Der Hochsitz - Max Annas - E-Book
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Der Hochsitz E-Book

Max Annas

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Beschreibung

1978, ein Dorf in der Eifel: Sanne und Ulrike haben Osterferien. Wenn sie nicht auf dem Hof helfen müssen, düsen sie mit ihren Fahrrädern durch die Gegend und kriegen alles mit. In zwei Monaten ist Fußball-WM, die Mädchen bekommen aber einfach nicht genug Hanuta-Bilder für ihre Sammelalben. Also schneiden sie ein paar Männerköpfe aus dem Fahndungsplakat in der Post. Denn das ganze Land ist gerade in Aufruhr über drei Buchstaben. RAF. Und dann geschieht tatsächlich ein Bankraub. Festgenommen wird der einzige Langhaarige im Dorf. Dass er es nicht gewesen sein kann, wissen Sanne und Ulrike genau. Und sie wissen noch viel mehr, Sachen, die nicht nur die Polizisten in der nächsten Kleinstadt interessieren würden …

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Seitenzahl: 332

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Max Annas

Der Hochsitz

Roman

 

 

 

Über dieses Buch

Ein Bankraub. Ein Toter. Terroristenpanik. Die Polizei hat keinen Durchblick. Aber Sanne und Ulrike.

 

1978, ein Dorf in der Eifel: Sanne und Ulrike haben Osterferien. Wenn sie nicht auf dem Hof helfen müssen, düsen sie mit ihren Fahrrädern durch die Gegend und kriegen alles mit. In zwei Monaten ist Fußball-WM, die Mädchen bekommen aber einfach nicht genug Hanuta-Bilder für ihre Sammelalben. Also schneiden sie ein paar Männerköpfe aus dem Fahndungsplakat in der Post. Denn das ganze Land ist gerade in Aufruhr über drei Buchstaben. RAF. Und dann geschieht tatsächlich ein Bankraub. Festgenommen wird der einzige Langhaarige im Dorf. Dass er es nicht gewesen sein kann, wissen Sanne und Ulrike genau. Und sie wissen noch viel mehr, Sachen, die nicht nur die Polizisten in der nächsten Kleinstadt interessieren würden …

Vita

Max Annas, geboren 1963, arbeitete lange als Journalist, lebte in Südafrika und wurde für seine Romane «Die Farm» (2014), «Die Mauer» (2016), «Finsterwalde» (2018) und «Morduntersuchungskommission» (2019) sowie zuletzt «Morduntersuchungskommission: Der Fall Melchior Nikoleit» (2020) fünfmal mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichnet. Bei Rowohlt erschien außerdem «Illegal» (2017).

 

«Lange nicht hat ein deutscher Autor so furios, so gewalttätig und so entschieden mit den Bestandteilen des Genres jongliert.» Deutschlandfunk

 

«Max Annas braucht keine gängigen Krimi-Tricks, um seine Story packend zu halten.» Tages-Anzeiger

Rank Xerox, so oft kopiert

In jeder Zeitung ihr Gesicht, dein Gesicht, mein Gesicht

In der Stadt, auf dem Amt

Im Bullenbüro, im Chinarestaurant

Auf dem Fahndungsplakat.

 

Ein Kreuz für jeden, den’s erwischt

Abgehakt wird jeder, den’s erwischt

 

Treibjagd

Im wilden Westen, Volkssport für den kleinen Mann

Er will Gerechtigkeit

Verfolgt, erwischt und abgeknallt

Verfolgt, erwischt und abgehakt

Auf dem Fahndungsplakat

 

HANS-A-PLAST

Die ersten Tage der Osterferien

[ 1 ]

«Warte auf mich!»

Ulrike ist weit hinter mir. Kurz umgucken, den Lenker auf Spur halten, aber sie ist nicht zu sehen.

Warum muss sie auch immer so langsam fahren? Wenn man am Berg erst einmal einen bestimmten Rhythmus gefunden hat, dann muss man den durchhalten. Da kann man nicht einfach mal Tempo rausnehmen. Das weiß sie doch. Ich habe es ihr gesagt.

«Ich seh dich nicht mehr!», ruft Ulrike jetzt. Wenn sie nicht so viel schreien würde, hätte sie mehr Kraft, um ihr blödes Mädchenrad zu bewegen. In Rosa. Aber sie hat auch nicht so viel Schwein gehabt wie ich.

Da oben ist die Abzweigung schon.

Es wird noch einmal kurz steiler. Doch mit dem Bonanzarad ist das zu schaffen. Ich passiere das Kreuz am Straßenrand. Es ist voriges Jahr für den Sohn von Herrn Sang aus Ferschweiler aufgestellt worden. Ich kannte Herrn Sang nicht, aber wegen dem Unfall, bei dem sich der Sohn mit dem Auto überschlagen hat, ist viel über ihn geredet worden. Er war in der CDU, wie Papa auch, und hat sich kurz nach dem Tod seines Sohnes aufgehängt. Das habe ich auch nur erfahren, weil ich manchmal ganz genau hinhöre, wenn die Erwachsenen reden. Solche Sachen erzählen sie uns Kindern sonst nicht.

Ein Motor ist zu hören und wird lauter. Das Auto kommt von hinten angebraust, ist ganz schön nah beim Überholen und schon wieder weit weg. Noch ein paar Tritte, und ich bin am Weg angekommen. Einmal ganz genau nach hinten gucken, und dann nach links über die Straße rüber.

Mit dem letzten Schwung auf den Weg rauf, noch einmal kurz im ersten Gang durchtreten, Hinterbremse drücken, Lenker rumreißen und schön die Wolke machen. Dann rolle ich zurück zur Teerstraße und verstecke mich hinter einem Busch. Ein kleiner Laster tuckert hinunter, und als er an der nächsten Kurve verschwunden ist, kann ich Ulrike sehen. Sie ist natürlich wieder abgestiegen.

«Sanne!», ruft sie. Kein Grund, mich zu zeigen.

Wieder: «Sanne!»

Drei Wochen seit dem elften Geburtstag. Und ich weiß schon, was ich für ein Glück habe. Sie hätten mir alles Mögliche schenken können. Aber ich habe so lange genervt, dass selbst meine Eltern eingesehen haben, dass es keine Alternative zum Bonanzarad gab.

