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«Großes Kino! Annas guckt literarisch unter die Haut.» taz Kodjo lebt in Berlin, seit Jahren schon. Doch Spuren hinterlassen hat er nirgends. Seine Adresse wechselt so oft wie seine Gewohnheiten, Kodjos Tagesablauf wird von zwei Dingen bestimmt: überleben. Nicht auffallen. Denn Kodjo ist illegal im Land. Der junge Mann aus Ghana kennt sämtliche dunklen Ecken der Großstadt. Weiß genau, wie er der Polizei entgeht. Tut alles, um unsichtbar zu sein – und um unsichtbar zu bleiben. Dann kommt der Tag, der alles verändert: von einem Abrisshaus aus beobachtet Kodjo einen Mord. Sieht den Täter davonfahren. Kodjo reagiert wie gewohnt: Verstecken, sich in Luft auflösen. Warten, dass der Mörder gefasst wird. Doch der hat ihn gesehen. Und schickt dem unbequemen Zeugen seine Männer hinterher. Kodjo wird gejagt. Und die Polizei sucht den Mordverdächtigen: einen jungen schwarzen Mann. Ein Krimi, ein politisches Buch, ein Gesellschaftsroman.
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Seitenzahl: 288
Max Annas
Illegal
Roman
Ihr Verlagsname
«Großes Kino! Annas guckt literarisch unter die Haut.» taz
Kodjo lebt in Berlin, seit Jahren schon. Doch Spuren hinterlassen hat er nirgends. Seine Adresse wechselt so oft wie seine Gewohnheiten, Kodjos Tagesablauf wird von zwei Dingen bestimmt: überleben. Nicht auffallen. Denn Kodjo ist illegal im Land.
Der junge Mann aus Ghana kennt sämtliche dunklen Ecken der Großstadt. Weiß genau, wie er der Polizei entgeht. Tut alles, um unsichtbar zu sein – und um unsichtbar zu bleiben.
Doch der hat ihn gesehen. Und schickt dem unbequemen Zeugen seine Männer hinterher. Kodjo wird gejagt. Und die Polizei sucht den Mordverdächtigen: einen jungen schwarzen Mann.
Dann kommt der Tag, der alles verändert: Von einem Abrisshaus aus beobachtet Kodjo einen Mord. Sieht den Täter davonfahren. Kodjo reagiert wie gewohnt: verstecken, sich in Luft auflösen. Warten, dass der Mörder gefasst wird.
Ein Krimi, ein politisches Buch, ein Gesellschaftsroman.
Max Annas hat an einem Forschungsprojekt zu südafrikanischem Jazz an der University of Fort Hare in East London, Südafrika, gearbeitet und ist vor gut zwei Jahren nach Berlin zurückgekehrt. Er hat zahlreiche Bücher zu den Bereichen Popkultur, Politik und Sport veröffentlicht. In seinem früheren Leben war er Journalist.
Für seinen ersten Kriminalroman, «Die Farm», wurde Annas mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichnet, sein zweiter, «Die Mauer», stand zwei Monate auf Platz 1 der Krimi-Bestenliste.
Für Nik Moyake, Chris McGregor, Dudu Pukwana, Louis Moholo-Moholo, Mongezi Feza und Johnny Dyani – The Blue Notes
«Messi oder Ronaldo?»
«Ist mir so egal. Wird Zeit, dass das mal ein Afrikaner wird.»
«Meinetwegen auch … Kann sein, dass du recht hast.»
«Didier Drogba Weltfußballer des Jahres. Das hört sich gut an.»
«Drogba spielt aber nicht mehr.»
«Ja, schon.» Die Ampel schaltete um auf Rot, bevor die beiden Männer die Straße überqueren konnten. «Aber du weißt, was ich meine.» Kodjo griff Saif an den Arm. Beide blieben stehen. «Die Bullen», sagte er. «Dahinten.» Zeigte mit dem anderen Arm die Reichenberger Straße hinunter.
Saif fror in der Bewegung ein, einen Fuß noch auf der Straße. Beide blickten in die Richtung, in der zwei Streifenwagen vor einem Asia-Imbiss geparkt waren.
«Es ist mitten in der Nacht», sagte Saif.
«Ich weiß.»
«Siehst du irgendwo ein Auto, das noch fährt?»
«Es ist aber Rot.»
«Und seit wann bleibst du stehen, wenn Rot ist? Und keine Autos kommen?»
Kodjo zeigte nur auf die beiden Polizeiautos.
«Hm.» Saif setzte den zweiten Fuß auch auf die Straße. «Hab ich gar keine Lust drauf.»
«Warte einfach.»
Saif drehte sich zu Kodjo und grinste.
«Und wenn es nur ein Gefallen ist, den du mir tust.» Im Augenwinkel sah Kodjo, wie ein Mann in Uniform aus dem Imbiss herauskam. In der einen Hand hatte er eine Plastiktüte, in der anderen einen Schlüssel, mit dem er auf die Autos zielte. Es fiepte kurz, und der Polizist blickte sich um. Gestikulierte in Richtung Imbissfenster. Dann öffnete er die Tür zum Fond des einen Autos und stellte die Plastiktüte auf den Rücksitz. Dabei fiel sein Blick auf Kodjo und Saif.
Trotz der Entfernung sah Kodjo, wie der Uniformierte sie mit seinem Blick heranzoomte, dann schloss er die Tür und schaute erneut zum Imbiss. Er lehnte sich an den Wagen, den Kopf aber wieder zu ihnen gewandt.
Genau in dem Moment zuckte Saif. Ganz kurz nur. Als wäre ein scharfer Kitzel durch ihn gefahren. Die Ampel für die Autos schaltete auf Gelb.
