Gnadenfrist - Arnon Grünberg - E-Book

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Arnon Grünberg

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Beschreibung

Jean Baptist Warnke hat nicht nur einen Job als Diplomat, er hält sich auch im Privatleben aus allem diplomatisch heraus. Bis er sich in Lima mit Haut und Haar verliebt. Doch wer ist die Studentin Malena? Eine feurige Liebe, die ungeahnten Zündstoff enthält …

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Arnon Grünberg

Gnadenfrist

Aus dem Niederländischen von Rainer Kersten

Diogenes

Bei einem Botschaftslunch zu Ehren zweier niederländischer Nonnen, die sich seit fünfundzwanzig Jahren für minderjährige Schuhputzer einsetzen, geht Jean Baptist Warnke mit einem Mal auf, daß seine Zufriedenheit schon fast etwas Anstößiges hat. Schöner kann das Leben nicht mehr werden, und das braucht es auch nicht. Er kann sich nicht vorstellen, wie. Obwohl er mit seiner Frau seit acht Jahren zusammenlebt, ist er immer noch in sie verliebt. Er hat zwei Töchter, eine von vier und eine von anderthalb Jahren, die er ebenfalls liebt, und er ist zweiter Mann der Botschaft, mit guten Aussichten, einmal irgendwo erster Mann zu werden. Lima gefällt ihm: ausgezeichnetes Klima, und seine Frau hat nach langem Suchen endlich eine bescheidene Villa gefunden, die all ihren Anforderungen entspricht. Weil sie mit ihrem Juraabschluß nichts anstellen kann – sie hat nicht mal ein cum laude – widmet sie ihre Tage dem Streben nach Schönheit und Perfektion. Anderthalb Jahre hat sie gebraucht, das Haus geschmackvoll einzurichten, allein die Suche nach dem richtigen Toaster nahm drei Wochen in Anspruch. Danach verlegte sie sich aufs Modeschöpfen: Röcke und Kleider, die sie von einem Schneider in Barranco nähen läßt. Die Stoffe kauft sie auf dem Markt, in Begleitung der Haushälterin, denn ihr Spanisch ist rudimentär.

Sie arbeitet viel mit Leder und ist schlank wie eine Gerte. Das weckt bisweilen den Unmut jener Diplomatengattinnen, deren Bäuche und Oberschenkel vom schweren Leben im Ausland massive Proportionen angenommen haben. Bei Empfängen tuschelt man, daß Mevrouw Warnke an einer Eßstörung leide, doch solche Gerüchte erstickt ihr Mann im Keim: »Das ist bei ihr ganz normal«, sagt er, »sie ist so gebaut, es liegt an ihren Knochen.« Warnkes Frau hat leichte Knochen.

Er gehört keiner Religionsgemeinschaft an, doch ab und zu hat er das Bedürfnis, Gott für alle ihm bescherten Glücksgüter zu danken. Glaube ist für ihn etwas Ähnliches wie Vertrauen in den Menschen: eine Frage des Anstands. Er weigert sich, vom Schlechten in seinen Mitmenschen auszugehen, wer das tut, hat nicht richtig hingesehen, findet er. Warnke hat wenig Talent zum Zynismus. Es scheint ihm wahrscheinlich, daß irgendwo ein Regisseur herumläuft, den er mangels besserer Bezeichnung gern »Gott« nennen will. Doch naiv ist er nicht. Vor jedem längeren Spaziergang – er geht gern zu Fuß, vor allem durch Städte – legt er die Armbanduhr ab und nimmt das Portemonnaie aus der Brusttasche.

»Woher nehmen Sie nur die Kraft?« fragt er seine Tischnachbarin, eine der beiden Nonnen, während das Hauptgericht – ziemlich zähes Rindfleisch – aufgetragen wird. »Sich seit fünfundzwanzig Jahren für all die kleinen Schuhputzer einzusetzen?« Beim Aperitif hat sie ihn gebeten, sie Johanna zu nennen.

»Wir sehen das Leid dieser Jungen«, sagt Johanna. »Das gibt uns Kraft.«

Leiden gibt Kraft, das vergessen die meisten. Doch Warnke versteht, was sie meint, er schneidet sein Rindfleisch, wirft einen kurzen Blick auf den Botschafter, der gerade mit der anderen Nonne schäkert, und sagt dann: »Johanna, Menschen wie Sie erhalten diese Welt am Leben.«

Jeder Diplomat gestaltet seine Funktion auf eigene Weise; Warnke macht Menschen Mut. Ob es im ausländischen Gefängnis einsitzende Niederländer sind, Nonnen, die sich seit Jahrzehnten für minderjährige Schuhputzer einsetzen, oder ein Außenminister, der das Gastland besucht – jeder bekommt ein paar ermutigende Worte. Nennen wir’s Trost. So macht man Karriere. Aufmuntern, vertrösten, schweigen und eine gute Intuition für taktische Versöhnungen.