Na gut. Kurz raus hinter dem Busch. Ulrike zuwinken. Sie winkt zurück und wird gleich noch langsamer. Auch mit meinem Mädchenrad hab ich sie immer abgehängt. So ist es ja nicht. Immerhin war es weiß und nicht rosa. Jetzt hat es die kleine Marion von den Feckers. Am Ende des Dorfes. Papa hat es verkauft, weil er es nicht weiterreichen konnte in der Familie. Ich bin die Jüngste.

Oh Gott. Das dauert ewig. Eeee-wig, bis Ulrike hier oben ist. Sie schlurft, die Hacken immer schön über den Boden gezogen.

«Sanne!»

Dabei weiß sie, wo ich bin. Ich kann ihr Atmen schon hören. «Wir sollen hier nicht allein sein», sagt sie keuchend.

«Sind wir ja auch nicht.»

«Aber ich hab dich von unten nicht …», Ulrike muss Luft holen, «nicht gesehen. Also warst du allein.»

«Für ein paar Sekunden. Und wenn du schneller wärst …»

«Wir sollen nie allein sein. Mein Vater hat das gestern noch mal gesagt.»

«Guck. Wir sind zusammen.» Ich drehe das Rad herum und fahre wieder vor. Rechts das Weizenfeld und links die Wiese mit den großen Maulwurfshügeln. Dann in den Wald hinein.

Nie im Wald allein. Mamas Stimme auch. Warum ich das immer genau hier höre, ist mir nicht so richtig klar.

Der Weg ist holprig, aber flach. Ulrike ist dicht hinter mir. Ich trete wieder etwas schneller.

Gleich die nächste Abzweigung. Ein breiter Pfad mitten in den Wald hinein. Und hindurch. Ich habe schon wieder ein bisschen Vorsprung, als ich an seinem Ende ankomme. Vom Rad springen, das Rad unter einem Busch verstecken und zur Leiter.

«Da hängt was», sagt Ulrike, die kurz hinter mir ist, immer noch oder schon wieder atemlos. Ich gucke nach oben. An der Leiter, die auf den Hochsitz führt, hängt ein Schild. Ganz neu. Handgeschrieben. Schwarze Farbe auf Holz.

«Spielende Kinder verboten», steht da groß drauf. Und kleiner: «Eltern haften für ihre Kinder.»

Ich klettere weiter hoch. Uns meinen die nicht. Wir kommen ja nicht zum Spielen. Schon bin ich oben. Ulrike ist kurz hinter mir.

Zusammen lehnen wir uns über die Brüstung. Auf der einen Seite können wir unter uns das Dorf sehen. Und da hinten auch Körperich.

Zur anderen Seite, auch dort geht es bergab, da ist Luxemburg. Es sieht nicht anders aus als Deutschland. Aber es ist Ausland. Die Grenze ist direkt da irgendwo. Ganz unten, wo der Fluss ist.

Manchmal beobachten wir von hier auch Rudi und Michi, wie sie in den Wald gehen. Das ist etwas, das die Eltern noch weniger wollen als mich ganz allein im Wald. So viel habe ich schon kapiert. Meine Brüder kommen nämlich nicht wegen dem Hochsitz hierher.

Ein großer Sattelschlepper dampft die Straße zur Grenze hinauf, erreicht den höchsten Punkt und rollt wieder runter. Auf der Wand des Auflegers sind ein paar Buchstaben zu sehen, die im Dreck untergehen. Der Auspuff qualmt richtig.

Ulrike legt einen Arm um meine Schultern. Und ich meinen um ihre. Drei Wochen Osterferien. Drei lange Wochen. Und wir werden jeden Tag zum Hochsitz kommen.

«Hast du was?», frage ich.

Ulrike zieht ein Bild aus der Hosentasche. Ein Knick zieht sich quer durch das Gesicht, eine Ecke ist etwas eingerissen. Sie legt kurz den Kopf schief, denn sie weiß, dass ich das nicht mag.

«Teofilo …», sage ich, als ich den Namen lese.

«… Cubillas», sagt sie. «Der kommt aus Peru.»

Peru ist in Südamerika, das habe ich im Atlas nachgeschlagen. Peru liegt ziemlich weit weg von Argentinien, wo die Fußball-Weltmeisterschaft stattfindet. Auf der anderen Seite des Kontinents. Was direkt neben Argentinien liegt, ist Paraguay. Die spielen nicht bei der Weltmeisterschaft mit, aber ich kenne einen, der da hingezogen ist. Den Hannes, der da einen Bauernhof von der Regierung geschenkt gekriegt hat. Der ist ein Cousin, kein direkter Cousin, aber ein Verwandter, der Sohn von Onkel Erich und Tante Brigitte.

«Keine Deutschen?», frage ich.

Sie schüttelt den Kopf. «Kein Deutscher. Und das hat auch schon so ausgesehen, als ich es gefunden habe.»

«Wo?»

«Unter dem Bett», sagt Ulrike. «Von Frank.»

«Sonst nichts?»

«Ich hab alles durchsucht.»

«Sie passen auf.»

«Stimmt.» Ulrike nimmt Teofilo Cubillas wieder in die Hand. «Auf die Deutschen ganz besonders.»

«Wir brauchen Nachschub», sage ich.

«Dringend», sagt Ulrike, als der Motor schon deutlich zu hören ist. Die Abzweigung von der Landstraße auf den Feldweg ist vom Hochsitz aus nicht zu sehen. Davor steht ein letzter Zipfel des Waldes. Aber ich weiß, welcher Wagen das ist.

Ein Mercedes, ganz klar.

Der Mercedes vom Bürgermeister.

Ulrike sieht mich an. Also müssen wir eine Zeitlang warten, bis wir wieder vom Hochsitz runterkönnen.

Das Klopfen des lauten Motors wird kurz leiser und dann wieder lauter. Gerade ist der Bürgermeister abgebogen. Takatakatak, immer näher kommt er, und wir ducken uns, damit die beiden uns nicht sehen können. Drei Mal haben wir das schon mitgekriegt. Der Bürgermeister und Frau Söhnker. Beim ersten Mal haben wir uns abgewechselt, um durch den Spalt zwischen den Holzlatten gucken zu können. Jetzt reicht uns, was wir zu hören kriegen.