Der Polizist bemerkte es und zuckte ebenfalls. Eher so, als hätte ihn jemand in den Nacken geschlagen. Aber er entspannte sich wieder. Lehnte sich erneut an. Autoampel auf Rot.
Saif hatte die Bewegung des Bullen genau beobachtet. Und Kodjo war sich später ganz sicher, dass nichts weiter geschehen wäre, wenn Saif die Füße stillgehalten hätte. Aber es geschah automatisch, dass er den Hammerschlag spiegelte, der durch den Körper in der Uniform gefahren war.
Der Bulle guckte jetzt ganz genau hin. Aus dem Imbiss kamen drei weitere von der Sorte, alle mit Tüten an der Hand. Zwei Männer, eine Frau. Die Ampel für Fußgänger schaltete auf Grün.
Die drei anderen schauten zu ihnen hinüber, weil ihr Kollege sie anstarrte. Saif wurde ganz starr. Der erste Bulle drückte sich vom Auto ab, ohne den Blick von ihnen abzuwenden. Kodjo legte Saif eine Hand auf die Schulter.
So blieb das Bild stehen. Für den endlosen Bruchteil einer langen Sekunde.
Dann drehte sich Saif um und begann zu laufen.
Kodjo brauchte eine Weile, um sich zu orientieren. Saif war schon etliche Meter weit weg, auf dem Weg zum Görlitzer Park. Seine Schritte waren deutlich zu hören. Er hatte seine Schuhe vor ein paar Tagen noch stolz herumgezeigt. Neue Sohlen.
Ledersohlen.
Dann waren da die Uniformen. Der eine, der zuerst aus dem Imbiss herausgekommen war, führte die Gruppe an. Er hatte mehrere Meter Vorsprung. Vielleicht war er einfach schneller auf den Beinen. Oder er war motivierter als die anderen. Er hatte auch etwas mehr Zeit gehabt, den Entschluss zu fassen, Saif und ihn verdächtig zu finden. Was auch immer es war, dessen sie sich verdächtig gemacht hatten. Es hatte schließlich nur damit angefangen, dass der Bulle begonnen hatte zu glotzen.
«Stehenbleiben!», rief er jetzt.
Das war der Moment, in dem Kodjo seine Lethargie abschüttelte. Er machte einen Schritt nach vorn auf die Straße. Das führte dazu, dass einer der drei Nachzügler aus der Gruppe ausscherte und versuchte, ihm den Weg Richtung Landwehrkanal abzuschneiden. Kodjo atmete tief ein und hielt die Luft in der Lunge. Der erste Bulle hatte an Vorsprung gewonnen und höchstens noch 20 Meter bis zu ihm. Also ließ Kodjo die Luft wieder aus der Lunge und lief in die Richtung, in die Saif eben verschwunden war.
«Stehenbleiben!», rief der erste Bulle wieder.
Kodjo hörte das Wort als Echo in seinem Kopf, als er sein bestes Lauftempo erreichte. Er wusste, dass ihn die Uniformen nicht einholen würden. Zu gut war er im Training. Und in Form. Und anders als Saif hatte er seine Laufschuhe an den Füßen. Gleich hatte er die Wiener Straße erreicht. Den Görli sah er vor sich. Wo Saif nur abgeblieben war?
«Stehenbleiben!» Die Stimme klang nicht mehr so frisch wie noch vor einer Minute. Fern schon.
Als er nach rechts abbog, bemerkte Kodjo das Blaulicht. Da kamen noch mehr. Sie mussten irgendwo am Bahnhof der U1 sein. Zeit genug, die Straße zu überqueren und im Dunkel des Görli zu verschwinden. Wo Saif nur war?
«Stehenbleiben!» Der erste Bulle hatte auch schon die Wiener erreicht. Das Blaulicht war jetzt in der Nähe. Kodjo wartete ein Auto ab, das ihm entgegenkam. Dann überquerte er die Fahrbahn und rannte auf Höhe der Glogauer Straße in den Park hinein.
«Im Park», hörte er den Bullen noch rufen. «Er ist im Park.» Als Kodjo den Weg erreichte, der den Görlitzer Park längs durchschnitt, hörte er die Bremsen eines Autos quietschen. Das Blaulicht war auch schon da.
Nach Treptow musste er. Das war noch ein ganzes Stück zu laufen. Aber wenn ihn niemand aufhielt, konnte er am Ende des zentralen Weges hinter dem Kanal verschwinden. Da sollten Autos erst einmal hinkommen.
«Pass auf!» Er rempelte jemanden an. An die Brothers hatte er nicht gedacht, die hier ihre Geschäfte machten. «Sorry!» Er lief weiter. «He!» Schon wieder stand einer im Weg. «Fuck!», rief eine tiefe Stimme hinter ihm. Und: «Cops!» Scheiße, er hatte die Bullen direkt zu den Dealern geführt. Ein Pfeifton mit drei unterschiedlich langen Tönen war zu hören. Ein Signal für irgendetwas. Die Cops würden ihren Frust einfach an denen ablassen. Auf der anderen Seite … Kein Weißer findet einen Afrikaner nachts im Görli. Jedenfalls nicht den, den er sucht.
Kodjo nahm Tempo raus. Joggte jetzt. Hundert Meter noch, bis der Park zu Ende war. Dann schnell über den Kanal laufen und schließlich die Treppen runter und in Treptow irgendwo verschwinden. Er wurde von drei Leuten überholt. Die hatten es noch eiliger als er. Andere Afrikaner. Sie verschwanden auf der Brücke. Gleich hatte er es geschafft.
