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Was zeichnet einen ›guten Bürger‹ aus? Sollte er auch über Erwerbssinn, Konkurrenzdenken und Eigennutzorientierung verfügen und zu einem wirtschaftlich ›produktiven‹ Leben in der Lage sein? Oder ist dieser Gedanke eher das Ergebnis einer fortschreitenden ›Ökonomisierung‹ des politischen Denkens in unserem kapitalistischen Zeitalter? Maik Herold greift diese Frage auf und zeigt, dass politisches und wirtschaftliches Handeln nicht erst an der Schwelle zur Moderne zusammengedacht wurden, sondern bereits in der Antike. Schon hier war das Ideenfeld des Bürgers zugleich durch ökonomische Rollenbilder geprägt, sollten sich bestimmte soziomoralische Voraussetzungen guten politischen Handelns gerade aus wirtschaftlichen Erfahrungen ergeben. Mit diesen Erkenntnissen legt der Autor die Ursprünge einer Tradition klassisch ›wirtschaftsrepublikanischen‹ Denkens frei, aus der sich auch für die Gegenwart neue Antworten auf aktuelle Fragen zum Verhältnis von Demokratie und Marktwirtschaft ableiten lassen.
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Seitenzahl: 823
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Maik Herold
Der gute Wirtschaftsbürger
Politische Begründungen ökonomischen Handelns in der Vormoderne
Campus VerlagFrankfurt/New York
Über das Buch
Was zeichnet einen »guten Bürger« aus? Sollte er auch über Erwerbssinn, Konkurrenzdenken und Eigennutzorientierung verfügen und zu einem wirtschaftlich »produktiven« Leben in der Lage sein? Oder ist dieser Gedanke eher das Ergebnis einer Ökonomisierung des politischen Denkens in unserem kapitalistischen Zeitalter? Maik Herold greift diese Frage auf und zeigt, dass politisches und wirtschaftliches Handeln nicht erst an der Schwelle zur Moderne zusammengedacht wurden, sondern bereits in der Antike. Schon hier war das Ideenfeld des Bürgers zugleich durch ökonomische Überlegungen geprägt, sollten sich bestimmte soziomoralische Voraussetzungen guten politischen Handelns gerade aus wirtschaftlichen Erfahrungen ergeben. Mit diesen Erkenntnissen legt der Autor die Ursprünge einer Tradition klassisch »wirtschaftsrepublikanischen« Denkens frei, aus der sich für die Gegenwart neue Antworten auf aktuelle Fragen zum Verhältnis von Demokratie und Marktwirtschaft ableiten lassen.
Vita
Maik Herold, Dr. phil., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politikwissenschaft der TU Dresden.
Cover
Titel
Über das Buch
Vita
Inhalt
Impressum
Vorwort
Einleitung
Erster Teil
Die schwierige Suche nach dem ›guten Wirtschaftsbürger‹
Die Trennung von Wirtschaftshandeln und Bürgeridee im politischen Denken der Gegenwart
Die Trennung von Wirtschaftshandeln und Bürgeridee in der politiktheoretischen Antikedeutung
Die Trennung von Wirtschaftshandeln und Bürgeridee im klassischen Republikanismus
Die doppelte Ökonomisierung des Bürgers in der frühen Neuzeit
Gab es ein Wirtschaftsbürgerdenken vor der Entstehung des Wirtschaftsliberalismus?
Zweiter Teil
Bürgeridee und Wirtschaftshandeln im antiken Ordnungsdenken
1.
Die Verflechtung politischer und ökonomischer Gemeinschaftsvorstellungen
Politische und ökonomische Gemeinschaften
Die wirtschaftliche Zweckbestimmung der Polis
Die ›politische‹ Binnenstruktur des Oikos
Geschlechterrollen zwischen Erga und Agora
Der Vorrang des Oikos im griechischen Denken
Die ökonomischen Ursachen für die Entstehung der Bürgerpolis
2.
Der gute Bürger als wirtschaftlicher Leistungsträger
Aristokratisches und demokratisches Ordnungsdenken
Mündige und unmündige Bürger
Gute Bürger als Gegner der Demokratie
Politische Kompetenz und ökonomische Exzellenz
Bürgerliche Autonomie und wirtschaftliche Entwicklung
Der Ursprung des Bürgers im Geist des Wettbewerbs
3.
Wirtschaftskompetenz als Teil klassischer Bürgerkompetenz
Bürgerliche Qualität und wirtschaftliche Produktivität
Areté politiké und techné oikonomiké
Der gute Bürger als ›politischer Oikonomikos‹
Die antiken Oikonomiken als Handbücher des guten Bürgers
Der gute Bürger als ›politischer Chrematistikos‹
Über den richtigen Gebrauch von Dingen und Menschen
4.
Zusammenfassung
Dritter Teil
Bürgerherrschaft und ihre wirtschaftliche Dimension
1.
Bürgerliche Teilhabe und ökonomischer Status in der Antike
Die athenische Demokratie als ›ungeordnete‹ Oligarchie
Die römische Republik als ›gemäßigte‹ Oligarchie
2.
Bürgerliche Teilhabe und ökonomischer Status in der frühen Neuzeit
Die Wiederaufnahme des klassischen Bürgerideals im Spätmittelalter
Die Trennung politischer und ökonomischer Autonomie im frühneuzeitlichen Staatsdenken
Oligarchische Bürgerherrschaft in der frühneuzeitlichen Stadtkultur
3.
Agrarbürger und Erwerbsbürger
Der gute Bürger als Landwirt
Der gute Bürger als Erwerbsmensch
Zwischen Handels- und Agrarrepublikanismus
4.
Zusammenfassung
Vierter Teil
Das Ökonomische als Bedrohung der politisch-moralischen Ordnung
1.
Die Transformation der archaischen Wirtschaft und ihre kulturellen Folgen
Der Aufstieg der chrematistiké
Die Umprägung der areté
2.
Politisch-moralische Begründungen antiker Wirtschaftskritik
Die Macht des Epithymetikon
Die Sprache des Luxus
Sattheit und Müßiggang
Kommerz und Verweichlichung
Orientierungslose Banausen
3.
Zusammenfassung
Fünfter Teil
Klassische Bürgertugenden und ihre politisch-ökonomische Bedeutung
1.
Maß und Mitte
Dike, Hybris und die Kunst des Regelbefolgens
Innere und äußere Gleichgewichte
Einträchtige und mittlere Bürger
Natürliches und widernatürliches Erwerbshandeln
Politische Tugend als allgemeine Sozialkompetenz
Verdienter Lohn und gerechter Preis
2.
Besonnenheit und Selbstkontrolle
Die Verherrlichung von Einfachheit und Askese
Die Verachtung irdischer Güter
Das Argument des Kallikles
Selbstgewählte und unfreiwillige Bedürftigkeit
Die Reichen als beste Bürger
Verpflichtende Freigiebigkeit
Geistige Armut und weltlicher Profit
3.
Praktische Klugheit
Selbstorientierungskompetenz und Eigenverantwortung
Die Technisierung und Sektoralisierung der Klugheit
Von Perückenmachern und Friseuren
4.
Durchsetzungsvermögen und Engagement
Die Segnungen des Landlebens
Die Wirkungen der Epimeleia
Erwerbsgeist und tätiger Bürgersinn
Die Herausbildung des kapitalistischen Ethos der Neuzeit
5.
Zusammenfassung
Schluss
Literatur
Was zeichnet einen ›guten Bürger‹1 aus? Sollte er auch über Erwerbssinn, Konkurrenzdenken und Eigennutzorientierung verfügen? Sollte ein ›guter Bürger‹ zu einem wirtschaftlich ›produktiven‹ und ›ertragreichen‹ Leben in der Lage sein? Aus politiktheoretischer Sicht scheint die Beantwortung dieser Fragen relativ einfach. Normative Verknüpfungen zwischen politischen und ökonomischen Rollenbildern werden hier typischerweise zurückgewiesen, die Begriffe von Demokratie, Zusammenhalt und Zivilgesellschaft dem Bereich wirtschaftlichen Handelns entgegengestellt. Zugleich scheinen die Kriterien ›guten Bürgerseins‹ einer Zeit vor der Entstehung der modernen commercial society zu entstammen – eine Zeit, in der der Maßstab guten politischen Handelns offenbar noch nicht wirtschaftlichen Überlegungen unterworfen, das klassische Leitbild des homo politicus noch nicht durch den modernen homo oeconomicus verwässert war. Das Ideal eines mündigen, engagierten und gemeinwohlorientierten Bürgermenschen findet gar in der Antike ihren entscheidenden Bezugspunkt, denn nach allgemeiner Auffassung lagen hier die Grundkonzepte eines genuin ›politischen‹ Denkens noch in ihrer ursprünglichen Bedeutung vor und wurden sorgfältig von Lebensform und Ethos des Ökonomischen unterschieden. Doch entspricht dieses Bild tatsächlich der klassischen Vorstellungswelt? Waren politische und wirtschaftliche Handlungskontexte hier wirklich mit völlig unterschiedlichen Leitideen und Kompetenzanforderungen verbunden? Kam die Idee des Bürgers ursprünglich ohne wirtschaftliche Bezüge aus und wurde dann erst im 17. und 18. Jahrhundert, mit dem Siegeszug von Liberalismus, Kapitalismus und Marktdenken gleichsam ›ökonomisiert‹?
Die vorliegende Arbeit greift diese Frage auf und nimmt damit das Verhältnis von politischen und wirtschaftlichen Rollenbildern vor der Entstehung unserer modernen Kategoriensysteme in den Blick. Sie geht dabei bis zu den Ursprüngen des politischen Denkens zurück und untersucht, wie dort das Verhältnis von Wirtschaftshandeln und Bürgerkompetenz konzeptualisiert wurde. Geistes- und sozialgeschichtliche Perspektiven werden dabei miteinander verknüpft, die Entstehung und Entwicklung der Bürgeridee mit Überlegungen zur politischen, sozialen und wirtschaftlichen Geschichte aus Antike, Mittelalter und früher Neuzeit zusammengeführt. Ziel ist es, einem bekannten Untersuchungsgegenstand neue Facetten abzugewinnen, die Komplexität historischer Deutungszusammenhänge, die Pluralität der Argumente sowie die Vielschichtigkeit von Begründungsmustern darzustellen und so einen neuen Blick auf das historische Wechselspiel von wirtschaftlichen und politischen Rollenbildern zu eröffnen. Dabei zeigt sich, dass ökonomische Begründungszusammenhänge bereits in der Antike für die Bestimmung bürgerlicher Fähigkeiten, Motivationen und Tugenden von entscheidender Bedeutung waren. Erwerbsstreben, Wohlstand und bestimmten Formen des Wirtschaftshandelns konnten durchaus förderliche Wirkungen auf die politischen und moralischen Kompetenzen des Einzelnen unterstellt, die saturierte Abwendung von den Pflichten wirtschaftlicher Subsistenzsicherung hingegen als Auslöser von Konflikt, sozialer Desintegration und politischer Unfreiheit interpretiert werden. Weit über das klassisch-agrarrepublikanische Ideal hinausgehend galt der erfolgreiche oikonomikos als soziokulturelles Leitbild ›guten Bürgerseins‹ und vermochte dabei auch den Erfahrungs- und Relexionshorizont eines umtriebigen und erfolgreichen Erwerbsmenschen zu integrieren. Im historischen Vergleich sind diese Vorstellungen allerdings nicht als frühe Wegbereiter des modernen ›Wirtschaftsliberalismus‹, sondern als Segmente einer eigenständigen Tradition klassisch ›wirtschaftsrepublikanischen‹ Denkens zu verstehen. Nach dessen Vorstellungen war der Ausgleich zwischen politischen und ökonomischen Rollenerwartungen nicht auf die Vermittlung durch übergeordnete Instanzen, sondern auf den Einzelnen, seine individuellen Fähigkeiten, Motivationen und Tugenden angewiesen. Ein ›guter Bürger‹ war sowohl in seiner theoretisch-konzeptionellen als auch seiner praktisch-sozialen Dimension als Rollenmodell des Politisch-Ökonomischen, als ›guter Wirtschaftsbürger‹ definiert. Erst im 17. und 18. Jahrhundert, mit dem Siegeszug von Marktidee, Interessenbegriff und modernem Autonomieverständnis wurden die mit dieser Tradition in Verbindung stehenden Überlegungen und Argumente schrittweise an den Rand gedrängt, der Bürgerbegriff schließlich in einen ökonomisch orientierten bourgeois und einen rein politisch definierten citoyen aufgespalten. Teile der vormodernen Begründungsmuster kehren in der Gegenwart des 21. Jahrhunderts allerdings zurück und werden heute etwa in wirtschaftsethischen Debatten zum Verhältnis von Bürgermoral und Erwerbshandeln wieder aufgegriffen. Mit diesen Erkenntnissen unternimmt die Studie den Versuch, Elemente einer Tradition des politisch-ökonomischen Denkens vor der Herausbildung der modernen Politischen Ökonomie, eine Tradition des Wirtschaftsbürgerdenkens vor Entstehung des ›Wirtschaftsliberalismus‹ freizulegen. Gerade mit Blick auf die anstehende soziale und ökologische Weiterentwicklung unseres marktwirtschaftlichen Systems können daraus wichtige Anregungen gewonnen werden.
