Der Herr der Nacht - Paul Rosenhayn - E-Book

Der Herr der Nacht E-Book

Paul Rosenhayn

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Beschreibung

Varietédirektor Lascano ist "Der Herr der Nacht". In der neuen Ausstattungsrevue "Sardanapal" seines Atlantic-Theaters treten die berühmten Tänzerinnen Digha-Digha und, als Aphrodite, Denise Lavallière auf. Dass sie das fast hüllenlos tun, gefällt der sittenstrengeren Berliner Gesellschaft nicht, und so wurde aus Protest gegen das unsittliche Theater von Direktor Lascano der "Verein der Revuegegner" ins Leben gerufen, in dem sich besonders der Bankier Ludwig Mylius, dessen Frau sowie Rudolf Thomany, der Syndikus des Vereins und Verlobter von Mylius' Tochter Magda, hervortun. Dass Mylius den Verein zugleich heimlich finanziert und zudem noch der Geliebte von Denise Lavallière ist, weiß niemand und es darf auch niemand wissen. Die ganze Revuenummer steht und fällt jedoch mit der berühmten "Scheiterhaufenszene", in der die Tänzerinnen von tosenden Flammen umgeben sind, die sie nur dank der Imprägniermasse des Chemikers Doktor Lanz nicht in Brand setzen. Der wiederum erkennt in der gefeierten Tänzerin Digha-Digha seine alte Bekanntschaft Trude Treff wieder und verliebt sich unsterblich in sie; während die Bankierstochter Magda sich quasi wider Willen immer stärker zum undurchschaubaren, aber sympathisch wirkenden "Herrn der Nacht" Lascano hingezogen führt. Noch bevor es dem "Verein der Revuegegner" endgültig gelingt, die Aufführung der Revue zu stoppen, wird der Behälter mit der Imprägniermasse vertauscht, und es kommt zur Katastrophe ... Paul Rosenhayns überaus spannender Roman setzt dem liberalen Berlin der zwanziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts ein eindrucksvolles Denkmal.-

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Der Herr der Nacht

Roman

Paul Rosenhayn

Der Herr der Nacht

© 1927 Paul Rosenhayn

Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen

All rights reserved

ISBN: 9788711592656

1. Ebook-Auflage, 2016

Format: EPUB 3.0

SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com

Der Theatersekretär hielt die schmale Visitenkarte, die der Besucher ihm reichte, zwischen den Fingern.

Ludwig Mylius

stand in zierlicher Graphik auf dem Karton.

Der Sekretär maß die Gestalt des vor ihm Stehenden mit einem abschätzenden Blick.

„In welcher Angelegenheit, mein Herr?“

„In einer Theatersache.“

„Herr Direktor Lascano ist Besitzer des Atlantic, des Rialto, des Trocadero, des Piccadilly-Theaters, ganz zu schweigen vom Jardin de Danse, vom Pavillon d’Amour und vom Moulin Rouge. Würden Sie daher die Güte haben, mir zu sagen, um welches Theater es sich handelt?“

Mylius lächelte amüsiert.

„Um das Atlantic-Theater.“

„Einen Augenblick.“

Der Sekretär drückte den Knopf des Schaltapparats ein.

„Herr Direktor Lascano läßt bitten.“

Mylius folgte dem jungen Mann durch einen schmalen Korridor, der zum Allerheiligsten führte.

Tausend unbestimmte Geräusche erfüllten das Haus mit jener unbeschreiblichen Atmosphäre, die dem Varieté eigen ist. Der Duft herben Parfüms, gemischt mit dem penetranten Geruch wilder Tiere und dem Staubdunst der Kulissen. Ein dumpfes Summen ging durch das Haus, unterbrochen durch fremdartige Kommandorufe; schrille Klingelsignale ertönten, die scharfen Rhythmen eines Charleston klangen auf.

Der Sekretär öffnete eine ledergepolsterte Tür.

„Bitte!“

Direktor Lascano erhob sich aus dem Sessel hinter dem breiten Diplomatenschreibtisch.

„Ich bitte einen Augenblick um Entschuldigung, mein Herrl Ich stehe sofort zu Ihrer Verfügung.“

Lascano wies einladend auf einen Sessel und bot dem Besucher die Importenkiste.

Mylius lehnte dankend ab. Seine Blicke gingen durch das Zimmer.