Schreie von irgendwo hinter ihm. Die Bullen waren schon im Park. Hoffentlich war Saif ihnen entwischt. Die drei, die ihn eben überholt hatten, kamen wieder zurück. Noch schneller als zuvor. Sie waren panisch, atmeten schwer. Kodjo blieb stehen. Blickte ihnen hinterher. Ging einige Schritte weiter auf die Brücke zu. Sah den Schein des Blaulichts zwischen den Bäumen. Scheiße. Die Cops nahmen das wichtig. Die meinten das ernst. Wahrscheinlich warteten sie am Ende der Treppe und schauten sich an, wer da auftauchte. Oder sie waren schon auf dem Weg in den Park.
Zurück.
Aber er wollte sich auf gar keinen Fall auf demselben Weg blickenlassen, auf dem er gekommen war. Sie würden ihn kriegen. Also nach rechts. Richtung Görlitzer Straße. Jetzt wieder schneller. Am Teich vorbei und in den Schatten des Gesträuchs. Auf der Görlitzer fuhr gerade ein Krankenwagen entlang. Dahinter ein neuer VW. Bestimmt Bullen in Zivil. Er musste vorsichtig sein beim Überqueren der Straße. Auf der anderen Seite hatte er dann ein ganz neues Blatt in den Händen. Sie hatten ihn in den Park hineinlaufen sehen, aber noch nicht heraus.
Kunststück. Er war ja auch noch mittendrin.
Kodjo stand schon auf der Mauer, die den Görlitzer Park von der Straße trennte. Hinter sich hörte er jemanden aufschreien. Ein «Ah!» und ein «Don’t hurt me!», und dann ein «Das ist er nicht!». Irgendwer sagte etwas in schlechtem Deutsch. War das Bayrisch? Schwäbisch? Aber so schlecht es auch war, das Wort «Neger» erkannte er. Ein Bulle.
Noch ein «Ah!». Sie schlugen den, den sie erwischt hatten. Sorry Brother. Meine Schuld. Dann dachte er kurz: Saifs Schuld.
Wo war Saif? So eine Scheiße.
Die Straße war nun leer. Er sprang von der Mauer und duckte sich. Kroch zum nächsten Auto, das an der Straße geparkt war, und blickte über die Motorhaube. Das Blech war ganz warm. Der Wagen stand sicher erst ein paar Minuten hier.
Blaulicht. Kodjo machte sich klein. Verschwand zwischen dem Schotter des Trottoirs und dem Radkasten des warmen Autos. Er stellte sich vor zu verschwinden, löste sich auf für ein paar Sekunden und sah, wie das flackernde Licht an ihm vorbeifuhr. Im Park mehr Geschrei. Schmerz. Die Stimme wandelte sich vom Schrei zum Wimmern. «Hier rüber!», rief einer. Und dann: «Ich hab ihn!»
Kodjo tauchte wieder auf und beugte sich über den Wagen. Die Straße war leer. Hinüber und ducken. Der VW passierte ihn erneut. Jetzt schaute er genauer hin. Ein Mann am Steuer. Die Frau neben ihm sondierte die Straße. Runter! Der Wagen fuhr vorüber. Kodjo atmete aus.
Aus dem Park war er raus. Aber wohin konnte er? Cuvrystraße. Schlesische Straße. Rüber über die Spree. Nach Moabit mit der S-Bahn. Der Plan war gut. Aber was, wenn ihn eine Streife sah? Nahmen sie alle Schwarzen fest, die sie kriegen konnten?
Mehrfaches Sirenenheulen irgendwo. Sie rüsteten immer noch auf. Auf den zentralen Eingang zum Park rollte ein Gefangenentransporter zu. Bremste. Eine Gruppe Uniformen hatte darauf gewartet und schleppte Leute aus dem Park heraus. Eins, zwei, drei, vier, fünf zählte er. Schwarze Männer alle. Nur wegen ihm. Drogen würden sie keine finden bei ihnen. Hoffentlich war wenigstens alles in Ordnung mit ihren Papieren.
Kodjo richtete sich auf und ging zur Ecke Görlitzer Straße und Cuvrystraße. Aufrecht. Eine Frage der Würde, dachte er. Aber auch eine Frage der Haltung. Im Wortsinne. Wenn sie alle Schwarzen einsammelten, übersahen sie vielleicht den, der nicht rannte. Der nicht panisch war.
Na ja … der nicht panisch wirkte.
Kodjo war panisch. Wo war Saif? Noch eine Gruppe Bullen mit noch einer Gruppe junger Männer. Sie schoben sie in den Gefangenentransporter. Gleich war er an der Ecke angekommen. Eine ganz neue Situation.
Motorenlärm hinter ihm. Instinktiv zog er den Kopf ein. Drehte sich um. Wieder der VW. Er verschwand im nächsten Hauseingang und drückte sich an die Tür. Und war überrascht, dass diese nachgab. Vorsichtig schob er sie mit dem Rücken so weit nach hinten, dass er im Dunkel verschwinden konnte. Durch den Spalt sah er den VW passieren, kurz bevor sich die Tür wieder schloss.
Dann war es dunkel.
Kodjo ging in die Hocke und lehnte sich an die Wand. Hier war es erstaunlich kühl. Und irgendwo war am Abend gekocht worden. Es roch nach Fisch und Knoblauch. Draußen waren wieder Rufe zu hören. Aber gedimmt. Er verstand kein Wort. Konnte Freund und Feind nicht voneinander unterscheiden.
Langsam gewöhnten sich die Augen ans Dunkel. Der Herzschlag verlangsamte sich. Ob er erst einmal hierbleiben konnte?