Kurz nach dem Dessert beendet der Botschafter den Lunch. Er wird immer schnell müde und erzählt schon seit Jahren dieselben Witze, wodurch seine Worte einen leicht melancholischen Unterton bekommen haben, den manche Leute für warmherzig und menschlich halten.

Die Nonnen gehen, ihre Auszeichnung in einer Plastiktüte, nach Hause, manchmal kommt die Belohnung für gute Taten noch vor dem Tod, und Warnke zieht sich in sein Büro zurück, wo er eingehend die Fotos seiner beiden Töchter betrachtet und dann für ein paar Sekunden den Blick auf einem Porträt der Königin ruhen läßt.

Warnke sieht jünger aus, als er ist, und ihm ist klar, daß er dafür bezahlt wird, nichts zu tun. Dafür, zwei freundlichen Nonnen bei einem of‌fiziellen Lunch Gesellschaft zu leisten. Auf Cocktailpartys zu erscheinen, niederländische Unternehmer bei ihren Aktivitäten zu beraten – theoretisch, denn praktisch verfügt er über keinerlei Ratschläge von irgendwelchem Wert, nur über ein paar Allgemeinplätze, die er notfalls zu einer halbstündigen Rede auswalzen kann. Dafür, daß er ab und zu einen Landsmann im Gefängnis besucht. Höhepunkte in seiner Karriere, diese Visiten im Gefängnis.

Einmal besuchte Warnke einen jungen Niederländer, der behauptete, von seinen Bewachern gestoßen und geschlagen zu werden. Er hatte ein blaues Auge, und ihm fehlten ein paar Zähne. Nach seinen Worten hatten sie ihm mit dem Hammer die Nase gebrochen. Laut of‌fiziellem Untersuchungsbericht war er die Treppe hinuntergefallen. Die peruanischen Behörden beschuldigten ihn der Unterstützung einer marxistischen Rebellenorganisation. Der Beschuldigte selbst sprach von anthropologischen Forschungen. Warnke machte ihm Mut, wie er das bei vielen anderen schon getan hatte.

»Ich werde eine Beschwerde einreichen«, sagte Warnke. »Sie können auf uns zählen.« Er ließ dem jungen Mann einen Obstkorb da und zwei Edamer Käse. Nach Auf‌fassung des Außenministeriums geht Heimweh durch den Magen. Auch im Gefängnis, gerade dort. Wenn man es recht bedenkt, ist Freiheit vor allem eine Frage richtiger Ernährung.

Zurück in der Botschaft erstattete Warnke seinem Vorgesetzten sofort Bericht, doch der sagte: »Wir haben schon Schwierigkeiten genug, Warnke. Verbrennen wir uns nicht die Finger. Außerdem ist der Junge ’ne ziemlich schräge Type, vergessen Sie das nicht.«

»Sie haben recht«, sagte Warnke und zerriß die Beschwerde, die er sicherheitshalber schon getippt hatte. Der Botschafter hatte schließlich immer recht, das machte ihn auch so melancholisch.

Um das Zerreißen der Beschwerde wiedergutzumachen, ließ Warnke dem jungen Mann ein paar zusätzliche Obstkörbe und Edamer Käse ins Gefängnis schicken.

Ein paar Monate darauf starb der Junge an Herzversagen. Die peruanischen Behörden ließen eine Autopsie durchführen, und tatsächlich: ein eindeutiger Fall von Herzversagen. Der Botschafter schickte der Familie ein Beileidsschreiben, und Warnke gab sich große Mühe bei der Repatriierung der Leiche. Das gehört zu seinen Aufgaben. Wenn Niederländer im Ausland sterben, müssen sie wieder in die Heimat zurückbefördert werden.

Warnke setzt sich an seinen Schreibtisch, er hat Sodbrennen, ein of‌fizieller Lunch schlägt ihm immer auf den Magen.