In allen Phasen ihrer Entstehung hat diese Arbeit allerdings auch zahlreiche Bemerkungen zur ›Ökonomie des Promovierens‹ ausgelöst. Sie hat Überlegungen über die dafür notwendigen Fähigkeiten, Motivationen und Tugenden provoziert und für den Autor nachhaltig die Grenzen zwischen Arbeit und Muße, Freiheit und Pflichterfüllung verwischt. Schlussendlich stellt dieses Buch die leicht überarbeitete und gekürzte Fassung der daraus hervorgegangenen Dissertationsschrift dar, die ich im November 2020 an der Philosophischen Fakultät der Technischen Universität Dresden eingereicht und im Mai 2021 erfolgreich verteidigt habe. Ihre Kernideen habe ich am dortigen Lehrstuhl für Politische Theorie und Ideengeschichte im Rahmen des von der Fritz Thyssen Stiftung zwischen 2014 und 2018 geförderten Projekts »Der gute Bürger« entwickelt. Auch wenn ein Schwerpunkt der Projektarbeit ab Herbst 2014 unerwartet durch neue »Wutbürger« und ihre politischen Verbündeten bestimmt war, fanden sich immer wieder Gelegenheiten, auch die Überlegungen zum »Wirtschaftsbürger« weiterzuentwickeln. Mein herzlichster Dank gilt dabei zunächst Hans Vorländer, der mir als Betreuer stets genug Freiräume ließ, dieses Projekt voranzubringen. Seine kritischen Nachfragen halfen mir ein ums andere Mal, die eigenen Argumente zu hinterfragen oder noch überzeugender darzulegen. Seine zahlreichen Hinweise und Kommentare haben mich immer wieder dazu veranlasst, das Geschriebene zu präzisieren, zu perspektivieren und schließlich auch zusammenzubinden. Karsten Fischer danke ich für die Begutachtung der Arbeit sowie für wertvolle Hinweise zur Überarbeitung und Ergänzung des Manuskripts. Martin Jehne konnte ich für die Übernahme des Vorsitzes meiner Promotionskommission, Uwe Backes und Anna Holzscheiter für ihre Mitwirkung in diesem Gremium gewinnen.
Zum Gelingen dieser Arbeit haben auch meine Kolleginnen und Kollegen beigetragen, die am Dresdner Lehrstuhl für Politische Theorie und Ideengeschichte sowie am Mercator Forum Migration und Demokratie (MIDEM) stets für ein spannendes und intellektuell bereicherndes Umfeld sorgten. Besonderen Dank schulde ich allen, die den Entstehungsprozess mit Rat, Kritik und Ermutigung begleitet haben. Daniela Herold und Steven Schäller haben mir von Beginn an zur Seite gestanden und später unterschiedliche Versionen des Manuskripts gelesen, kommentiert und damit verbessert. Oliviero Angeli, Jan Röder und Christian Wöhst verdanke ich weitere wertvolle Hinweise, Anregungen und Kommentare. In Kolloquien, Workshops und auf Tagungen hatte ich zudem zahlreiche Gelegenheiten, Teil- und Zwischenergebnisse vorzustellen und zu diskutieren. Von Anja Bohländer, André Brodocz, Kerstin Budde, Claudia Creutzburg, Marlen Gnerlich, Stefanie Hammer, Dietrich Herrmann, Katja Schröder, Julia Schulze Wessel, Daniel Schulz, Johannes Schulz und Solongo Wandan habe ich dabei über die Jahre viel wohlwollende Unterstützung, gewinnbringende Kritik und anregende Neugier erfahren. Darüber hinaus wurde mein Interesse für Fragen von Bürgersinn, Zivilreligion und gesellschaftlichen Zusammenhalt sowie das politische und ökonomische Denken in Antike, Mittelalter und Früher Neuzeit maßgeblich durch den Austausch mit Kolleginnen und Kollegen aus benachbarten Disziplinen befördert. Auf diese Weise haben auch Stephan Dreischer, Sabine Dreßler, Rut-Maria Gollan, Antje Junghanß, Katharina Kern, Christoph Lundgreen, Katja Schröck, Jörg Sonntag und Anke Woschech auf die eine oder andere Weise zur Realisierung des ›guten Wirtschaftsbürgers‹ beigetragen. Dies gilt auch für Maritta Brückner und Cornelia Eichler, die mich stets sicher durch die Unwägbarkeiten administrativer Prozesse geleitet haben. Besonderer Dank gilt außerdem den Studierenden in meinen Lehrveranstaltungen zu »Wirtschaft und Politik«, »Ideengeschichte der Politische Ökonomie« und »Politisches Denken in der Antike«, mit denen ich über die Jahre wichtige Teilaspekte der hier bearbeiteten Fragestellung erkenntnisreich und gewinnbringend diskutieren durfte.
Schließlich dürfen auch einige institutionelle Akteure nicht unerwähnt bleiben: Die bereits erwähnte Fritz Thyssen Stiftung hat mit ihrer großzügigen Förderung des Projekts »Der gute Bürger« nicht nur die Entstehung dieser Arbeit, sondern mit der Gewährung einer Druckbeihilfe auch diese Veröffentlichung ermöglicht. Die Graduiertenakademie der TU Dresden hat mir mit einem Stipendium weitere Unterstützung während des Schreibprozesses zukommen lassen. Mein Dank gilt ebenso dem Campus Verlag für die Aufnahme in das Verlagsprogramm sowie Eva Janetzko für ihre Hilfestellung bei der Bearbeitung des Manuskripts.
Dieses Buch hätte jedoch gar nicht geschrieben werden können ohne die Unterstützung meiner Familie. Nur dank des beständigen Zutrauens und der übergroßen Geduld, die ich hier erfahren habe, konnte ich dieses Projekt bewältigen. Selbst in der Zeit von Pandemie, Home-Office und Schulschließungen wurden mir trotz aller Widrigkeiten immer wieder Freiräume für die Fertigstellung des Manuskripts ermöglicht. Mein größtmöglicher Dank gilt daher meinen Eltern und Schwiegereltern, vor allem aber Daniela sowie Max, Emil und Clara. Ihnen ist dieses Buch gewidmet.
Dresden, im Juni 2022Maik Herold
»In den Stadtstaaten des alten Griechenlands und Roms war der Titel ›Bürger‹ eine ehrenvolle Bezeichnung. Mit dieser Ehre einher gingen aber auch bestimmte Verantwortlichkeiten«, die danach verlangten, »in stärkerem Maße Verantwortung für die Entwicklungen unserer Welt zu übernehmen und Worte in Taten umzusetzen«. Gerade in der Gegenwart des 21. Jahrhunderts gilt es nun, sich derartige Qualitäten wieder verstärkt anzueignen. Dieses Plädoyer für die Wiederbelebung des klassischen Bürgerethos der Antike entstammt nicht etwa einem politischen Manifest, einer althistorischen Untersuchung oder einem Handbuch zur Ideengeschichte, sondern dem Geschäftsbericht des Schweizer Pharmariesen Novartis. Mit ihm erläuterte der Konzern im Jahre 2000, was es aus seiner Sicht bedeutet, ein »guter Unternehmensbürger« zu sein.2 Ganz Ähnliches war in den vergangenen beiden Jahrzehnten auch an anderer Stelle zu hören. So verkündete auf dem Höhepunkt der weltweiten Finanzmarkt- und Bankenkrise 2008 der damalige Vorstandsvorsitzende der Deutschen Bank, Josef Ackermann, dass sein Unternehmen künftig in allen Regionen seiner Geschäftstätigkeit wie ein ›guter Bürger‹ agieren wolle. Ziel sollte es sein, »nicht nur privates, sondern auch soziales Kapital« aufzubauen, »negative gesellschaftliche Externalitäten« zu vermeiden und aktiv am Gemeinwohl mitzuwirken.3 Die Deutsche Telekom sieht mit dem gleichen Selbstbild mittlerweile ihre Aufgabe darin, zur Stärkung von »bürgerlichem Miteinander« und Zusammenhalt »möglichst vielen Menschen die Teilhabe an moderner Informations- und Kommunikationstechnologie«, gleichzeitig aber auch ein kritisches »Rüstzeug für die digitale Demokratie« zu vermitteln.4Siemens hingegen schreibt sich – mit Verweis auf den Firmengründer und ›guten Bürger‹ Werner von Siemens – die Unterstützung kultureller Aktivitäten zur ›Stärkung lokaler und regionaler Identitäten‹ auf die Fahnen und verkündete im Jahr 2016 stolz, dass man das persönliche Engagement seiner Mitarbeiter für das Gemeinwesen vor Ort zur »strategischen Priorität« erhoben habe.5 Der Volkswagen Konzern vergleicht sich schließlich gar selbst mit einem politischen Gemeinwesen. Seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sollen entsprechend »als mündige, kompetente und selbstbewusste ›Bürger im Unternehmen‹« auftreten, dabei aktiv am Firmengeschehen teilhaben und sich in gemeinsame Entscheidungsprozesse einbringen.6
Wie diese Fälle exemplarisch zeigen, erfreut sich die gezielte Verknüpfung von wirtschaftlichen und politischen Rollenbildern in der strategischen Unternehmenskommunikation heute einer großen Beliebtheit. Weltweit agierende Konzerne, aber auch mittelständische Betriebe und kleinere Unternehmen beschreiben sich in umfangreichen Berichten und Broschüren selbst als gute ›Wirtschafts-‹ oder ›Unternehmensbürger‹ (engl. corporate citizen).7 Sie sehen sich mit bestimmten ›Werten‹ oder gar ›Tugenden‹ ausgestattet, gegenüber dem politischen Gemeinwesen verpflichtet und bemühen dabei das Bild einer Gemeinschaft mündiger Bürger als Vorbild.8 Der Rückgriff auf die Semantik des ›guten Bürgers‹ erfolgt dabei selbstverständlich weniger aus ›republikanischem‹ Idealismus, als aus ›neoliberalem‹ Kalkül und zeugt nicht zuletzt von veränderten Erwartungshaltungen in der Gesellschaft. Weil in der heutigen Zeit das Geschäftsgebaren von Unternehmen sowie das Verhalten ihrer Repräsentanten verstärkt von einer kritischen Öffentlichkeit beobachtet und dabei auch in demokratische Wertvorstellungen und Legitimationsmuster einbezogen wird, verspricht eine erfolgreiche Inszenierung als ›gute Bürger‹ wesentlich dazu beizutragen, Markenvertrauen zu generieren, Kundenbindungen zu stärken, Stakeholder-Interessen zu bedienen, Transaktionskosten zu reduzieren sowie die Motivation der eigenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu erhöhen.9 Aus betriebswirtschaftlicher Sicht geht es für die Unternehmen letztlich um das kalkulierte ›Management von Reputationsrisiken‹, also darum, mit externen Erwartungen aus Politik und Gesellschaft strategisch umzugehen, ohne dabei die eigene Rentabilität zu gefährden.10