Der Motor ist aus. Der Bürgermeister lacht. Er ist deutlich durch die offenen Fenster zu hören. Frau Söhnker lacht auch. Dann ist es kurz still, bis Frau Söhnker «du Ferkel» sagt. Mit langgezogenem E.

Es ist das erste E, das sie mit ihrer hohen Stimme so gedehnt hat.

Vorsichtig drehen wir uns um und setzen uns leise mit dem Rücken zu dem, was unten passiert. Frau Söhnker kichert gerade ganz komisch.

So viel gibt es wirklich nicht zu sehen. Und was man sehen kann, kennen wir schon.

[ 2 ]

«Bist du sicher? Ist es das Haus da hinten?»

«Also auf dem Zettel … Hier, guck. Nach rechts, da sind wir eben gefahren. Dann nach links, an dem Trafohäuschen hier vorbei. Und dann wieder rechts. Oder?»

«Lass uns erst mal warten und das Haus beobachten. Ich will sicher sein.»

«Hier wartet niemand auf uns. Wenn, dann war jemand hinter uns, aber das haben wir doch geklärt, oder? Ich muss sowieso … Wo sind die Tampons? Haben wir eigentlich genug?»

«Haben wir. In meiner Tasche. Ich hole sie gleich raus.»

«Sollen wir später einkaufen fahren?»

«Lass uns lieber warten. Wir gucken noch mal auf die Landkarte und fahren morgen früh. Wir sind eben schon aufgefallen. Und wir haben genug bis morgen. Oder sogar übermorgen.»

«Wir sind nicht aufgefallen. Wir sind einfach nur zwei Frauen in einem Ascona.»

[ 3 ]

«Sanne!»

Mamas Stimme ist ganz angespannt, als wir bei uns ankommen. Ich weiß, was das bedeutet. Ihr fehlt etwas zum Kochen. Das passiert nicht so oft, denn auf dem Bauernhof gibt es alles, und eigentlich kaufen wir nicht so viel ein. Aber manchmal eben doch. Und heute braucht Mama Brühe. Wenn sie beim Kochen nämlich feststellt, dass etwas nicht da ist, dann muss es schnell gehen. Und dann sucht sie jemanden, der zu Trine geht. Ich bin froh, dass wir genau im richtigen Moment angekommen sind.

Auf dem Weg zu Trines kleinem Laden kommen wir bei der verrückten Gaby Teichert vorbei. Sie steht da in ihrem Kittel. Wir hoffen, dass sie uns nicht anspricht. Aber sie redet meist nur mit den Erwachsenen. Dann sagt sie zum Beispiel was über ihren Garten und Unkraut. Oder sie redet über Jochen, ihren Sohn, der nicht mehr lebt. Manchmal kommt sie nass aus dem Bach. Dann lachen die Leute über sie. Papa sagt, dass sie früher noch schlimmer gewesen ist. Einmal hat die Feuerwehr sie von einem Baum heruntergeholt.

Bei Trine im Laden ist nichts los. Und das ist gut so. Dann fühlen wir uns am wohlsten.

Der Laden ist nicht mehr als ein kleines Zimmer. Vorn ein enger Raum, gerade so groß, dass man nicht im Regen steht. Dahinter die Theke mit allem möglichen Zeug davor, vor allem all den leckeren Süßigkeiten. Und dahinter sitzt Trine immer und liest in den Groschenheften, wo vorn drauf ein Mann mit Locken zu sehen ist, der eine Frau im Dirndl küsst. Wenn einer reinkommt, steht sie auf.

Erwachsenen erzählt sie gleich alle möglichen Geschichten, aber wenn wir es sind, dann guckt sie enttäuscht. Ich habe Ulrike wie immer das Geld gegeben, und sie sagt, was wir brauchen.

«Brühe.»

«Rinder oder Geflügel?» Trine hat alles.

«Rinder.»

Als Trine sich umdreht, greife ich zu. Zwei Hanuta sind schnell unter meinem T-Shirt in der Hose verschwunden.

Das ist der Grund, warum wir uns nie beschweren, wenn wir zu Trine einkaufen geschickt werden.

[ 4 ]

Langsam ausrollen. Dann erst mal eine Zigarette rauchen. Was er hier machte, war ohnehin sinnlos. Aber das war sein Revier, seine Verantwortung. Er musste das tun.

Polizeiobermeister Rolf-Karl Reiter öffnete das Seitenfenster und blies den Rauch hinaus. Dabei fielen ihm die Zementsäcke auf. Einige davon aufgerissen. Die hatten sicher schon dort gelegen, als der alte Peters gestorben war. Wie lange war das her? Drei Jahre? Länger?

Aus den Rissen in der geteerten Einfahrt wuchsen dicke Grasbüschel. Eine Fensterscheibe im Parterre hatte einen Sprung. In der Etage darüber war eine sogar zerschlagen. Die Autoleichen in den Ställen, die er durch die geöffneten Tore sehen konnte, und die Motorradgerippe waren auch mehr geworden. Reiter flippte den Stummel durch das Fenster und blickte in den Rückspiegel. Aus dem Handschuhfach holte er die kleine Schere hervor und schnitt die Spitzen seiner Nasenhaare. Seine Frau hatte gesagt, dass sie umso schneller wuchsen, je öfter man sie kürzte. Kurz vor der Scheidung war das gewesen, und er hatte damals schon den Eindruck gehabt, das sie das nicht freundlich gemeint hatte. Aber was sollte man machen, wenn sie so schnell wuchsen?

Schere wieder zurücklegen. Kurz Luft durch die Nase pusten. Die Uniformjacke abklopfen. Alles wie immer. Reiter stieg aus dem Streifenwagen, ohne die Tür abzuschließen, und ging auf die Haustür zu.

Er hob die Faust, um anzuklopfen, besann sich dann aber und öffnete die Tür einfach. Reiter betrat den Flur und erwartete üblen Geruch. Aber die Nase wurde enttäuscht.

Die Tür zur Küche stand halb offen. Er blickte hinein und sah frisch gespültes Geschirr auf der Ablage. Na, wahrscheinlich hatte einer der drei Brüder eine Frau für Sex aufgegabelt, die sich morgens erbarmt hatte. Wer sonst hätte das tun sollen?