Sein Vater war ein begabter Mathematiker, der in der Welt der Statistik ziemliches Ansehen genoß, weil er einige für die Caterer der internationalen Fluggesellschaften äußerst nützliche Modelle entworfen hatte. Jedesmal wenn Warnke im Flugzeug eine Mahlzeit zu sich nimmt, muß er an seinen Vater denken. Auch er selbst hatte sich zur Wissenschaft hingezogen gefühlt, doch es funkte nicht zwischen ihm und ihr, und so wandte er sich nach einigen Enttäuschungen der Diplomatie zu. Vor allem aufgrund seines Namens. Jean Baptist Warnke – mit so einem Namen kann man eigentlich nur Diplomat werden.

Das macht ihn nicht bitter, im Gegenteil: es erfüllt ihn mit Dankbarkeit. Er begann seine diplomatische Ausbildung, lernte auf dem Amsterdamer Flughafen seine Frau Catherina kennen, sie verliebten sich. Er arbeitete eine Weile in Den Haag, wurde dann Kulturattaché in Pretoria und ist jetzt zweiter Mann in Lima.

Noch eine Stunde bleibt er an seinem Schreibtisch, in Gedanken versunken, halb schlafend, dann steht er auf und schlendert zum Café El Corner, ein paar Straßen weiter, wo fast immer eine kaum zwei Wochen alte Newsweek herumliegt.

Die Umgebung der Botschaft gefällt ihm: Villen mit Gärtnern, ein kleiner Park, viele Autowerkstätten. Die niederländische Botschaft in Bogotá liegt in einer besseren Gegend, aber nun ja, es wurde nun einmal Lima. Man kann nicht alles haben. Wenigstens verfolgen einen hier kaum Händler, die einem irgendwelches überflüssige Zeug andrehen wollen, wie in der Innenstadt. Er sieht ein, daß Straßenverkauf ein unvermeidliches Phänomen ist, vor allem in solchen Ländern, doch es deprimiert ihn – all der Plunder, der den Besitzer wechselt.

Die Newsweek von vor zwei Wochen ist gerade besetzt, darum starrt er aus dem Fenster und nimmt kleine Schlucke von seinem Kaffee. Es ist neblig, das ist das einzige, was ihn manchmal bedrückt, der Nebel, der den Großteil des Jahres über Lima hängt. Doch besser Nebel als Regen.

Er winkt seinem festen Schuhputzer, einem achtjährigen Jungen, der zusammen mit seiner jüngeren Schwester in dieser Gegend für geputzte Schuhe sorgt. Roberto heißt er. Ein netter Junge; viele Schuhputzer sind halbe Kriminelle, doch Roberto rührt Warnke. Und sei es nur deshalb, weil er, wenn gerade keine Kunden da sind, mit seiner Schwester spielt und für sie immer wieder die Mülleimer nach möglichem Spielzeug durchwühlt. Wenn Warnke das sieht, muß er an seine Töchter denken, Isabelle und Frédérique.

Jeden Tag an der Arbeit hat er tadellose Schuhe; dazu trägt er einen dreiteiligen Anzug. Jedesmal, bevor er sich erhebt, knöpft er sich sorgfältig das Jackett zu, auch wenn er nur zur Toilette muß.

Was für andere die Zigaretten, ist für ihn das Auf- und Zuknöpfen des Anzugs. Er kann es nicht lassen. Catherina macht das nervös, doch Warnkes Tick ist stärker.

Seine Mutter ist leicht senil. Manchmal telefoniert er mit ihr, sie wohnt in einer Seniorenresidenz bei Arnheim, mitten im Wald, frische Luft bekommt sie genug, und ab und zu weiß sie sogar noch, wer er ist. Lang dauern diese Momente nie, doch lang genug, um ihn mit Dankbarkeit zu erfüllen.

Sein Vater lebt nicht mehr, er ist nach einem Vortrag vor Mitgliedern der Nationalen Statistikbehörde vor den Zug gesprungen. Ohne Angabe von Gründen. Of‌fiziell hieß es, er sei gestürzt.

Vor allem Catherina, sie erwartete gerade ihr erstes Kind, war tief verstört. »Warum macht jemand so was?« fragte sie. »Ich fand ihn so nett.«

»Ich weiß es nicht«, sagte Warnke zu seiner lieben Frau, »ich hab keine Ahnung, warum jemand so etwas macht.«

Eigentlich müßte er zur Botschaft zurück, um noch eine halbe Stunde schweigend am Schreibtisch zu sitzen und dann ein Glas Wein mit dem Botschafter zu trinken, der nun einmal die Gewohnheit hat, seinen Arbeitstag mit einer halben Flasche Riesling zu beenden, doch er hat es gerade so gemütlich. Französischer Riesling: Der Botschafter läßt ihn extra einfliegen, denn von chilenischem Chardonnay bekommt er Sodbrennen.