Vor Lascano stand ein kleiner beweglicher Herr. Seine um eine Nuance zu stark betonte Eleganz, die vielen Ringe, die nußgroße Krawattennadel verrieten den Varietéagenten.

Er stieß große Dampfwolken von sich und warf einen kurzen ärgerlichen Blick auf Mylius.

„Also bis morgen“, sagte er und griff nach seinem Hut.

„Warum bis morgen?“

„Weil ich sehe, daß Sie beschäftigt sind.“

„Ich habe auch morgen nicht mehr Zeit für Sie zur Verfügung, Silviani.“

Der Agent hüllte sich in eine ungeheure Dampfwolke.

„Sie wollen doch nicht im Ernst sagen, Direktor, daß Sie ein derartiges Riesengeschäft sozusagen zwischen Tür und Angel abschließen?“

„Ich kann dafür genau drei Minuten aufwenden, Silviani. Sie sehen, ich habe Besuch.“

Lascano wandte sich mit entschuldigender Geste zu Mylius.

Der Agent nahm mit trippelnden Schritten eine Wanderung durch das Zimmer auf.

Plötzlich blieb er mit einem Ruck vor Lascano stehen.

„Also — mein letztes Angebot, Herr Direktor: Ich verschaffe Ihnen die Uraufführung der neuen Weltsensation ‚Vom Jungfernstieg zum Broadway‘ mit der Texeira und ihrem Partner Reynolds in den Hauptrollen, mit dem gesamten Chorpersonal, dem technischen und künstlerischen Stab, der Musik, fabelhafter Reklame für — für — sagen wir — na, für Achthundertfünfzigtausend Mark! Billig — was? Achthundertfünfzigtausend Mark auf vier Wochen — Prolongation vorbehalten. Einverstanden?“

Silviani hielt dem Direktor die Hand hin.

„Ich sagte schon, Silviani — Sechshunderttausend.“

Der Agent hob abwehrend beide Hände.

„Ausgeschlossen — Diese fabelhafte Nummer soll ich verschleudern? Uraufführung in Europa! Vor New-York! Herr Direktor, verstehen Sie: vor New-York! Wissen Sie, was das bedeutet? Ein Riesengeschäft!“

Erregt trippelte der kleine Mann im Zimmer hin und her.

Lascano betrachtete den Aufgeregten mit kühler Gelassenheit.

„Herr Silviani, Sie haben bereits anderthalb Minuten meiner Zeit …“

Silviani stöhnte.

„Es geht nicht, Direktor, es geht nicht! Bedenken Sie: die größte Schau der Welt! Sie schlagen die gesamte Konkurrenz!“

Lascano zog die Uhr.

„Stop,“ schrie der Agent, „es ist Wahnsinn, aber ich muß den Abschluß mit Ihnen machen. Siebenhunderttausend Mark!“

Lascano erhob sich.

„Adieu, Herr Silviani.“

„Sie lehnen ab, Herr Direktor?“

„Eine Minute noch. Nehmen Sie mein Angebot an oder nicht?“

„Aber so geht es doch nicht, bester Direktor, ich muß doch noch …“

„Hier ist der Vertrag; er ist in allen Einzelheiten ausgearbeitet. Also: Ja oder Nein?“

Lascano reichte dem nach Luft schnappenden Agenten den Füllfederhalter hin.

Silviani krümmte sich.

„Das Geschäft ruiniert mich“, murmelte er, Lascano mit scheuem Blick streifend.

„Wie Sie wollen, Silviani — übrigens: die drei Minuten sind um.“

Lascano zog die Hand mit dem Halter zurück.

„Also geben Sie schon her, in Gottes Namen.“

Mit nervöser Hast kritzelte Silviani seinen Namen unter den Vertrag.

Der Direktor trocknete die Schrift ab und bot dem Agenten die Hand.

„Auf Wiedersehen.“

Der Agent nahm ein Exemplar des Vertrages an sich.

„Noch ein solcher Abschluß — und ich bin verloren.“

Kopfschüttelnd verließ Silviani das Zimmer.

Lascano wandte sich zu seinem Besucher.

„Ich muß nochmals um Entschuldigung bitten, Herr Mylius — meine Zeit ist wirklich so knapp …“

„Es war recht interessant, Herr Direktor.“

„Darf ich fragen, was Sie mir für Nachrichten bringen?“

Mylius sah auf die Spitzen seiner Lackschuhe. Er zögerte kaum merklich mit der Antwort.