Holzscheite aus dem Winter lose neben dem Ofen. Werkzeug auf dem Flurboden und auf der Treppe. Reiter spähte nach oben. Geräusche waren keine zu hören. Sicher waren alle drei unterwegs. Es war ja nicht so, dass hier niemand arbeitete.

Fast wäre er in einem Teppichriss auf der obersten Stufe hängengeblieben. Er polterte kurz und drehte sich um. Die einzige offene Tür führte zu einem Schlafzimmer. Mein Gott, dachte er, wie sieht das denn hier aus?

Das Bett nicht gerichtet. Die Schranktür offen. Statt auf dem Bügel zu hängen, war die Kleidung einfach dort hineingeworfen worden. Über dem Bett hing ein Poster an drei Reißzwecken. The Sweet stand über vier jungen Männern in komischen Ledersachen. Hier sah es aus wie in einem Jugendzimmer. Dabei war Peter, der Jüngste, doch schon einundzwanzig.

Reiter öffnete eine Papiertüte, die auf der Kommode lag. Das Puddingteilchen darin moderte grün vor sich hin. Da war er. Der Geruch, den er schon früher erwartet hatte.

Als er sich umdrehte, um den Raum zu verlassen, sah er den Geldschein, der unter der Kommode hervorguckte. Er bückte sich und nahm den Hunderter in die Hand. Dann sah er noch einen und ging auf die Knie. Drei, vier, fünf. Er rollte sie zusammen und steckte sie in die Hosentasche.

Zurück im Flur überlegte er, was er noch tun konnte. Eigentlich ging es nur um Präsenz. Es war seine Pflicht, hier ab und zu nach dem Rechten zu sehen. Im Tal passierte ja nicht viel. Also hatte er Zeit, sich um jene zu kümmern, die die öffentliche Ordnung mehr gefährdeten als andere. Aber mehr als zu mahnen, vermochte er auch nicht. Er war nur ein einfacher Polizist.

Die Tür, auf die er gerade in Gedanken starrte, wurde geöffnet. Paul Peters stand da in Unterhose und riss die Augen auf. Dass Paul Linksausleger war, sah man am Ständer im Feinrippstoff.

«Was machst du denn hier?», fragte er.

«Für dich heißt es immer noch: Was machen Sie denn hier, Herr Reiter? Oder besser noch: Guten Morgen, Polizeiobermeister Reiter.»

«Ja, schon gut. Aber was machen Sie denn hier?» Er kratzte sich durch die Unterhose.

«Nachschauen, ob die Dinge in Ordnung sind.»

«Und wer hat Sie reingelassen?»

«Die Tür war auf. Ich habe mir Sorgen gemacht.»

«Um wen?»

Reiter drehte sich um und ging die Treppe hinab. Er hörte das Strullen in der Toilettenschüssel, als er das Erdgeschoss erreichte. Das Funkgerät an seiner Hüfte knackte. Er verstand irgendwas mit einem Verkehrsunfall und fragte nach.

[ 5 ]

«Wie ein Mädchen», sagt Papa. «Der sieht aus wie ein Mädchen.» Er schaufelt sich was rein und schluckt es schnell runter. «Bis hier», sagt er dann und hält kurz die Hand irgendwo auf den Rücken. Die Eltern haben schon seit ein paar Tagen von dem neuen Lehrling bei den Herres erzählt. Weil alle davon reden, sagen sie. Aber Papa hat ihn gerade eben zum ersten Mal selbst gesehen, als er Herrn Herres zusammen mit dem Lehrling bei Raiffeisen begegnet ist. Eigentlich redet Papa beim Abendessen am liebsten darüber, was er tagsüber in den Nachrichten gehört hat, dann sagt er meistens irgendetwas über Politik und warum alle keine Ahnung haben. Heute ist das anders.

Chrissi lacht mit vollem Mund und prustet ein paar Krümel über den Tisch. Dafür kriegt er von Papa einen strengen Blick. Mit Essen im Mund sollen wir nicht reden. Chrissi würgt den Bissen herunter. «Wie ein Mädchen», sagt er. Weil er zwar schon heruntergeschluckt, aber immer noch den Mund halb voll hat, verstreut er großzügig noch mehr Krümel über dem aufgeschnittenen Käse, der vor ihm steht. Papa gibt ihm dafür einen Schlag auf den Hinterkopf.

Beim Abendessen sind wir allein. Nur die Familie. Papa und Mama. Rudi, Michi und Chrissi, meine Brüder. Und ich.

Ganz oft sind noch andere Leute dabei. Ernst, unser Arbeiter, oder Freunde meiner Brüder und manchmal auch Ulrike, die aber gerade von ihrer Mutter abgeholt worden ist, weil auch bei ihnen irgendwer zu Besuch ist. Und am Wochenende sind es manchmal Papas und Mamas Brüder und Schwestern mit ihren Familien.

«Die machen heute, was sie wollen.» Mama trägt eine Schüssel Eintopf auf den Tisch. Dabei hat sie mich im Blick. «Du musst dir die Haare wieder wachsen lassen.» Dann setzt sie sich. «Die sind doch so schön.»

Chrissi hat den Mund schon wieder voll und muss prusten. Zum Glück hält er sich die Hand vor die Lippen. Sonst hätte es vielleicht eine Bescherung gegeben. Er würgt schon wieder herunter, was er kaut, um den Mund zum Sprechen frei zu haben. «So schöne Haare», sagt er.

Chrissi ist fast ein Jahr älter als ich, aber eigentlich noch ein Kind. Von meinen Brüdern ist er der jüngste. Deshalb macht er alles mit. Rudi und Michi sind schon sechzehn und fünfzehn, und ihn interessiert nur, was die beiden machen.

Und mich hasst er. Weil ich ein Mädchen bin. Und weil ich klüger bin als er, was nicht so schwierig ist. Aber auch, weil ich stärker bin als er.

«So schöne Haare», sagt er noch einmal und hofft, dass ich auf ihn reagiere. Da kann er lange warten. Eine Reaktion muss er sich verdienen. Und über meine Haare diskutiere ich nicht. Die will ich kurz haben.