Warnke setzt die Brille ab, reibt sich die Augen und erinnert sich dunkel an einen unangenehmen Traum. Während Roberto ihm die Schuhe bürstet und leise ein Lied singt, hat sich ein Mädchen neben Warnke gesetzt. Obwohl es nicht kalt ist, wärmt sie sich die Hände an einer Tasse Tee, dann nimmt sie ein Buch aus einer grünen Tasche und beginnt zu lesen.

Roberto massiert die Schuhcreme mit den Fingern ins Leder, wovon die Finger eine eigenartige Farbe bekommen haben. Es sind nicht die Finger eines Kindes, sondern eines alten, abgearbeiteten Mannes. Der Schuhputzer bekommt sein Geld, nimmt seine Schwester am Arm und zieht sie aus dem Café. Es gibt keine Kunden mehr.

Warnke merkt, wie das Mädchen neben ihm ihn anstarrt. Er setzt ein sanftes Lächeln auf, rückt die Brille gerade und denkt dann an die beiden Nonnen, die heute ihre Auszeichnung bekommen haben. Das Retten von Seelen ist eine undankbare Aufgabe, vor allem heutzutage, wo die Seele abgeschaff‌t ist. Schade eigentlich, Warnke reizt die Vorstellung einer Seele, die man verkaufen könnte. Er wüßte nicht, wem, doch der Gedanke gefällt ihm.

Bevor er geht, nickt er dem Mädchen kurz und distanziert zu, weil sie ihn immer noch ansieht, es wird an seiner Größe liegen.

Aus einem Etui nimmt er seine Sonnenbrille und setzt sie auf. Dann geht er an die Arbeit zurück. Auf Passanten macht er vermutlich einen distinguierten, doch leicht verwirrten Eindruck: durch seine nervösen Bewegungen, die etwas unpassende Sonnenbrille und weil er immer wieder stehenbleibt, als hätte er etwas vergessen, als wollte er sich umdrehen und irgendwohin zurückkehren. Doch niemand macht sich die Mühe, genau hinzusehen.

Jean Baptist Warnke ist ein Einzelkind, doch nie besonders verwöhnt worden. Maßhalten wurde in seinem Elternhaus großgeschrieben. In der Botschaft trinkt er aus Höf‌lichkeit etwas Riesling. Alkohol bedeutet ihm wenig. Essen ebenfalls, Kaffee dagegen viel, und der Gedanke an Sex kann ab und zu ganz reizvoll sein.

Nachdem er Warnke das zweite Glas eingeschenkt hat, sagt der Botschafter: »Diplomatie ist die Kunst des Möglichen, Warnke. Den Haag versteht das nicht, sie sehen nicht, was möglich ist, weil sie die Praxis nicht kennen.«

»Ja«, sagt Warnke, »Sie haben recht. Den Haag kennt die Praxis nicht.«

Zu Hause legt er sich mit seinen beiden Töchtern in die Badewanne, und nach dem Abendessen bewundert er einen Lederrock, den seine Frau entworfen hat. Sie fragt: »Ob ich auch Taschen machen soll? Was meinst du?« Er kann es nicht leugnen, er ist mit einer außergewöhnlichen Frau verheiratet. Vielleicht hat er mehr bekommen, als er verdient. Seine Frau scheint das ähnlich zu sehen, denn oft sagt sie: »Du darfst dich nicht so an den Rand drängen lassen, du mußt Verantwortung übernehmen.«

Er versucht, mehr Verantwortung zu übernehmen, doch das ist nicht seine Stärke.

Warnke kuschelt sich aufs Sofa, in die Arme seiner Frau, und hat das angenehme Gefühl, nicht viel mehr zum Glück zu brauchen. Catherina fragt: »Was hältst du davon, wenn wir noch ein Kind bekämen, einen Jungen? Das wär auch nett für die Mädchen.« Die Fleischeslust, denkt Warnke, die Gier, und endlich erinnert er sich an seinen unangenehmen Traum.

 

Am folgenden Nachmittag ist die Newsweek im El Corner wieder belegt, notgedrungen nimmt Warnke eine Ausgabe von Cosas, einem peruanischen Lifestylemagazin, in dem er vor allem die Rubrik »Vida Social« studiert. Vor sechs Monaten war ein Foto des niederländischen Botschafters darin abgedruckt. Was dem Botschafter trotz vieler Dienstjahre und Auszeichnungen sehr schmeichelte.