Über ihm war es heller als hier hinter der Haustür. Er nahm Stufe für Stufe, bis er auf halbem Weg in den ersten Stock das Rundfenster zur Straße sah. Ein kleines Fenster, Kodjo musste sich durch die Öffnung in der Wand drücken, um den Kopf an das Fenster zu halten. Er sah die Straße und das Grün des Parks. Der VW passierte schon wieder. Von oben, dachte er, ist der Blick viel besser.
Leise ging er weiter hoch. Erster Stock, zweiter, dritter. Zwischen dem dritten und vierten quetschte er sich wieder an ein Fenster und blickte hinaus.
Jetzt lag der Park offen vor ihm. Er wurde surreal beleuchtet durch die zahllosen Blaulichter. Patrouillierende Polizeiautos, Uniformen ohne Zahl, so hatte er den Görlitzer Park in der Nacht noch nie gesehen. Erneut spürte er dieses Gefühl der Schuld. Er hatte für das Chaos gesorgt. Er hatte den Wahnsinn über die Leute dort gebracht.
Saif.
Saif, dachte er. War er entkommen?
Am Rande seiner Leinwand lag der Eingang des Parks an der Falckensteinstraße. Dort standen und leuchteten mehrere Polizeiautos. Einer in Uniform schickte weitere Uniformen in den Park und zeigte danach in die andere Richtung. Sucht dort. Wie konnten sie so sicher sein, dass sie ihn nicht schon lange hatten?
Dann sah er Saif. Da war eine Bewegung im Gebüsch ihm gegenüber. Er konnte ihn genau erkennen. Saif sprang von der Mauer herab.
Nein. Tu es nicht. Bleib, wo du bist.
Saif duckte sich kurz hinter einem Wagen, genau wie er es selbst getan hatte. Schlauer Saif. Bleib so. Kodjo blickte zum Eingang des Parks und dachte: Jetzt. Lauf.
Da sah er Saif, wie er aufstand und zu laufen begann. Nicht zu schnell, aber mit langen Schritten. Er kam gut vorwärts. Richtung Kanal. Dort musste er nur noch am Ufer entlang und irgendwo verschwinden. Vielleicht war dort wieder dichtes Gebüsch, so genau kannte sich Kodjo dort nicht aus. Und die Cops konnten nicht alles kontrollieren. Nicht jeden Quadratmeter. Nicht jeden Strauch. Gleich war Saif schon am Ufer angekommen und verschwand von seiner Leinwand. Kodjo atmete aus.
Aber da kam Saif schon wieder. Er rannte in die andere Richtung. Scheiße. Hinter ihm her ein Mann und eine Frau. Das waren die aus dem VW. Doch Saif war schnell. Er musste nur in die Cuvrystraße hinein. Saif schlug einen Haken. Um einen geparkten Wagen herum. Der Mann war irritiert. Aber die Frau blieb ihm auf den Füßen. Saif schlug noch einen Haken.
Und rutschte aus. Die Ledersohlen.
Er fiel mit der Seite mitten auf die Straße. Hatte die Hände rechtzeitig am Boden, um sich abzustützen. Da war die Frau auch schon auf ihm. Sie schlug ihm mit der Faust ins Gesicht. Der Mann kam auch angelaufen. Er rannte in Saif hinein wie in einen Ball. Trat ihm mit Wucht in den Körper. Kodjo sah, wie sich der Leib seines Freundes zusammenzog wie der einer Schlange. Er konnte den Schmerz tief in sich spüren.
Oberhalb der vierten Etage gab es zwei Türen ohne Klingelschild. Der Dachboden. Kodjo schätzte die Möglichkeit, dass die Leute aus dem Haus dort nachts ihre Wäsche auf- oder abhängen würden, als eher gering ein. Er setzte sich, an die Wand gelehnt, auf den Boden und holte sein Telefon heraus. Es war vierzehn Minuten nach zwei. Wann waren Saif und er den Bullen begegnet?
Irgendwo unter ihm wurde eine Tür geöffnet. Ein Lichtschein strich durch den Hausflur. Kodjo hörte auf zu atmen und drückte das leuchtende Display des Telefons gegen seine Brust. Drei Schritte in den Flur hinein. Drei Schritte zurück. Niemand sagte ein Wort. Die Tür wurde wieder geschlossen.
Von draußen kam eine vielfache Sirene. Strategie, dachte er. Sie holten die Leute aus dem Schlaf, damit sie sahen, dass gegen die Dealer vorgegangen wurde. Niemand konnte sagen, dass an dieser Front in Berlin nichts passierte. Alle würden sich an die Nacht erinnern.
Er musste hier weg.
Nur wie? Er konnte nicht einfach da raus. Die Cops würden auch am Morgen noch patrouillieren. So eine Gegend wie den Görli im Griff zu haben … das ließen sie sich nicht entgehen. Eine Demonstration der Macht. Und er war mittendrin.
Die Liste der gespeicherten Namen und Nummern im Telefon war lang. Er blieb bei Linde stehen und scrollte weiter nach unten. Kodjo starrte kurz auf ein paar Namen und kletterte die Liste wieder hoch.
Linde.
Genau die falsche Zeit. Sie hatte das Café gerade abgeschlossen und war in der ersten Tiefschlafphase. Sie würde ihn verfluchen. Sie würde das Telefon gar nicht hören, so müde war sie. Sie hatte es sowieso ausgeschaltet. Eine Sekunde lang blickte er auf das Display. Dann noch eine. Und drückte auf Grün.
Es biepte. Er wartete.
