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Von Krimipreisträger Max Annas: Der erste große Kriminalroman, der in der DDR spielt. An einer Bahnstrecke nahe Jena wird 1983 eine entstellte Leiche gefunden. Wie ist der junge Mosambikaner zu Tode gekommen? Oberleutnant Otto Castorp von der Morduntersuchungskommission Gera sucht Zeugen und stößt auf Schweigen. Doch Indizien weisen auf ein rassistisches Verbrechen. Als sich dies nicht länger übersehen lässt, werden die Ermittlungen auf Weisung von oben eingestellt. Denn so ein Mord ist in der DDR nicht vorstellbar. Also ermittelt Otto Castorp auf eigene Faust weiter. Und wird dabei beobachtet. Ein eminent politisches Buch nach einem historischen Fall.
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Seitenzahl: 395
Max Annas
Morduntersuchungskommission: Der Fall Teo Macamo
Roman
An einer Bahnstrecke nahe Jena wird 1983 eine entstellte Leiche gefunden. Wie ist der junge Mosambikaner zu Tode gekommen? Oberleutnant Otto Castorp von der Morduntersuchungskommission in Gera sucht Zeugen und stößt auf Schweigen. Doch Indizien lassen ein Verbrechen aus Rassismus vermuten. Als diese Spur sich nicht länger übersehen lässt, wird die Morduntersuchungskommission angewiesen, die Ermittlungen einzustellen. Denn ein Mord wie dieser ist in der Deutschen Demokratischen Republik nicht vorstellbar. Und was es nicht gibt, wird nicht verfolgt. Also ermittelt Otto Castorp ohne Wissen seiner Kollegen weiter. Und wird dabei beobachtet.
Max Annas hat sich einen historischen Fall ausgesucht. Ein eminent politisches Buch, das indes weit über die 80er-Jahre und die DDR hinausweist.
«Mit ‹Finsterwalde› hat Max Annas einen beklemmenden und zugleich hochaktuellen Thriller vorgelegt … Es gibt Bücher, die tun weh, ‹Finsterwalde› ist so eines.» Deutschlandfunk Kultur
«‹Die Mauer› ist der schlackenloseste Thriller, der zurzeit zu haben ist: schnell, hart und gefährlich. Ein Gepard in Buchform.» Die Welt
«Max Annas ‹Illegal›: Der beste Krimi der Saison.» Buchkultur, Krimi Spezial
Max Annas, aufgewachsen in Westdeutschland, hat die letzten Jahre der DDR genutzt, um sich dort umzusehen und Freundschaften zu schließen. Im Juli 1989 wurde ihm die weitere Einreise schließlich verwehrt. Er arbeitete lange als Journalist, lebte in Südafrika und erhielt für seine ersten beiden Romane Die Farm (2014) und Die Mauer (2016) den Deutschen Krimipreis. Weitere Romane Illegal (2017) und Finsterwalde (2018), das den dritten Platz beim Deutschen Krimipreis 2019 belegte.
Für Manuel Diogo (1963–1986)
«Und ich sag dir …» Otto drehte sich zur Seite und wartete darauf, dass Bodo den Satz vollendete. Aber der nahm den letzten Zug von der filterlosen Zigarette und trat ganz in Ruhe den Stummel aus. Dann hielt er den Rauch lange in sich und schüttelte den Kopf. Otto verstand immer noch nicht, wie man so etwas rauchen konnte.
In der Kurve des Ernst-Abbe-Sportfeldes war es leise geworden in den letzten Minuten. Carl Zeiss war drauf und dran, das Spiel aus der Hand zu geben. Als Juri Schlünz von Hansa Rostock zum Freistoß anlief, senkte Bodo den Blick und entließ den Qualm langsam. Otto blickte wieder auf das Spielfeld. Der Ball wurde abgewehrt, in der Kurve gab es ein langes Raunen.
«Trotzdem», sagte Bodo. «Es gibt diese Tage. Du weißt, dass nichts klappt. Den zum Beispiel hab ich schon drin gesehen.»
Bodo erzählte natürlich Unsinn. Er hatte ja gar nicht hingeguckt. Wie hatte er den Ball also drin sehen können? Sonst hatte er aber recht. Carl Zeiss Jena hatte das Tor der Rostocker berannt. Vor allem in der zweiten Halbzeit waren sie drauf und dran gewesen, in Führung zu gehen.
Es gab diese Tage, das stimmte schon. Die Angriffe ihrer Mannschaft waren immer hilfloser geworden. Dabei hatten sie Hansa hier erst vor ein paar Monaten richtig verprügelt. Aber das war eben die letzte Oberligaspielzeit gewesen. Bodo hielt ihm die Zigarettenpackung vor die Nase.
Otto schüttelte den Kopf. Er fragte sich, ob er nicht gehen sollte. Carl Zeiss holte hier heute nichts mehr, so viel war klar. Und der Wagen stand günstig. Wofür konnte man sich als Polizist ausweisen, wenn man sich nicht von Zeit zu Zeit kleine Vorteile verschaffen konnte? Wenn er mit allen anderen das Stadion verließ, dann dauerte der ganze Vorgang so lange, dass er die Verabredung mit Birgit vergessen konnte, pünktlich zum Abendessen zu Hause sein. Jetzt lief wieder einer dieser Angriffe, denen man schon im Ansatz ansah, dass daraus nichts werden würde. Der Ball wurde nach außen abgewehrt.
Wenigstens am Wochenende einmal gemeinsames Abendessen mit den Kindern. Das hatten sie so vor einer Weile vereinbart. Wenn es irgendwie möglich war. Wenn sie beide frei hatten. Wenn nichts Dringendes geschah. Wenn er nicht doch rausmusste.
«Mist.» Bodo stieß ihn an. Schulz rannte an der Außenlinie entlang auf ihr Tor zu und passte in die Mitte.
Verdammt. Da war dieser Typ total frei. Wie hieß der noch?
Und der Typ umkurvte ihren Torhüter Grapenthin und schoss ein. Einfach so. Das war es dann.
«Ich geh jetzt», sagte Otto. In der Kurve Geschrei.
«Hä?» Bodo hatte ihn nicht verstanden.
Otto zeigte nach draußen. «Ich muss los», schrie er so laut, dass Bodo es kapierte.