„Der Aufsichtsrat meiner Bank hat es leider abgelehnt, Ihre Theaterunternehmungen zu finanzieren.“

Für einen Moment lag beklemmendes Schweigen im Zimmer.

„Und die Gründe? Darf man sie wissen?“

„Als Direktor der Nationalbank bedaure ich, Ihnen keine Details geben zu können, Herr Lascano.“

Lascano ließ den Brieföffner nachdenklich durch seine Finger gleiten.

„Sind Sie in der Lage, die Summe von anderer Seite zu beschaffen?“

Mylius zögerte wieder mit der Antwort. Ein forschender Blick traf Lascano.

„Um es Ihnen ganz offen zu sagen: ich glaube — nein.“

„Sind Sie auch hier verhindert, mir die Gründe zu nennen?“

„Nein.“

Lascanos dunkle Augen hefteten sich fragend auf Mylius.

„Die Gründe sind privater — ich möchte sagen: persönlicher Art.“

„Hm.“

Lascano zündete eich eine Zigarette an.

Der Bankdirektor suchte nach Worten.

„Ich brauche Sie nicht daran zu erinnern, daß eine gewisse Gruppe gegen Sie Material sammelt.“

Lascano wehrte ungeduldig ab.

„Diese Bewegung ist gewachsen, Herr Direktor; wir wollen das Kind beim rechten Namen nennen. Erst gestern hat ein Blatt scharfe Angriffe gegen Sie gerichtet.“

Mylius hielt inne, als ob er eine Entgegnung Lascanos erwartete.

Der Direktor sah den blauen Ringen nach, die sich von seiner Zigarette kräuselten.

„Man wirft Ihnen vor, Ihre Revuen, in denen hunderte halbnackter Frauen auftreten, seien eine einzige schamlose Spekulation auf die Sinnlichkeit.“

Lascano zerdrückte die Zigarette.

„Im Ernst, Herr Mylius: Was haben meine Revuen mit meiner Person zu tun?“

Mylius hob entschuldigend die Rechte.

„Nichts, Herr Lascano, in der Tat nichts. Man weiß, daß Sie völlig integer sind. Zum mindesten die Eingeweihten wissen es. Aber —“

„Was — aber?“

„Aber Ihre Gegner verstehen es, alles gegen Sie auszunutzen. Es gibt keine Gewagtheit, die nicht in Ihren Theatern geboten wird — die Nacktheit triumphiert …“

„Verzeihung, ich sehe immer noch nicht …“

„Kurz und gut: die Zahl Ihrer Gegner nimmt zu. Ich fürchte, daß man demnächst zu einem entscheidenden Schlage gegen Sie ausholen wird.“

Lascano machte eine unmutige Bewegung.

„Ich nehme den Kampf mit diesen Herrschaften auf.“

Mylius erhob sich.

„Sie begreifen,“ sagte er kühl, „daß ich unter diesen Umständen kaum ein Finanzkonsortium für Ihre Unternehmungen interessieren kann.“

Lascano zuckte die Achseln.

Der andere griff nach dem Hut.

In diesem Augenblick wurde die Tür des Privatbureaus aufgerissen. Eine junge Dame stürmte herein.

In der Türfüllung erschien das verlegene Gesicht des Theatersekretärs. Er blickte wie entschuldigend auf den Direktor, der befremdet die Dame musterte.

„Fräulein Denise?“ fragte er gedehnt.

Sie blieb in der Mitte des Zimmers zögernd stehen. Ein flüchtiger Blick streifte den Bankdirektor. Jenes stereotype Lächeln der Berufstänzerinnen lag um ihre Lippen.

Mylius sah, daß sie sehr schön war.

Fräulein Denise näherte sich dem Schreibtisch des Direktors. In ihrem Arm, ganz eingekuschelt, lag ein reizendes Bologneser Hündchen.

„Herr Mylius — Fräulein Denise Lavallière, unsere zweite Solotänzerin.“

Denise ließ einen schnellen Blick über den Besucher gleiten. Die Herren ihrer Bekanntschaft pflegten sich in zwei Kategorien zu teilen: entweder sie sahen gut aus — dann hatten sie gewöhnlich nichts; oder aber sie waren wohlhabend — dann pflegten sie nichts weniger als gut auszusehen. Dieser Mann dort drüben sah gut aus und war überdies augenscheinlich wohlhabend.

Sie nickte ihm mit strahlendem Lächeln zu.

„Sie wünschen, Fräulein Denise?“ fragte Lascano.