Das Biepen ging weiter. Schließlich hörte er Lindes Stimme. «Linde Buchmüller, Nachrichten nach dem … Sie wissen schon.» Noch ein höheres Biepen als die vorherigen. Kodjo wusste nicht, was er sagen sollte.
Wer kam noch in Frage? Da klingelte das Telefon. Hektisch drückte er auf den grünen Knopf. Hoffentlich hatte das niemand gehört. Er hielt das Telefon ans Ohr.
«Kodjo?» Das war Lindes Stimme. Zur gleichen Zeit wurde im Hausflur wieder eine Tür geöffnet. Der Lichtschein war derselbe wie vorhin. Kodjo hielt das Telefon ans Ohr gepresst und sagte kein Wort.
«Kodjo?», fragte Linde wieder. «Was ist los? Bist du in Schwierigkeiten?»
Die Tür wurde wieder geschlossen.
«Du musst mich abholen», sagte er so leise wie möglich.
«Bist du verrückt? Weißt du, wie spät es ist?»
«Klar weiß ich das.»
«Warum muss ich dich denn jetzt abholen? Wo bist du überhaupt? Ich bin eben erst schlafen gegangen.»
«Das weiß ich doch.»
«Aber …»
«Ich brauche deine Hilfe.»
«Wo bist du?»
«Am Görli.»
«Am Görli?»
«Du musst mit dem Auto kommen.»
«Was ist los? Du bist so leise.»
«Ich kann nicht lauter reden.»
«Okay … . Erklär es mir.»
«Ecke Cuvry und Görlitzer. Ich bin da in einem Haus. Du musst davor stehenbleiben. Beifahrertür offen. Schick mir eine Nachricht. Warte dann. Oder besser … Schick mir eine Nachricht, wenn du ankommst, und noch eine, wenn kein Bulle in der Nähe ist.»
Linde sagte nichts.
«Okay?», fragte er.
«Jaja … Ich hab dich verstanden. Aber warum fragst du nicht Marie? Die ist genauso müde wie ich. Aber die hat morgen wenigstens frei. Und sie wohnt um die Ecke.»
Kodjo atmete tief ein. «Weil du weiß bist.»
Nachdem er das Gespräch beendet hatte, stellte Kodjo das Telefon stumm. Nur nicht noch einmal die Leute im Haus alarmieren. Vielleicht hatte die Person, die die Wohnungstür zweimal geöffnet hatte, die Cops gerufen. Jetzt gerade kamen sie unten an. An der Haustür. Gleich hatten sie ihn.
Aber gerade hörte er keine Geräusche mehr von draußen. Minuten vergingen. War die Polizei abgezogen? Wenn … garantiert hatten sie ein paar zurückgelassen, um die Gegend zu beobachten. Hatte das alles wegen ihnen begonnen? Wegen Saif, der nicht stillhalten konnte? Wegen ihm, der die Bullen in den Görli geführt hatte? Was mochten sie mit Saif anstellen? Er hatte keine Papiere für Berlin. Durfte sich gar nicht hier aufhalten. Lebte hier, arbeitete hier, aber alles ohne den nötigen Papierkram. Registriert war er in der Nähe von Dresden. Aber wer wollte dort schon leben?
Schritte unten im Haus. Waren sie das? Kamen sie nun, um ihn zu holen?
Das Licht ging an. Kodjo blickte durch den Spalt zwischen den Treppen. Ein Schritt. Und noch einer. Tapsig. Jetzt auf der ersten Treppe. Er sah eine Hand auf dem Geländer. Die Schritte stoppten. Gingen wieder. Stoppten wieder. Die Person bewegte sich nicht mehr. Dann ging das Licht wieder aus.
«Scheiße!», hörte er jemanden zischen. Erneut waren Schritte zu hören. Schwer. Kodjo hörte den Mann stolpern. Er hatte beschlossen, dass es ein Mann war. Tapp. Tapp. Tapp. Das Licht ging an. Betrunken war er. Und stellte keine Gefahr dar … außer wenn er versehentlich bis ganz nach oben wankte, weil er seine Wohnung nicht fand. Schlüssel klirrten. Stochern an einer Tür. Noch ein gelalltes «Scheiße!». Es war ein Mann. Die Tür wurde geöffnet und zugeworfen. Das Licht ging wieder aus.
Wie lange mochte Linde brauchen?
Konnte er schon bis zur Haustür gehen? Besser nicht.
Das Telefon brummte. «Warte noch.»
Trotzdem stieg Kodjo langsam die Stufen hinab. Zwischen der dritten und der zweiten Etage sah er hinaus. Da war Lindes Ford. Aber er konnte nicht sehen, was auf seiner Seite der Straße geschah.
Kein Blick auf den Bürgersteig möglich. Und keine Sicht in den Wagen hinein.
Er ging zwei weitere Etagen hinab und drückte sich an das Fenster unterhalb des ersten Stockwerks.
Da war sie und telefonierte. Starrte geradeaus und redete mit irgendwem. Was konnte so wichtig sein? Um diese Zeit.
Er sah auf das Display seines Telefons. Zwanzig Minuten vor vier.
Jetzt beendete Linde das Gespräch. Sie hackte auf ein paar Tasten des Telefons. Der Text erreichte ihn. «Komm!»
Leise ging er die letzten Stufen hinab und öffnete vorsichtig die Haustür. Linde blickte ihn an. Die Beifahrertür war angelehnt. Sie nickte. Schnell rannte Kodjo zwischen den geparkten Autos hindurch, öffnete die Tür und warf sich in den Sitz.