«Richtige Locken hättest du», sagt Mama, «schöne, blonde Locken», und ich warte schon auf Chrissis Echo. Aber Michi ist schneller. «Mir fehlt ein Bonhof», sagt er, obwohl sein Mund noch nicht ganz leer ist.

«Bei mir so ein Iraner.» Rudi guckt uns alle zugleich an und fährt sich über die Haare unter der Nase. Er hat fast schon einen richtigen Schnurrbart. Ich muss kurz überlegen, aber den habe ich nicht genommen. Keinen Iraner. Hätte ich natürlich, wenn er mir in die Finger gekommen wäre. Aber das ist wirklich nicht meine Schuld.

«Fast zwei Millionen Mark», sagt Papa leise, fast zischend. Er hat irgendetwas erzählt, nur habe ich nicht zugehört.

Ich weiß, wer den Bonhof hat, und auch, wo andere Bilder sind, die die Brüder vermissen. Also höre ich Papa zu, der über irgendetwas anderes redet, das womöglich interessant sein könnte.

«Das musst du dir vorstellen.» Papa presst die Lippen aufeinander.

Er guckt abwechselnd Mama an und an die Decke, was ein Zeichen dafür ist, dass es eine Erwachsenengeschichte ist. Und es schadet nie, da mal zuzuhören.

«Ja», sagt Mama. «Die Renate hat erzählt, dass ihr Schwiegervater erzählt hat, dass …» Sie überlegt, wer genau was gesagt hat.

«Bei mir ist es auch ein Italiener.» Michi guckt mich an, glaube ich. «Und Johan Neeskens. Den hatte ich doppelt.» Er ist so laut, dass ich Mama gar nicht verstehen kann. «Der zweite ist weg.»

«… und das ist der Hof doch überhaupt nicht wert.» Mama immer noch.

«Ja, und beim Franzker und beim Rosskuhl war der auch.» Papa nimmt sich eine von den eingelegten Zwiebeln und betrachtet sie. «Und sogar beim Trommler in Geichlingen.»

Papa steht auf. «Müsst ihr besser drauf aufpassen», sagt er zu den Brüdern. «Ihr müsst die Zimmer sowieso besser aufräumen. Wie es da immer aussieht. Wann geht denn das endlich los mit der Weltmeisterschaft?»

«Im Juni», sagt Michi und streicht sich über die Oberlippe wie Rudi eben. Dabei hat er da noch gar keine Haare. «Und wir werden wieder Weltmeister.»

[ 6 ]

Der Chauffeur beschleunigte behutsam. Hier hinter der Grenze sollte er vorsichtig fahren. Das war die Anweisung. Was immer das auch bedeutete. Keine Geschwindigkeitsübertretung, so viel war klar. Das hatte er begriffen. Oder andere Verkehrsteilnehmer schon einmal vorlassen, auf die eigene Vorfahrt verzichten. Das war eine andere Forderung gewesen. Da hatte er nachfragen müssen.

«Sie müssen nicht auf Ihrer Vorfahrt beharren», hatte der Mann in dem gutsitzenden Anzug umständlich gesagt. «Lassen Sie andere fahren. Benutzen Sie die Lichthupe, um zu kommunizieren.» Als professioneller Chauffeur hatte er schon viel erlebt, aber so eine Anweisung noch nicht.

Als ob das in dieser Gegend üblich wäre. Das machte doch sonst auch keiner hier. Aber egal. Der Mann hinter ihm zahlte, und er zahlte gutes Geld.

Der Wagen fiel sowieso auf. Was machte man hier auch mit einem Cadillac Seville? Das war eine Gegend, wo der Wert eines Autos danach berechnet wurde, ob es einen Anhänger ziehen konnte. Na gut, das konnte der Cadillac auf jeden Fall auch. Oder ob man mit ihm betrunken einen Schleichweg durch den Wald nehmen konnte, damit einen die Polizei nicht drankriegte. Das wollte er mit dem Wagen nicht probieren. Er war nur der Chauffeur.

Der Mann saß im Fond und richtete die Krawatte. Im Rückspiegel beobachtete ihn der Chauffeur immer wieder einmal. Scharf gezogener Scheitel im dunkelbraunen Haar. Der Schnurrbart wie vom Barbier geschnitten. Die viereckige Brille. Mit dem Zeigefinger korrigierte er ihren Sitz und beugte sich dann nach vorn.

«Das muss bei Schankweiler sein», sagte der Mann leise.

«Gewiss», gab der Chauffeur zurück. «Ich weiß, wie wir dort hinkommen.»

Es war wie gestern auch. Und vorgestern. Beim Einstieg im Hotel in Luxemburg reichte ihm der Mann eine Adresse auf einem handgeschriebenen Zettel oder er nannte ihm einen Ort. Er suchte sie dann auf der Michelin-Karte heraus.

Nun hatte er die Landstraße erreicht, die er aber gleich schon wieder verlassen musste. Dort war der Abzweig. Blinker setzen. Langsam das Tempo drosseln. Abbiegen. Vorsichtig beschleunigen.

«Repräsentieren Sie auf der Straße die Würde, die der Wagen vermittelt», hatte der Mann beim ersten Treffen gesagt. Als Antwort hatte er genickt, ohne wirklich zu verstehen, was gemeint war. «Sehen Sie», hatte der Mann gesagt, «dieses Auto werden sich die Leute merken. Geben Sie ihnen die Gelegenheit, es zu betrachten.»

Hier musste er erneut die Straße wechseln. Blinker setzen. Tempo drosseln. Abbiegen. Wieder beschleunigen. Sie waren gleich am Ziel.

Da stand jemand an der Straße und winkte. Ein alter Mann in Blaumann und Gummistiefeln zeigte auf einen Bauernhof, der fünfzig Meter von der Straße entfernt stand. Darüber wunderte er sich. Gestern war es genauso gewesen. Da hatte das Ehepaar in Hüttingen vor dem Haus gewartet. Und vorgestern, als er den Mann zum ersten Mal gefahren hatte, war er von einem Bauern empfangen worden, der sogar im Anzug steckte. Grau, leicht verschlissen, aber das Beste, was er im Schrank hatte. So viel hatte er schon von weitem erkennen können.