Er drängelte sich durch die entgeisterten Mienen und die hängenden Schultern und war schnell vor dem Stadion. Schon von weitem sah er Konnie an den Škoda gelehnt. Er hatte den Wagen genau neben Ottos grünem Lada geparkt.
Konnie zeigte auf die Uhr an seinem Arm. Beeil dich. Otto lief die letzten Meter bis zu seinem Auto.
«Fahr mir nach», hörte er Konnie rufen. «Frau tot im Treppenhaus. Und sie ist nicht freiwillig die Treppe runtergefallen.»
«Habt ihr Birgit angerufen?», rief Otto zurück, als er den Lada aufschloss.
Konnie zeigte den gereckten Daumen, als er in den Škoda einstieg.
Otto folgte Konnie Richtung Autobahn. Auf der Schnellstraße war nichts los. Sie überholten ein paar Lkw und zwei Trabant, die sich an die Verkehrsregeln hielten. Auch die Brücke über die Saale war fast leer. Er hätte gern mehr erfahren über den Fall, genauso darüber, ob die anderen auch schon unterwegs waren. Oder vielleicht schon vor Ort. Das wäre blöd, schließlich war er der Einzige der Morduntersuchungskommission, der in Jena wohnte. Ausgerechnet er kam dann zu spät zum Ersten Angriff. Vor allem hätte er gern gewusst, wie lange Konnie schon auf ihn gewartet hatte.
Der bog in das Neubaugebiet von Winzerla ein. Vor einem sechsstöckigen Bau standen ein paar Schutzpolizisten und glotzten auf die Neugierigen und Hausbewohner, die sich in gebührendem Abstand versammelt hatten. Fünf plus eins nannten sie diese Art zu bauen, um sich die Aufzüge zu sparen.
Den beigen Wartburg, der nahe der Haustür stand, erkannte er. Das Einsatzfahrzeug der MUK hatte es also schon aus Gera hierhin geschafft. Konnie und er waren die Letzten der Gruppe. Otto parkte seinen Lada ein paar Meter abseits auf einem Grünstreifen. Bevor er die Tür des Wagens schloss, starrte er auf das Haus. Irgendwo hier in der Nähe war er mit Birgit und den Kindern schon mal gewesen. Wen hatten sie da noch besucht? Eine Kollegin seiner Frau. Er erinnerte sich an die Wohnungen. Besser geschnitten als ihre eigene, etwas mehr Licht, größere Küche. Aber sie hatten ja ihre in Lobeda noch nicht so lange. Und die hatten sie auch an der langen Liste vorbei gekriegt. Noch einer der Vorteile, wenn man Polizist war. Auf was Besseres brauchten sie gar nicht erst zu hoffen.
Rolf saß auf dem Treppenabsatz im ersten Stock, beige Windjacke, Hornbrille fast auf der Nasenspitze, breitbeinig, die Hände auf den Knien. Die Zigarette in seinem Mund qualmte, die Asche fiel auf eine Treppenstufe. Als er Otto und Konnie erblickte, zog er und inhalierte, ohne die Zigarette aus dem Mund zu nehmen. Er grüßte nicht. Rolf grüßte nie. Der Scheitel des braunen Haares war so genau gezogen wie immer. Der geriet nur durcheinander, wenn er jemandem die Fresse polierte.
Ganz kurz zögerte Otto, suchte nach einer kleinen verbalen Provokation, aber Konnie drängte ihn von hinten weiter.
Zwischen dem ersten und zweiten Stock war es. Da lag eine Decke über dem Körper. Keine schmale Frau, das sah man auch so. Eine Brille auf dem Boden, nicht verdeckt, eines der Gläser hatte einen Sprung. An der Wand unter dem Fenster waren ein paar Blutspritzer zu sehen. Ein Schutzpolizist, den Otto nicht kannte, stand auf der Treppe darüber und wachte über den Leichnam.
Vor der Wohnungstür wartete Ilja, ein junger Schutzpolizist, mit dem Otto schon zu tun gehabt hatte, und nickte ehrfurchtsvoll. Auf der Klingel stand Radunek. Die Stimmen von Günter und Heinz waren aus der Wohnung zu hören.
«Ehrlich, was für eine Schweinerei.» Günters Bass.
«Das kannst du laut sagen.» Heinz’ glockenhelle Stimme dagegen. «Wenn das stimmt, was die Nachbarin gesagt hat …»
Die beiden drehten sich um, als Otto und Konnie in die Küche traten. Günters riesengroße Gestalt im abgetragenen blauen Anzug. Leicht gekrümmt, als würde er gerade unter einem Türsturz hindurchgehen, Schnitte an den Wangen vom nachlässigen Rasieren. Er hatte die Hände so tief in den Hosentaschen versenkt, wie es eben ging. Gerade einmal zehn Haare waren sorgfältig über die Halbglatze gezogen. Otto hatte sich schon oft vorgenommen, ihm zu sagen, wie scheiße das aussah.
Heinz ging auf und ab. In geschlossenen Räumen machte er das oft. Otto tippte darauf, dass er es sich bei Verhören angewöhnt hatte. Inzwischen machte es sie alle nervös, nicht nur die Verdächtigen. Er war der Erfahrenste der Gruppe und ihr Leiter, was man ihm nicht ansah. Weder wirkte er wie 55 in seinem zu weiten schwarzen Anzug noch wie ein Dauertrinker. Sie wussten es alle besser. Erst im letzten Jahr hatte sich oberhalb des Gürtels eine kleine Wampe entwickelt. Er zog sie ein, als er Ottos Blick bemerkte.
«Schön, dass wir uns darauf verlassen können, dass der Genosse Castorp immer erst dann beim Ersten Angriff erscheint, wenn die Arbeit schon getan ist.» Heinz zeigte auf die Wohnungstür hinter den Neuankömmlingen. «Selbst wenn es mitten in Jena geschieht. Tatortsicherung und -besichtigung liegen hinter uns.» Er wies auf den Kollegen. «Günter hat mit der Tatortuntersuchung bereits begonnen.»
Otto betrachtete den Küchentisch, auf dem eine Schüssel mit Salat und eine mit Kartoffeln standen. Das zweite Gedeck auf dem Tisch war unbenutzt. Er wunderte sich. Warum gab es kein Fleisch?
