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Sie werden ihr Ziel niemals erreichen: Reichtum und Glück. Da können sie noch so lange zu San Antonio beten, dem Heiligen des Unmöglichen. Denn sie sind Immigranten. Das Brüderduo Tito und Paul Andino schlägt sich gemeinsam in New York als Illegale durch. Sie arbeiten für einen mexikanischen Lieferservice und tragen Burritos und Chili-Tacos aus. Vor allem aber lieben sie die mysteriöse Kristin. Arnon Grünberg zieht den Leser mit hinein in eine Welt der Illusionen und der Hoffnung wider alle Hoffnung. Ein Gefühlskarussell, bei dem einem das Lachen im Hals steckenbleibt, während man die Tränen nur mit Mühe zurückhält.
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Seitenzahl: 151
Arnon Grünberg
Aus dem Niederländischen von Rainer Kersten. Mit einer Anmerkung des Autors
Diogenes
Forget it, Jake, it’s Chinatown.
Chinatown
Wenn ich eine Erfindung bin,
dann bin ich die beste Erfindung von der Welt.
nach Astrid Lindgren,
Karlsson vom Dach
Das hier sind die ersten Worte, die wir auf englisch schreiben. Wir haben natürlich schon viel mehr geschrieben, aber immer in unserer eigenen Sprache, und die können nicht genug Leute lesen. Zumindest nicht die, von denen wir gelesen werden möchten. Dabei denken wir zum Beispiel an Kristin, die Kroatin. Aber wir möchten auch noch von anderen Leuten gelesen werden. Soll niemand denken, wir schreiben das hier alles nur für Kristin, denn das stimmt nicht.
Auch auf englisch haben wir natürlich schon öfter geschrieben, Aufsätze, in denen du mindestens zehn schwierige Wörter aus der letzten Stunde benutzen mußt, Aufzählungen von unregelmäßigen Verben, Geschichten über berühmte Leute aus unserer Heimat – immer wieder Geschichten über berühmte Leute aus unserer Heimat. Die du dann drei Tage später mit roten Strichen unter den falschen Präpositionen zurückbekommst. Gehören abgeschafft, diese Präpositionen.
Das ist aber das erste Mal, daß wir was Richtiges auf englisch schreiben. Dies ist keine Geschichte über einen berühmten Menschen aus unserer Heimat, keine Aufzählung von unregelmäßigen Verben und auch kein Aufsatz mit zehn schwierigen Wörtern aus der letzten Unterrichtsstunde.
Wir möchten so reden können, daß keiner mehr fragt: »Wo kommt ihr her?« oder »Wie lang seid ihr schon hier?« Wir wollen nicht mehr über die Aussprache stolpern. Darum schreiben wir. Beim Schreiben kann man nicht über schwierige Laute stolpern. Du kannst Vergangenheits- und Zukunftsform durcheinanderwerfen, eine Präposition benutzen, wo eine andere hingehört, du kannst ein Verb falsch konjugieren, aber du kannst nicht über die Aussprache stolpern. Eine Stimme auf Papier hat keine Brotkrümel im Mundwinkel, ihr kann nichts aus Versehen beim Essen rausrutschen, und niemand sieht, daß du schlecht rasiert bist, oder starrt dir auf die Zähne. So richtig unverschämt.
Unsere Zähne sind unser wunder Punkt. Wir haben noch mehr, aber die Zähne springen am meisten ins Auge. Lange haben wir unsere Zähne überhaupt nicht geputzt. Wir hatten Wichtigeres zu tun. Wir hatten nicht mal eine Zahnbürste. Und keine Zahnpasta. Wenn man kaum genug Geld für Brot hat, rennt man nicht in den Supermarkt, um Zahnpasta zu kaufen.