Er bremste vor dem Haus. Dann ließ er fünf Sekunden verstreichen, so wie von dem Mann gefordert. Er stieg langsam aus, rückte im Gehen die Kappe auf dem Kopf zurecht und bewegte sich vorn um den Cadillac herum. Dann öffnete er die Tür zum Fond und verbeugte sich leicht.

Der Mann selbst ließ sich Zeit, bevor er ausstieg. Während er sich aufrichtete, setzte er das Lächeln auf, das er im Wagen nicht zeigte. Dann ging er auf den Bauern zu, der mit weit aufgerissenen Augen auf ihn wartete. «Herr Petrus», sagte er laut. «Ich freue mich, Sie endlich kennenlernen zu dürfen.»

[ 7 ]

Den Schmerz würde sie ertragen. Wie immer. Wenn sie in irgendetwas Erfahrung hatte, dann darin.

Gaby Teichert verließ ihr Haus und blickte sich um. Da war niemand aus dem Dorf, der sie beobachtete. Alle waren beschäftigt. Beschäftigt mit irgendwas. Alle waren sowieso immer beschäftigt.

Sie auch.

Freude war, was sie gerade empfand. Freude auf den Schmerz. Diesen anderen Schmerz.

Aus der Küche von den Feckers trieb der Duft von bratendem Fleisch. Sie beschleunigte den Schritt und hatte bald die Stelle erreicht, wo sie zwischen den Bäumen verschwinden konnte. Die Füße ließen sie fast laufen, bis sie am Ufer des Baches angekommen war. Dort blieb sie stehen.

Manchmal konnte sie sich einfach nicht mehr erinnern, wann das angefangen hatte. Sie ging leicht in die Knie und sprang ab.

Mit ausgebreiteten Armen landete sie im Bach. Obwohl sie den Kopf zur Seite drehte und so weit wie möglich nach hinten reckte, schlug sie mit dem Kinn auf einem Stein auf.

Tat das weh.

Tagelang würde man das sehen können.

Der linke Oberschenkel würde blau werden. Und das rechte Schienbein sicher auch, aber nicht ganz so schlimm.

Dafür, dass der Bach so wenig Wasser führte, war es aber glimpflich ausgegangen. Sie lag noch im Wasser und versuchte einzuschätzen, ob sie am Kinn eine Wunde haben würde. Vielleicht einen kleinen Riss. Blutete das?

Einen Moment noch blieb sie so liegen und ließ das kalte Wasser um sich herumfließen. Dann stellte sie die Hände neben dem Oberkörper auf und erhob sich. Mit dem Oberkörper schon oberhalb des kargen Baches sah sie sich um. Niemand stand da. Keine Kinder, die sich über sie lustig machten. Und auch nicht deren verdammte Eltern.

Sowieso war es egal. Man tat, was man tun musste. Sie sprang halt in den Bach.

Und gleich, welche Wörter sie dafür hatten … Sie würde es wieder tun. Morgen. Oder am Tag danach.

Das Kinn hatte wirklich etwas abbekommen. Sie tastete vorsichtig das Gesicht ab, noch im Bachbett stehend. Gleich im Spiegel würde sie es genau sehen können. Sie würde es sehen und sie würde den Schmerz spüren.

[ 8 ]

Zum Mittagessen ist Ulrike bei uns, nachdem wir den Vormittag auf dem Hochsitz verbracht haben. Wir räumen gemeinsam den Tisch ab und fahren dann mit den Rädern nach Körperich. Das darf ich erst, seit ich zehn bin, also seit etwas mehr als einem Jahr. Denn auf der Landstraße ist meistens viel Verkehr, und Mama guckt immer streng, wenn wir darüber reden. Ich glaube, sie hat einfach Angst, dass wir nicht aufpassen. Dabei fahren wir immer genau auf dem weißen Randstreifen, wir haben ja selbst große Angst vor den Autos. Ich bin meistens vorn.

In Körperich gibt es alles. Geschäfte, die Post, eine Bank und die Kneipe, in der Papa immer Skat spielt. Sogar eine Polizeiwache ist da. Ein Revier wie die Polizisten im Fernsehen hat Herr Reiter allerdings nicht. An dem Haus, in dem er lebt, hängt ein Polizeischild, aber die Leute, die da klingeln, wollen meistens einfach nur reden, sagt Papa immer. «Hier passiert doch nix», sagt Papa auch.

Außer Verkehrsunfällen. Dann hat Herr Reiter natürlich zu tun. Und manchmal hat er sogar ganz schön viel zu tun. Die Leute machen dann oft einen Witz, der mit Herrn Reiters Nachnamen zu tun hat. Wahrscheinlich muss er das Pferd noch satteln, sagen sie dann, wenn es wieder so lange dauert, bis er am Unfallort auftaucht.

Heute wäre es schön, wenn Herr Reiter irgendwo zu einem Verkehrsunfall müsste. Kein richtig schlimmer, niemand will ja, dass Leuten etwas Fürchterliches passiert. Also dass einem ein Bein abgerissen wird wie dem Onkel von Detlef aus der Parallelklasse, der mit seinem Moped unter einen Trecker gekommen ist, total betrunken. Aber wenn irgendwo zwei Autos einfach nur zusammenstoßen würden, das würde schon helfen bei dem, was wir vorhaben. Herr Reiter soll uns auf gar keinen Fall dabei sehen.

Die Post ist unser Ziel. Ich bin nämlich ganz sicher, dass es da hängt. Wir stellen die Räder um die Ecke ab, damit wir nicht mit ihnen in Verbindung gebracht werden können. Das nur für alle Fälle, wenn irgendetwas schiefgehen sollte und wir zum Beispiel weglaufen müssen.

Ich weiß nicht, wie es Ulrike geht. Aber ich habe totales Herzklopfen. Das hier ist etwas anderes als bei Trine im Laden oder die Sache mit den Fußballbildern zu Hause.

Als wir an der Tür zur Post ankommen, bin ich überrascht, dass die ganze Glasscheibe in der Mitte der Tür mit dem Plakat ausgefüllt ist. So habe ich es nicht in Erinnerung. Gerade geht die Tür auf, und jemand kommt heraus. Ich kenne die Frau irgendwoher und sie mich auch, denn sie lächelt mich an. Wenn sie mich erkannt hat, dann müssen wir natürlich umso mehr aufpassen ab jetzt. Noch bevor die Tür wieder zugeht, können wir erkennen, dass das Plakat auch von innen zu sehen ist. Da haben sie wahrscheinlich zwei aneinandergeklebt, weil es ihnen wichtig ist, dass man es von beiden Seiten sehen kann.