«Duck dich», sagte Linde, als sie losfuhr. Sie bog in die Cuvrystraße ein und bald noch zwei oder drei weitere Male ab, während er versuchte, sich so klein wie möglich zu machen. «Oberbaumbrücke», sagte sie.
«Bullen?», fragte er.
«Keine zu sehen.»
«Ouf», sagte Kodjo und setzte sich auf.
«Okay … jetzt bist du mir aber eine Erklärung schuldig.»
«Und wie bist du da rausgekommen?»
Huff holte ein paar Flaschen Bier aus dem Kühlschrank.
«Für mich nicht.» Kodjo hielt die Hände abwehrend nach oben. «Zu früh für mich. Ich muss gleich zur Arbeit.»
Huff reichte Benny aus Benin und Sani aus Nigeria je eine Flasche und blieb selbst am Kühlschrank stehen. Er hatte die Geschichte noch nicht gehört.
Kodjo blickte sich in dem kleinen Raum um. Das Hinterzimmer des kleinen ghanaischen Ladens, den Huff mit seiner Frau Eula in Tempelhof betrieb. Lebensmittel und Schönheitsprodukte. Huff war eine Legende in der ghanaischen Community, immer einen Rat, immer den richtigen Kontakt. Und wenn es irgendwo lichterloh brannte, setzte man sich in dem Zimmer zusammen und fand eine Lösung. Huff war schon seit mehr als 20 Jahren in Deutschland. Kühlschrank, Tisch, ein paar Stühle. Ein Fernseher auf dem Kühlschrank. Kodjo hatte schon erlebt, dass sich hier mehr als 30 Leute versammelt hatten, etliche von ihnen standen dann noch im Laden und schauten in den Raum hinein, in dem lebhaft diskutiert wurde. Das war damals gewesen, als Dudu von dem Nazi in Lichtenberg niedergestochen worden war. Zum Glück hatte sie überlebt.
Als Kodjo überlegte, wie er die Geschichte noch einmal erzählen konnte, fiel ihm auf, dass Huff das Poster von Asante Kotoko abgehängt hatte, seinem Lieblingsteam in Ghana. Er musste ihn fragen, warum. Die Wand war so leer jetzt.
«Habt ihr von der Razzia gehört?» Issa, der Senegalese, kam ins Zimmer gestürmt. Atemlos. «War gerade im Radio. Görlitzer Park … Sie haben ihn umstellt und alle eingesperrt.»
Issa atmete aus und sah in die Gesichter der anderen. «Ah, okay. Klar … Ihr wisst davon.»
Als keiner etwas erwiderte, sagte er: «Was? Wen hat es erwischt?»
«Du musst die Geschichte noch einmal von vorn erzählen», sagte Huff. Er griff in den Kühlschrank. «Willst du nicht doch ein Bier?»
Kodjo schüttelte den Kopf. Issa hob eine Hand und nahm die Flasche.
«Okay», sagte Kodjo. «Ich muss gleich zur Arbeit. Also mache ich es schnell. Ich war gestern mit Saif unterwegs …»
«Der Syrer?» Benny.
«Er kommt aus Afghanistan.»
«Ah ja, sicheres Herkunftsland …» Benny kicherte.
«Also …», sagte Kodjo. «Wir waren bei einem Freund von Saif und wollten dann zu ihm nach Hause. Tempelhof. Es war nach eins, und ich wollte den Heimweg vermeiden, bin ja gerade in Moabit. Lieber zu Fuß zu ihm und am Morgen mit der U-Bahn. Das ist eigentlich sicherer. Wir waren da an einer Ampel. Ganz beschissene Situation. Kein Auto unterwegs, aber es ist rot. Niemand bleibt da stehen. Aber da waren zwei Polizeiautos ganz in der Nähe. Also machst du es automatisch falsch. Gehst du über die Straße, halten sie dich an. Bleibst du in der Situation stehen, sieht es auch komisch aus. Und Saif hat einfach die Nerven verloren und ist weggerannt.» Kodjo holte Luft.
«Papiere?» Issa.
«In Ordnung. Für Sachsen.»
«Sachsen? So eine Scheiße. Der arme Kerl.» Wieder Issa.
«Da sind sie uns natürlich hinterhergelaufen. Eine ganze Armee. Das ist passiert.»
«Aber es gibt keine Residenzpflicht mehr für Sachsen, oder?» Kodjo kannte den Typ nicht, der die Frage stellte. Er hatte Koteletten wie ein Soul-Star aus den 70ern, war also sicher legal. So ein Aussehen traut man sich nur, wenn es egal ist, ob einen die Bullen anhalten.
«Gelaufen ist er trotzdem», sagte Kodjo. «Was weiß ich, was er da gedacht hat.»
«Und warum seid ihr ausgerechnet in den Park?»
«Wir haben nicht lange überlegt. Wir waren auf der Flucht. Unser Fehler.» Kodjo dachte, dass er Saif nicht noch diese Sache anhängen musste. Er hatte es gerade schwer genug.
«Und ihr seid entkommen?» Issa.
Eula steckte den Kopf durch die Tür, während Kodjo den Kopf schüttelte. «Saif haben sie gekriegt. Ich bin irgendwie rausgekommen.» Er hatte keine Lust, die Geschichte mit Linde wieder zu erzählen. Auch wenn er ohne sie nicht davongekommen wäre.
«Huff», sagte Eula. Sie winkte ihrem Gatten, der das Zimmer verließ.
«Und wo ist Saif jetzt?» Wieder Issa.
«Irgendwo, wo die Tür von außen abgeschlossen ist.»
«Hast du noch geschlafen?» Linde stand hinter der Theke und mischte Apfelsaft und Mineralwasser. Aus den Lautsprechern kam französischer House. Plucker, plucker.
