Der hingestreckte Sommer - Gisela von Wysocki - E-Book

Der hingestreckte Sommer E-Book

Gisela von Wysocki

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Beschreibung

Es gibt Geschichten, die sich unbemerkt, gewissermaßen undercover, im Gedächtnis festsetzen – oder solche, deren Strahlkraft uns wie ein Blitzschlag trifft: Auf einer Straßenkreuzung spielt sich in dem nicht enden wollenden »hingestreckten Sommer« die Begegnung mit einer Schlange ab. Ein Kind lernt das Lesen und sieht seinen Hund in ein jämmerliches Buchstabenbündel verwandelt. Johann Sebastian Bachs Augenhöhlen werden zum Gesprächsstoff Leipziger Gemeindemitglieder. Marlene Dietrichs Nachlass stellt sich als überraschend befremdlich heraus. Und die Tochter ist von Schneeengeln genauso fasziniert wie vom Vater, der eine Apfelsine so in Schiffchen schneidet, als wäre es ein Zauberstück.
In ihren Prosatexten erzählt Gisela von Wysocki berückende Geschichten und erweckt biographische Einschläge zu neuem Leben. Ihnen bereitet sie eine Bühne: Fundstücke, unerwartete Wendungen und Ereignisse treten hervor, werden aufrüttelnde Gegenwart. Denn: »Alles dies lebt, hat seine Wirklichkeit, greift über auf uns, die wir nach Worten suchen.«

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Seitenzahl: 233

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Titel

Gisela von Wysocki

Der hingestreckte Sommer

Suhrkamp

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2021

Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2021.

© Suhrkamp Verlag Berlin 2021Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

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Umschlagabbildung: Sigmar Polke, Dschungel (Jungle), 1967, © The Estate of Sigmar Polke, Cologne/ VG Bild-Kunst, Bonn 2021, Foto: Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Sotheby’s, Inc. ©

Umschlaggestaltung: Hermann Michels und Regina Göllner

eISBN 978-3-518-76958-4

www.suhrkamp.de

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

Hinweise zum eBook

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

VITRINEN

Der Kirchenraum

Das Gesicht

Zeichenschriften

Magazinräume

Die Familie

Das Gedächtnis

Ereignis: Frau

VOLTEN

REVOLTEN

La escritora

Die Buchseite

Der Propagandafilm

The House of Usher

Das Hotel

DIE RUHELOSEN WÖRTER

Buchstabenschlaf

Verordnete Träume

»Stummer Diener«

Das Elend mit den Buchstaben

Die Wollmaus

Ende der Devotion

Verdächtige Verwandlungen

Burgtheater

Die Untat

Tableaux vivants

Das Sonntagskind

Die Absage

Abräumen. Ausblenden

»Salto mortale«-Sprache

Der

literarische

Blick

MENSCHEN UND BLITZE

Im Zauberladen mit Charlotte Salomon

Algorithmische Ekstase

Eine Bühne ohne Ende

Im Rausch von der Leinwand gepflückt

Ein Unsichtbarer beinahe

1

2

3

4

Stab und Gewand

Himmel und Hölle

Auf der Flucht mit Chaplin

Unangemeldete Unendlichkeit

Violine solo

ÉCRIT

D'

APRÈS LA NATURE

Gehirn und Gestirn

Ozeanische Verführung

Der hingestreckte Sommer

Atlantik-Leben

Ferne und nahe Natur

Fremde Galaxie

Der Schaukasten

Anblicke

Die Bootsbesteigung

Naturhistorisches Museum

Vom Himmel aus gesehen

Das Meeresschwimmbecken

Informationen zum Buch

Hinweise zum eBook

VITRINEN

Vitrinen beschützen Geheimnisse und Fähigkeiten oder halten sie fest. In ihnen verkörpert sich das Gedächtnis, hat sich dort einen Raum geschaffen. Es sind formbewusste Gehäuse, in denen sich Leben staut. Atmosphärisch gesehen ein Stillstand, in dem, choreographisch verdichtet, Geschichten abgespeichert sind. Ein Bücherschrank, ein Flügel können für ein Kind zu Fabelwesen werden.

Der Kirchenraum

In der kriegsbeschädigten Johanniskirche konnten seine sterblichen Überreste nicht bleiben. Sie mussten dringend verlegt werden. Verantwortlich dafür sollte der Maurermeister Malecki sein, Inhaber einer stabilen Schubkarre. Vielleicht war der behelfsmäßige Transportunternehmer seiner Furcht vor dem Sterben noch niemals so nahegekommen wie in diesem Moment. Der brisante Auftrag, dessen Ausführung mutmaßlich am 28. Juli 1949 stattfand, führte quer durch das vom Krieg zerstörte Leipzig, Richtung Thomaskirche.