Der Lastwagenfahrer sagte, daß es Frauen nicht auf die Zähne ankommt, sondern darauf, ob Gott dich als Mann gut bestückt hat. Und Gott hat uns gut bestückt, Mann. Hat er echt getan. Das ist wieder der Nachteil von Papier, daß man nicht zeigen kann, wie gut man bestückt ist. Du kannst zum Beispiel auch nicht die Hände in die Hosentaschen stecken und langsam die Straße entlangschlendern, und wenn dann eine schöne Frau vorbeikommt, drehst du dich um und kickst ein Steinchen.
Es gibt viele schöne Frauen auf der Welt. Das hat Gott so gemacht. Die schönen Frauen werden häßlich, und das macht der Teufel. So haben sie uns das bei uns im Dorf beigebracht. Der Teufel verwandelt alles Schöne in etwas Häßliches und alles Lebendige in etwas Totes. Alles, was glänzt, wird stumpf, wenn der Teufel es berührt.
Wir sind Paul und Tito Andino. Paul ist achtzehn, Tito neunzehn. Unsere Mutter heißt Raffaella Andino. Wir wurden in einem kleinen Dorf geboren. Man hat uns über die Grenze geschmuggelt, und wir haben vier Jahre gebraucht, die Schlepper abzubezahlen. Von unserem Vater wissen wir nicht viel. Unsere Mutter will davon nichts wissen, oder sie redet darum herum oder schaut schweigend aus dem Fenster und hört Musik – aber unser Vater war trotzdem ein Strauchdieb. Darum haben sie ihn ab und zu verprügelt, denn Strauchdiebe mögen die Leute nicht. Manchmal hat er das auch mit uns gemacht und manchmal sogar mit Raffaella, denn wenn man oft verprügelt wird, will man das irgendwann auch selbst mal tun. Eines Nachts brach er bei einem Mann ein, der einen Knüppel aus Eukalyptusholz neben dem Bett liegen hatte. Der Mann wurde sehr wütend. Er schlug unserem Vater mit dem Knüppel den Schädel ein. Das war der traurigste Tag in unserem Leben. Tito war neun, fast zehn.
Raffaella heulte und heulte, denn unser Vater war die Liebe ihres Lebens. Auf der Beerdigung sagte sie, die Liebe sei eine herrliche Blüte, aber auch ein brennender Stachel. Wir sagten nichts. Sie hatten uns in feine Anzüge gesteckt. Der Mann, der unseren Vater mit dem Eukalyptusknüppel erschlagen hatte, war auch da, sagte aber auch keinen Ton.
Die Leute, die unseren Vater gekannt hatten, erinnerten sich daran, wie gern er immer Maisschnaps getrunken hatte. Darum tranken sie Maisschnaps zu seinem Gedenken. Der Schnaps war in roten und gelben Kanistern. Wir mußten auch davon trinken. Am Ende der Beerdigung waren alle betrunken. Alleinstehende Männer machten Raffaella die Aufwartung, obwohl sie das gar nicht wollte. Natürlich waren auch welche dabei, die gar nicht alleinstehend waren und sich trotzdem vorstellten. Männer machen keinen Unterschied, ob sie alleinstehend sind oder nicht, sagt Raffaella.
Uns macht es nichts aus, daß unser Vater ein Strauchdieb war. Ihm blieb nichts anderes übrig, er mußte uns ernähren. Sie haben den Mann mit dem Knüppel gefragt, warum er immer weiter schlug, auch als unser Vater schon auf dem Boden lag und sich nicht mehr rührte. Er sagte, er habe nur noch rotgesehen. Er war in dem Jahr schon viermal bestohlen worden.
Im Moment, da wir dies schreiben, sind wir sechs Jahre, vier Monate, zwei Wochen und einen Tag in Amerika.
Unsere Mutter ist Kellnerin. Sie war sehr jung, als sie uns bekam, darum ist sie immer noch schön. Wenn sie nicht unsere Mutter wäre, könnten wir uns in sie verlieben.