«Nicht wirklich. Zwei Stunden, danach ging es nicht mehr.»
Das Café Hibiskus war spärlich besetzt, die Frühstücksrunde längst vorüber. Kodjo wusste, dass der Eindruck täuschte. Die Lunchwelle stand kurz bevor, und in einer halben Stunde schon würde sich das Lokal wieder füllen. Er winkte Ellen und Dimi, die im zweiten Gastraum Tische eindeckten. «Dann bin ich zu Huff gegangen.»
«Viele Reservierungen heute», sagte Linde noch, als er in der Küche verschwand. Er grüßte Leticia, die in einem kleinen Topf rührte, mit einem Kopfnicken und zog sich um. «Was gibt’s heute?»
«Die Leute werden den Salat mit Fisch bestellen und das Kalbsschnitzel. Ich brauche den ganzen Rohkostterror, und du wirst Kartoffeln stampfen, bis dir die Arme weh tun.»
«Super.»
«Eng gewesen letzte Nacht?»
«Spricht sich herum. Oder?»
«Linde hat ein paar Sachen erzählt. Hast du eigentlich gar keine Möglichkeit, wieder legal zu werden?»
«Schwierig. Sehr schwierig.» Kodjo öffnete den Kühlschrank, in dem die Beigaben zu den Salaten gelagert waren. Er holte Tomaten heraus, rote und grüne Paprika, Möhren, verschiedene Kräuter in Töpfen und Selleriestangen. «Es sieht nicht gut aus.»
«Du kannst heiraten.»
«Wer will mich schon?»
Leticia schüttete irgendeine Flüssigkeit in einen Topf, in dem Fleisch schmorte. Der Dampf aus dem großen Kessel erfüllte die ganze Küche. «Kannst du? Oder kannst du nicht?»
«Nicht so einfach. Ich bin ja illegal, weil Sandra sich hat scheiden lassen.»
«Das hat sie gewusst … Dass du illegal wirst?»
«Natürlich.»
«Und warum …?»
«Ich hatte meinen Job verloren.»
«Welchen Job?»
«Ach, bei einer NGO. Davor war ich wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Uni. Aber auch bei einer Stiftung. Andere Sachen auch. Was man so macht, wenn man Historiker ist.»
«Tough. Wirklich. Und du kannst jetzt nicht noch einmal heiraten?»
Kodjo begann, Möhren in feine Scheiben zu schneiden. «Schwierig. Und außerdem bin ich schon seit drei Jahren illegal. Da wird das nicht so einfach …»
«Und wenn du Vater wirst?»
«Ja. Vielleicht …»
Leticia legte die Hand auf ihren runden Bauch. «Bei mir kannst du jedenfalls nicht mehr landen.»
«Es geht los.» Ellen legte einen Zettel in die Anreiche. Leticia nahm ihn in die Hand. «Selleriecreme und Salat mit Loup de mer. Ich brauch gleich die Rohkost …»
«Fünfertisch. Bitten um zügige Abwicklung.» Dimi steckte seinen Kopf durch die Anreiche. «Fünf verschiedene Gerichte. Gelegenheit für euch zum Warmwerden.»
Leticia nahm den Zettel an. «Salat mit Fisch, Kalbsschnitzel, Penne, der Lachs und … was ist das? Ah … der Fencheleintopf. Okay … Let’s rock.»
Kodjo spaltete schon einmal gespaltene Paprikastreifen und griff nach dem Kressetopf. Und dachte an Saif. Das Beste, was ihm geschehen konnte, war, nach Sachsen zurückgeschickt zu werden. Als straffälliger Flüchtling. Noch einer mehr. Und das Schlimmste … Hing davon ab, wer den Fall bearbeitete.
Es gibt keine Logik in diesen Dingen, dachte Kodjo. Er wusch die Petersilie und steckte sie in die Salatschleuder. Während er das Ding zum Drehen brachte, erkannte er 7 Seconds. Youssou und Neneh. Begann zu summen. «Seheheven seconds …»
«Scheiße!», sagte Leticia. «7 Seconds.»
«Scheiße!», sagte Kodjo auch und ließ die Salatschleuder fallen. Das hatte gerade noch gefehlt. Zollkontrolle.
Beide gingen auf die Rückwand der Küche zu. Die war wie ein langes L geformt, am kurzen Ende standen Getränkekisten neben- und übereinandergestapelt wie eine Wand bis unter die Decke. Letitia zog mit einem Handgriff zwei Stapel zugleich aus der Mauer heraus. Kodjo drückte sich in die Lücke hinein und öffnete die Tür, die sich dahinter verbarg. So leise wie möglich schloss er sie wieder und atmete aus.
Gleich würde Leticia ihre Arbeitserlaubnis vorzeigen. Die Zollfritzen würden sich wundern, dass die Küche zur Mittagszeit nur mit einer einzigen Person besetzt war, aber so war es halt in der Gastronomie. Schwierig, geeignetes Personal zu kriegen. Vielleicht hatte sie noch die Gelegenheit, die Salatschleuder vom Boden aufzuheben. So schwanger, dass sie sich nicht mehr bücken konnte, war sie schließlich noch nicht.
Kodjo ärgerte sich über sich selbst. Er hatte das vereinbarte Zeichen nicht rechtzeitig erkannt. Es war aber auch schon über ein Jahr her, dass er sich zum letzten Mal hier hatte verstecken müssen. Danach hatten sie den Code mit 7 Seconds entwickelt.