Es war zu Anfang noch von einem Zinksarg die Rede gewesen. Kein Mensch hatte damit rechnen können, dass Johann Sebastian Bachs Gebeine in Wirklichkeit in einem schludrig verschlossenen Holzsarg untergebracht waren. Der für jedermann zugängliche Schrein hatte etwas Einladendes an sich. Man könnte sich vorstellen, dass dieser Umstand unerwartet beruhigend auf den Maurermeister gewirkt hat. Tröstlich beinahe. Es nahm dem Vorgang seine Feierlichkeit, den Nimbus des Festaktes. Und es schwächte die beklemmende Vorstellung ab, mit einem Wesen, einer Wesenheit zu tun zu haben, die auf eine nicht näher erkennbare Weise mit Gott und seiner Unsterblichkeit im Bündnis stand.

Dennoch, das mochte er spüren, verlangte der Fall mehr von ihm, anderes als die herkömmliche Arbeit eines Handwerkers. Mehr Fingerspitzengefühl, als es für den Eigentümer einer tauglichen Schubkarre vonnöten war. Man half ihm dabei, den Sarg auf den Karren zu heben. Nun war es an ihm, an ihm, Malecki, der ungewohnten, heiklen Situation Rechnung zu tragen. Es verstand sich von selbst, den Deckel des Sargs anzuheben. Es gehörte sogar zu seiner Pflicht, sich ein Bild vom Zustand der ihm anvertrauten Fracht zu machen, ihre Beschaffenheit und Qualität in Augenschein zu nehmen.

Man kann sich denken, dass Malecki keine Notwendigkeit darin sah, ein allzu präzises Bild des zu erwartenden Anblicks zu gewinnen. Eher dürfte es unscharf, konturlos gewesen sein. Von einer Unübersichtlichkeit gezeichnet, wie sie insgesamt das Leben mit sich bringt. Aber mit diesem Ausmaß einer schauervollen Zerrüttung hatte er kaum rechnen können. Nicht mit diesem Sammelsurium von Knorpeln, Knochen, wild versprengten Splittern auf dem Boden des Sargs. Linksseitig in die obere Ecke verschoben, weil man ihn unerwartet abrupt auf der Schubkarre abgesetzt hatte. Vom Sonnenlicht hell beschienen, ergab sich ein zusammengequetschtes Bild der Sinnlosigkeit. Nichts war geblieben von dem grundsätzlich doch so einleuchtend, methodisch so planvoll arbeitenden menschlichen Knochengerüst.

Was Malecki nicht wissen konnte, war, dass in den Jahren 1750 bis 1850 die Schädel berühmter Menschen Sammelobjekte waren. Und dass ein Anatomieprofessor, Wilhelm His, Ende des neunzehnten Jahrhunderts bereits daran zweifelte, ob es sich, wie behauptet, bei den »in einem eichenen Sarge aufgefundenen Gebeinen eines älteren Mannes« um die des Johann Sebastian Bach handelte. Der Schrecken hatte ihn eingeholt, hatte Malecki nicht davonkommen lassen. Der nun offen stehende Sarg hatte zwar die lastende Bedeutsamkeit der Situation entschärft. Aber eben auch den Anspruch geltend gemacht, sich ein Bild vom Inneren zu machen. In Blickkontakt zu der dort vorgefundenen Verheerung zu treten.

Er wusste jetzt, dass es ausgebleichtes, spiegelblankes Flickwerk war, das er transportierte. Auseinandergebrochenes. Kleinteilig Zerlegtes. Es glich den Ruinen, den staubigen Schuttbergen, die ihm links und rechts auf dem Weg zur Thomaskirche begegnet waren. Er hatte auf weggebrochene Wände geschaut, auf halbierte Häuser. Auf verwüstete Zimmer und deren bizarre Details; intakte Lampenschirme, blitzende Kachelöfen. Auf Küchenherde und Doppelbetten unter Trümmerstücken. Auf Geschirrschränke und deren aufgesprungene Türen. »Tach, ich bring den Bach«, mit diesen Worten Maleckis soll der Superintendant der Thomaskirche über das Eintreffen des Schubkarrens unterrichtet worden sein. Er hatte seine Sache gut gemacht, der Sohn eines Sägewerkbesitzers. Als Kind hatte er dem Vater zugesehen, wenn er die Scheibe eines Fichtenstamms in die Kreissäge schob.

Den herbeigeschafften Sarg stellte man vorübergehend in der Nordsakristei auf. Mitte August sollte die endgültige Versiegelung des Deckels vorgenommen werden. Scheu, schweigend bewachten einige Gemeindemitglieder gewissenhaft das kostbare, wenn auch schwer mitgenommene Skelett. Draußen brachte der Sommer auch nachts keine Abkühlung, hier aber stieg vom Steinboden her eine belebende Frische auf. Der Stadtrat hatte umsichtige Entscheidungen getroffen und der Helferschaft zwei Mitglieder der örtlichen Polizei zugeteilt.