Raffaella sagt immer: »Früher oder später gibt jeder Mann einem das Gefühl, dumm, streitsüchtig und häßlich zu sein. Am Anfang natürlich nicht, aber irgendwann läuft’s doch wieder darauf hinaus.«
So was können wir nicht verstehen. Wenn wir eine Frau lieben würden, würden wir alles dafür tun, daß sie sich nett, intelligent und schön fühlt. Ja, echt, Mann. Wenn wir eine Frau lieben, drehen wir uns langsam um und kicken ein Steinchen, daß es ihre Beine trifft. Und wenn sie dann guckt, rufen wir: »Gehst du mit uns spazieren, Süße?« Das ist unser Trick. Er hat noch nicht funktioniert. Aber man muß Geduld haben, sagt Raffaella. Auch wenn sie damit nicht unseren Steinchen-Trick meint.
Wir sind oft auf der Straße, denn die Wohnung ist klein, und unsere Mutter braucht sehr viel Platz. Nicht, daß sie dick wäre, das nicht, aber wenn sie zu Hause ist, ist die Wohnung immer irgendwie total voll. In der Nähe von unserem Mietshaus ist ein Spielplatz. Ein Klettergerüst, ein würmerverseuchter Sandkasten und eine verrostete Wippe. Darum herum vier Bänke. Manchmal sitzen Mütter mit Kindern darauf. Dort rauchen wir unsere Zigaretten und reden über das Leben. Das Leben danach. Wenn wir kein Essen mehr ausfahren müssen. Das richtige Leben.
Zu Titos neunzehntem Geburtstag hat Raffaella ihm eine Sonnenbrille geschenkt und Paul versprochen, daß er zum neunzehnten auch so eine bekommt. Bis dahin teilen wir uns die Brille. Am einen Tag darf Paul sie tragen, am anderen Tito. Wir gehen immer mit Sonnenbrille auf die Straße, auch bei Regen. Wenn man uns schlägt, schlagen wir zurück. Manchmal rennen wir natürlich auch weg. Einmal haben sie Tito büschelweise die Haare ausgerissen. Vier Mädchen. Sie sind auf ihn draufgesprungen und haben ihn alle gleichzeitig an den Haaren gezogen. Paul konnte nichts machen, sie waren zu viert. Er hatte sich hinter einem Baum versteckt. Wir sind klein, aber Gott hat uns gut bestückt, und wir haben breite Schultern. Die Sache ist nur: Mit Mädchen kämpft man nicht.
Tito hatte gerufen: »Unter euren Röcken habt ihr bestimmt nichts an.« Das gibt’s, echt. Manche Frauen gehen auf die Straße ohne was drunter. Da riefen sie: »Komm doch her, dann siehst du, ob wir unterm Rock was anhaben.«
Wir kamen langsam näher. Als wir kurz vor ihnen waren, haben sich alle vier gleichzeitig auf Tito gestürzt und ihm die Haare ausgerissen. Wütend waren sie. Wegen nichts. Sie riefen auch noch: »Fickt eure Mutter, ihr Dreckschweine.«
Sie haben keine Manieren, bei uns in der Straße.
Unser Vater war für Raffaella die Liebe ihres Lebens. Doch ihre große Liebe war ein Dieb. Die große Liebe bleibt die große Liebe, auch wenn sie dich verprügelt und alles stiehlt, was nicht niet- und nagelfest ist. Die große Liebe ist stärker als jede Tracht Prügel. Raffaella sagt, es gibt nur eine große Liebe im Leben, danach sind alle anderen nur Kopien dieser einen. Und je älter man wird, desto schlechter die Kopie.
Unsere Mutter hat viele Verehrer. Sie ist nicht alt und doch weise. So sagt sie zum Beispiel, daß wir alles tun müssen, um später mal an eine Wohnung mit Badezimmer und sauberer Toilette zu kommen. Sie erwartet nicht, daß wir zum Mond fliegen oder Rechtsanwalt werden, nur daß wir an eine Wohnung mit eigenem Badezimmer und funktionierender Toilette kommen. Sie weiß, wie es ist, eine Wohnung ohne Klo zu bewohnen, und wir wissen es auch. Außerdem sagt sie, im Leben jedes Mannes gibt es eine Frau, die alles an ihm verkorkst hat. Und daß das für Frauen umgekehrt wahrscheinlich genauso gilt, aber darüber sollte man lieber nicht zuviel nachdenken.