Bei der theoretischen Erklärung von Corporate Citizenship verweisen wirtschaftssoziologische Ansätze entsprechend auf die ›Einbettung‹ ökonomischer Akteure in ihre ›gesellschaftliche Umwelt‹ sowie auf die Annahme, dass auch Gesellschaften, Staaten und lokale Gemeinschaften zu jenen ›Anspruchsgruppen‹ (stakeholder) zählen, deren Bedürfnissen eine Organisation gerecht werden muss.11 Das Engagement eines Unternehmens für das Gemeinwohl, erklärt sich dann etwa als das Ergebnis einer Dynamik der Angleichung seines Handelns an sich verändernde gesellschaftliche Erwartungshorizonte, die nicht zuletzt mit Verweis auf ›gesellschaftliche Legitimität‹ und zukünftige ökonomische Gewinnchancen beschrieben werden.12 In der Praxis jedenfalls sind entsprechende ›CSR-Abteilungen‹ mittlerweile fest in die Organisationsstruktur der meisten größeren Unternehmen eingebunden und versuchen mit Hilfe von Wertekatalogen, Schriften zur Unternehmensphilosophie, Codes of Conduct, Social Responsibility Commitments und Vision and Mission Statements einen positiven Beitrag zum öffentlichen Erscheinungsbild zu leisten. Die Übereinstimmung mit dem tatsächlichen ›Business-Case‹ ist dabei natürlich nicht garantiert. Je ›schmutziger‹ das eigene Geschäftsgebaren, so wird insbesondere mit Blick auf einige Großbanken, Investmentgesellschaften und Finanzdienstleister argumentiert, umso wortreicher werden in der strategischen Kommunikation ›Werte‹ wie Integrity, Responsibility, Respect, Passion, Community, Sustainability oder Diversity ausgerufen und zum ›genetischen Code‹ des eigenen Unternehmens erklärt.13
Doch auch im Bereich der der wirtschaftsethischen Diskussion wird heute das wünschenswerte Bild eines Akteurs gezeichnet, der zwar auf den Märkten erfolgreich ist, gleichzeitig aber auch seinen Verpflichtungen für die politische Gemeinschaft gerecht wird. So steht das Konzept einer ›Gemeinwohl-Ökonomie‹ bereits seit den 1990er Jahren für den Versuch, ein von basisdemokratisch-deliberativen Vorstellungen geprägtes Bürgerideal auf wirtschaftliche Handlungskontexte zu übertragen. Ziel ist es dabei, Instrumente zu entwickeln, mit denen der konkrete Beitrag von Individuen und Unternehmen zum Gemeinwohl ›gemessen‹ und als wirtschaftsbürgerlicher ›Erfolgsindikator‹ gesellschaftlich etabliert werden kann. Im Rahmen eines solches Systems könnten dann etwa ›Bonuspunkte‹ für Kategorien wie ›Menschenwürde‹, ›Solidarität‹, ›Vertrauen‹ oder ›Nachhaltigkeit‹ vergeben und mit einem Belohnungssystem verbunden werden: »Je mehr Gemeinwohlpunkte ein Unternehmen hat, desto mehr rechtliche Vorteile kann es in Anspruch nehmen«.14 In ähnlicher Form ist der Gedanke einer Verschmelzung von politisch-moralischen und ökonomischen Rollenvorstellungen heute auch im Konzept einer Integrativen Wirtschaftsethik zu beobachten. Geleitet von der Annahme, dass »allen Wirtschaftssubjekten prinzipiell eine nicht-delegierbare staats- und wirtschaftsbürgerliche Mitverantwortung für die Qualität gesellschaftlicher Deliberationsprozesse« zufällt, werden hier Unternehmer, Angestellte und Arbeiter, aber auch Aktionäre, Endverbraucher und Kunden gleichermaßen dazu aufgefordert, das eigene Wirtschaftsleben nicht vom Selbstverständnis ›guten Bürgerseins‹ abzuspalten, sondern eine Mitverantwortung für die »res publica« wahrzunehmen und »private Interessen nur so weit zu verfolgen, wie sie den Legitimitätsbedingungen der Bürgergesellschaft entsprechen«.15 Nach Auffassung des Schweizer Ökonomen Peter Ulrich gilt es deshalb, die für ein deliberatives Politik- und Demokratieverständnis notwendigen formal-prozeduralen Minimalansprüche auch als notwendige Tugenden ökonomischer Akteure zu reformulieren. Hierzu zählen unter anderem die »grundsätzliche Reflexionsbereitschaft« eigener Präferenzen, eine »Verständigungsbereitschaft« hinsichtlich fairer Verfahrensregeln und inhaltlicher Dissenzbereiche sowie der Wille, das eigene Wirtschaftshandeln »vorbehaltlos« einer »öffentlichen Legitimitätsprüfung zu unterstellen«. Die daraus ableitbaren ethischen Konsequenzen unterscheiden sich dann nach konkreten Rollenkontexten. Angestellte eines Unternehmens etwa sollten generell dort ihrer Bürgeridentität den Vorrang einräumen, wo »die ›blinde‹ innerbetriebliche Pflichterfüllung […] die republikanische Verantwortung für das Gemeinwohl in erheblicher Weise« verletzten würde. Für den ›kritischen Kapitalanleger‹ hingegen sei die »Bereitschaft zur Selbstbegrenzung des privaten Renditestrebens« zugunsten »ethischer Aspekte der Kapitalallokation« entscheidend. Ein ›reflektierter Konsument‹ wiederum müsse in der Lage sein, das eigene Kaufverhalten vor dem Hintergrund möglicher Gemeinwohlanforderungen selbstkritisch zu prüfen. Darüber hinausgehend ist jeder Wirtschaftsakteur grundsätzlich dazu aufgefordert, als ›guter Bürger‹ seine »ordnungspolitische Mitverantwortung bezüglich der Rahmenordnung des Marktes wahrzunehmen« und etwa bei der Herstellung politischer Entscheidungen im demokratischen Prozess nicht nur auf den eigenen Vorteil zu achten, sondern mit seiner Stimme »vernünftige Reformvorhaben zur lebensdienlichen Ausrichtung und Einbindung der Marktdynamik in die Grundsätze einer wohlgeordneten Bürgergesellschaft« zu unterstützen.16
Diese und andere Debatten markieren die Selbstverständlichkeit, mit der heute in der wirtschaftssoziologischen und wirtschaftsethischen Reflexion politische und ökonomische Rollenbilder zusammengeführt werden. Aus politikwissenschaftlicher Sicht wirken die dabei verwendeten Begrifflichkeiten, Überlegungen und Argumente allerdings eher befremdlich. Weder der Gedanke einer bürgerschaftlichen Verantwortung ökonomischer Akteure, noch die umgekehrte Frage nach den ökonomischen Aspekten ›guten Bürgerseins‹ treffen hier auf eine erkennbare Resonanz. Stattdessen gilt die Idee des Bürgers als das traditionsreiche Kernkonzept eines genuin politischen Denkens, die Abgrenzung zu ökonomischen Akteursmodellen als eine Grundprämisse moderner politischer Theoriebildung. Die mit beiden Bereichen jeweils verbundenen Handlungsmaximen, Wertvorstellungen und Ordnungsideen werden entsprechend als natürliche Gegensätze verstanden. Während sich ein ›guter Bürger‹ vor allem durch Engagement, Solidarität und Gemeinsinn auszeichnet, wird ökonomisches Handeln typischerweise mit dem genauen Gegenteil, mit Individualismus, Konkurrenz und Egoismus identifiziert.
Diese notorische Unvereinbarkeit von ›Bürger‹ und ›Wirtschaft‹ scheint fest in der ideengeschichtlichen Tradition verankert und konnte offenbar bereits die Wurzeln politischen Denkens in der griechischen Antike prägen. So hatte bekanntlich schon Solon die Idee bürgerlicher Verantwortung gegen die Herrschaft von Geld, Gier und Kommerz in Stellung gebracht. Kynische und sokratische Philosophen interpretierten erwerbswirtschaftliche Tätigkeiten dann als Ausdruck niederer Leidenschaften und hielten den Besitz von Reichtümern mit politischer Urteils- und Herrschaftsfähigkeit für unvereinbar. Aristoteles wiederum unterschied streng zwischen dem wirtschaftlichen Agieren im Oikos und einem Leben als Bürger in der Polis. Die Geschäftspraktiken der Kauf- und Handelsleute schienen ihm im klaren Widerspruch zu den wünschenswerten Qualitäten eines Polisbürgers zu stehen. Handwerker und Lohnarbeiter verfehlten gar von vornherein die charakterlichen Voraussetzungen ›guten Bürgerseins‹. Perikles schließlich stimmte in seiner berühmten ›Gefallenenrede‹ ein geradezu euphorisches Lob auf die politische Kultur der Athener an und grenzte ihr ›freiheitlich-demokratisches‹ Bürgerethos zugleich von der Einstellung jener idiotai ab, die sich nur für sich selbst und die eigenen (idion), vornehmlich wirtschaftlichen Belange interessierten.17 Sein Plädoyer fand nicht nur im ›Griechenkult‹ der humanistischen Bildung des 19. und 20. Jahrhunderts, sondern auch in der modernen historischen Literatur große Beachtung. Es prägte zudem jene Vorstellungen, welche die Tugenden der attischen politai auch für heutige Demokratien als Vorbild sehen, den idealen Bürger dabei als modernes zoon politikon beschreiben und ebenfalls in schärfster Weise von wirtschaftlichen Handlungsprämissen abgrenzen.18
Vor dem Hintergrund dieser Tradition erscheint eine Übertragung der Semantiken von Bürger, Tugend und Gemeinwohl auf das Ökonomische erst recht kontraintuitiv, der Versuche einer gezielten Verknüpfung beider Seiten als Widerspruch in sich. Aus der Sicht einer normativ ›gehaltvollen‹ Vorstellung ›guten Bürgerseins‹ gelten entsprechende Überlegungen typischerweise als Produkt jener geistigen Strömung, mit der im politischen Ordnungsdenken seit dem 16. Jahrhundert die ursprüngliche Idee eines homo politicus schrittweise durch jene des homo oeconomicus verdrängt und die Annahme notwendiger Bürgertugend durch das Prinzip eigennutzorientierter Interessenverfolgung ersetzt wurde.19 Auf der anderen Seite aber wird heute auch in der Politikwissenschaft, im Kontext eines zunehmend als krisenhaft wahrgenommenen Zusammenspiels von globalisiertem Wirtschaftssystem und nationalstaatlich organisierter Demokratie, eine Neujustierung des Verhältnisses von politischem Bürgerbegriff und wirtschaftlicher Handlungsdimension gefordert. Jenseits großer Theoriegebäude und ideologischer Zuspitzungen wird danach verlangt, die vielschichtigen Verweisungszusammenhänge zwischen politischen und ökonomischen Handlungslogiken, Rollenmodellen und Ordnungsvorstellungen in historisch und theoretisch-systematisch fundierter Weise beschreibbar zu machen. Mit diesem Bedürfnis wird letztlich das grundsätzliche Verhältnis von Politik, Zivilgesellschaft und Marktwirtschaft angesprochen. Es richtet sich etwa auf die Frage, ob die klassische Idee des Bürgers überhaupt noch als Leitidee für die Rolle des Einzelnen im politischen Gemeinwesen fungieren kann, ob also die Demokratien des 21. Jahrhunderts noch als ›Bürgerordnungen‹ oder eher als Assoziation von Kunden (customers), ›Anspruchsberechtigten‹ (stakeholder), ›Teilhabern‹ (shareholder) oder gar politischen ›Auftraggebern‹ (principals) zu verstehen sind. Es richtet sich ebenso auf die Frage nach dem notwendigen normativen Gehalt heutiger Bürgerbegriffe, in welcher Form also für einen ›guten Bürger‹ neben soziomoralischen und soziokulturellen auch sozioökonomische Kompetenzen relevant sein sollten.