Am Tag drangen die Geräusche der Straße bis in die Kirche vor. In den Nächten breitete sich eine angespannte Lautlosigkeit aus. Und eine Ferne, die den Raum weitete, ihn vervielfachte. An die des Nachts im Kirchenraum zu erwartende Stille hatte man zuhause auch schon gedacht. Aber eben nur gedacht. Man hatte nicht mit dieser unfasslichen Feierlichkeit gerechnet. Nicht mit der Machtstellung, die der Stille hier zufallen würde. Man hütete sich davor, etwas zu sagen, möglicherweise etwas Unpassendes. Wollte nicht das Risiko auf sich nehmen, es könnte ein Wort unerwidert stundenlang in seinem Nachhall für die Anwesenden hörbar bleiben. Dann lieber sich verfangen, feststecken in der Weite, in der Entlegenheit. In einer Spur von etwas, das sich »am Ende der Welt« vermutlich irgendwo verlaufen würde.

Am dritten Tag brach am späten Nachmittag ein heftiges Gewitter aus. Die Stille machte dem Donner Platz. Nach dem Unwetter war es eine andere als zuvor. Sie war begehbar geworden, hatte endlich im Nachhall der Donnerschläge zu einer Erwiderung gefunden. Den Gemeindemitgliedern wird bewusst geworden sein, dass nicht nur das Kircheninnere ein Depot von Äther und Zeitlosigkeit bildete. Dass sich im Raum Musik, der Klang einer gebieterischen Urteilskraft ausgebreitet hatte. Und mit ihr das Versprechen unangreifbarer Wahrhaftigkeit: ein Elixier, das Ludwig Wittgenstein zu der Aussage verführte, in Bachs Musik werde eine Schöpfung sichtbar, wie sie »vor dem Sündenfall« war.

Es wäre den Wartenden, wie sie später berichteten, nach und nach in dem aufgeklappten Sarg vor allem der knochige, in seinen Umrissen erhalten gebliebene Schädel des Toten immer sichtbarer geworden. Unerwartet deutlich, beinahe wirklichkeitsnah, seien seine Augenhöhlen zu erkennen gewesen, darin war man sich einig. Und sie hätten unzweifelhaft »einen Blick« gehabt; unentwegt und weit aufgerissen. Es sei allerdings auch die Überlegung aufgetaucht, es könnte sich hier um ein durchaus erwartbares Bild handeln. Um ein Phänomen, wie es sich natürlicherweise um zwei dunkle, vom Jochbein zusammengehaltene Kuhlen bildet. Das aber, so berichteten später die mitgenommen wirkenden Wächter, hätte bei einem unter ihnen zu einer Art von Revolte geführt. Für einen Titan sei das zu wenig, wurde geäußert. Es sei geradezu vernichtend! Angesichts seiner Sonntagsmotetten, der Engführungen der Fugen, der Schlusschöre der Oratorien! In Bezug auf die Abertausenden in Gottes Namen verfassten Gesänge! Die Orgelwerke im Dienste der Dreieinigkeit! Dies alles, dieses riesenhafte, große Gelingen, nur, um schließlich aus finsteren Augenhöhlen, wie jeder andere auch, ins Leere zu starren? Eine von Fäulnisprozessen begleitete Kreatur? Ihre ganz eigenen Gedanken machte sich in diesem Zusammenhang Marguerite Duras. Nicht Ferne, sondern Nähe wünschte sie dem Komponisten. Sie meinte, wie gut, dass er kein Bewusstsein von der Tragweite seines Werks und dessen Phantasma gehabt hätte, er wäre verrückt geworden.

Das Gesicht

Für Friederike Mayröcker

Ich bin ja eben erst eingetreten. Eben erst haben wir uns begrüßt, und sie hat mich in ein Zimmer geführt. Es ist ja kaum Zeit vergangen, wir haben uns an einen Tisch gesetzt, und sie erzählt von sich, von ihrem Gesicht, unser Thema für heute. Aber in Wirklichkeit ist es kein Thema. Und auch das »heute« klingt fraglich, unüberlegt. Wie sie es nicht bemerkt, genau genommen, das Gesicht, und sich entgehen lässt. Und dies am eigenen Leibe spürt. Sie spricht, muss sprechen so, auf diese Weise, wie sie es tut, eine Dichterin.

»Morgens«, sagt sie, »kommt manchmal der Gedanke auf, heute, das wird ein guter Tag!« Weil das Gesicht sich ausgeruht fühlt. Abends stellt es die unausweichliche Frage, was eigentlich übriggeblieben sei von ihm. Ein Skelett, ein Knochengerüst. Wer in vorgerücktem Alter die Hände zum Kopf führt, wird den eigenen Totenkopf, den Schädel, spüren. Oft wünscht man sich, das Gesicht eines Freundes ganz genau vor sich zu sehen, und fürchtet sich davor, es nicht vor Augen zu haben. Es geschieht, dass es aus dem Gedächtnis herausgefallen ist, nur in Teilen zu sehen. Und dann dieser Moment, irgendwo auf der Straße, wenn Augen von einer unbeschreiblichen Tiefe zu sehen sind. Fast in Form einer anderen Realität. Diese Augen halten etwas bereit, das man sonst von nirgendwoher kennt. Dort bleiben. Verweilen.