«Das war der Ehemann.» Konnie beugte sich herab und betrachtete eine Kartoffel, die neben einem der Stühle lag. «Er hat gesehen, dass es keinen Braten gibt. Da ist er ausgerastet.» Er stand wieder auf und blickte in die Runde. Niemand lachte.
«Eine Nachbarin von oben hat gesehen, wie es passiert ist.» Günter fixierte Heinz.
«Ja», übernahm der. «Sie ist von oben gekommen und hat gesehen, wie Radunek seine Frau die Treppe hinabgestoßen hat.»
«Die Treppe runter?», fragte Konnie. «Wie sind sie vom Mittagstisch denn dahin gekommen?»
«Die Treppe runter.» Heinz hob kurz die Augenbrauen. «Und weil sie jetzt tot ist, sind wir hier.»
Otto versuchte, sich die Szene vorzustellen. Es fiel ihm schwer. «Und er hat das mit Absicht gemacht?», fragte er.
«Mit beiden Händen.» Günter hielt seine eigenen Hände nach vorn, als wolle er Radunek kopieren. «Wenn die Frau nicht damit rechnet, dann ist sie auf den Kopf gefallen. Und genau so sieht es aus.»
Heinz stand am Fenster. «Sie wird jetzt abgeholt», sagte er.
«Wo ist denn der Ehemann von Frau Radunek?», fragte Otto. Er guckte auf das zweite Gedeck. Das Messer lag genau senkrecht zur Tischkante, die Gabel nicht ganz.
«Mit seinem Wartburg verschwunden, Baujahr 1972.» Heinz folgte mit seinem Blick irgendetwas, das draußen geschah. «Er ist im letzten Jahr zweimal mit Alkohol am Steuer aufgefallen.»
«Und verwarnt worden», sagte Günter.
«Wo sind die Kinder?», fragte Konnie, der in der Küchentür stand. «Da sind drei Betten.»
«Die suchen wir gerade», sagte Heinz.
«Mich interessiert viel mehr, wo der Radunek ist», sagte Otto.
«Die Nachbarin, Frau Vogel heißt sie», Heinz zeigte nach oben, «hat gesehen, wie er weggefahren ist. Allein. Ohne die Kinder.»
«Und der Radunek hat das mitgekriegt, das mit dieser Frau Vogel?», fragte Konnie.
«Er ist einfach weggefahren», sagte Günter. «Klingt komisch, ich weiß. Und sie sagt, dass er oft im Feldeck ist.»
«Das ist ja mitten in Jena.» Konnie schüttelte den Kopf. «Ein Bier kriegt er doch bestimmt auch hier in der Gegend.»
«Wir müssen uns aufteilen», sagte Heinz. «Ihr fahrt zum Feldeck und schaut euch da mal um. Und wir befragen die Leute im Haus. Und vor allem suchen wir die Kinder. Rolf hat schon damit begonnen.»
«Klar», sagte Otto. Er hatte eben genau gesehen, wie konzentriert Rolf nach den Kindern suchte.
«Ich fahr dir noch mal nach», sagte Otto, während er Konnie die Treppen hinab folgte. «Will den Wagen nicht hier stehen lassen.»
Durch Jena hindurch. Richtung Zwätzen. Die Straßen waren leer, es war gleich Abend. Eine knappe Stunde noch würde es hell sein, und die Leute waren entweder zu Hause oder besuchten irgendwen oder saßen in der Kneipe, so wie Erich Radunek womöglich. Und Birgit würde gleich das Abendessen für sich und die Kinder machen.
Irgendwie hatte es sich ergeben, dass er in der letzten Zeit fast immer mit Konnie unterwegs war. Otto war es recht. Rolf war ihm manchmal unheimlich. Rolf mit seinem Jähzorn, den er meistens zu verbergen wusste. Heinz und Günter hockten sowieso fast immer zusammen. Sie waren die Dienstältesten, und Heinz war der Hauptmann der Morduntersuchungskommission. Günter arbeitete auch schon ewig als Kriminaltechniker.
Wenn es hektisch wurde, waren sie natürlich auch schon mal in anderen Konstellationen unterwegs. Aber wann wurde es schon mal hektisch? So viel geschah ja nicht. Das hier war der Bezirk Gera und nicht Berlin.
Konnie parkte in einer schmalen Straße hinter einem Wartburg, der halb auf dem Fußweg stand. Ein Reifen oben, die anderen auf der Straße. An einem Kotflügel hatte er frische Schrammen. Das passte. Konnie stand mit einem Zettel in der Hand vor dem Wagen und betrachtete das Kennzeichen. «Das ist unser Mann», sagte er, als Otto aus dem Lada stieg.
Otto kannte das Feldeck. Ein paarmal war er selbst schon hier abgestürzt. Einer der Läden, wo man noch was kriegte, wenn überall schon Schicht war. Mit dem entsprechenden Publikum. Jedenfalls später am Abend. Konnie öffnete die Tür.
Drinnen war es schummrig, so dunkel, wie es draußen auch bald sein würde. Otto und Konnie blieben stehen, als die Tür hinter ihnen zugefallen war.
Kaum was los drinnen. Richtig Stimmung war hier sowieso nie vor zehn am Abend. Die Theke war verwaist. An den Tischen saßen vereinzelt Leute. Otto sah ein Paar, knapp vierzig, bei einer Flasche Wein sitzen. Sie waren aufeinander konzentriert und bemerkten nicht, dass sie beobachtet wurden. Ein dünner Trinker starrte auf ein halbvolles und ein leeres Bierglas.
Am letzten Tisch vor den Toiletten stand ein stämmiger Mann auf. Er trug ein kariertes Hemd und zu große Jeans. Zuerst hielt er sich noch am Tisch fest, dann drückte er den Rücken durch und kam wankend auf sie zu. Der Haarkranz um den matt leuchtenden kahlen Kopf herum war verklebt und ungekämmt. Der Mann, der älter wirkte als die neununddreißig Jahre, die er alt war, trug, das konnte man selbst in diesem Licht sehen, einen Zweitagebart über dem Speckgesicht, ein Hemdschoß hing über dem Hosenbund. Als er vor ihnen stehen blieb, roch Otto den Alkoholatem. Er hielt die Handgelenke über Kreuz, als er sie erreicht hatte.
«Ich war es», sagte er. «Ich gebe alles zu.»