In anderen Dingen ist sie wieder überhaupt nicht weise. Dann nimmt sie zum Beispiel Verehrer nach Hause mit. Verheiratete Verehrer, welche mit festen Freundinnen, Verehrer, die ratzeputz kahl sind, und welche, die dicke Zigarren rauchen. Haben wir alles schon da gehabt, Mann!
Die Kroatin kennen wir aus dem Englischunterricht. Sie haben wir natürlich nie mit nach Hause genommen.
Unsere Mutter nennen wir fast immer Raffaella, weil sie noch so jung und so schön ist. »Mama« nennen wir sie nur, wenn sie uns geschlagen hat, uns unsere Zigaretten abnimmt – wo sie selber raucht! – oder wenn sie fünf Minuten hintereinander flucht, weil wir angeblich auf die Klobrille gepißt haben. Fünf Minuten fluchen wegen ein paar Pißspritzern! Tito meint, das ist ein Zeichen beginnenden Wahnsinns.
Wir wollen uns was ausdenken, wie wir steinreich werden können. Einen genialen Plan. Den wir geheimhalten müssen. Damit niemand ihn uns stiehlt.
Hört auf unsere Worte: Irgendwann wohnen wir in einer Villa mit Aussicht aufs Meer. Und einem Garten, so groß, daß man sich drin verlaufen kann und verhungern.
Von sechs bis elf oder zwölf Uhr abends liefern wir Leuten Essen ins Haus. Wir haben damit angefangen, kurz nachdem wir nach Amerika kamen, denn Raffaella verdiente nicht genug. Sie sagte, sie wüßte einen Job für uns. Sie nahm uns mit und stellte uns dem Chef eines mexikanischen Restaurants mit Take-away und Lieferservice vor.
»Das sind meine Söhne«, sagte sie. »Sie sind gescheit und können hart arbeiten.« Der Chef des mexikanischen Restaurants ist nicht gescheit und kann auch nicht hart arbeiten, darum braucht er Leute, die das für ihn erledigen.
Wir bringen den Leuten das Essen mit dem Fahrrad. Tito hat ein Mountainbike und Paul so ein altmodisches Ding mit Rücktrittbremse. Während wir unsere Mahlzeiten liefern, hängen wir uns die Kettenschlösser über die Schulter. Damit wir bei Angriffen, wenn sie uns das Geld abnehmen wollen, wie die Wilden damit um uns schlagen können.
Zwischen acht und zehn ist Hochbetrieb. Dann liefern wir zusammen so etwa vierzig Mahlzeiten. Wir haben unsere festen Kunden. Zum Beispiel die Dame mit Hut. Sie ißt jeden Tag das gleiche. Und immer vor dem Fernseher. Sie sagt: »Der Fernseher ist mein Kamerad.« Darum antwortet sie auch, wenn der Fernseher zu ihr redet.
Seit zwei Jahren haben wir jeden Mittag von zwölf bis zwei Englischunterricht, außer am Wochenende. Mister Berman sagt, wir bräuchten noch ein paar Jahre, um perfekt Englisch zu sprechen. Wir sind sehr wißbegierig. Mister Berman sagt immer: »Was sind die Brüder Andino doch für wißbegierige Bürschchen.« Das finden wir natürlich nicht so toll, wenn Mister Berman uns »wißbegierige Bürschchen« nennt, während die Kroatin danebensitzt.
Am Anfang konnten wir auf englisch nur fluchen. Wir wollen aber auf englisch auch lieben können. Darum sind wir so wißbegierig, aber davon weiß Mister Berman nichts. Wir wollen alles auf englisch können.