Ulrike sagt keinen Ton, aber ihr Blick geht von der Tür zu mir. Ich schüttele den Kopf. «Da ist es zu gefährlich», sage ich. Die Tür geht schon wieder auf. Ein alter Mann kommt aus der Post heraus, den ich auch irgendwoher kenne. Das ist kein Wunder. Hier in der Gegend kennen sich ja alle. Der alte Mann guckt uns aber nicht an. Vielleicht ist das unser Vorteil. Viele Leute beachten uns einfach nicht, weil wir Kinder sind.

Noch bevor die Tür richtig zugefallen ist, entdecke ich es. Im Vorraum hängt noch eines von den Plakaten an der Wand. Ich stupse Ulrike an der Schulter an, und wir gehen hinter einer Frau rein, deren Gesicht ich nicht beachtet habe. Hoffentlich ist das kein Fehler.

Durch das Glas der zweiten Tür kann man sehen, dass in der Post selbst nicht viel los ist. Drei Frauen stehen in der Mitte des Raums und unterhalten sich. Und eine Frau und ein Mann warten am Schalter.

Ich habe Ulrike an die Vordertür geschickt und versuche, den Geschäftsraum im Auge zu behalten. Dann stelle ich mich unter das Plakat und gucke mich noch einmal um. Ich habe die Finger schon an dem Plakat. Weil sich Ulrike nicht rührt, ziehe ich es einfach herunter. Es kommt mit den Tesastreifen von der Wand.

Als ich das Plakat in den Händen halte, bin ich auf einmal ganz ruhig. Ich rolle es sorgfältig zusammen, als würde ich das jeden Tag machen. Dann gehen wir raus und um die Ecke zu den Rädern und fahren wieder zurück. Daran, dass wir besser etwas zum Tragen mitgebracht hätten, haben wir nicht gedacht. Deshalb ist es auf dem Rückweg besonders gefährlich. Mit nur einer Hand am Lenker ist es schwerer, auf dem weißen Streifen an der Straße zu bleiben. Ulrike fährt dieses Mal ausnahmsweise vor.

[ 9 ]

Der hatte wirklich gar keine Chance gehabt. Auf gar keinen Fall, nachdem er von der Straße abgekommen war.

Polizeiobermeister Reiter stand am Abgrund und blickte hinunter. So viele richtig steile Abhänge gab es nicht in der Gegend. Und gerade hier runterzufallen. Was für ein Pech. Der war auch nicht von hier. Sonst hätte von der Stelle hier gewusst. Die enge Kurve. Selbst die jungen Leute fuhren hier vorsichtig.

Der Wagen ein Escort, 77er-Modell, recht neu also. Das Kennzeichen aus Koblenz. Mittlerweile war das Dach so weit abgeflext, dass die Sanitäter den Toten rausholen konnten. Dass er tot war, hatte er sich schon bestätigen lassen.

Im Grunde hätte er das selbst überprüfen müssen. Aber wie hätte er da runterkommen sollen? Dafür war er nicht mehr beweglich genug. Er hätte sich natürlich von Baum zu Baum hangeln können, gewiss. Was für ein Pech der Fahrer aber auch gehabt hatte, dass er nicht von einem der stärkeren Bäume aufgehalten worden war. Man konnte die Schneise, die der Wagen geschlagen hatte, zwischen den dünnen Stämmen sehen.

Jetzt kam das Zeichen noch einmal. Der Sanitäter legte beide Hände flach übereinander und strich sie dann zur Seite. Garantiert tot.

Mit der Information konnte er sich verdrücken. Den Rest würden die Profis machen. Bestatter und Abschleppunternehmen.

Das Funkgerät.

«Was?», fragte er. «Was haben die gestohlen? Das Fahndungsplakat?»

«Unglaublich», sagte er noch. «Und wer?»

[ 10 ]

«Eigentlich könnten wir einfach da rüber. Die Straße ist leer, und … durch den Fluss sind das keine dreißig Meter.»

«Komm. Komm zurück. Hinter dem Baum hier kann uns keiner sehen.»

«Hier ist doch niemand. Wer soll uns sehen?»

«Komm einfach.»

«Ja, ja. Aber sieh dich um. Da runter, und da auch. Jetzt über die Straße, und der Fluss ist nicht tief und nicht schnell.»

«Dann sind wir ohne Wagen.»

«Nicht das Problem. Wir haben das Geld dabei. Und wir haben die Eisen.»

«Die anderen Sachen sind noch im Haus.»

«Na und? Wir sind hier, um über die Grenze zu kommen. Um nichts anderes geht es.»

«Sie werden sie finden.»

«Wer soll sie finden?»

«Die Bullen.»

«Wenn die Bullen nicht wissen, dass wir hier waren, werden sie das Haus nicht durchsuchen. Niemand weiß von Klaus’ Haus. Und Klaus wird sich um die Sachen kümmern.»

«Da.»

«Was?»

«Da. Eine Uniform?»

«Wo?»

«Da hinten. Der große Busch hinter dem Fluss. Rechts davon. Die drei Bäume. Dann der Fels. Und da.»

«Scheiße.»

«Ein Grenzer.»

«Und wo einer ist …»

«… könnte noch einer sein.»

«Muss nicht.»

«Muss nicht. Siehst du einen Hund?»

[ 11 ]

Der Himmel ist grau, ganz leise ist Donner zu hören, aber es regnet nicht. Wir stehen auf dem Hochsitz und gucken auf das Dorf. Jedenfalls tun wir so.

Ulrike sagt kein Wort, ich auch nicht.

Ich schiele rüber zu ihr, ohne den Kopf zur Seite zu bewegen, und ich glaube, dass sie das genauso macht. Es ist ein bisschen wie bei so einem Pistolenduell bei einem Western im Fernsehen. Keiner rührt sich. Aber wenn sich einer von uns …

Ulrike bewegt einen Arm ganz langsam. Es ist der, den ich nicht so gut sehen kann. Ich weiß, dass ich gewonnen habe.