Otto holte die Handschellen hervor und legte sie ihm an. «Dafür kriegen Sie auch ein schönes Zimmer bei uns in Gera.»
Konnie murmelte unterdessen: «Kommen Sie mit zur Klärung eines Sachverhalts.» So hatte alles seine Richtigkeit.
Bevor sie ihn ins Auto setzten, sagte Radunek: «Ich hätte es früher tun sollen.» Dabei stieß er auf und wirkte so, als müsste er sich bald übergeben.
Konnie wartete einen Moment und gab ihm einen leichten Schlag auf den Hinterkopf, als er ihn auf die Rückbank des Škoda drückte. Otto setzte sich neben Radunek. Jetzt musste er den Lada doch hier stehenlassen.
Gerade als Konnie den Wagen startete, sagte der Mann noch einmal: «Ich hätte es viel früher tun sollen.»
«Er sagt gar nix mehr.» Otto stand auf dem Gang im Polizeipräsidium in Gera, den Rücken an der Wand, und fuhr sich mit den Händen über die Augen. Der Flur war beinah komplett dunkel. Durch eine offene Tür weit hinten im Gang fiel ein Kegel hellen Lichts in die Dunkelheit.
Heinz und Günter sahen sich an. «Gar nix mehr?» Günter zeigte auf die Tür, vor der sie standen, hinter der nur noch Konnies Stimme leise zu hören war.
«Nee.» Otto reckte die Arme nach oben, bewegte seine Schultern. «Im Wagen hat er gestern noch ein paarmal gesagt: ‹Ich hätte es früher tun sollen.› Und dann kam nichts mehr. Kein Ton. Heute den ganzen Tag auch nicht. Meistens hat er einfach auf den Boden gesehen.»
«Ja. Wo sind wir denn da jetzt? Der Vorsatz. Dass er die Kinder zur Tante gebracht hat …» Heinz redete beinah tonlos.
«Stimmt alles», sagte Otto. «Und die Nachbarin hat ihn bei der Tat gesehen. Wir brauchen sein Geständnis also nicht.»
«Stimmt.» Günter sah Heinz an. «Aber wir fangen ja auch gerade erst mal an mit dem.»
«Was macht der Radunek eigentlich im VEB Schott & Genossen?», fragte Otto.
«Er ist Betriebsgewerkschaftsleiter.» Günter legte seine Haare zurecht. «Ein durchaus verdienter Genosse.»
Heinz hatte die Klinke schon in der Hand, blickte aber noch kurz zurück. «Wir gehen rein. Ich will den sehen.»
Konnie saß auf dem Schreibtisch. Radunek davor auf einem Stuhl mit kurzen Beinen. Er war immer noch in der Kleidung, die er in der Kneipe getragen hatte.
Radunek blickte die drei an, die gerade den Raum betreten hatten. Zuerst Otto. Dann Günter. Seine Augen blieben auf Heinz ruhen.
Heinz steckte die Hände in die Tasche seiner Anzughose. Schloss kurz die Augen. Dann fing er an, im Raum auf und ab zu laufen. «Wir machen morgen weiter. Überlegen Sie sich ganz genau, was Sie sagen wollen, Herr Radunek. Ja?» Er fixierte den Mann auf dem Stuhl, der nicht reagierte. «Denn eins ist ja klar: Reden müssen Sie. Und irgendwann werden Sie auch reden. Das haben hier noch alle getan. Verlassen Sie sich mal darauf.»
Günter hielt die Tür zum Gastraum der Heinrichsbrücke auf, die anderen gingen im Gänsemarsch hinein. An einzelnen Tischen saßen noch ein paar Gäste vor fast leeren Gläsern. Auf neue warteten sie nicht. Sie wussten, dass sie nicht mehr bedient wurden. Es war schon nach zehn.
Der Tisch hinten in der Ecke am Fenster war gedeckt wie immer um diese Zeit. Besteck und Teller, Gläser für Bier, Wein und Schnaps. Dimitar stand schon am Tisch, als sich Rolf ganz nach innen an die Wand setzte, Heinz und Günter quetschten sich neben ihn, Otto und Konnie gegenüber. Wie immer. «Kein Essen heute», sagte Heinz und zündete sich als Letzter am Tisch eine Zigarette an.
«So klar ist es ja meistens», sagte Rolf, die Augen zur Theke gerichtet. «Wenn man sich ansieht, wie fertig die dann sind … Wie dieser Radunek. Das liegt einfach nicht in der Natur des Menschen. Also … auf gar keinen Fall, wenn er in einer gerechten Gesellschaft lebt.»
«Wie meinst du das?» Konnie drehte sich um, während er redete. «Jetzt könnte Dimitar aber auch mal kommen mit den guten Sachen.»
«Na …» Rolf zeigte auf Dimitar, der sich mit einem Tablett näherte. «Da ist er ja schon. Eigentlich, was wollte ich sagen … Eigentlich sind wir ja manchmal mehr Sachwalter als irgendetwas anderes.»
Otto schüttelte den Kopf. «Sachwalter?» Was wollte Rolf nur damit sagen?
«Ja. Guck mal. In einer Gesellschaft wie unserer …» Rolf unterbrach sich, als Dimitar das Tablett auf den Tisch stellte. Zwei Flaschen Cabernet, acht Flaschen Jenaer Pils, eine angebrochene Flasche Wilthener Goldkrone. Ihre Flasche, die gleich leer sein würde.
Rolf fuhr fort, während er sich Bier ins Glas schüttete. «Also. In einer Gesellschaft wie unserer ist das ja ganz anders als zum Beispiel in Amerika. Ich war vor ein paar Monaten im Kino. Und da hat man einfach ganz klar gesehen, das war ein amerikanischer Film», er überlegte kurz, «ach, ich kann mich nicht an den Titel erinnern, aber man sieht deutlich, wie das läuft, wenn alle nur an ihrem persönlichen Gewinn interessiert sind. Das kann man irgendwann gar nicht mehr kontrollieren. Alle gegen alle. So ist das eben in der spätbürgerlichen Gesellschaft. Wir auf der anderen Seite …»
Otto schaltete ab. Er war sich sicher, dass er den Film auch gesehen hatte. Er guckte alle amerikanischen Filme, die ins Kino kamen. War ja sonst nicht viel los. Aber er wusste nicht, über welchen Streifen Rolf redete. Es war noch gar nicht so lange her, dass er Vermisst gesehen hatte. Das Kino war bis auf den letzten Platz voll gewesen. Und da sah man wirklich, was der Kapitalismus aus den Menschen machte. Er trank einen Weinbrand und nahm dann einen Schluck Rotwein.