Beten tun wir in unserer eigenen Sprache. Wir beten nicht aus einem Buch, wir sprechen mit unserem Vater. Gott wird seinen Kopf ja mittlerweile geheilt haben. Wir bitten ihn, zu Gott zu gehen und ihm zu sagen: »Schau, da unten sind Raffaella, Paul und Tito. Das sind meine Frau und meine zwei Söhne. Raffaella ist die schönste und liebste Frau der Welt, und Paul und Tito sind die besten Söhne, die man sich wünschen kann. Und darum möchte ich dich bitten, auf sie aufzupassen, denn ich kann das nicht mehr. Beschütze sie, und wirf ihnen etwas Geld durchs Fenster. Damit Raffaella nicht mehr sechs Tage pro Woche im Coffee-Shop arbeiten muß.«
So kam die Kroatin in unsere Klasse: Sie trug einen Rock und hohe Absätze. Sie setzte sich auf den Stuhl bei der Tür und schaute stur geradeaus.
Man hat uns einen Ausdruck beigebracht: »Der kommt frisch vom Boot.« Das bedeutet, daß man ganz neu in Amerika ist. Nun, sie sah aus, als käme sie direkt vom Boot, von einem ganz seltsamen sogar.
Wir setzten uns neben sie und fragten, wo sie herkam.
»Aus Europa«, sagte sie. »Langt euch das?«
Wir schüttelten den Kopf. Dann sagte sie: »Hört auf, mich so anzubaggern.«
»Wo kommst du denn her«, fragte Tito, »wo baggern wir dich denn an?«
»Ich kenne die Männer«, sagte sie. »Glaub mir. Ich kenn sie.« Und sie schaute ganz von oben herab. Wie eine Prinzessin. Aber wir ließen uns nichts vormachen.
»Wie alt bist du?« wollte Tito wissen.
»Neunzehn«, sagte sie.
Tito sagte: »Du bist nicht neunzehn. Du schaust so durchtrieben, so schaut niemand mit neunzehn. Du bist raf-fi-niert.« Das Wort hatten wir gerade gelernt. Ein schönes Wort.
Sie zuckte die Achseln. »Dann glaubt ihr’s mir eben nicht.«
In dem Moment kam Mister Berman mit seiner Cola light in die Klasse. Er trinkt immer Cola light, denn er hat Angst, dick zu werden.
Im Lift abwärts, nach dem Kurs, faßte die Kroatin Tito plötzlich an die Schulter.
»Wart draußen vor dem Ausgang auf mich«, flüsterte sie.
Wir warteten. Fünf Minuten. Dann kam sie. Mit ihrer Tasche. Echt so’n Monstrum, Mann. Sie holte einen Wisch heraus und hielt ihn Tito unter die Nase.
»Hier«, sagte sie.
Es war ein Führerschein. »Geboren: 1978« stand darauf.
»Na ja«, sagte Tito, »vielleicht bist du wirklich neunzehn.«
»Ist das hier beamtlich oder nicht?« fragte sie. »Na?« Dann steckte sie den Führerschein sorgfältig wieder ein.
Tito zuckte die Schultern.
»Eben erst gemacht«, sagte sie. Sie schaute uns an. Sie sah eingebildet aus, aber auch ängstlich. Und ein klein wenig stolz.
»Wollen wir ’nen Kaffee zusammen trinken?« fragte Tito.
Sie schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte sie, »ich hab einen festen Freund, aber danke für das Angebot.« Dann ging sie, ohne sich noch mal umzudrehen.
»Die ist nicht neunzehn«, sagte Tito.
Aber Paul sagte: »Vielleicht doch, vielleicht gibt es Frauen von neunzehn, die so sind wie sie.«
Wir hatten an dem Tag frei. Manchmal holen wir dann Raffaella im Coffee-Shop ab, an dem Tag hatten wir aber keine Lust. Wir nahmen die U-Bahn nach Hause. Sie braucht vierzig Minuten. In der U-Bahn schlafen wir immer. Wir können im Stehen schlafen, selbst wenn wir nur ein Auge zumachen.