In theoretisch-ideengeschichtlicher Hinsicht gilt es hier allerdings zunächst zu klären, welche ökonomischen Voraussetzungen traditionell mit der Zuschreibung von Bürgerkompetenz in Verbindung standen. Es gilt herauszufinden, mit welchen Argumenten wirtschaftlichem Erwerbshandeln typischerweise eine politische Bedeutung zugeschrieben wurde und wie es – jenseits einer philosophisch begründeten Geringschätzung als Ausdruck zerstörerischer Leidenschaften – hinsichtlich seiner Folgen für die moralischen Grundlagen einer freiheitlichen Ordnung bewertet wurde. Ein Schlüssel zur Beantwortung dieser Fragen scheint tatsächlich in der klassischen Antike zu liegen, denn dort findet sich jener historische Referenzpunkt, auf den sich heutige Konzeptionalisierungsversuche von ›Bürgergemeinschaft‹, ›Bürgerdemokratie‹ und ›Bürgerkompetenz‹ immer wieder berufen. Was das Verhältnis von Bürgeridee und Ökonomie betrifft, steht jedoch zu vermuten, dass die Antikereferenz der zeitgenössischen politikwissenschaftlichen Theoriediskussion teilweise als ahistorisch gelten muss, weil sie in der philosophisch-theoretischen Überspitzung, Übersystematisierung und Isolierung einzelner Vorstellungen, viele Aspekte der Komplexität des antiken Denkens und seiner lebensweltlichen Rahmenbedingungen notwendigerweise ignoriert.20 Hier lohnt es sich also, nochmals genauer hinzuschauen und die historischen Wurzeln der Bürgeridee auf ihr Verhältnis zum Ökonomischen hin zu befragen.
Die vorliegende Arbeit widmet sich genau dieser Aufgabe. Ihr systematisches Erkenntnisinteresse richtet sich auf die Identifizierung und Einordnung jener wirtschaftlichen Dimensionen bürgerlicher Kompetenz, wie sie in der Antike diskutiert und später von humanistisch-republikanischen Denkern zum Teil wieder aufgegriffen wurden. Mit Blick auf die ideengeschichtlichen Ursprünge des Bürgers will sie herausfinden, ob und in welcher Hinsicht wirtschaftliche Begründungszusammenhänge für die Bestimmung bürgerlicher Fähigkeiten, Motivationen und Tugenden eine Rolle spielten, inwiefern also ein ›guter Bürger‹ zugleich als ›guter Wirtschaftsakteur‹ gelten musste. Während viele andere Untersuchungen sich eher auf die Differenz politischer und ökonomischer Begriffs-, Argumentations- und Ideenfelder konzentrieren, geht es im Folgenden also gerade darum, Formen ihrer Verknüpfung herauszustellen.21 Die Arbeit setzt dabei geistes- und sozialgeschichtliche Perspektiven miteinander in Verbindung. Sie führt die Entstehung und Entwicklung der Bürgeridee als zentraler Kategorie politischen Denkens mit Überlegungen zur politischen, sozialen und wirtschaftlichen Geschichte aus Antike, Mittelalter und früher Neuzeit zusammen, denn nur so kann letztlich eine fundierte Deutung des Verhältnisses von Bürgerkompetenz und Wirtschaftshandeln erreicht, ein unverstellter Blick auf die historische Rolle des Ökonomischen bei der Zuschreibung ›guten Bürgerseins‹ gewonnen werden – ein Blick, der einer politisch unterbestimmten Verabsolutierung ökonomisch-technokratischer Akteurskonzepte ebenso entgegentritt wie der abstrakt-philosophisch Überhöhung politisch-moralischer Handlungsmotivationen. Die Argumentation richtet sich zunächst schwerpunktmäßig auf die Entstehungs-, Verwendungs- und Interpretationszusammenhänge der Bürgeridee in der griechischen Antike, folgt dann aber spezifischen Gedanken, Fragestellungen und Deutungslinien auch in die römische Welt, das späte Mittelalter und die frühe Neuzeit. Die zugrunde liegende Vermutung ist dabei, dass einige der hier auffindbaren Überlegungen zum Verhältnis von Bürgeridee und Ökonomie möglicherweise auch in der Gegenwart noch diskutiert werden, im Zuge einer Veränderung ökonomischer Rollenbilder, einer Krise wirtschaftlicher Globalisierungsversprechen sowie einer Renaissance der Semantiken von Bürgerethos, Tugend und Gemeinsinn gar heute wieder an Bedeutung gewinnen. Was sollte nach klassischer Vorstellung also einen ›guten‹ und ›kompetenten‹ Bürger ausmachen? Inwiefern waren wirtschaftliche Handlungsformen, Rollenbilder und Ordnungsideen dabei von Bedeutung? Welche Wirkungen auf die moralischen Grundlagen einer freiheitlichen Ordnung wurde den unterschiedlichen Formen wirtschaftlichen Erwerbshandelns zugeschrieben, mit welchen politischen Überlegungen dem Einzelnen derartige Tätigkeiten nahegelegt? Wie haben sich diese Vorstellungen dann zwischen Antike und Neuzeit verändert? Diese Fragen nach der wirtschaftlichen Dimension ›guten Bürgerseins‹ sollen im Folgenden beantwortet werden.
In ideengeschichtlich-systematischer Absicht möchte die Arbeit dabei zeigen, dass nicht erst im Liberalismus der Neuzeit, sondern bereits in einer früheren, heute fast in Vergessenheit geratenen Tradition des Nachdenkens über die notwendigen Bestimmungsmerkmale eines ›guten Bürgers‹ diese wie selbstverständlich auch mit ökonomischen Vorstellungen verbunden waren – also nicht etwa nur mit der Erwartung von Tugend, Gemeinsinn und politischem Engagement, sondern auch von Eigennutz, Konkurrenzdenken und wirtschaftlichem Erfolg. Aufgrund der dabei typischen Verknüpfung von Bürgerethos und Wirtschaftshandeln, Tugend und Erwerbsstreben, Gemeinsinn- und Eigennutzdenken, politischer Exzellenz und wirtschaftlicher Performanz könnte man hier in gewisser Weise die antiken Vorläufer einer ›wirtschaftsrepublikanischen‹ Traditionslinie identifizieren und dem typischen ›wirtschaftsliberalen‹ Denken der Moderne entgegenstellen. Ob derart schematische Begriffssetzungen aber wirklich zielführend sind, muss sich erst noch zeigen. In jedem Fall argumentiert die Untersuchung, dass in einer seit der Antike nachweisbaren und zum Beginn des modernen Zeitalters im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert noch immer einflussreichen Deutungslinie Dinge zusammengedacht wurden, die heute weitestgehend als inkompatibel gelten. Es scheint deshalb durchaus angemessen, hier von einer, in der klassischen Tradition politischen Denkens fest verankerten Vorstellung der Verkopplung von Bürger- und Wirtschaftskompetenz auszugehen, und damit gewissenmaßen einige der zentralen Aspekte eines Wirtschaftsbürgerdenkens vor der Entstehung des Wirtschaftsliberalismus zu identifizieren.
Die Absicht der Arbeit ist dabei allerdings nicht normativ zu verstehen. Es geht nicht darum, bestimmte Strömungen der modernen politischen Theorie zu diskreditieren oder gar populäre Deutungsmuster der Antike zu korrigieren. Es soll keine alternative Interpretation des politischen Denkens der Antike vorgeschlagen, sondern lediglich ein heute kaum noch beachteter Aspekt klassisch-republikanischer Vorstellungen in den Vordergrund gestellt und systematisch umrissen werden. Ziel ist es also, einem bekannten Untersuchungsgegenstand neue Facetten abzugewinnen, dabei die Komplexität historischer Deutungszusammenhänge, die Pluralität ihrer Argumente sowie die Vielschichtigkeit vormoderner Begründungsmuster darzustellen, wo heute typischerweise Eindimensionales vermutet und nicht selten mit erstarrten Schwarz-Weiß-Kategorien argumentiert wird.
Zu diesem Zweck greift die Untersuchung auf eine Vielzahl an Quellen zurück. Dazu zählen die antiken Zeugnisse zur Entstehung und Entwicklung der Bürgeridee, die thematisch einschlägigen Standardwerke der klassischen politischen Philosophie aber auch jene Dokumente, die – wie etwa die griechische Oikonomik-Literatur – in besonderem Maße über die antike Verhältnisbestimmung von Bürger und Ökonomie, von polis und oikos, politai und oikonomikoi Auskunft geben. Hinzu kommen ausgewählte Schriften jener Autoren, welche in Spätmittelalter und früher Neuzeit zentrale Aspekte des antiken Bürgerdiskurses aufgegriffen, das Verhältnis von politischen und ökonomischen Rollenmodellen adressiert oder die Entfaltung der commercial society und des modernen ökonomischen Denkens dokumentiert haben. Der Zugriff auf das Material erfolgt dabei in einer Weise, welche das mit der klassischen Idee des Bürgers verbundene Nachdenken über die Rolle des Einzelnen im politischen Gemeinwesen als ein historisches Repositorium unterschiedlicher Antworten auf eine spezifische theoretisch-ideengeschichtliche Fragestellung betrachtet, ohne dabei die Überzeugungen einzelner Denker, deren biographische Hintergründe und historischen Kontexte in ihrer Breite darstellen zu können.22 Entsprechend kann die Untersuchung nicht als eine jener klassischen Werkanalysen verstanden werden, bei der es typischerweise darum geht, das ›Gipfelgespräch‹ der großen Geister des heutigen politik- und wirtschaftstheoretischen Kanons zu verfolgen und deren ›zeitlose Antworten‹ auf die großen Fragen des menschlichen Zusammenlebens nachzuzeichnen.23 Ebenso wenig wird eine an der Idee des Bürgers ausgerichtete Analyse historischer Diskurse angestrebt, welche die synchronen kommunikativen Strukturierungszusammenhänge als Abbild und Mittel der Organisation historischer Wirklichkeit begreift und der Formierung bestimmter Wahrnehmungsmuster, intellektueller Unterströmungen und vorherrschender ideenhistorischer Entwicklungen nachspürt.24 Weder geht es darum, mit sprachanalytischen Mitteln in der griechischen und römischen Antike bestimmte Vokabulare, Semantiken oder Bereiche des Denk-, Sag- und Machbaren zu identifizieren und aus den politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Kontexten ihrer Zeit heraus zu erklären25, noch ist es das vorrangige Ziel der Arbeit im Sinne einer ›Begriffsgeschichte als Sozialgeschichte‹ – quasi umgekehrt – aus der Beschäftigung mit der historischen Entwicklung von Ideen auf dahinter stehende sozialgeschichtliche Strukturen, Interessenkonstellationen oder Gesellschaftsformationen zu schließen.26
Stattdessen ist die Studie eher als problemgeleitete Suchbewegung zu verstehen, die in systematischer Weise die klassischen Vorstellungen über die subjektiven Bestimmungsfaktoren ›guten Bürgerseins‹ auf mögliche ökonomische Begründungs- und Verweisungszusammenhänge überprüft. Ihre Argumentation zielt darauf ab, historische Analyse und theoretische Einordnung derart zu kombinieren, dass neben den Besonderheiten spezifischer Kontexte vor allem epochenübergreifende Denk- und Deutungsmuster sichtbar werden. Als Orientierung dient dabei die bereits bei Aristoteles beschriebene Idee einer ›topischen Herangehensweise‹, welche keinen ›theoretischen Ansatz‹ sondern ein bestimmtes ›Problem‹, eine ›verbindliche Fragestellung‹ in den Mittelpunkt stellt. Neben anderen hat sich in jüngerer Vergangenheit etwa Wilhelm Hennis dieses Vorgehen zu eigen gemacht und die Topik als Technik eines problemorientierten Denkens beschrieben, welches noch ein »kontingentes« Verhältnis zu ihren Einsichten pflegt, die Vorläufigkeit und ›Diskutabilität‹ der gewonnenen Ergebnisse anerkennt und stets einen »gesunden« Abstand zu allen »zwanghaften theoretischen Konstruktionen« einhalten will.27 Mit ihrer Mischung aus ideen- und sozialgeschichtlichen Überlegungen möchte sich auch die folgende Untersuchung an diesen Grundsätzen orientieren.