«Die kennen da keine Grenzen», hörte Otto Rolf wieder. «In Amerika, meine ich. Überall im Westen, meine ich natürlich. Und hier ist das eben ganz anders. Da merkt man ja schon, dass die sozialistische Gesellschaft ihren Sinn hat.»
Günter nickte, Heinz auch. Konnie guckte weg.
Heinz sah Otto in die Augen. Er hielt dem Blick stand, bis Konnie anfing zu reden. Dann drehte er sich zu seinem Nachbarn auf der Bank.
«Das kann man doch deshalb gar nicht vergleichen», sagte Konnie. «Wenn eine Gesellschaft so anders funktioniert, dann funktioniert auch das Verbrechen dort anders. Oder?» Er schaute sich um und wartete auf Zustimmung.
«Ja …», sagte Günter eher gelangweilt. «Die haben dort Verbrechen, weil sie jedes Individuum losschicken, um gegen alle anderen zu kämpfen. Wohin so was geführt hat, kann man ja sehen, wenn man mal ein Geschichtsbuch liest. Unter F wie Faschismus. Und weil man das nicht vergleichen kann, ist das, was wir hier machen, ja auch nicht politisch. Da hat Rolf schon recht. Das Politische setzt bei uns weit vorher an. Das meintest du.» Er richtete seine Augen auf Rolf. «Oder?»
Rolf goss sich Bier nach und schüttelte den Kopf. «Darum geht es doch gerade gar nicht. Ich wollte eigentlich nur sagen, dass der Radunek einfach aus der Bahn geraten ist. Und dass er das auch weiß. So eine Sache gibt es ja wirklich nur, wenn mal alles Schlechte zusammenkommt. Überlegt mal», er guckte Otto und Konnie an, «der hat genau gewusst, dass er große Scheiße gebaut hat. Der ist ja nicht mal richtig geflohen. Einerseits, weil er wusste, dass er sowieso keine Chance hat. Natürlich kriegen wir den. Wo soll der auch hin? Und dann auch, weil er einfach nur einen trinken wollte, nach dem, was er getan hat.»
«Genau.» Günter nahm sein Bierglas in die Hand. «Auf den Fall. Auf das schnelle Ergebnis.»
Otto hob sein Weinglas, Konnie genauso. Rolf schüttete noch Bier nach.
Heinz hob sein Weinglas am Stiel an. Es war randvoll mit Weinbrand. «Wenn die Dinge mal so einfach wären», sagte er. «Prost, Männer. Gute Arbeit.»
Birgit stand in der Küche, als Otto nach Hause kam. Sie räumte Geschirr weg und trocknete sich die Hände an einer Schürze ab.
«Mike schläft im Wohnzimmer», sagte sie und hielt einen Zeigefinger vor die Lippen. «Er hat so gehustet. Damit wenigstens die anderen ihre Ruhe kriegen.»
«Meinst du, er steckt sie sonst an? Kannst du denn morgen zur Arbeit gehen?» Otto küsste Birgit auf die Wange.
«Warten wir ab. Habt ihr den Fall von gestern abgeschlossen?»
Otto lehnte sich an den Rahmen der Küchentür. «Mehr oder weniger. Das ist nur noch Formsache. Aber …» Er drehte sich kurz um und blickte hungrig auf den Esstisch, auf dem sein Teller und die Reste des Abendessens standen. «Das ist was, da stehst du da und begreifst es einfach nicht. Und wenn du weißt, dass du es nicht begreifst, fängst du trotzdem schon wieder an, dich zu wundern. Warum einer seine Frau die Treppe runterstößt. Und weißt du was?»
Birgit wartete.
«Die haben auch drei Kinder. Das geht doch allein schon deshalb nicht. Der kann doch so was nicht machen. Ich meine, was soll denn da passieren? Die Mama ist tot und der Papa im Gefängnis.»
«Wie alt sind die?»
«Älter als unsere. Acht, elf und vierzehn.»
«Vielleicht kennen unsere sie trotzdem von irgendwoher. Winzerla ist ja nicht weit. Komm, lass uns ins Bett gehen.» Sie zeigte auf den schlafenden Mike auf dem Sofa. «Ich bin so müde.»
Sie gingen Hand in Hand ins Schlafzimmer und zogen sich dort aus. Birgit lag schon eingerollt im Bett, als Otto sich die Unterhose über die Knöchel zog. «Die wohnen in den ganz neuen Häusern», sagte er. «Die sind wirklich noch moderner. Aber ich will nicht meckern. Wir können ja ganz froh sein. Hat deine Schwester eigentlich diese Wohnung gekriegt, auf die sie so scharf war?»
Er hörte nur noch Birgits ruhigen Schlafatem. In ein paar Minuten würde sie einen ganz leisen hohen Ton produzieren, so ein vorsichtiges Füüüt. Otto kannte es genau. Er hatte es schon oft gehört.
Als er den Kopf auf das Kissen legte, hatte er wieder die Bilder von Frau Radunek vor Augen. Denk an was anderes, sagte er sich.
Also dachte er an Marion. Wenn alles glattging, würde er sich morgen mit ihr treffen. Kurz nur. Aber er freute sich. Er sah sie vor sich, wie sie im Buchladen etwas aus dem Regal holte. Von ganz oben. Ihm wurde wohl bei dem Gedanken an sie.
Otto stellte den Lada auf dem Parkplatz vor dem Polizeipräsidium in Gera ab. Das Wochenende war nicht so frei gewesen, wie er gehofft hatte, und auf die Woche, die jetzt begann, verspürte er gar keine Lust. Heute würden sie den Fall Radunek abschließen, und dann würde er sich bis zum nächsten Wochenende ducken.
Eine Minute noch im Auto, sagte er sich und unterdrückte ein Gähnen, bevor er den letzten Zug der Zigarette nahm. Als er neben sich Rolf anhalten sah, stieg er doch aus.
«Na, die Nacht zum Tage gemacht?», fragte Rolf, als er seinen Wartburg abschloss. Sein nach oben gezogener Mundwinkel deutete an, was er meinte.