Wenn Raffaella nach Hause kommt, klagt sie oft über müde Beine. Weil sie so viel rennen und laufen muß. Rennen und laufen, so verrinnen die Tage, sagt sie. Wenn sie einen Verehrer mit nach Hause nimmt, klagt sie natürlich nicht über müde Beine. Das geht nicht. Von müden Beinen wollen Verehrer nichts wissen. Dann sind sie gleich wieder weg.
Raffaella hat viele feste Kunden. Sie weiß, was sie essen und trinken. Und die festen Kunden sagen Sachen wie: »Raffaella, mein Mäuschen«, oder »Raffaella, wenn ich dich bei mir zu Hause hätte …« Doch sie antwortet nie. Sie lächelt nur.
Raffaella bekommt oft Geschenke. Ohrringe, Armbänder, Blumen, Vasen, Bücher. Einmal hat sie sogar einen Garderobenständer bekommen. Von einem Tischler. Der kam mit dem Ding auf dem Rücken in den Coffee-Shop.
»Ein Garderobenständer für meine Raffaella«, sagte er, »ein Garderobenständer, damit du den Regenmantel nicht mehr ins Badezimmer hängen mußt. Kein echter Haushalt ohne Garderobenständer.« Offenbar hatte sie ihm irgendwann anvertraut, daß wir keinen Garderobenständer haben. Wir würden uns eher die Zunge abbeißen, als jemandem so was zu erzählen.
Manchmal nimmt Raffaella einen Verehrer mit nach Hause. Nicht sehr oft, aber zu oft für unseren Geschmack. Für uns ist jeder Verehrer einer zuviel.
Ab und zu fährt sie mit einem Verehrer übers Wochenende in sein Sommerhaus auf Long Island, oder wo er sein Sommerhaus sonst eben hat.
Einmal, an einem Sonntagabend, kam sie von so einem Wochenendtrip zurück. Es war beinahe Herbst. Sie setzte sich an den Tisch, ohne Licht zu machen, und steckte sich eine Zigarette an.
»Und, wie war’s?« fragte Tito.
Sie nickte ein paarmal, als wäre das eine Frage, die sich mit Nicken beantworten ließ. Dann sagte sie: »Ein bißchen Sex kann nicht schaden.« Dann nickte sie noch einmal.
Normalerweise redet sie nie über Sex, es ist das letzte, worüber sie reden würde. Vom Tod redet sie nie und über Sex eben auch nicht. Weil es Dinge gibt, die man besser ruhenläßt, sagt sie.
Tito sagte: »Komm, wir gehen vor die Tür.« Wir gingen auf den Spielplatz, und Tito holte eine Zigarette aus der Tasche und teilte sie.
»Sie wird langsam verrückt«, sagte er nach einer Weile. »Ist dir das auch aufgefallen?«
»Ja, Mann«, sagte Paul, »ist mir auch aufgefallen.«
Als wir in die Wohnung zurückkamen, war alles dunkel, und noch immer saß Raffaella am Tisch. Sie hörte Musik aus unserer Heimat.
»Wenn wir genug Geld haben, gehen wir zurück«, sagte sie.
Aber wir wollen nicht zurück. Wir wollen hierbleiben und einen amerikanischen Paß und eine Aussprache, an der uns keiner erkennt. Und einen Garten, in dem man sich verlaufen kann, und vor dem Eingang ein großes Schild, auf dem steht: Für Verehrer von Raffaella verboten.
Als wir hier noch ganz neu waren, liefen wir immer im Trainingsanzug und in Turnschuhen herum. Jetzt haben wir beide ein schönes weißes Hemd, das tragen wir an Feiertagen. Dann gehen wir in die Kirche. Gott wacht über uns, wenn Gott