Ob ich mich tatsächlich in einer Wohnung befinde?, frage ich mich in diesem Moment. Wien, 5. Bezirk? Eher auf einem Schauplatz. In einem Milieu. Mitten in einem Bühnenbild? Ich blicke auf einen den Raum beherrschenden Einrichtungsgegenstand. Man könnte behelfsweise von einer bis zur Decke reichenden Bücherwand sprechen. Es scheint hier um anderes zu gehen als um den gezielten Zugriff auf ein bestimmtes Werk. Die Bücher sind in wilden Schüben übereinandergestapelt. Stehen sich längs und quer gegenseitig im Weg. Unmöglich, auf die Suche nach einem einzelnen Buch zu gehen. Weil Titel bei dieser Form der Lagerung nicht erkennbar sind und jede Berührung des chaotischen Schichtwerkes die benachbarten Bücherberge zum Einsturz bringen würde.

»Auf frühen Kinderbildern entdecke ich etwas Erstaunliches.« Einen Ausdruck, sagt sie, der ihr mitteilt, »da bin ich echt«. Als würde ein wesentlicher Teil der Person überdeutlich zu sehen sein. Dann aber, irgendwann, sei etwas dazwischengetreten, habe sich dazwischengeschoben. Störend. Zwischen sie und das Kind auf dem Foto. Sie würde dem den Namen Eitelkeit geben.

Im Alter verliere sie an Bedeutung, glücklicherweise. Damit kommt man dem früheren, vielleicht wahrhaftigeren Leben wieder näher. Als Kind, sagt sie, habe sie niemals einen Schmetterling gefangen, niemals auf einen Käfer Jagd gemacht. Das Kind befand sich in der Vorform jenes kontemplativen Lebens, auf die sie, die Erwachsene, jetzt nach so vielen Jahren wieder zurückgekommen sei. Möglich, dass davon im gegenwärtigen Gesicht etwas sichtbar werde. Dass es deshalb so unergiebig sei, es anzuschauen. Eben, weil es damals den Gartenpflanzen stundenlang bewegungslos zugewandt gewesen sei. Das Kind träumte vor sich hin und fühlte sich nur hier, im Innenhof des Hauses, geborgen. Und so, auf diese Weise, sei ein verschwundenes Gesicht, ein mit einer besonderen Art der Reglosigkeit gezeichnetes Gesicht daraus geworden. Vielleicht könnte das Wort »Stille« es am besten beschreiben.

Ich hatte das voluminöse Möbel im Hintergrund die ganze Zeit vor Augen gehabt. Notwendigerweise, wenn ich meine Gastgeberin anschauen wollte. Ob an die Stelle des alten Gartens diese Bücherwand getreten war? Ich schaute auf zusammengeknautschte Kleidungsstücke, auf einen Kopfkissenbezug, einen mit allem Möglichen gefüllten roten Einkaufskorb der Firma SPAR. Auch eine alte Schreibmaschine war dabei. Eines der vielen Bücher stand auffällig aufrecht da, gut leserlich, vorn an der Kante eines Regals: Ernst Jandl, Der gelbe Hund. Zwischen Bergen ineinandergeschobener Zettel, Kalender, Briefe und Broschüren. Als mir einige Jahre später ein Freund eine vielfach veröffentlichte Panoramafotografie dieses inzwischen häufig abgebildeten Zimmers zusandte, machte ich sie zum Ausgangspunkt eines workshops in einer norddeutschen Akademie; im Bereich »Freie Kunst«. Mit der Frage, welche Erfahrungen, welche Lebenswirklichkeiten sich mit einem Interieur wie diesem verknüpfen könnten.

Die Unaufgeräumtheit hat eine Sprache, dort im 5. Bezirk. Sie redet von einem Kind, das seinen Blick nicht abwenden kann von seinem verwilderten Garten. Von der herrenlosen Ordnung der Blumen neben dem Gemüsebeet, neben den Bäumen und Zäunen. Alles platzt vor Leben, sonst hätte das Kind sich dort nicht stundenlang aufgehalten. Hätte später die Dichterin, die einmal hier wohnte, nicht einem Buch schon im Titel die Worte »ans Fenster tretend« mitgegeben. Um von dort aus die Welt als ein tollkühnes Improvisorium zu erleben.