«Deine Frau ist noch ganz ansehnlich trotz der drei Kinder, oder?» Er strich sein Haar glatt und wandte sich zum Eingang. Otto folgte ihm wortlos.
«Hey», hörten sie Konnie rufen. Er kam mit langen Schritten auf die Tür zu. «Habt ihr schon gehört?»
Otto und Rolf blieben auf den Stufen stehen, die zur Tür hoch führten. «Was?» Rolf schüttelte den Kopf.
«Radunek ist tot.» Konnie war etwas außer Atem.
Otto merkte, dass ihm übel wurde. «Wie das?»
«Hat sich erhängt.»
«So etwas darf es nicht geben.» Rolf ging durch die Tür. «So etwas darf wirklich nicht passieren», sagte er noch einmal. Dann ging er mit schnellen Schritten hinein.
«Wann?», fragte Otto.
«Irgendwann in der Nacht», sagte Konnie. «Er war schon kalt, als sie morgens nachgesehen haben.»
«Auf so einen muss man doch aufpassen.»
«Komm», sagte Konnie und legte Otto kurz eine Hand auf die Schulter. Er ging vor ins Gebäude hinein.
Otto folgte ihm langsam. «Renate und ich haben uns wieder versöhnt», sagte Konnie auf der Treppe hoch zum ersten Stock. «Ich kann dir gar nicht sagen, wie froh ich bin.»
«Keine Scheidung?» Otto war mit seinen Gedanken mehr bei Radunek als bei Renate, Konnies Frau.
«Keine Scheidung.»
«Gut», sagte Otto. Konnie war auf der obersten Stufe stehen geblieben. «Das hätte ich auch nicht sehen wollen. Ich meine … Sie hätten dich versetzt. Du weißt, sie mögen so was nicht. Die Familie ist die kleinste Zelle der Gesellschaft.»
«Ja.» Konnie atmete tief ein und aus und wartete oben auf der Treppe. Als Otto neben ihm ankam, sah er Rolf und Günter im Flur vor Heinz’ offener Bürotür. Im Tageslicht, das durch die Tür fiel, konnte er erkennen, dass Günter etwas erklärte. Er benutzte beide Hände, um zu unterstreichen, was die Worte allein nicht zu sagen vermochten.
«Was?», fragte Otto, als Konnie und er an der Tür ankamen.
«Der Fall ist tot», sagte Günter.
«Radunek ist tot.» Otto linste in den Raum hinein, wo Heinz telefonierte. «Und das nur, weil irgendwer nicht aufgepasst hat.»
«Er meint, dass der Fall eingestellt ist», sagte Rolf.
«Ja, klar ist der Fall eingestellt.» Otto wurde lauter, als er wollte. «Der Radunek ist tot und kann nicht mehr vor Gericht erscheinen.»
«Wir legen das als doppelten Selbstmord zu den Akten.» Günter zündete sich eine Zigarette an.
«Was?», rief Otto. «Seid ihr bescheuert?»
«Ist das Beste.» Günter.
«Für alle Beteiligten.» Rolf.
«Aber er hat’s doch zugegeben.»
«Jetzt mach dich mal nicht so dick», sagte Rolf. «Der war doch total besoffen. Und im Verhör hat er dann gar nix mehr gesagt.»
«Aber der hat doch im Feldeck nur deshalb gehockt, weil er sich ein allerletztes Bier geben wollte. Der ist so schuldig wie Kain und Abel oder wie die in der Bibel heißen.»
«Der war doch komplett weggetreten.» Günter blickte in Heinz’ Büro. Das Telefonat war beendet. Heinz stand auf und kam zur Tür.
«Aber die hat sich doch nicht selbst die Treppe runtergeworfen.» Otto wollte Günter packen und hätte es vielleicht auch getan. «Und die Nachbarin hat den Radunek ja auch gesehen.»
Aber Heinz stand schon in der Tür. «Hab ich mir gedacht, dass dir das nicht passt. Aber du musst doch so einen Fall auch mal mit klarem Kopf betrachten. Wie sollen wir das denn vermitteln? Der Genosse Radunek war ein verdienter Arbeiter und ein langjähriges Parteimitglied. Weißt du, wie das nach außen wirkt?»
Otto sah sich um. Konnie blickte zu Boden. Von den anderen konnte er ohnehin nichts erwarten.
«Und du willst doch auch nicht, dass der Klassenfeind das ausnutzt», redete Heinz weiter. «Was meinst du, wie schnell das drüben die Runde macht?»
«Also, was haben wir dann ermittelt?»
«Es gab häusliche Probleme», sagte Günter. «Und die wird es ja wirklich gegeben haben. Oder?»
«Dann hat sich Frau Radunek das Leben genommen.» Rolf.
«Der Genosse Radunek hat das nicht ertragen und seinem Leben auch ein Ende gesetzt.» Heinz.
«Und die Kinder?»
«Das entscheiden andere», sagte Heinz. «Dafür gibt es Lösungen in unserem Land. Wahrscheinlich kommen sie in ein Kinderheim. Aber wenn wir den Radunek zu einem Geständnis gebracht hätten, dann wäre es für sie genauso gekommen. Etwa nicht?»
Otto sah, dass Heinz auf eine Antwort wartete. Aber er drehte sich um und ging davon. Noch bevor er die Stufen erreicht hatte, hörte er Rolf rufen: «Denkst du an das Bier?»
«Jaja», sagte Otto halblaut. «Denke ich dran.» Er war schon auf der Treppe.
In der Buchhandlung an der Universität in Jena war an dem Nachmittag nicht viel los. Das konnte man durch die Scheiben von draußen sehen. Otto fuhr mit den Augen die Regale ab und dann das Innere des Ladens, aber er konnte Marion nicht entdecken. Er dachte an Rolf und seine Gefühllosigkeit. An Heinz, der sich zurückzog auf die Befehle, die er selbst empfing. An Günters Schweigen, wenn es ernst wurde. Und an Konnie, der sowieso nichts sagte, wenn es in Diskussionen mal um etwas ging.
Er hatte Lust auf ein Bier.
Aber noch mehr Lust hatte er auf Marion.