Allerdings kann ein derartiges Unterfangen nicht ohne Einschränkungen erfolgen. So stellt die fragmentarische Überlieferungslage ebenso ein begrenzendes Element dar, wie die Eigengesetzlichkeit bestimmter historischer Textformen.28 Auch kann der Versuch einer systematischen Rekonstruktion bestimmter epochenübergreifender Argumentationslinien und miteinander verknüpfter Ideen naturgemäß nur sehr oberflächlich die jeweiligen politischen, sozialen und ökonomischen Kontexte einzelner Werke sowie die mit ihnen zusammenhängenden umfassenden Denksysteme berücksichtigen, muss stattdessen vieles verkürzen oder zuspitzen. Eine erschöpfende Aufarbeitung der ökonomischen Bestimmungsfaktoren bürgerlicher Kompetenz und vollständige ideengeschichtlich-systematische Rekonstruktion des damit angesprochenen Problemzusammenhangs ist ohnehin in keiner einzelnen Arbeit zu leisten. Entsprechend geht es auch im Folgenden vielmehr darum, entlang einer festgelegten Systematik punktuelle Sondierungen vorzunehmen und dabei einige jener Bausteine zusammentragen, mit denen sich die ökonomische Dimension antiken Bürgerdenkens als Eckpunkte eines klassischen Wirtschaftsbürgerdenkens rekonstruieren lassen.
Um dieses Ziel zu erreichen, gliedert sich die Arbeit in fünf Teile. Im ersten steht dabei zunächst die Genese der heute dominierenden Vorstellungen über das Verhältnis von Bürgeridee und Wirtschaftshandeln im Mittelpunkt. Bevor nämlich der Blick in die ferne Vergangenheit gerichtet werden kann, gilt es zunächst deutlich zu machen, warum die Suche nach einer möglichen Verknüpfung beider Seiten tatsächlich bis in die Antike zurückgehen muss, um die typischen Vereinfachungen moderner Deutungsparadigmen zu umgehen, den Blick auf weniger bekannte Traditionsbestände politischen Denkens freizulegen und diese als Beitrag zu einer Ideengeschichte des ›guten Wirtschaftsbürgers‹ zu reformulieren. Wie wird also die Bedeutung des Einzelnen in einem demokratischen Gemeinwesen heute typischerweise adressiert und warum findet sich dabei für eine Verknüpfung von politischen und ökonomischen Rollenbildern kein Platz?
In den nachfolgenden vier Teilen werden dann jeweils unterschiedliche Segmente des antiken Diskurses über die subjektiven Voraussetzungen ›guten Bürgerseins‹ adressiert und auf ihr Verhältnis zum Ökonomischen hin befragt. Als Grundlage dient dabei die heuristische Bestimmung verschiedener Aspekte der Zuschreibung von Bürgerkompetenz: die Unterscheidung zwischen notwendigen Fähigkeiten auf der einen sowie Motivationen und Tugenden auf der anderen Seite. Abschnitte zwei und drei adressieren zunächst den Gedanken bürgerlichen Fähigseins. Dieser Bereich wird in den politischen Diskursen der Gegenwart kaum noch angesprochen, denn er gilt im Kontext moderner Demokratien doch in der Regel bereits mit dem grundsätzlich allen Menschen zurechenbaren Vermögen rationalen Vernunftgebrauchs als erfüllt.29 In der Antike war dies allerdings anders. Hier wurden die ›technischen‹ Voraussetzungen bürgerlicher ›Funktionserfüllung‹ sehr viel grundlegender diskutiert und etwa mit der Frage nach den Bedingungen eines gelingenden gemeinschaftlichen Zusammenlebens verbunden. Entsprechend können Anhaltspunkte für die Bedeutung des Ökonomischen bei der Zuschreibung bürgerlicher Kompetenz zunächst aus einer Untersuchung politischer und ökonomischer Ordnungsvorstellungen gewonnen werden. Wie wurde also in der Antike das Verhältnis von polis und oikos, polites, politikos und oikonomikos, areté politiké und techné oikonomiké bestimmt? Inwiefern waren wirtschaftliche Handlungsformen, Leitideen und Rollenbilder bei der Konzeptionalisierung einer guten ›bürgerlichen‹ Ordnung von Bedeutung? Welche konkreten Fähigkeiten sollte der Einzelne dabei idealerweise vorweisen können?
In der Beantwortung dieser Fragen zeigt sich in Teil zwei, in welchem Ausmaß im antiken Denken politische und ökonomische Kategorien miteinander verknüpft wurden. So war etwa der Oikos weniger als ein Ort der ›Verfolgung privater Sonderinteressen‹ oder der ›Eigennutzorientierung‹, sondern als ein Sozialverband mit eigenen ›politischen‹ Binnenstrukturen, die Polis hingegen ebenso maßgeblich durch ›ökonomische‹ Wertvorstellungen wie Selbstorganisation, Wettbewerb und Autarkiestreben bestimmt. Beide Formen der Vergemeinschaftung galten in der Antike als zentrale Bezugspunkte der Bestimmung eines ›guten Bürgers‹. Dessen politischer Teilhabeanspruch war wiederum untrennbar mit seiner wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit verbunden. Sein Vermögen zur erfolgreichen Gestaltung des bios oikonomikos wurde zugleich als zuverlässiger Gradmesser der Eignung für politische Aufgaben verstanden. Die ideale ›bürgerliche‹ Herrschaftsordnung sah man entsprechend weniger in einer Demokratie, als in einer ›Herrschaft der Besten‹ verwirklicht, wobei diese ›Besten‹ nicht zuletzt nach ökonomischen Kriterien auszuwählen waren. Von dieser Verflechtung politischer und wirtschaftlicher Gemeinschaftsvorstellungen konnten schließlich auch die Ehefrauen der griechischen politai profitieren und – im Gegensatz zu vielen anderen politischen Ordnungen in Antike, Mittelalter und früher Neuzeit – auf die Gestaltung des bürgerlichen Zusammenlebens in der Polis gewissen Einfluss ausüben.
An diese Erkenntnisse anknüpfend fragt Teil drei zunächst danach, wie die mit der Idee des Bürgers verbundenen Ansprüche auf politische Teilhabe in der Antike realisiert wurden und welche Rolle in diesem Kontext wirtschaftliche Fähigkeiten, Ressourcen und Statusmerkmale spielten. Dabei wird argumentiert, dass eine der Idee des Bürgers angemessene Herrschaftsordnung auch in der politischen Praxis eine machtstrategische Ausbalancierung unterschiedlicher, sozioökonomisch bestimmter Bürgergruppen mit Hilfe abgestufter öffentlicher Mitwirkungsrechte vorsah, was in den griechischen Poleis zumeist die Herrschaft sozioökonomischer Oberschichten begründete. Vor diesem Hintergrund erweist sich schließlich auch die spätere Rezeption der antiken Vorstellungen als erklärungsbedürftig. Wenn die Idee ›guten Bürgerseins‹ nämlich bereits in der Antike in vielfacher Hinsicht durch wirtschaftliche Kriterien geprägt war, dann scheint fraglich, ob und inwiefern die Differenz zu neuzeitlichem Bürgerbildern überhaupt im Sinne der heute verbreiteten Prämissen als ›Bruch‹ beschrieben werden kann. Entsprechend gilt es hier auch zu prüfen, ob die frühneuzeitlichen Bürgervorstellungen tatsächlich im Sinne einer ›Ökonomisierung‹, ›Oligarchisierung‹ und ›Entpolitisierung‹ ihrer antiken Vorbilder zu deuten sind oder ob bei der Rückkehr des Bürgers in die politische Ideenwelt des 13. Jahrhunderts lediglich die Traditionsbestände eines antiken ›Wirtschaftsbürgerdenkens‹ reaktiviert wurden.
Im vierten und fünften Teil der Arbeit steht schließlich die politisch-moralische Dimension bürgerlicher Kompetenz, die Frage nach notwendigen intellektuellen und charakterlichen Tugenden im Mittelpunkt. Unter Verweis auf die Antike wird das damit angesprochene Verhältnis zwischen politischer Ethik und wirtschaftlichem Erwerbshandeln heute zumeist ebenfalls im Sinne eines kategorischen Gegensatzes adressiert. Tatsächlich wurden vor allem in der kynischen, sokratischen und stoischen Philosophietradition Wohlstand und Erwerbswirtschaft insgesamt kritisch gesehen und an enge moralische Grenzen gebunden, denn zum kommerziellen Handel mit Waren oder gar Geld schien der Einzelne vor allem durch selbstsüchtige Leidenschaften, unkontrollierte Gefühlsregungen und inferiore Seelenteile getrieben. Doch was waren die konkreten Argumente, mit denen man diese offenbar schädliche Wirkung von Erwerbsstreben und Wohlstand auf die sittlichen Kompetenzen der Bürger begründete? Inwiefern wurde hieraus tatsächlich eine Inkompatibilität von Bürgertugend und Wirtschaftshandeln abgeleitet? Welche spezifischen Tugenden sollte der Einzelne aufweisen, damit er diesen Wirkungen widerstehen und als ›guter Bürger‹ sowohl den in ihn gesetzten politischen, als auch den ökonomischen Rollenerwartungen gerecht werden konnte? Wie sich im abschließenden fünften Teil zeigt, ist selbst mit Blick auf die klassische politische Ethik, die pauschale These einer Unvereinbarkeit von politischen und ökonomischen Rollenbildern zurückzuweisen. Mögliche negative Wirkungen des Ökonomischen auf die moralischen Handlungsdispositionen der Bürger bezogen sich stattdessen nur auf spezifische Formen ökonomischen Handelns, hielten andere wiederum für unbedenklich oder bescheinigten ihnen sogar eine positive Wirkung auf die sittlichen Grundlagen einer freiheitlich-bürgerlichen Ordnung. Andere Formen bürgerlicher Tugend waren wiederum sowohl auf politische als auch auf ökonomische Rollenerwartungen bezogen oder konnten selbst nur durch wirtschaftliches Handeln erworben werden.