»Das einzig noch immer Sehenswerte an diesem Gesicht sind die Augen«, sagte sie dann und wies auf deren dunkle Bemalung. Gleichzeitig seien sie einem geradezu hypochondrischen Gefühl ausgesetzt, der Angst, sie könnten verletzt werden. Es könnte ihnen irgendwann etwas zustoßen. Sie suchten nach Schutz. Auch vor dem Starren der Kinder auf der Straße. Ihr Starren würde sich auf furchtbarste Weise Zugang zu ihrem Gesicht verschaffen wollen. Weil ihm der Wunsch anzusehen sei, ein unansprechbares, unauffindbares Gesicht zu sein. Ein also auch in dieser Unbehelligtheit grundsätzlich nicht haftbar zu machendes Gesicht. Für nichts auf der Welt. So ist dann dieses Haar zu seiner Form gekommen, denke ich. Es wird als Helm eingesetzt, als Vorrichtung herangezogen. Gesicht, Auge und Haar, ein lautlos für sie kämpfendes Team.

»Es gibt Gesichter, in denen die ganze Welt zuhause ist«, sagt sie. Bei Francis Bacon beispielsweise. Salvador Dalí. Beckett. Sie dagegen habe aus dem schützenden Versteck des Inkognitos auf die Welt geschaut. Auf den verrätselten Abdruck von Innenwelten, auf das Geflecht der Übergänge. Schon auf frühen Kinderbildern sei die Vereinsamung erkennbar gewesen. Und ein Gesicht, das diese Phase im Grunde niemals verlassen habe. Auf der Bettdecke im Nebenzimmer, sorgsam ausgebreitet, sehe ich eine Vielzahl von medizinischen Präparaten. Tuben, kleinen Flaschen. In Reih und Glied, sorgsam sortiert. Tagsüber kommen sie der Reihe nach zur Anwendung und werden vor dem Schlafengehen von der Decke abgeräumt.

Es gebe Bleistifte, sagt sie, eine ganz bestimmte Sorte, die auf dem Papier nur einen schwachen Abdruck hinterlassen würden. So, genau so wie diese Stifte, möchte man im Leben gewesen sein. Nichts anderes solle übrig bleiben als ein weißes, leeres Blatt. Die Welt dagegen müsste ganz lebendig sein. Sie müsste unentwegt gesehen werden können. Die Tiere müssten ganz leibhaftig sein. Die Gegenstände körperhaft. Die Straße voll von Menschen, und alles dies müsste immerzu zu sehen sein.

Auch die Bühne des Akademietheaters, man spielt Baumeister Solness. Da darf man sich kein Detail entgehen lassen. Immer wieder entnimmt sie einem der drei oder vier kleinen Beutel, die sie neben dem Rucksack mit sich führt, ein neues, anderes Brillenetui. Mehrfach werden die Brillen ausgetauscht, werden überprüft auf ihre Eignung hin. Welche von ihnen kann am anschaulichsten, am überzeugendsten zu erkennen geben, was auf der Bühne zu sehen ist? Welche die Lebendigkeit der Welt und der Menschen am deutlichsten sichtbar machen?

Zeichenschriften

Kafkas Erzählung In der Strafkolonie ritzte, furchte ein Wundmal in mein vierzehnjähriges Leben. Es musste mir etwas entgangen sein. Irgendeinem Umstand musste ich zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt haben. Ich musste über Dinge hinweggesehen haben, die mich auf Kafkas Erzählung hätten vorbereiten können. Auf die Erstarrung, die mich beim Lesen befiel. Mich zu einem Gedenkstein machte, der ein Buch in den Händen hielt. Wenn ich heulte, weil die Mutter traurige Lieder sang, sprang sie ein mit den Worten: »Es ist doch nur ein Lied.« Warum konnte die naheliegende Variante, »Kafka hat doch nur eine Geschichte erzählt«, so überhaupt keine Beruhigung bringen?

Ich fing an, mir Ereignisse meines kurzen Lebens Stück für Stück vorzunehmen. Engpässe, Bedrohungen, die als Vorgeschichte meines Schreckens eine Bedeutung haben konnten. Dinge, die sich im Gedächtnis festgebissen hatten und schwer wieder loszuwerden waren. Etwa, dass damals im Osthavelland die Fensterläden nachts nicht richtig geschlossen hatten und ihr Klappern so klang, als würde jemand von außen an ihnen zerren und sie zu öffnen versuchen. Oder die Kieferklemme des Vaters. Er konnte nicht essen, nicht sprechen, nicht lachen, ein unbekannter Mann hatte sich bei uns eingenistet. Das alles aber war kraftlos, wirkte verbraucht gegenüber den bei Kafka auftauchenden Wörtern: »Egge«, »Apparat« und »kleiner Stichel«. Wörter, die weiter rumorten, auch als sie bereits jahrzehntelang in den Hintergrund getreten waren. Anwesende ohne Plazet. Parasiten.