Also öffnete er die Tür. Er ging geradewegs auf ein Regal zu, das weit von der Kasse entfernt stand, und nahm ein Buch heraus. Ein Mord zur rechten Zeit stand darauf. Was für ein doofer Titel! Wie konnte ein Mord zur rechten Zeit kommen? Wer hatte sich nur so einen kompletten Unsinn ausgedacht?
«Waren Sie nicht schon letzte Woche hier?», hörte er eine leise Stimme hinter sich. Die Frau flüsterte fast. «Ah, ich sehe, Sie lesen die Fachliteratur. Haben Sie beruflich mit solchen Sachen zu tun?»
Otto stellte das Buch zurück. «Nachmittagsspaziergang», sagte er und sah die Frau an. Sie war beim Friseur gewesen, seit er sie das letzte Mal gesehen hatte. Die dunklen Haare lagen glatt um den Kopf. Und kurz unterhalb der Ohren war Schluss.
«Aber wir hatten verabredet, dass du nicht so oft hier vorbeikommst.» Marion redete ganz leise.
«Ja, aber wie oft ist oft?» Otto versuchte, genauso leise zu sprechen wie sie. «Und wie oft ist so oft? Und wie oft ist vor allem zu oft? Das sieht toll aus.»
«Toll? Was? Alle drei Tage ist zu oft.» Marion stand neben ihm und zeigte demonstrativ irgendwo ins Regal hinein. «Hier kommen nicht so viele Leute rein, die wir nicht kennen, die nicht von der Universität sind. Außer den Wessis, die ihr Geld loswerden müssen.» Sie machte eine Pause und nahm den Arm wieder runter. «Deshalb. Ich kann in fünf Minuten draußen sein.»
«Die Frisur …», sagte Otto so, dass Marion es kaum hören konnte, und hatte die Türklinke schon in der Hand. «Die sieht toll aus.»
Er hatte erst zweimal an der Zigarette gezogen, als Marion im Botanischen Garten ankam. Sie blickte sich um, bevor sie ihn umarmte und auf den Mund küsste. «Ich habe dich vermisst.»
«Ich habe an dich gedacht.» Otto warf die Zigarette weg, bevor sie aufgeraucht war. Marion küsste ihn auch, wenn er nach Tabak schmeckte. Aber er hatte sich angewöhnt, nicht dauernd zu rauchen, wenn er in ihrer Nähe war. «Was hast du am Wochenende gemacht?», fragte er.
«Was schon.» Sie lächelte ihn an. «Ein Buch gelesen. Kurzgeschichten von Nadine Gordimer aus Südafrika.»
«Muss wirklich ganz schlimm sein da.»
«Ja, fürchterlich. Was sie da mit den Schwarzen machen.» Marion machte eine kurze Pause. «Und dann hab ich mich mit Anke getroffen. Ich hab ihr von dir erzählt.»
«Du hast ihr was?» Ottos Atem schnappte kurz.
«Nein, nicht so. Ich hab nicht gesagt, wer du bist. Einfach nur, dass es dich gibt. Ich hab ihr nicht einmal deinen Vornamen gesagt.»
«Puuh … Na dann.»
«Und ich hab was Schönes im Radio gehört.»
«Was denn?»
«David Bowie.»
«Uuuh! Das war sicher Westradio, oder? Das muss ich melden. Da bleibt mir gar nichts anderes übrig bei meiner Position. Und es tut mir auch wirklich leid.»
Marion küsste Otto noch einmal. «Ich hab gerade nicht so viel Zeit. Bleibt es bei morgen?»
Auf dem Weg nach Apolda fühlte Otto sich leer. Er hätte nicht einfach so bei Marion im Laden auftauchen sollen. Sie hatten ja ihre Verabredung. Die war schon morgen, und morgen war nah. Und er freute sich sehr darauf, sie zu sehen. Richtig zu sehen. Er freute sich auf Sex mit Marion. Aber die Sache mit Radunek lag ihm komisch im Magen. Blinken, auf die linke Spur und den Transporter überholen.
Sie hatten niemandem geschadet mit der Entscheidung, das als doppelten Selbstmord auszugeben. Im Gegenteil. Die Kinder … Mensch, was würde nun aus den Kindern werden?
Jedenfalls würden sie nicht damit leben müssen, dass ihr Vater die Mutter getötet hatte. Vielleicht machte das einiges in ihrem Leben einfacher. Auf der anderen Seite war er in genügend Kinderheimen gewesen, um zu wissen, dass Kinder dort kein einfaches Leben hatten. Blinker und schnell noch an diesem Trabant vorbeirauschen. Und irgendwer würde es ihnen dann doch erzählen. Irgendwann.
Dann würden sie beginnen, Fragen zu stellen, um herauszufinden, was wirklich an diesem Samstagmittag geschehen war. Gut möglich, dass sie keine Antworten kriegen würden. Jedenfalls keine, die mit der Wahrheit zu tun hatten.
Mama hat sich die Treppe hinuntergestürzt. Und Papa hat das nicht ausgehalten und sich deshalb erhängt. Welcher Vater würde das in dieser Situation tun? Die Kinder allein lassen.
Falsche Frage. Welcher Vater würde die Mutter seiner drei Kinder die Treppe hinabstoßen? Der Bus war aber auch langsam. Blinker setzen, Fuß aufs Gas und schnell vorbei.
Die Kinder würden irgendwo im Norden untergebracht und einfach nicht erfahren, was der Vater getan hatte. Scheiße! Der Lkw, der ihm entgegenkam, war schon viel zu nah. Und er bremste überhaupt nicht ab. Otto stieg selbst auf die Bremse und ordnete sich wieder hinter dem Bus ein. Er hupte, als der Lastwagen auf seiner Höhe war. Was für ein Arschloch!
Aber er musste auch besser achtgeben. Wo war er nur mit seinen Gedanken gewesen?
Egal. Gleich war er sowieso in Apolda. Sein Herzschlag ging noch viel zu schnell. Bei so was konnte man schnell mal draufgehen. Er fuhr an der Brauerei vorbei und dann durch die Stadt bis nach Oberroßla und ließ den Wagen vor einem Einfamilienhaus ausrollen. Rudi putzte seinen Wartburg-Kombi. Und er tat es wie immer mit Leidenschaft.