Sie ließ sich in einen Sessel fallen und kreuzte mit graziöser Nachlässigkeit die Beine.

„Ist es wirklich wahr, Herr Direktor — ich bekomme in der neuen Revue nur die Rolle der zweiten Favoritin?“

„Ich kann Ihnen die erste Rolle leider nicht geben, Fräulein Denise — Frau Digha-Digha besteht darauf. Und ich habe zugesagt.“

„Und warum, wenn ich fragen darf, Herr Direktor?“ sprudelte Denise hervor. „Warum — halten Sie etwa Digha-Digha für eine bessere Tänzerin als mich?“

„Ich muß es ablehnen, Fräulein Denise, mich mit Ihnen darüber zu unterhalten.“

Die Tänzerin zog ein Mäulchen. Sie drehte den Kopf zu Mylius hinüber, als erwarte sie von ihm Beistand.

Der Bankdirektor war aufgestanden und betrachtete interessiert ein Wandbild. Es war eine große Photographie der Denise als Venus mit der Unterschrift:

„Denise Lavallière

als Aphrodite.“

Ein helles Lachen klang auf.

Mylius drehte sich um.

Denise saß mit harmlosem Lächeln auf der Kante des Schreibtisches und beugte sich zu Lascano hinüber. Der lehnte sich langsam in seinen Sessel zurück; ein abweisender Ausdruck ging über sein Gesicht.

Das Hündchen war von Denises Arm gesprungen. Es hockte vor Lascano und machte „schön“.

Die Herren lachten.

Lascano schüttelte den Kopf.

„Also, Fräulein Denise,“ sagte er, sich erhebend, „es hat mich sehr gefreut.“

Sie wandte enttäuscht den Kopf und ging zur Tür, nicht ohne Herrn Mylius im Vorbeigehen einen Blick zuzuwerfen, in dem eine Welt von Verheißungen lag.

Mylius blickte der sich verabschiedenden Tänzerin nach. „Weiß Gott, ich wäre nicht imstande gewesen, dieser Dame etwas abzuschlagen.“

„Sie haben mir also keine weiteren Vorschläge zu machen, Herr Mylius?“

„Zu meinem Bedauern muß ich sagen, daß ich keine Möglichkeiten sehe …“

Lascano streckte ihm die Hand hin. „Also, auf Wiedersehen!“

Die Tür schloß sich hinter dem Besucher.

*

Magda Mylius saß am Klavier.

Ein junger Mann stand an ihrer Seite und blätterte gewissenhaft die Noten um. Die brünstigen Töne des Liebesliedes aus „Samson und Dalila“ erfüllten das Zimmer.

Im Halbkreis saßen die Gäste; man hörte andächtig dem Spiel zu. Die gepflegte Hand des Dr. Höcker strich wohlgefällig durch den geteilten Vollbart. Ihm zur Seite saß Frau Schwerdtfeger, die Leiterin eines Mädchenpensionats. Die hochgezogenen Schultern, das glattgescheitelte Haar, das bis zum Halse geschlossene Kleid unterstrichen das Streng-Nüchterne ihrer Erscheinung. Mit zusammengepreßten Lippen ließ sie die schwellenden Akkorde dieser Musik über sich ergehen. Ihr Blick ruhte wie fragend auf ihrer Nachbarin.

Diese, eine Vierzigerin, hochbusig, mit straff zurückgekämmtem schwarzen Haar, den Knoten im Nacken, schien von der Musik gänzlich unberührt. Ihr Blick verriet keinerlei innere Bewegung.

Dr. Schmittlein, ihr Nachbar, preßte seine dünnen Lippen fest aufeinander. Er hatte das Gesicht eines gelehrten Habichts.

Von ähnlicher Art waren die anderen Damen und Herren des Zuhörerkreises.

Frau Mylius, Magdas Mutter, blickte mit Stolz auf die spielende Tochter. Magda war in mancher Beziehung ihrer Mutter ähnlich. Doch besaß sie keineswegs jene Prüderie, die man vielleicht von der Tochter einer Vorstandsdame des „Vereins der Revuegegner“ erwartete. Sie war vielmehr temperamentvoll, mit lebhaften lachenden Augen. Ihr kurzgeschnittenes blondes Haar gab ihr etwas Keckes, Übermütiges. Magda galt in der Gesellschaft als die korrekteste junge Lady — unter ihresgleichen, bei ihren Freundinnen sprühte sie von Temperament. Sie teilte die Ansichten ihrer Mutter in bezug auf die Notwendigkeit eines sittlichen Lebens, und ihre Teilnahme an dem Kampf gegen Lascano, den der „Verein der Revuegegner“ führte, war eine aufrichtige. Die Zurschaustellung unbekleideter Frauen mußte ihrem jungen und gesunden Empfinden als schamlos erscheinen.