Wenige Jahre ist es erst her, dass ich mit einem Ereignis zu tun hatte, das Bewegung in die Geschichte brachte: Im Hinblick auf ein Buchmanuskript beschäftige ich mich mit der Vergangenheit meiner Familie. In einer Mappe mit amtlichen Dokumenten finde ich ein Notizbuch meines Vaters. Ich entdecke kurze Eintragungen über sein Angelzeug, seine Berliner Lieblingsrestaurants, Details über sein Herzproblem. Dabei stoße ich auf die folgende Notiz: »G. überwältigt!«, und den Hinweis auf das Treptower Raritätenkabinett. Deutlich sehe ich das Bild eines mit Wasser gefüllten Bassins vor mir. Dort stehe ich an der Hand des Vaters, ein Kind, das Herzklopfen hat. Ich schaue auf den unbekleideten Körper einer Frau, die sich, abenteuerlich koloriert, wie eine Tänzerin durchs Wasser bewegt. Sanft schwingend haben sich allerlei Unterwassergewächse auf ihrer Haut niedergelassen. Die Herkunft des ozeanischen Wesens hat etwas Fernliegendes an sich. Es bringt, noch jetzt, das Gefühl mit, seiner Unerforschlichkeit nicht gewachsen zu sein.

Für den Vater ist die unterseeische Frau mit den bunten Häuten offenbar keine Unbekannte. Sein Versuch, mir ihr einsames Leben zu erklären, landet bei dem Wort »Tätowierung«. Es klingt nach Arztbesuch und nach Nägelschneiden mit einem dafür ungeeigneten Gerät. Tatsächlich spricht er kurz darauf vom Piksen und Einritzen in die Haut. Vom Gebrauch einer »Nadel«, die mit farbiger Tinte vorgeht. Sie »stichelt« in eine »tiefliegende Hautschicht« hinein, fügt er hinzu. Seine Erklärungen enden mit den Worten, insgesamt sei die Prozedur nicht ganz schmerzfrei zu überstehen. »G. überwältigt!«, die Eintragung des Vaters ist vieldeutig. Schon damals muss wohl die enge Verbindung der beiden Wörter »Nadel« und »Sticheln« das Kind »überwältigt« haben; während es auf eine Frau blickte, die als blütenumrankte Amphibie durch ein Bassin glitt.

Wie von selbst zeigen sich die »Zugangs«-Daten eines entzündlichen Phänomens. Die Frau im Bassin und Kafkas Delinquent, beide Male zwei formvollendet Verwundete, die sich in meiner Geschichte begegnen. Als hätte sich eine im Irgendwo herumgeisternde Logik der Sache angenommen. Fast, als unterstütze sie mein Vorhaben. Würde den Distrikt des Geschehens in eigener Regie durchkämmen. Naheliegend, dass mein maßloses Zurückschrecken vor Kafka mit dem Parallelismus der beiden Fälle zu tun hatte. Es taucht der Gedanke auf, es müsste zu einem »dritten Mal« kommen. Wie im Märchen. Das »dritte Mal« bringt immer die Lösung, führt das Ende einer Verkettung herbei.

Ab und zu machte ich einen Spaziergang im Grunewald. Nicht unten am See, sondern oberhalb davon. Dort gab es eine Kiefernanpflanzung, die aus dem Waldweg eine Allee machte. Die Stämme der Bäume, aus einem bestimmten Blickwinkel gesehen, glichen aufrecht stehenden, gestaffelt aneinandergereihten Fabrikaten. Mitten in der Natur. Plötzlich entdeckte ich in ihnen die in meiner Kindheit aufrecht abgestellten Schallplatten. Sie hatten etwas so Unumstößliches an sich wie diese Allee. Eine Gleichartigkeit, ineinandergleitend wie eine filmische Überblendung. Wie viel Mühe sich der Vater gegeben hatte, mir zu erklären, warum die schwarzen Scheiben Musik machen konnten. Wie seine Hände die Flut der unbekannten Wörter einzubetten versuchten in Linien und Kreise. Von »elektrischen Impulsen« war die Rede, von »Amplituden« und »Schwingungen«. Ich war der Empfindung von damals, einem leisen, aber stabilen Entsetzen, auf einmal, hier im Grunewald, wieder ganz nahe. Mir war die Frage nicht aus dem Kopf gegangen, wie man Klavierspiel, Geige und Gesang in dem kohlschwarzen, unentwegt kreisenden Wesen hatte unterbringen können. Es hatte damals nur eine einzige einleuchtende Erklärung dafür gegeben. Als Verursacher der schwarzen Scheiben hatte der Vater ganze Musikkapellen in winzige Partikel zusammengequetscht: um sie platzsparend in dem schwarzen Ding unterzubringen.

In diesem Moment tauchte der sogenannte Tonabnehmer vor mir auf; Vaters schonungsvolle Umschreibung einer Nadel. Spitz, von stählerner Machart glitt sie in die vorgestanzte Prägung der Rillen hinein. Ihr Werk und das der Bassin-Künstlerin hatten, wie es scheint, eine heftige Spur bis hin zu den in der Strafkolonie betriebenen Torturen gelegt. Ein teamwork der Motive, man kann es nicht anders nennen. Kann es in den Wind schlagen. Oder ihm eine psychoanalytische Bedeutung geben. Eine poetische, eine erkenntnistheoretische. Man kann eine von Zufällen durchmischte Rätselfigur ins Feld führen. Oder Benjamins »physiognomische« Konstellation. Alles dies lebt, hat seine Wirklichkeit, greift über auf uns, die wir nach Worten suchen.