Die Idee des Bürgers, so ließe sich die zentrale These der Untersuchung zusammenfassen, erweist sich im klassischen politischen Denken somit nicht als jene ›Kategorie des Politischen‹, wie sie in der politiktheoretischen Diskussion heute dem Bereich ökonomischen Handelns entgegengestellt wird. Sie konstituiert vielmehr ein soziales Rollenmodell, das politische und wirtschaftliche Kompetenz-, Handlungs- und Verhaltenserwartungen stets auf sich zu vereinen und in komplexer Weise miteinander zu verbinden wusste. Entsprechend war die Zuschreibung von Bürgerkompetenz typischerweise auch mit bestimmten ökonomischen Fähigkeiten und eigennutzorientierten Motivlagen verbunden. Erwerbsstreben und Wohlstand wurden nicht nur als Gegenspieler, sondern zugleich als Quelle politischer Tugenden, die saturierte Abwendung von den Pflichten wirtschaftlicher Subsistenzsicherung hingegen als Ursache von Zwietracht, Unfreiheit und politischer Instabilität interpretiert. Dies wiederum schlug sich in einer Form des Ordnungsdenken nieder, das den erfolgreichen oikonomikos als soziokulturelles Leitbild ›guten Bürgerseins‹ betrachtete und das Regiment einer nach ökonomischen Kriterien rekrutierten Minderheit als Idealform ›bürgerlicher‹ Herrschaftsorganisation verstand. Selbst die politische Ethik, welche das Erwerbsstreben des Menschen typischerweise als Ausdruck seiner zerstörerischen Leidenschaften deutete, blieb in ihrem Urteil über die wirtschaftlichen Möglichkeitsbedingungen bürgerlicher Kompetenz stets differenziert, sah die Ausbildung politisch-moralischer Qualitäten gar von bestimmten ökonomischen Tätigkeitsformen abhängig. Im historischen Vergleich lenken diese und andere Beobachtungen den Blick weniger auf das Trennende, als vielmehr eher auf das Verbindende zwischen den Zeitaltern. Mit ihnen lässt sich das Verhältnis von antiken und neuzeitlichen Konzeptionalisierungen des Zusammenhangs von Bürgeridee und Wirtschaftshandeln weniger als Bruch, sondern eher im Sinne einer Kontinuität beschreiben – eine Kontinuität, die sowohl in der klassischen Antike als auch im frühneuzeitlichen Republikanismus den ›guten Bürger‹ in seiner theoretischen wie praktisch-sozialen Dimension als Rollenmodell des Politisch-Ökonomischen, als ›guten Wirtschaftsbürger‹, beschreibbar macht.
In den politischen Diskursen der Gegenwart wird die Idee des Bürgers typischerweise im Rahmen zweier eng miteinander verbundener Problemfelder angesprochen.30 Im ersten tritt der Bürger vor allem als politischer Akteur, als Träger subjektiver Rechte und als Ausgangspunkt demokratischer Legitimationsstiftung in Erscheinung. Damit verbundene Überlegungen zielen etwa auf die Bestimmung von Rechten und Pflichten aber auch von Mitgliedschafts- und Teilhaberegeln in einer konkreten politischen Ordnung.31 Das andere, in dieser Arbeit vorrangig adressierte Problemfeld ist hingegen weniger auf die Frage nach dem Status des Einzelnen, sondern auf die subjektiven Voraussetzungen bürgerlicher ›Funktionserfüllung‹, die Zuschreibung, Erwartung und Einforderung bestimmter Kompetenzen gerichtet. Hier geht es also nicht nur um ›den Bürger‹, sondern um ›den guten Bürger‹. Es geht nicht um rechtlich-institutionelle Statusfragen, sondern um die qualifikatorischen Voraussetzungen für die Einlösung der mit diesem Bürgerstatus verbundenen Rollenbilder. Mit dem Begriff der Bürgerkompetenz wird dabei sowohl das richtige ›Können‹ als auch das ›Wollen‹ angesprochen. Es werden wünschenswerte Fähigkeiten, Motivationen und Tugenden identifiziert, die einen ›guten‹ und ›kompetenten‹ Bürger auszeichnen sollen, denen aber zugleich auch eine konstitutive ordnungstheoretische Bedeutung – eine »Sinn stiftende, Zugehörigkeit und Bindung erzeugende«, politischen Gemeinschaften Legitimität und Stabilität gebende Kraft – zugeschrieben wird.32 In unterschiedlichen Kontexten und Konstellationen wird diese politisch-kulturelle Ressource heute oft als Stabilitätsanker und wahre Keimzelle eines demokratischen Gemeinwesens verstanden und traditionell mit Begriffen wie Bürgertugend33, Bürgersinn34, Gemeinsinn35, Bürgerreligion36, Zivilreligion37, erweiterte Denkungsart38, gesunder Menschenverstand39 oder Sozialkapital40 zum Ausdruck gebracht.
Als Leitbild der hieran anschließenden Ordnungsdiskurse dient dabei allerdings nicht mehr die Vorstellung einer bürgerlichen Gesellschaft, wie sie paradigmatisch noch bei Georg W. F. Hegel oder Karl Marx als ›System individueller Bedürfnisse‹ konzeptionalisiert und dem ›Staat‹ gegenübergestellt war, sondern die Idee einer Bürgergesellschaft.41 Mit diesem Begriff wird eine politische Ordnung verbunden, in der Handlungsbereitschaft, Gemeinwohlorientierung und Engagement des Einzelnen von hoher Bedeutung sind, weil die Bürger durch Selbstorganisation und die Nutzung vielfacher Beteiligungsmöglichkeiten die Geschicke des Gemeinwesens entscheidend prägen können.42 Das Vorbild ist ein ›schlanker‹ und ›aktivierender‹ Staat, der die formalen Anforderungen für ein solches Engagement minimal hält. Idealtypischer Akteur ist wiederum der politisch interessierte und jederzeit zur Partizipation bereite Aktivbürger.43 Zwar ist die Betonung bürgerlichen Engagements auch als eine Kompensationsstrategie für beobachtete Defizite staatlich organisierter Steuerung zu verstehen, gleichzeitig wird mit Begriffen wie Bürgergesellschaft, Zivilgesellschaft44 und Neue Bürgerlichkeit45 aber auch auf sehr viel grundlegendere Vorstellungen von politischer Autonomie, Handlungsfähigkeit und Selbstermächtigung verweisen.46
Die Idee notwendiger Bürgerkompetenz erfuhr in den Politik- und Sozialwissenschaften allerdings erst in den vergangenen Jahrzehnten wieder verstärkte Aufmerksamkeit. Zuvor hatte insbesondere die Frage nach den moralischen Voraussetzungen guten Bürgerhandelns lange als nicht relevant gegolten und war angesichts einer starken Dominanz strukturanalytisch oder systemtheoretisch orientierter Perspektiven in den Hintergrund gerückt. Der Begriff der Tugend war seit dem ›Tugendterror‹ der französischen Revolutionäre ohnehin desavouiert. Appelle an Bürgermoral, Gemeinnutz und Zusammenhalt hatten in den Begriffsarsenalen der autoritären und totalitären Systeme des 19. und 20. Jahrhunderts zuverlässig im Dienst politischer Integrations- und Mobilisierungsideologien gestanden. Entsprechend begriff die moderne Demokratietheorie nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges nicht die sittliche Kompetenz der Bürger und politischen Funktionsträger, sondern die richtigen Gesetze und Institutionen als entscheidende Grundlage einer guten und stabilen politischen Ordnung.47 Bis in die 1980er Jahre repräsentierte das politische Denkens Hannah Arendts nahezu das einzige systematische Theorieangebot, das die Frage nach den subjektiven Voraussetzungen bürgerschaftlichen Engagements in den Mittelpunkt stellte.48 Nicht umsonst ging die spätere ›Rückkehr des Bürgers‹ in die politik- und sozialwissenschaftlichen Debatten mit einer verstärkten Rezeption der Arendtschen Schriften einher.49 Die heutige Beliebtheit normativ gehaltvoller Bürgerbegriffe verdankt sich aber insbesondere dem Denken des Kommunitarismus sowie den dadurch angestoßenen sozial-, rechts- und moraltheoretischen Debatten.50 Diese verweisen seit den 1980er Jahren ebenfalls auf die notwendige Wiederbelebung scheinbar erloschener innergesellschaftlicher Ressourcen, denen unterstellt wird, innerhalb politischer Ordnungen Loyalität, Solidarität und Zusammenhalt zu erzeugen. Im dialektischen Spannungsfeld zwischen ökonomischen Globalisierungs- und Regionalisierungsprozessen, gesellschaftlichen Pluralisierungstendenzen und ethnokulturellen Selbstvergewisserungsbedürfnissen sowie neuen politischen Kohäsions- und Spaltungsdynamiken scheint auch in der Gegenwart die damit verbundene Frage nach notwendigen bürgerlichen Kompetenzen wieder hochaktuell.51
Auffällig an den politikwissenschaftlichen Debatten über den ›guten Bürger‹ ist jedoch, dass das Ökonomische dabei in der Regel keine Rolle spielt und wenn, dann nur als gedankliche Gegenfolie adressiert wird. So wird der Bürger sowohl in theoretischer als auch in ideengeschichtlicher Hinsicht als zentrale Figur einer genuin politischen Tradition des Denkens verstanden und dabei insbesondere von wirtschaftlichen Kategorien abgegrenzt. Schon das Theorieprogramm des Kommunitarismus, sein Fokus auf die Regeneration von politisch-moralischen Ressourcen sowie Gemeinschaft stiftenden Ligaturen, Strukturen und Praktiken richtete sich ausdrücklich gegen die durch Kapitalismus, Ökonomisierung und egozentrischen Individualismus hervorgerufenen gesellschaftlichen Desintegrationstendenzen. Mit dem (neo)liberalen Zeitgeist, so lautete bereits Anfang der 1980er die einhellige Kritik, werde die traditionsreiche Bürgeridee von einem Rollenmodell des Politischen zur Idee eines »privatized client-consumers« degeneriert, das bürgerschaftliche Gemeinwesen als »apolitical bourgeois democracy« missverstanden. Ein normativ ›gehaltvoller‹ Bürgerbegriff steht vor diesem Hintergrund für die Forderung, den Vorrang der res publica, der ›öffentlichen Sache‹ gegen Ansprüche des egoistischen Individuums anzuerkennen.52
Als größte Bedrohung bürgerlichen Verantwortungsbewusstseins gilt entsprechend jene Fokussierung auf Eigennutz und Selbstinteresse, wie sie typischerweise als Essenz ökonomischen Denkens verstanden wird. Bis heute werden Forderungen nach einer »Rückkehr der Tugend«, nach »mehr Gemeinsinn« und einer »Wiederherstellung der Bürgerrolle« deshalb zumeist mit Blick auf wirtschaftliche Fehlentwicklungen und Krisen ausgesprochen.53 Vor allem die Warner vor ›kapitalistischer Dynamik‹, ›neoliberalem Ökonomismus‹ und ›Postdemokratie‹ sehen die Menschen heute kaum noch zur Ausfüllung ihrer Bürgerrolle in der Lage. Statt Gemeinwohlorientierung, öffentliches Engagement und politisches Interesse scheinen ihnen nur noch Eigennutz, Selbstverwirklichung und Konsum als handlungsleitende Qualitäten zu gelten. Demokratische Beteiligungsformen werden vor diesem Hintergrund stetig ausgehöhlt, lediglich nach ihrem Unterhaltungswert beurteilt und allenfalls noch als Folklore gepflegt. Sie dienen vor allem als Mittel der öffentlicher Inszenierung legitimer Entscheidungen und zur Verschleierung der eigentlichen Herrschaft ökonomischer Interessen.54 Wer vor diesem Hintergrund politische und ökonomische Ordnungsvorstellungen vermischt, Bürgerhandeln an wirtschaftlichen Kategorien misst oder Bürgerkompetenz mit Wettbewerbsdenken verwechselt, so lautet die Schlussfolgerung, der bringt letztlich die Demokratie selbst in Gefahr. Er gefährdet den solidarischen Zusammenhalt, redet stattdessen einer ›Ökonomisierung‹ des Politischen das Wort und degradiert die Idee gemeinschaftlicher Verantwortungsübernahme zu einem Akt rein wirtschaftlichen Interessenkalküls. In Zeiten eines globalisierten ›Finanzmarkt-Kapitalismus‹ wirken auch die eingangs geschilderten, vor allem im Bereich der Wirtschaftsethik unternommenen Versuche der Verknüpfung von ökonomischen und politisch-moralischen Rollenerwartungen wie ein Anachronismus aus längst vergangenen Epochen.55 Kann also vielleicht der Blick in die politische Ideengeschichte bei ihrer Einordnung und Erklärung behilflich sein?