Kodjo blickte sich unauffällig um und schloss die fensterlose Metalltür auf. «Es muss ja nicht jeder sehen», hatte Jeanette gesagt, als sie ihm den Schlüssel gegeben hatte. Vor allem sollte niemand wissen, dass er dort ab und zu übernachtete. Das Haus in Moabit war seit ein paar Jahren leer. Jeanette sagte, es würde bald renoviert. Nein … sie hatte nicht renoviert gesagt. Topsaniert würde es. Das hatte sie gesagt.
Seit zwei Tagen war er schon hier.
Kodjo schloss die nächste Tür auf, die auf den Hof führte, und ging zum Hinterhaus, das eine ähnlich schwere Tür hatte. Jeanette hatte ihm den Zugang erklärt und ihn dort allein gelassen in der Wohnung unterm Dach. Eigentlich war es gar keine Wohnung, sondern ein ausgebauter Dachboden mit Matratze, Kühlschrank und einer kleinen Kochplatte. Hier hatte ein Wachmann gewohnt, als die Leute aus dem Haus ausgezogen waren. «Wegen den Hausbesetzern!», hatte Jeanette gesagt. Sie hatte die Schlüssel zum Haus, weil sie bei einer Immobilienfirma arbeitete. Kodjo hatte verwundert auf die Ziegelsteine geblickt, die dort waren, wo im Parterre des Hauses mal Glas gewesen war. «Wegen den Hausbesetzern!», hatte sie noch einmal gesagt.
Er schloss die Tür des Hinterhauses wieder ab und schob den Riegel von innen vor. Licht war das Problem. Fast alles in dem Gebäude war schon demontiert und für die Topsanierung vorbereitet. Es war noch gar nicht so spät am Abend, aber schon stockdunkel, und bis zum fünften Stock musste er sich langsam vortasten. Wenn er erst einmal die Treppe erreicht hatte, war es einfacher. Mit dem Geländer an der linken Hand stolperte er nicht.
Von der dritten Etage an ging es etwas leichter. Ein bisschen Licht kam immer von außen herein. Der Mond, Reflexionen irgendwelcher Laternen oder das Licht aus dem Haus auf dem Nachbargrundstück. So erreichte er die fünfte Etage. Die Fenster im Dachgeschoss waren schräg und nicht ganz dicht, wenn es regnete. Hier drang das Nachtlicht Moabits durch die Scheiben und spendete einen matten Schein, der ihm half, sich zu orientieren. Ein paar Wochenenden hatte er in den letzten Monaten schon hier verbracht, und langsam konnte er sich blind orientieren. Matratze, Spüle, Kühlschrank. Eine Kochplatte auf dem Boden, eine Holzkiste mit Besteck und ein paar Tellern. Ein Klo stand frei in der Gegend herum.
Er war sich nicht ganz sicher, was Jeanette von ihm wollte. Sie war ganz nett, aber sie war auch schon ganz schön alt. Mindestens fünfzig. Er hatte sich nicht getraut, sie ernsthaft zu fragen. Im Moment jedenfalls benahmen sie sich wie ein Liebespaar. Kurz hatte er gehofft, sie würde ihn einladen, bei ihr zu leben in dieser Wohnung mit den hohen Decken. Platz genug war da. Hatte sie aber nicht. Siebenmal hatten sie so lange Sex gehabt, dass er am nächsten Tag zu müde zum Arbeiten gewesen war. Er hatte mitgezählt. Aber was wollte Jeanette von ihm außer Sex? Er wollte nicht so enden wie William aus Nigeria, der diese Ruth geheiratet hatte. Nach all den Anstrengungen mit den Papieren war er jetzt legal, aber man sah ihn nicht mehr lachen. Man sah ihn eigentlich gar nicht mehr. Auch sein Freund Kwadwo war nur noch selten aufgetaucht, nachdem er diese Frau geheiratet hatte, deren Namen Kodjo vergessen hatte. Sie hatte zwei Töchter in Kwadwos Alter, aber sie würde bestimmt gut aufpassen, dass er denen nicht zu nahe kam.
Als Kodjo die Schuhe öffnete, kam ein weiterer Lichtschein hinzu. Die Blonde von gegenüber hatte gerade wieder frei. Dann schaltete sie immer das Deckenlicht an. Er kickte die Schuhe weg und ging zum Kühlschrank. Holte eine Flasche Bier heraus und stellte sich ans Fenster.
Er kannte das Procedere schon. Wenn der Freier weg war, verschwand sie eine Weile. Wenn sie wiederkam, war sie mutmaßlich gewaschen und parfümiert. Jetzt betrat sie den Raum wieder, kam bis ans Fenster und sah hinaus. Sie griff zu irgendetwas, das unter dem Fenster stand, und begann, sich damit einzureiben. Langsam und gründlich. Das war, was Kodjo gesehen hatte, am allerersten Abend. Zuerst hatte sich Kodjo gewundert, dass sie so wenig Scheu hatte, nackt durch die Wohnung zu laufen und dabei die Vorhänge nicht zu schließen. Oft bei voller Beleuchtung. Irgendwann hatte er kapiert, dass ihr ja niemand zusehen konnte. Das Haus, in dem er sich befand, war schließlich leer.
Leer bis auf ihn. Als sie fertig war, blickte sie zur Seite. Die Uhrzeit vielleicht. Der nächste Kunde kam sicher bald. Die blonde Frau war rasiert, bis auf einen kleinen Schnurrbart über ihrem Geschlecht. Der Schnurrbart war nicht blond.
Kodjo wusste, dass die meisten jungen Frauen in Deutschland so mit ihrem Schamhaar umgingen. Er fand es okay.
Jeanette tat das nicht. Das war auch okay. Vielleicht war es eine Frage des Alters.