Magazinräume

Archiv der Stiftung Deutsche Kinemathek, Reuchlinstraße 10-11, Aufgang S und J, 10553 Berlin

Betrachtet man ihre abgetragenen Schuhe, das Schiefgelaufene, dann glaubt man nicht, dass es die von Marlene Dietrich sind. Sieht man sich diese abgewetzten Seidenpumps an, die Wanderschuhe, seitlich aufgerieben, von Steinen gestreift. Und Sohlen, durch Pfützen gelaufen, durch Sand, Staub und Zweige. Hineingetreten, hängengeblieben. Schaut man sich diese Reißverschlüsse an, den Leopardenmantel aus Samt mit den eingenähten Schweißblättern, den Abdruck der Hände, Hauttemperatur, abgelegt auf dem überempfindlichen Gewebe, im Schwarz eines Kleides von Madeleine Vionnet. Dann erkennt man die Spuren des Auf-der-Welt-Seins wie Blut im Gefüge der Adern, wie Herzschlag, wie Summton im Innenohr. Gespeichert, hingetupft in eine Textilie und dort für lange aufbewahrt.

Nimmt man dann dieses Kopftuch zur Hand, für eilige Ausgänge im Regen, sieht man auf ein Phantom in Form einer Haube. Eine gut gemachte Täuschung mit eingearbeitetem Haarteil. Langmähnig, blond, ein glattgebürsteter Balg. Mit Litzen versehen und mit Sorgfalt umsäumt.

Verschalungen in Samt, Monturen der Geselligkeit, sie hängen auf Puppen, hängen im Raum herum. Ein blühendes Eigenleben einerseits, andererseits der verabschiedete Körper: Man könnte fast von Malerei und Muster sprechen, wie hier und dort ein Abdruck sichtbar wird. Ein Fleck, ein kleiner Riss, etwas Geflicktes. Sie haben sichtbar in Stoff und Schuh überlebt. Ein versprengtes Rot vom Wein trifft auf Gelbseidenes, erweist sich als Schwachpunkt, als Blöße, als Endlichkeit. Und gerade diesen Körper hatte man für ewig gehalten, für ein dauerhaftes Gehäuse. Für eine übertrieben genaue Sichel im Paramount-Schwarzweiß.

Als Nächstes kommen die Schachteln dran. Da stößt man in Nr. 253 auf Damenbinden. Diverse Modelle, abgelegt unter »Hygiene«. In Zellophan verpackt, in rote Seidentaschen eingenäht, die ständigen Begleiter der lästigen Inkontinenz, intime Kontakte aus Vlies, Watte, Gaze, Papier.

Man fragt sich und will es wissen, die Küchenschürzen nimmt man hin. Die Duineser Elegien, die Krepppapiermanschetten für die Blumenbouquets, die Handschuhe und Nagelscheren in hundertfacher Ausführung, nicht aber das Hakenkreuz. Man hält auf einmal diese Schachtel in der Hand, man starrt auf eine rote Stoffbahn, in einer Schachtel untergebracht wie die aus Tüll und Seide gewobenen shawls.

Die Eintragung auf der weißen Karteikarte

Objektart: Armbinde (Militär)

Designer: Reichszeugmeisterei der NSDAP

Entstehungsort: Deutschland

Datum: 30er, 40er Jahre

Farbe: Rot, Schwarz, Weiß

Material: Baumwolle

Stoffbezeichnung: Leinwandbindung

Der Überbringer? Mag sein, ein amerikanischer GI, so lautet die Vermutung der Archivangestellten. Ein GI, ein Schauspieler, ein Drehbuchautor. Ein Zeichner, vielleicht ein Kameramann. Einer von ihnen hat die Trophäe ins Haus gebracht, dieses Mal kein Blumengebinde. Dieses Mal brachte man der Gastgeberin einen Gruß aus Deutschland mit. Der Gruß hat eine Archivnummer erhalten, man hat ihn in einer Schachtel abgelegt, umwickelt mit säurefreiem Papier. So wie die Krokodilledertaschen, die Hüte und Handschuhe. Im Kosmos der Diva wird alles zur Couture. Zum Gesang der Sirenen.