Sofern ein normatives Konzept ›guten Bürgerseins‹ heute überhaupt diskutiert und nach seinen ideengeschichtlichen Ursprüngen befragt wird, gilt vor allem die Antike als entscheidender Referenzpunkt. Demnach lässt sich »kaum leugnen«, dass Ideen wie Aktivbürger, Bürgertugend und Gemeinsinn, ihren »Ursprung weder in der amerikanischen noch in der französischen Revolution, auch nicht erst im republikanischen Rom, sondern schon in Athen« nahmen und dass ihr wichtigster Wegbereiter Aristoteles war.56 Doch nicht nur die Vorstellung eines mündigen, engagierten und gemeinwohlorientierten Akteurs, sondern auch die Annahme einer tendenziellen Unvereinbarkeit von politisch-bürgerlichen und ökonomischen Rollenbildern scheint in der griechischen Poliswelt und dem Denken hellenischer Philosophen seinen Ausgang zu nehmen. Offenbar vermochten insbesondere die Stadtstaaten der griechischen Antike jenen soziokulturellen Kontext bereitzustellen, in dem – lange vor der Entstehung des kapitalistischen Wirtschaftssystems – eine ursprüngliche, ›rein politische‹ und ›normativ gehaltvolle‹ Idee des Bürgers erdacht und verwirklicht werden konnte. Gerade mit Blick auf die Gegenwart scheint deshalb eine Konsultation der klassischen politischen Denker dabei zu helfen, Probleme des Tugend- und Sozialitätsverlusts zu ergründen und der liberalen Marktwirtschaft ihre »Sittlichkeitskosten« vor Augen zu führen.57
Der Modus dieser spezifischen Antikedeutung, mit der aus heutiger Sicht die theoretisch-philosophische Unvereinbarkeit von Bürgerbegriff und Wirtschaftshandeln begründet wird, greift auf eine Strömung modernen politischen Denkens zurück, die seit den frühen 1960er Jahren vor allem durch eine Relektüre der Schriften des Aristoteles die originäre Idee eines politisch aktiven, verantwortungsbewussten und zugleich tugendhaften Akteurs wieder freilegen wollte.58 Hinsichtlich des Verhältnisses zur ›Wirtschaft‹ entwickelte sich dabei eine bestimmte Interpretation der antiken Gegenüberstellung von Polis und Oikos zum zentralen Ausgangspunkt einer Argumentation, bei der das altgriechische Begriffspaar mit modernen Vorstellungen von ›Politik‹ und ›Wirtschaft‹ vermischt und zur Ausdeutung des antiken Lebensalltags sowie zur ideenhistorisch-systematischen Begründung einer ›Philosophie des Politischen‹ herangezogen wurde.59 Nach dieser Logik waren in der Antike politische und ökonomische Lebensbereiche mit völlig unterschiedlichen Strukturprinzipien, Bedürfnissen und Kompetenzanforderungen verbunden, sodass »die Menschen des klassischen Altertums« täglich eine regelrechte »Kluft« überqueren mussten, um den engen Bereich des Ökonomischen hinter sich zu lassen und »aufzusteigen in den Bereich des Politischen«. Während der Oikos für die Sphäre des Alltäglichen, des Notwendigen und der materiellen Bedürfnissicherung stand, galt die Polis als »das Reich der Freiheit«, in dem der griechische Mensch als Bürger (polites) unter Gleichen agieren, die ihm innewohnenden Möglichkeiten ungebundenen Handelns ausschöpfen und nach ›Glückseligkeit‹ streben konnte.60
Vor dem Hintergrund derartiger Unterscheidungen wird heute auch die Entstehung der Bürgeridee als Prozess der Zurückdrängung wirtschaftlichen Denkens, als Emanzipation des antiken Bewusstseins von Lebensform und Ethos des Ökonomischen interpretiert. Demnach habe sich im 5. Jahrhundert v. Chr. nach der Konsolidierung der wirtschaftlichen Lage unter den Griechen ein ›Wandel der Motivstruktur‹ vollzogen, deren Kern in der vernunftgeleiteten, bewussten Zurücknahme des ökonomischen Erwerbstriebes bestand. Der griechische Mensch, so die Vorstellung, entwickelte sich zum Bürger, indem er sich von der Dominanz des Oikos und dessen eigennutzorientierter Logik löste und stattdessen lernte, zwischen seinen unterschiedlichen Rollen als oikonomikos auf der einen und als polites auf der anderen Seite klar zu differenzieren. Indem die antiken Polisbürger »eine politische Identität entwerfen mussten, konnten sie nicht anders, als ihre persönlichen Interessen und Bedürfnisse den gemeinsamen Angelegenheiten lexikalisch nachordnen«.61 In der politischen Praxis wurde zur Erfüllung öffentlicher Verpflichtungen deshalb oft auch die eigene wirtschaftliche Entmündigung in Kauf genommen. Weil nämlich keiner »nur dem Zweck des Lebensunterhaltes und der Erhaltung des Lebensprozesses dienenden Tätigkeit« es gestattet war, im politischen Raum zu erscheinen, überließen die klassischen Polisbürger Handel und Gewerbe schließlich »dem Fleiß und Unternehmungsgeist von Sklaven und Ausländern«. Die Folge war, dass etwa die Bürgerschaft Athens in wirtschaftlicher Hinsicht einer Gemeinschaft von Grundrentenempfängern, einem bürgerlichen »Konsumentenproletariat« ähnelte.62
Aus heutiger Sicht fügte sich das antike Ordnungs- und Verfassungsdenken ebenso nahtlos in das Schema dieser theoretischen und praktischen Unvereinbarkeit von politischen und ökonomischen Lebenswelten ein. Demnach zeichneten sich ›gute Verfassungen‹ durch »Gerechtigkeit, Gemeinwohlorientierung und Bürgerfreundlichkeit« aus. ›Schlechte Verfassungen‹ hingegen waren »unpolitische Verfassungen, die im Grunde die Herrschaftsstrukturen der häuslichen Gemeinschaft imitierten und sich oikostypisch der Durchsetzung des Partikularen« verschrieben. Vor allem tyrannische Alleinherrschaften, so wird mit Verweis auf Aristoteles argumentiert, seien aus einer ›Korrumpierung des Politischen durch das Ökonomische‹ entstanden.63 Eine Demokratie hingegen war offensichtlich als einzige Ordnungsform dazu in der Lage, durch die radikal durchgesetzte Entkopplung von wirtschaftlichem Status und politischer Mitsprache die mit der Idee des Bürgers verbundenen Versprechen von Freiheit und Gleichheit einzulösen.64
Insgesamt, so die heute verbreitete Annahme, müsse der antiken Bürgerpolis hier eine weitaus größere ›universalhistorische Bedeutung‹ zugeschrieben werden, »als sie den Mitlebenden klar sein konnte«. In ihr vermochte das ›ökonomische System‹ seine ›Produktivkräfte‹ vor allem deshalb nicht zu entfesseln, weil die Idee des Bürgers streng »politisch orientiert« war, also die ›Bürgerzunft‹ (Max Weber) niemals wirklichen »Zunftcharakter« angestrebt, sondern alle Keime einer marktförmigen Integration erstickt hatte. Den antiken Bürgern könne gar eine Art »präökonomisches« Lebensgefühl attestiert werden, denn in ihrer bäuerlich geprägten Lebenswelt seien wirtschaftliche Motive »nicht unbedingt dominierend« gewesen, zumindest dann nicht, »wenn das wichtigste einmal gesichert war«. »[W]eil die Griechen keine bourgeois waren«, so das denkwürdige Fazit dieser Argumentation, »konnten sie citoyens werden«.65
Die Semantiken von Bürger, Tugend und Gemeinwohl wurden auch in der frühen Neuzeit wieder aufgegriffen. Sie prägten dabei eine politisch-kulturelle Vorstellungswelt, die heute der Denkströmung eines ›klassischen Republikanismus‹ zugerechnet wird. Mit diesem Begriff wird zugleich eine Deutungslinie identifiziert, welche das partizipatorische Bürgerideal der Gegenwart bis ins republikanische Florenz der Renaissance zurückverfolgt. Insbesondere die Werke von Hans Baron und John G. A. Pocock waren für die Entstehung dieser Interpretation zentral. Während Baron die Formierung des Typus eines engagierten und politisch verantwortlichen Stadtbürgers auf die Wende vom 14. zum 15. Jahrhundert datierte und dabei nicht zuletzt aus der politischen Konstellation der Zeit – der Bedrohung der Unabhängigkeit Florenz durch die aggressive Expansionspolitik des Herzogs von Mailand – heraus erklärte, ging es Pocock vor allem darum, zu zeigen, wie das humanistisch-republikanische Bürgerideal bei Nicolo Machiavelli, Leonardo Bruni oder Francesco Guicciardini unter Vermittlung von James Harrington über die politischen Diskurse im England des 17. und 18. Jahrhunderts bis in die neue Welt, zu den amerikanischen Founding Fathers vermittelt wurde.66 Folgt man Baron, Pocock und anderen, dann hatten offensichtlich bereits an der Schwelle zwischen Spätmittelalter und früher Neuzeit humanistische Denker unter explizitem Verweis auf die historischen Vorbilder der griechischen und römischen Antike einen normativ gehaltvollen Bürgerbegriff entwickelt. Sie hatten den monarchischen Herrschaftsordnungen ihrer Zeit damit die Perspektive einer sich selbst regierenden Bürgerschaft als einzige »dem vernünftigen Menschen angemessene Ordnung des Politischen« entgegengestellt und mit konkreten Vorstellungen ihrer institutionellen Ausgestaltung, wie Gesetzesherrschaft, Mischverfassung und magistratischer Amtsführung, verknüpft.67 Ein typisches Kennzeichen klassisch-republikanischen Denkens bestand dabei auch in einer spezifischen politischen Sprache, welche mit Hilfe von Gegenbegriffen wie ›Tugend‹ (virtus) und ›Korruption‹ (corruptio) auf die stets gefährdete Stabilität eines bürgerlichen Gemeinwesens verwies. Die republikanischen Denker der Neuzeit teilten hier die Vermutung, dass gerade »die Tugend der Bürger« nicht aber »ihre Folgebereitschaft gegenüber den Herrschenden oder die Kalkülrationalität ihrer Interessenverfolgung« dafür entscheidend ist.68
