschluss, wenigstens für die Zukunft einer Wiederholung derlei Schreckens soweit wie möglich entgegen zu stehen.

Wonach strebt der Mensch dann vernünftigerweise, wenn sein Dasein eingekastet ist zwischen Geburt und Tod, dieweil er über diese beiden Grenzen hinauszudenken vermag? So unerfreulich das auch klingen mag, er sollte zunächst mal versuchen, in seinem Daseinskontext zu funktionieren. Das bedeutet, die eigene Daseinssicherung eingedenk des fortgesetzten Risikos des Scheiterns in Korrelation mit anderen im Rahmen einer arbeitsteiligen Gesellschaft zu sehen. Also den eigenen Nutzen zu verfolgen, indem er zu einem auch anderen Menschen in gewissem Umfang nützlichen Mitmenschen wird. In der arbeitsteiligen Gesellschaft, aber eigentlich in jeder Herde, in jedem Rudel, in jedem Dorf, jedem Verein usw. kann der eigene Nutzen nicht getrennt vom Nutzen aller gedacht werden. Ein Nutzen auf Kosten einiger anderer ist sicherlich möglich, und vielleicht gelingt es auch dem einen oder anderen, sein ganzes Leben auf Kosten aller anderen zu verbringen. Als Lebensmaxime ist das aber ungeeignet, weil die Wahrscheinlichkeit, dies tatsächlich über ein Leben lang erfolgreich umzusetzen zu gering ist und man zudem mit einiger Wahrscheinlichkeit zu einem Menschen wird, der man eigentlich nicht sein möchte. Auf die eine oder andere Art fällt die Bilanz eines solchen Verhaltens also fast unausweichlich negativ aus, auch wenn man vielleicht mehr oder weniger lange Phasen von Glück auf Kosten einiger anderer, womöglich aller anderen durchaus sicherstellen kann.

Freilich, die meisten von uns und nachgerade jene in den glücksüberschütteten westlichen Demokratien leben ihr ganzes Leben auf Kosten anderer, nur dass wir das zum Teil nicht wissen, zum Teil mehr oder weniger erfolgreich verdrängen. Damit meine ich weniger das Leben auf Kosten der Dritten Welt, auch wenn dies natürlich ein fortgesetztes Ärgernis ist, für das Antworten zu finden wir vielleicht weniger denn je bereit sind. Aber fast alle, die wir heute leben, haben die meiste Zeit auf Kosten unserer Eltern gelebt und das als Selbstverständlichkeit akzeptiert. Wir leben auch alle – und auch der Satz ist recht abgegriffen – auf Kosten späterer Generationen. Aber wir leben auch, und wissen es nicht oder wollen es nicht wissen, auf Kosten anderer, die zugleich vielleicht auf unsere Kosten leben, ohne dass sich eine ausgeglichene Gesamtbilanz herstellte. Nehmen wir etwas so Triviales wie Fahrtlärm, wenn wir auf einer Autobahn unterwegs sind. Der Lärm beeinträchtigt nicht nur uns und andere, die auf derselben Strecke unterwegs sind; da mag noch von einem gewissen Maß an Freiwilligkeit sprechen. Aber der Lärm beschädigt auch Menschen, Tiere und sogar Pflanzen, welche allesamt das zweifelhafte Glück haben, nahe der Autobahn – und zwar vielleicht schon seit Generationen – zu leben. Wissen wir das zu jedem Zeitpunkt? Ja, wahrscheinlich. Aber spielt es für unser Handeln eine Rolle? Selten, bestenfalls. Oft genug reden wir uns darauf raus, in ein Gespinst aus Geben und Nehmen gebunden zu sein. Opfer von Lärm seien wir mindestens so sehr, wie wir Täter sind, und wir tun so, als gliche sich das letztendendes aus.

Dabei wissen wir im Grunde, dass sich auf lange Sicht für uns gar nichts ausgleichen wird. Denn wir werden sterben, und das wird in die eine oder andere Richtung einen Haufen Bilanzen in Schieflage belassen. Folglich können wir nicht hoffen, dass was wir tun und was wir erleiden, am Ende sich balancieren werden. Denn das wäre nur dann wahrscheinlich, wenn dieses Ende endlos weit in der Zukunft läge. Aber faktisch ist es beinahe schon morgen.

Dass der Bilanztag so nah ist, gilt freilich nur für diejenigen Menschen, für die es ein Leben nach dem Tod nicht geben wird. Also für uns alle. Wir hoffen zwar nicht selten auf ein Leben nach dem Tod, sodass das Universum mehr Zeit bekommt, unsere Waagschalen ins Gleichgewicht zu bringen. Aber insgeheim wissen wir, dass die kurze Zeit zwischen Geburt und Sterben alles ist, was uns bleibt. Damit ist es aber offensichtlich auch so, dass das der Bewertungshorizont unseres Lebens nicht jenseits, sondern diesseits von dessen Begrenzungen liegt und mithin immer vorläufig ist, selbst wenn wir letztmalig eine Stunde vor unserem Ende Bilanz gezogen haben. Und weil das so ist, macht der Wunsch nach einem langen Leben eigentlich überhaupt keinen Sinn.

Man kann aus zwei Gründen ein langes Leben wünschen. Man kann sagen: „Sieh doch, die Welt ist so schön, ich möchte dieses Glück noch oft genießen, sie zu sehen und mich an ihr zu freuen.“ Ich will hier nicht diskutieren, ob dieser Eindruck berechtigt ist und sich auch noch angesichts eigener Erkrankungen oder des Wegsterbens aller, die man liebt, halten ließe. Ich möchte nur zu bedenken geben, dass Freude an der Welt die eigene Existenz zur Voraussetzung hat und damit nicht als Begründung für dieselbe dienen kann. Denn wer nicht existiert, vermag sich zwar nicht an der Schönheit der Welt zu erfreuen. Aber er kann sich angesichts dieses Verlusts auch nicht grämen, da er ja nun mal nicht da ist. Nicht hier und nirgendwo.