Jetzt zieht sie das Bild aus der Jackentasche und hält es mir hin. «Ein Schwede», ruft sie ziemlich laut.

Ich bin dran. Den Schweden habe ich gesehen, aber mehr als einen kurzen Blick habe ich nicht auf das Bild geworfen. Den Namen habe ich sowieso noch nie gehört. Ich warte eine Sekunde und dann noch eine und lasse Ulrike zappeln. Und dann greife ich in meine Hosentasche und zeige ihr meinen Fang.

«Ein Brasilianer.» Nelinho steht drauf. Nur der eine Name. Nicht wie sonst Vor- und Nachname.

Ulrike guckt ganz genau auf mein Bild. Nickt dann. Guckt danach mich an. Da ist Freude, die ich in ihren Augen sehe. Aber auch nicht so viel. Wir wissen beide, dass wir unser Album nie vollkriegen werden. Also gucken wir wieder auf das Dorf.

Dabei sehen wir meine Brüder. Rudi und Michi verschwinden gerade auf der anderen Seite der Straße im Wald. Das ist ganz schön weit weg, und sie sind schon nicht mehr zu sehen, als Ulrike und ich uns zuerst ansehen und dann vom Hochsitz klettern, auf unsere Räder steigen und dahin flitzen, wo die beiden eben noch zu sehen gewesen sind.

Die Räder verstecken wir gar nicht erst, sondern lassen sie einfach da liegen, wo meine Brüder eben verschwunden sind. Wir sind leise und achten darauf, dass wir nicht auf trockene Zweige treten. Aber Rudi und Michi sind nicht mehr zu sehen.

Es ist fast dunkel hier im Wald. Die Sonne hat sich hinter Wolken versteckt, und die Bäume tragen viele Blätter.

«Wo sind die?», fragt Ulrike viel zu laut.

Ich lege einen Finger auf die Lippen und zeige mit dem anderen auf ein Ohr.

Also stehen wir da unter den großen Bäumen und versuchen, die beiden zu hören. Und wir hören eine ganze Menge Sachen. Außerhalb vom Wald erst einmal einen Starfighter, dann ein Auto auf der Straße, dann einen bellenden Hund und irgendwo einen Trecker, einen alten Trecker, so wie wir einen haben. Sowieso ist immer irgendwo ein Trecker zu hören.

Im Wald sind auch Sachen zu hören. Komischerweise sind die aber gar nicht so einfach zu erkennen wie die Geräusche, die von außen hereinkommen. Vor allem um uns herum ist es total leise. Dann knackt irgendwo etwas, das ist eher vor uns, und von hinter uns gibt es ein Fauchen zu hören, so als wenn der Wind durch einen Busch rauscht. Als ich mich umdrehe, ist da aber gar nix.

Ulrike atmet schneller als sonst. Ich weiß, dass sie Angst hat. Ich eigentlich auch. Ein bisschen. Weniger wegen dem Wald, und auch nicht wegen Rudi und Michi, sondern weil die Eltern immer so wahnsinnig besorgt gucken, wenn sie über die Sachen reden, die die beiden suchen. Sie tun dann immer so, als würden wir alle bald sterben.

Aber ich weiß, dass sich unsere Eltern wirklich große Sorgen machen wegen der Sachen von Rudi und Michi. Das Wort habe ich mir gemerkt, Devotionalien. Das ist es, was sie manchmal an Herrn Hoppe verkaufen, der sie dann selbst weiterverkauft. Herr Hoppe wohnt zwischen unserem Dorf und Hüttingen in einem kleinen Holzhaus.

Wir gehen weiter in den Wald hinein. Ein Wind kommt auf. Und für einen Moment klingt es so, als würde es regnen. Aber es sind nur die Blätter, die der Wind bewegt. Wenn sich alle Blätter auf einmal bewegen, dann klingt das ganz ähnlich.

Jedenfalls sind wir mitten im Wald und mitten in dem Rauschen, als wir das Loch im Boden sehen.

Wir gehen langsam darauf zu. Ulrike nimmt meine Hand.

Und so viel sehen wir gar nicht, als wir da reingucken. Aber die Plastiktüte ist offen, und ganz oben drauf liegt ein kleines Hakenkreuz aus Metall. Ein kleines Band hängt noch dran.

Dann sehe ich erst einmal nichts mehr. Als ich nämlich auf den Boden geworfen werde, brauche ich eine Sekunde oder noch etwas mehr, um zu kapieren, dass Rudi auf mir liegt. Er schlägt auf meinen Kopf ein, mehr mit der flachen Hand als mit der Faust. Und er ist richtig stark. Er ist ja auch mein großer Bruder.

«Lass das», schreit Ulrike zur gleichen Zeit. «Nicht da. Nimm die Finger weg.» Ich kann nichts sehen, wegen Rudi. Immerhin hat er aufgehört zu schlagen. Aber Ulrike macht mir Sorgen, denn sie ist nur ganz selten so laut.

Dann höre ich Michi pusten. Und Rudi klettert von mir runter.

Ulrike sieht Michi total wütend an. Und der hält sich die Gegend zwischen den Beinen, sagt aber nichts.

Rudi steht schon über dem Loch im Boden, beugt sich hinab und verschließt die Tüte mit dem Hakenkreuz. Dann dreht er sich um und schaut tief in den Wald hinein.

«Jetzt brauchen wir ein neues Versteck», sagt er.

[ 12 ]

Der Chauffeur beobachtete, wie sie seinen Mann zu zweit verabschiedeten. Der Bauer und seine Gattin. Die Frau, im Kostüm, und das am Werktag, bekam den Mund nicht zu, als der Bauer die Hand ausstreckte. Er wüsste doch zu gern, was die dadrinnen besprochen hatten.

Der Mann, der gleich wieder im Fond des Cadillac sitzen sollte, ergriff die angebotene Hand mit einer kurzen Verzögerung. Das war nur ein Moment, aber das Zögern war deutlich zu sehen. Der Bauer aber merkte das gar nicht, so beschäftigt war der mit dem, was eben geschehen war.

Dann folgte, was auch an den beiden Vortagen schon passiert