Zur Bestimmung ›guten Bürgerseins‹ griffen jedoch auch die frühneuzeitlichen Vertreter eines classical republicanism auf eine scharfe Abgrenzung zum Ökonomischen, zu wirtschaftlichem Erwerbshandeln und Reichtum zurück.69 Auch im 14. und 15. Jahrhundert war mit der Semantik von Bürgerengagement, Tugend und Gemeinwohl in der Regel die Mahnung verbunden, dass ein unkontrolliertes ökonomisches Gewinnstreben, eine übermäßige Verfolgung ›egoistischer‹ Wirtschaftsinteressen unweigerlich die politisch-moralischen Grundlagen eines bürgerlichen Gemeinwesens zerstören und zu Korruption, Instabilität und Unfreiheit führen musste. Begründet wurde dies nicht zuletzt mit dem Verweis auf die Antike. So glaubte Machiavelli, dass sowohl die legendäre Macht Athens, als auch die spätere Größe Roms hauptsächlich darauf zurückzuführen waren, dass in beiden Bürgerschaften die Orientierung auf den gemeinschaftlichen Nutzen einen deutlichen Vorrang gegenüber dem Wohl eines Einzelnen genossen hatte. Alles, was dort politisch geschah, so Machiavelli, diente dem Gemeinwohl, »auch wenn es zum Schaden dieses oder jenes Privatmannes ausschlagen sollte«.70 Zur Würdigung dieses antiken Bürgersinns wurde von Leonardo Bruni gar die Totenrede des Perikles adaptiert und zu einer Lobeshymne auf die angeblich ähnlich gelagerte Liebe der Florentiner zu ihrer Vaterstadt umgewandelt.71 Anstatt den irdischen Genüssen nachzugehen, so schrieb wiederum Guarino da Verona an die wohlhabenden Bürger seiner Stadt, sollte man sich an Solon ein Beispiel nehmen, »der den Reichen gesagt hatte, wahrhaft ›reich‹ sei der Weise, denn Weisheit sei ein dauerhafteres Gut als materieller Besitz. ›Verachtung des Reichtums‹ sei das Zeichen für wahre sapientia, Herzensgröße und Mut«.72
Den vielleicht wichtigsten historischen Bezugspunkt der frühneuzeitlichen Verfechter eines normativen Bürgerideals lieferte aber die Beschäftigung mit dem Untergang der römischen Republik und mit der Frage, wie es dazu kommen konnte, dass die einstmals für ihre herausragende Tugend bekannten Römer sich schließlich der despotischen Alleinherrschaft eines Mannes unterwerfen konnten. Unter dem Eindruck der Berichte antiker Historiker schien ein Teil der Antwort auf diese Frage darin zu bestehen, dass das Ende der Republik offensichtlich mit der damaligen Verbreitung von Luxus und Erwerbsstreben sowie der daraus folgenden moralischen Dekadenz im Zusammenhang stand. Eine durch Sallust überlieferte und im 13. und 14. Jahrhundert immer wieder zitierte Klage des jüngeren Marcus Porcius Cato lieferte für diese These beliebte Anknüpfungspunkte: Statt Strebsamkeit, Gerechtigkeit und Freiheitsliebe hatten demnach Genusssucht und Raffgier, im Gemeinwesen Armut, im Privatbereich Wohlstand das spätrepublikanische Rom dominiert: »Wir loben den Reichtum, ergeben uns aber dem Nichtstun, zwischen Guten und Schlechten gibt es keinen Unterschied, allen Lohn für Tüchtigkeit kassiert der Ehrgeiz ein.«73
Die Vorstellung, dass die Freiheit der Römer letztlich am Kommerz sowie dem dadurch ausgelösten Verfall ihrer guten Sitten zugrunde gegangen sei, prägte zutiefst das neuzeitliche Verständnis über die Voraussetzungen und Bedrohungen einer bürgerlich-republikanischen Herrschaftsordnung. Noch Mitte des 18. Jahrhunderts beschrieb Charles L. S. de Montesquieu in seiner Schrift über die Ursachen der Größe der Römer und ihres Verfalls, wie das antike Rom einst auf der selbstlosen Gemeinwohlorientierung seiner Bürger – auf Tugenden wie Bescheidenheit, Fleiß und Unbestechlichkeit – gebaut worden war, diese Tugenden durch Luxus und ökonomisches Vorteilsdenken aber schließlich verdorben wurden. Am Ende der Republik, so Montesquieu, waren die Römer im Streben nach Reichtum »zu jedem Anschlag bereit« und sahen »eine Generation von Menschen, die weder Vermögen hatten, noch dulden wollten, dass andere solches besaßen«.74
Eine Rückkehr zu den alten Ordnungs- und Wertvorstellungen, eine Wiederbelebung jenes ursprünglich-unverdorbenen Bürgersinns der Antike schien Montesquieu allerdings kaum möglich – erst recht nicht in der Neuzeit, wofür er auch wirtschaftliche Entwicklungen verantwortlich machte. Fortschreitende Arbeitsteilung, Spezialisierung und Vernetzung, die beginnende Industrialisierung, aber auch die Entfaltung des Commerce als zentrales Thema politischer Diskurse: vor diesem Hintergrund war die Pflege klassischer Bürgertugenden im Zeitalter der Aufklärung kaum mehr mit der Realität wirtschaftlichen Handelns in Einklang zu bringen. Obwohl der Commerce die öffentliche Moral aus seiner Sicht auch positiv beeinflussen konnte, schien es Montesquieu doch offensichtlich, dass »in den Ländern, wo man nur vom Handelsgeist beseelt ist, auch mit allen menschlichen Handlungen und allen sittlichen Tugenden Handel getrieben wird: selbst die kleinsten Dinge, die die Menschlichkeit gebietet, werden dort nur gegen Geld getan oder gewährt«.75 Auf den Verfall bürgerlicher Tugenden aber schien unweigerlich die Erosion der sozialen Bindekräfte und eine Auflösung des gesellschaftlichen Zusammenhaltes zu folgen. »In den handeltreibenden Ländern«, so argumentierte Mitte des 18. Jahrhunderts auch Adam Smith, pflegten bereits die Mitglieder derselben Familie »naturgemäß sich zu trennen und zu zerstreuen, wie eigener Vorteil oder Neigung sie eben bestimmen mögen«.76
Die politisch-moralischen Folgen der ökonomischen Entwicklung hatte zuvor bereits Giambattista Vico in deutlichen Worten geschildert. Die durch Erwerbsstreben, Kommerz und Luxus ›verfeinerten‹ Bürger waren aus seiner Sicht von »reflektierter Bösartigkeit«, Abstumpfung und ›Verblödung‹ geprägt. Wie wilde Tiere würden sich die Menschen daran gewöhnen, »an nichts anderes zu denken als an den besonderen Vorteil eines jeden«.77 Weniger drastisch beschrieb hingegen Adam Ferguson in seinem 1767 erschienenen Essay on the History of Civil Society die wachsende Unvereinbarkeit von moralischer Bürgerkompetenz und entstehender Commercial Society. Die Ausbreitung des wirtschaftlichen Erwerbsgeistes, so Ferguson, dränge die ›zivilisierten‹ politischen Gemeinwesen der Gegenwart schlicht und ergreifend dazu, dass sie »ähnlich wie eine Handelskompagnie, an nichts anderes denken, als an die Vergrößerung ihres Kapitals«, und »dass sie ihre Versammlungen abhalten, nur um über Gewinn und Verlust zu beraten«. Anstatt für ihr Gemeinwesen einzustehen, würden die modernen Bürger lieber ihrem Eigeninteresse folgen und »ganz wie die Kaufleute ihren Schutz einer Gewalt anvertrauen, die sie selbst nicht besitzen«.78
Im Umfeld der beiden großen ›atlantischen‹ Revolutionen des 18. Jahrhunderts rückte die Semantik von Bürgersinn, Tugend und Gemeinwohl dann abermals ins Zentrum politischer Debatten. In Frankreich geschah dies unter anderem durch die Schriften Jean-Jacques Rousseaus, der den idealen Bürger als überzeugten Verfechter des Gemeinwohls darstellte.79 Im amerikanischen Verfassungsdiskurs galt die Tugend der Bürger ebenfalls als zentraler ›Grundpfeiler‹ der zu schaffenden freiheitlichen Ordnung, die Stiftung dieser public virtue als vornehmliche Aufgabe der neuen constitution.80 So unterschiedliche politische Denker wie Thomas Jefferson, John Adams und selbst Thomas Paine, der sich nie das klassisch republikanische Ideal eines autonomen Bürgers im Dienste des Gemeinwesens zu eigen gemacht hatte, kamen hier übereinstimmend zu der Ansicht, dass die Menschen in der modernen commercial society eine neue Form ›bürgerlichen Gemeinsinns‹ entwickeln mussten, um ihre Freiheit nicht zu verlieren.81 Deren Bestand sahen spätere Beobachter wie Alexis de Tocqueville nicht nur durch die Entfaltung von Handel und Erwerbsstreben, sondern auch durch einen neuartigen Individualismus bedroht – ein sich in der amerikanischen Gesellschaft allmählich ausbreitendes, »überlegendes und friedfertiges Gefühl, das jeden Bürger drängt, sich von der Masse der Mitmenschen fernzuhalten«, mit »seiner Familie und seinen Freunden abzusondern« und in eine Form mentaler Vereinzelung zurückzuziehen, »in dem jede öffentliche Tugend erstickt wird«.82
Doch nicht nur die Sorge um den Verlust klassischer Bürgertugenden, sondern auch der Glaube an deren tendenzielle Unvereinbarkeit mit Kommerz, Reichtum und industrieller Produktion war Mitte des 18. Jahrhunderts in Nordamerika verbreitet, wo viele der englischen Siedlungsgemeinschaften seit ihrer Gründung unterschiedliche Formen bürgerlicher Selbstverwaltung praktiziert und mit eher traditionellen Lebensmodellen kombiniert hatten. Ein übermäßiges wirtschaftliches Gewinnstreben, so fasste Thomas Paine die Sicht vieler Siedler zusammen, verderbe den public spirit der Bürger und untergrabe ihren Willen, sich für die Belange der Gemeinschaft einzusetzen. Als bestes Beispiel für diese Dynamik galt England, wo laut Paine Ehre und Ehrlichkeit nichts mehr galten und inzwischen sogar die Religion dem Streben nach Luxus geopfert wurde.83 Nach dem Willen Thomas Jeffersons sollte das Wirtschaftsmodell der neuen amerikanischen Union deshalb nicht auf Handel und Industrie aufbauen, sondern sich am klassischen Ideal einer agrarisch geprägten Republik selbstständiger Landbesitzer orientieren.84 Noch zum Ende des 20. Jahrhundert wurde die Gründung der Vereinigten Staaten in diesem Sinne als Erbe einer bis in die Antike zurückreichenden Tradition republikanischen Ordnungsdenkens gedeutet – als »last act of the civic Renaissance«, bevor Liberalismus, Ökonomisierung und Industrialisierung das Ende der Ära ›klassischer Politik‹ herbeigeführt hatten.85
Tatsächlich nahm der Niedergang des klassischen politischen Denkens und seiner begrifflichen Kategorien, der schrittweise Bedeutungsverlust der Idee eines mündigen, engagierten und tugendhaften Bürgers bereits zum Ende des Mittelalters seinen Ausgang. Weite Teile der politischen Ideengeschichte gehen dabei heute von einem radikalen Bruch zwischen Antike und Neuzeit aus – ein Bruch, bei dem die ursprüngliche Trennung von Wirtschaftsakteur und Bürger, Oikos und Polis, Eigennutz- und Gemeinwohlorientierung schließlich aufgehoben, die Bedeutung notwendiger Bürgerkompetenz zugleich in den Hintergrund gedrängt wurde.86