Die letzten Töne verklangen. Magda ließ die Hände von den Tasten sinken.

Alle schwiegen — es lag in diesem Schweigen etwas Feindseliges, etwas wie ein stummer Protest gegen diese Musik.

„Ich empfinde diese Melodie als unmoralisch“, ließ sich Frau Schwerdtfeger leise vernehmen.

Ihre Nachbarin richtete sich steil auf. „Diese Musik ist nackt und brutal; Wagner würde sich mit Abscheu von ihr gewendet haben.“

Magda lächelte.

„Halten Sie Wagners Melos etwa für weniger sinnlich?“

„Sicherlich. Der Kern seiner Musik bleibt immer keusch.“

„Sie meinen: unerotisch?“

Ein strafender Blick traf Magda.

„Ich meine, die Wagnersche Musik ist rein — sie ist um ihrer selbst willen geschrieben!“

Magda ließ sich nicht beirren.

„Ich verstehe Sie nicht ganz, gnädige Frau, aber ich weiß, daß für Wagner die Musik die höchste Ausdrucksform war. Übereinstimmung des Textes und des Spiels mit der Musik war für ihn das Leitmotiv seines Schaffens.“

„Ich habe Wagner-Aufführungen in Bayreuth gehört, Fräulein Mylius.“

„Nun, dann werden Sie auch wissen, daß es kaum etwas Sinnlicheres gibt als das Venusbergmotiv.“

„Liebe Magda,“ unterbrach Frau Mylius das Gespräch, „möchtest du nicht nachsehen, ob der Tee im Salon serviert ist?“

Magda erhob sich lächelnd und verließ das Zimmer.

„Meine Herrschaften,“ nahm Frau Mylius das Wort, „ich möchte Ihnen etwas zeigen.“

Sie entnahm einer Aktenmappe eine illustrierte Zeitschrift, auf deren Titelseite das große Aktbild einer Tänzerin zu sehen war:

Digha-Digha,

die Trägerin der Hauptrolle in der neuen

Ausstattungsrevue des Atlantic-Theaters

Sardanapal

stand darunter.

„Hier, meine Herrschaften, haben Sie einen neuen Beweis von Herrn Lascanos verderblichem Wirken.“

Damit reichte sie das Blatt herum.

Dr. Schmittlein warf verstohlen einen kurzen Blick auf das Bild und gab es dann entrüstet an seine Nachbarin weiter.

Die machte ein finsteres Gesicht. Sie verglich im stillen.

Der Vollbärtige sah ihr über die Schulter und machte ein tieftrauriges Gesicht. Mit wehmütigem Nicken reichte er das Blatt weiter. Frau Schwerdtfeger nahm es mit spitzen Fingern, ohne einen Blick darauf zu werfen.

„Eine Schamlosigkeit sondergleichen!“

Herr Schmittlein griff rasch noch einmal nach dem Bild.

„So laufen alle Frauen bei Lascano herum“, sagte er mit dem Brustton der Überzeugung.

„Woher wissen Sie denn das? Kennen Sie Lascanos Theater?“

Alles drehte den Kopf.

Magda war unbemerkt eingetreten; sie mußte die letzten Äußerungen gehört haben.

Lächelnd trat sie näher. „Nun, Herr Doktor?“

Der kämpfte mit einer leichten Verlegenheit.

„Ich kenne Lascano und seine Theater nicht — aber ich bekämpfe sie“, erklärte er mit Emphase.

Frau Mylius schüttelte mißbilligend den Kopf.

„Liebe Magda, über Lascanos Ruf sind längst die Akten geschlossen — ich finde es sonderbar, daß du für ihn eintrittst.“

„Ich finde es sonderbar, Mama, daß man über jemand herfällt, der sich nicht verteidigen kann.“

Ein verlegenes Schweigen entstand.