Am frühen Morgen hat Warnke in der Stadt Cuzco ein neues Projekt der Botschaft besucht, das zusammen mit dem niederländischen Kultusministerium gefördert wird. Ein Dokumentationszentrum, das helfen soll, vom Aussterben bedrohte Indianersprachen vor dem Untergang zu bewahren. Er hat einigen Vertretern der einheimischen Bevölkerung die Hand geschüttelt und erklärt, daß die niederländische Regierung alles dafür tun wolle, ihre Sprachen vor dem Untergang zu bewahren. Dafür habe man extra zwei niederländische Akademiker aus Groningen eingeflogen, die full time an den aussterbenden Sprachen arbeiten würden. Die Groninger Universität ist finanziell an dem Projekt beteiligt. Schließlich geht es um Forschung, und wo Forschung ist, ist auch Prestige.

Nach seiner Rede verschenkte er ein paar Delfter Fliesen, und eine Journalistin der Volkskrant fotografierte ihn mit Fliesen und einheimischer Bevölkerung, das Dokumentationszentrum gut sichtbar im Hintergrund.

»Wie viele Sprachen sind eigentlich vom Aussterben bedroht?« fragte die Journalistin noch, während Warnke schon unterwegs zu seinem dunkelblauen Mercedes war. Vorsichtig, um keine Schlammspritzer auf die Hose zu bekommen.

»Zweiundzwanzig«, antwortete Warnke. Zum Glück hatte seine Assistentin ihn gut präpariert. »Wir aus einem kleinen Sprachgebiet haben eine besondere Verantwortung, andere bedrohte Sprachen mit unserem Know-how zu unterstützen.« Er zeigte auf das Dokumentationszentrum, das wie ein moderner Tempel aus der Wildnis emporragte, vor der immer wieder malerischen und ergreifenden Kulisse eines Slums. »Die Infrastruktur der internationalen Zusammenarbeit muß endlich auch die einheimische Bevölkerung erreichen.«

Vom Rücksitz des Mercedes aus winkte er noch kurz den beiden niederländischen Akademikern vor ihren nagelneuen Jeeps mit kugelsicheren Scheiben zu. Gesponsert ebenfalls vom Kultusministerium. Wo Sprachen aussterben, sind leicht auch Menschenopfer zu beklagen.

Dann flog er eilig zurück nach Lima. Von Cuzco aus dauert der Flug kaum eine Stunde, und das ist gut, denn der Botschafter bleibt nicht gern allein. Der Mann ist nicht nur melancholisch, sondern auch ein leichter Hypochonder, und Einsamkeit schürt seine Ängste vor tödlichen Krankheiten, von Prostatakrebs bis Hirnblutung, manchmal jedoch auch nur vor einer ordinären Blutvergiftung.

»Wie war’s?« wollte der Botschafter wissen. »Ist es was geworden, das Dokumentationszentrum? Wir haben uns den Kopf zerbrochen, wie wir’s bezahlbar halten und trotzdem noch ein wenig niederländisches Design drin unterbringen können.«

In der Eingangshalle des sonst eher schlichten Dokumentationszentrums steht die Replik eines klassischen Rietveld-Stuhls.

Warnke ist mit der Zeitschrift fertig, er legt sie beiseite, und weil er am Vormittag hart gearbeitet hat, gönnt er sich noch eine Tasse Kaffee. Roberto putzt ihm die Schuhe, der treue Roberto in seinem ewigen grauen T-Shirt. Warnke könnte sich keinen besseren Schuhputzer wünschen. Am Anfang versuchte er noch manchmal, ein paar Worte mit dem Kind zu wechseln, doch es arbeitet lieber, ohne zu sprechen. Ab und zu singt es leise vor sich hin, sonst wird das Schweigen nicht unterbrochen.

Warnke winkt die Besitzerin des El Corner heran, eine sehr katholische Dame, Maria ist ihr ein und alles. Seit ein paar Monaten ist sie schwarz gekleidet, sie trägt Trauer. Manche Kunden behaupten, sie tue das, um besser auszusehen.

Er betrachtet seine Fingernägel, er muß sie wieder mal feilen, als er aufblickt, sieht er ein Mädchen mit der Newsweek winken.

»Warten Sie hierauf?« fragt sie auf spanisch.

Er will eine abwehrende Geste machen, schließlich muß er in die Botschaft zurück, um ein Glas