Die Familie

Die Großmutter. Ein sperriges Porträt. Der Vater war im Schallplattenstudio zuhause, die Mutter in einer aufmerksamkeitsheischenden Gefühlswelt. Zwei ergiebige Produktionsstätten, wie ich fand. Man hatte die Ohren aufzusperren, musste sich ranhalten. Das Paar war spezialisiert auf temporeiche Szenenwechsel; erstaunlich gut aufeinander eingespielt. Auch ihre Unstimmigkeiten fand ich fesselnd, dann war die Hölle los. Demgegenüber hatte die Großmutter, die mit uns lebte, schlechte Karten. Ich hatte sie abgehakt unter »triste Unauffälligkeit«. Verwachsen mit ihrer Vergangenheit, blieb sie Teil einer legendären Stadt, die Breslau hieß. Teil einer Rede über die einstmalige Wohlgestalt ihrer Beine. Und einer Prozessgeschichte, die mit der Firma Faber-Castell zu tun hatte und deren unrechtmäßig einbehaltenen Dividenden. Mein Gedächtnis zeigt ihr weißgepudertes Gesicht, verschneit sah es aus; zeigt sie, wie taumelnd mit ihrem Stock verwachsen; mit Augen, die hinter der kompakten Verglasung der Brille die Pupillen so klein wie Stecknadelköpfe erscheinen ließen. Der Vater brachte die beiden Söhne mit in die Ehe, die Mutter meine Großmutter. Eine Frau, in die Familie einsortiert auf gut Glück, die ihren Platz nicht finden konnte.

Mein Blick machte ihr gegenüber dicht. Es fehlte ihm schlicht eine Spielregel für den Umgang mit ihr. Er vergaß sie, sobald sich die Zimmertür hinter ihr schloss. Ihre Kleider, von der Hausschneiderin angefertigt, hatten durchgehend die gleiche Schnittführung: kleiner Kragen, Knopfleiste, ein in breiten Falten zugeschnittener Rock. Als Pferdeliebhaberin war sie die Eigentümerin eines Tabletts mit lauter farbig fotografierten Pferdeköpfen. Als Anhängerin von Adolf Hitler besaß sie ein gerahmtes Foto von ihm. Hinter der Schrankwand versteckt, wurde es von den Transportarbeitern gefunden, die unseren Umzug aus Brandenburg nach Berlin bewerkstelligten.

In einem abgelegten Album entdeckte ich viele Jahre nach ihrem Tod ein mir unbekanntes Foto von ihr. Jung ist sie noch, bekleidet mit einem weißen Seidenjackett. Sie sitzt an einem Teetisch, ihr feines Gesicht ist über ein aufgeschlagenes Buch gebeugt. Abenteuerlich ihre Kopfbedeckung. So hatte ich die Großmutter noch nie gesehen, einen solch hoch aufgetürmten Hut hätte ich ihr nicht zugetraut. Der über der Stirn nach oben sich verjüngende Aufbau war aus Federn in Form einer Agraffe geschaffen. Mitte der zwanziger Jahre, vermutete ich. Und schämte mich für den Gedanken, das Foto, wäre ich ihm nur früher begegnet, hätte womöglich eine Brücke zur Großmutter geschlagen. Einem Damenhut diese Macht zuzusprechen war skurril, es war erbärmlich. Und trotzdem, unter der Hand nicht ganz ohne Überzeugungskraft.

Ihr krankes Herz wäre nun so weit, sagte sie eines Abends. Stündlich könnte es seinen Dienst einstellen, sie sei bereit zu sterben. Zuvor aber wünsche sie sich, noch einmal in ihrem Leben Tschaikowskys Capriccio italien zu hören. Mit einem Bein schon in dem großen Ereignis, hatte sie sich in ihrem Zimmer im ersten Stock des Hauses ins Bett begeben. Unten im Musikzimmer legte der Vater die Schallplatte auf und drehte den Lautstärkeregler auf Fortissimo. Ich hatte Platz bezogen auf den Treppenstufen: zwischen Tschaikowskys lautstarken Blasinstrumenten, zweiundzwanzig an der Zahl, nebst Glockenspiel, Trommel und Becken, und dem stillen Horchen der zum Abschied bereiten Großmutter. Das war viele Jahre, bevor sie in einer überfüllten Berliner Klinik, vereinsamt in einer Badewanne abgelegt, leibhaftig gestorben ist.

Begleitet von sanftem Geschepper, räumte sie die Messer und Gabeln tagtäglich in die Fächer eines Besteckkastens ein. So lange, bis die Anordnung stimmte. Sie kniete katholisch vor diesem Schrein, ihre Finger verschwanden in den blauen Einbuchtungen einer unzweckmäßig von Samt überzogenen Fächerordnung. Dagegen waren ihre Hände alles andere als geradegerückt, ordnungsgemäß ausgerichtet. Knotig, geschwollen waren sie. »Das hat mit der Gicht zu tun«, erklärte man mir. Mit der schlechten Ernährung im Kaiserreich und ihrer Vorliebe für fettes Fleisch. Den Schwellungen konnte man ansehen, wie es den Händen unter die Haut gegangen war. Ich wollte nichts von einem Leben wissen, das die Hände der Menschen derartig verschandelte.

Wenn sie ihre Lieder sang, wand ich mich vor Unbehagen, sie brachten schlechte Laune mit. Nichts klappte, nichts ging glatt. Es Kommt ein Vogel geflogen, der aber allein, ohne die sehnsüchtige Liedsängerin weiterflog. Das Gleiche bei