„Gott,“ sagte endlich eine der Damen, „ich finde, es erübrigt sich eigentlich für uns, unsere Stellung in puncto Lascano zu rechtfertigen.“

Dann trat Ludwig Mylius ins Zimmer. Er begrüßte die Gäste. Seine Frau legte die Hand auf seinen Arm. „Ohne Sorge, meine Herrschaften, mein Mann wird uns im Kampf gegen Lascano führen — er wird den rechten Weg finden!“

*

Herr Mylius ging in sein Arbeitszimmer hinüber; er hatte das lebhafte Verlangen, allein zu sein.

Ein heiteres Erlebnis beschäftigte ihn. Als er vorhin, beim Verlassen des Atlantic-Theaters, seinen Wagen besteigen wollte, zupfte ihn etwas am Beinkleid.

Es war das Bologneser Hündchen der Tänzerin. Mylius streichelte das Tier.

Aber plötzlich sprang der Hund in den Wagen, setzte sich Mylius gegenüber und sah ihn mit klugen Augen an.

Mylius kraute ihm den Kopf.

Unwillkürlich faßte seine Hand das Halsband; sein Blick fiel auf eine Plakette, die auf dem Leder befestigt war:

Ich gehöre

Denise Lavallière

Pension Hübener

Steinplatz 18

Gehorsam gab Mylius dem Chauffeur Weisung, nach dem Steinplatz zu fahren.

Die Tänzerin kam ihm entgegen, das Taschentuch gegen die Augen gedrückt. „Wie soll ich Ihnen danken, mein Herr.“ Und in überströmender Zärtlichkeit steckte sie dem Hündchen ein Praliné ins Mäulchen, das sie offenbar bereitgehalten hatte.

„Ist er Ihnen schon öfter entlaufen, gnädiges Fräulein?“

Denise blies den Rauch ihrer Zigarette in zierlichen Ringen von sich.

„Man hat ihn mir immer wiedergebracht.“

„Also hat Teddy noch nie versagt?“

Die Tänzerin warf Mylius einen koketten Blick aus den Augenwinkeln zu.

„Wie meinen Sie das?“

„Nun, die Plakette hat stets ihren Zweck erfüllt?“

Denise lachte hell auf.

Die Zofe brachte Madeira.

„Wenn ich doch den Direktor dahin bringen könnte, mir die Hauptrolle zu geben“, sagte die Tänzerin mit einem plötzlichen Seufzer.

„Das muß Ihnen doch ein leichtes sein!“

„Sie kennen Lascano nicht. Er sieht in uns nur die Künstlerin — nie die Frau.“

„Ohne Ausnahme?“

„Ohne Ausnahme. Von den tausend Frauen, die sein Büro passiert haben, kann sich keine rühmen, mehr als einen freundlichen Händedruck von ihm empfangen zu haben.“

„Wie seltsam! Man erzählt sich doch von ihm die tollsten Dinge.“

„Bühnenklatsch — Verleumdung. Leider! Er ist ein Eisblock! Im Privatleben ist er freundlich und kühl. Kurz: ein unangenehmer Direktor.“

„Was ist denn Wahres an den Orgien, die im ‚Pavillon d’amour‘ gefeiert werden sollen?“

„So gut wie nichts — wenigstens was ihn selbst betrifft. Der Sekt fließt in Strömen — alles schlemmt — die Frauen bekommen glänzende Augen — Direktor Lascano trinkt ein halbes Glas Sekt und ist der erste, der aufbricht.“

„Hm — man tut also Lascano schweres Unrecht, wenn man ihm alle möglichen Laster anhängt?“

„Ich hasse ihn zwar. Aber das eine muß ich ihm nachsagen: daß man ihm nicht das Geringste nachsagen kann. Ich dachte übrigens, Sie kennen ihn.“

„Es war die erste geschäftliche Unterredung, die ich heute mit ihm hatte.“

„Schade!“

„Wieso schade?“

Denise beugte sich zu Mylius hinüber und legte leicht die Hand auf seinen Arm.

„Ich dachte, daß Sie vielleicht Einfluß auf Lascano hätten. Daß Sie vielleicht …“

Er nahm ihre Hand und ließ seine Lippen etwas länger als schicklich darauf ruhen.

„Nun — wer weiß?“ sagte er mit einem tiefen Aufatmen.

An diese Unterredung mußte Mylius denken. Und sinnend blickte er dem Rauch seiner Zigarette nach, der schmeichelnd, in einer schlanken Säule, zur Decke stieg.

*

Doktor Arthur Lanz öffnete die Tür. Sie führte zum Vorraum seines kleinen Laboratoriums.