Otto wendete und setzte seinen Lada so in die Einfahrt, dass er einfach zu beladen war. Rudi hatte schon zwei Kisten in den Händen, als er ausstieg. «Sind nur vier dieses Mal von dem Radeberger.»
«Vier nur?»
«Hab nicht mehr gekriegt. Du weißt ja, alle wollen Radeberger. Und manchmal muss man halt auch was für die anderen übriglassen. Manchmal kriegen sogar unsere Gäste was davon ab.» Rudi nickte, um sich selbst zu bestätigen.
«Ich muss es ja auch noch teilen.» Otto öffnete eine der Hintertüren des Lada.
«Man muss nehmen, was man kriegen kann.» Rudi lud die beiden Kisten in den Kofferraum.
«Mach ich ja. Wann bin ich denn mit Bezahlen dran?»
«Nächste Woche.» Rudi verschwand in der Garage und kam mit zwei weiteren Kisten heraus. Er stellte sie so auf die Rückbank, dass sie beim Fahren nicht verrutschten. «Grüß Birgit und die Kinder von mir. Ich brauch übrigens noch eine Benzinpumpe für den Wartburg. Meinst du, einer von euch kann das besorgen? Und ich hab auch wieder was in Oberhof gekriegt über Weihnachten.»
«Ah ja … Ich hör mich mal um wegen der Benzinpumpe», sagte Otto und startete den Wagen. Als er Apolda wieder verlassen hatte, merkte er, dass sein Herz immer noch viel schneller klopfte als sonst.
«Da haben wir drauf gewartet», sagte Heinz und sah auf. Er saß in seinem Büro am Schreibtisch. Heinz Thiel, der sich immer als Heinz E. Thiel vorstellte, wenn er betrunken war, also richtig betrunken. Otto hatte schon gesehen, dass er dann junge Frauen angesprochen hatte, die deutlich jünger und größer waren als er. Natürlich waren die meisten Frauen jünger und größer als er, und er hatte sie mit eindeutigen Absichten angequatscht. Nüchtern käme er nie auf solche Ideen.
Günter hatte seinen langen Körper auf einem Stuhl zusammengefaltet, der zwischen Tisch und Fenster stand. Er murmelte irgendetwas. Er wusste schon Bescheid. Wusste, was kommen würde. Er wusste immer schon Bescheid, weil Heinz ihm immer alles mitteilte, bevor er die anderen informierte. Günter Cierpinski, ein kluger Mann, sozial mit nicht so vielen Fähigkeiten ausgestattet, aber ein wirklich guter Kriminaltechniker.
Rolf saß auf dem zweiten Stuhl und sah Heinz an. Rolf Reim, den Otto mehr als einmal schon hatte sagen hören, er sei beinah Dichter geworden. Nichts, was ferner läge. Jemand, der Unsicherheit hinter Lautstärke, Obszönität und Brutalität versteckte. Damit zuallererst seine Intelligenz unterdrückte. Otto war um jede Sekunde froh, die er nicht in Rolfs Nähe sein musste.
Und Konnie lehnte an der Wand neben der Tür. Konnie Krumbach, der Junior, den Otto mochte, aber … Gute Ausbildung, aufgeschlossenes Wesen, Grips im Kopf, wache Augen, und wenn sich Otto einen Kollegen aussuchen konnte, um mit ihm unterwegs zu sein, dann war es Konnie. Aber manchmal hatte er eben auch das Gefühl, durch den Jungen hindurchzublicken. Wie durch einen leeren Raum. Das geschah nicht so oft, aber wenn, dann wurde ihm angst und bange. Und das Schlimmste war: Er wusste nicht einmal, warum er überhaupt diese komischen Ideen in Bezug auf Konnie hatte.
Otto drehte sich um und sah aus dem Fenster. Der Parkplatz war voll. Er wusste, was kommen würde. Die Anweisungen kamen spät in diesem Jahr. Er erinnerte sich noch an den letzten 7. Oktober. Es hatte irgendein Gerücht gegeben. Irgendeine Gruppe von Spinnern hatte in einer Straße oder Gasse in Gera ein Theaterstück aufführen wollen. Weil es erstens ein Gerücht gewesen war und zweitens sehr ungenau – wie viele Gerüchte –, und weil es drittens weder klar war, aus welchen Individuen diese Gruppe bestehen sollte, noch was sie genau wo aufführen wollte, hatten sie die Anweisung erhalten, an strategisch wichtigen Punkten zu stehen und sehr wachsam zu sein.
Was für eine bescheuerte Idee. So was ausgerechnet am Tag der Republik zu planen.
Wenn es überhaupt stimmte.
Wenn es überhaupt je gestimmt hatte.
Die Anweisung war jedenfalls klar gewesen. Diesen Unsinn zu verhindern war ein gutes Ziel. Die Leute, die ihn sich ausgedacht hatten, auf frischer Tat zu ertappen, ein besseres. Also war die Anweisung gewesen, die Augen aufzuhalten, um jede im Ansatz verdächtige Zusammenrottung sofort auseinanderzutreiben.
Dann war aber nichts geschehen. Jedenfalls hatte niemand versucht, irgendwas mit Theater anzufangen. Natürlich waren an dem Tag eine ganze Menge Leute zugeführt worden, aber aus anderen Gründen. Und nicht von ihnen. Sie hatten nur in der Gegend herumgestanden und so vorsichtig in ihre Handfunkgeräte gesprochen, dass es niemand gesehen hatte.
Sie hatten ihren Auftrag erfüllt. Sie waren wachsam gewesen. Das war stets das Wichtigste.
Er hob den Blick zum Himmel und folgte einem Silberreiher mit den Augen. Hoch über der Stadt erkannte Otto ihn an der Form der Flügel und an deren Schlag. Wahrscheinlich überflog er ganz Gera in einem langen Flug. Die Stadt war weder sein Nist- noch sein Beutegebiet. Es gab ohnehin nicht so viele von ihnen in der DDR.
Er fuhr zusammen. Das laute Räuspern von Günter galt ihm. «Wenn der Genosse Castorp seine ungeteilte Aufmerksamkeit nun einmal dieser Runde widmen würde …»
«Entschuldigt.» Otto drehte sich zu den anderen. «Ich war gerade mit dem Kopf woanders.»
«Von welcher Schönheit haben wir denn geträumt?» Heinz’ Stimme erreichte ungeahnte akustische Höhen.
«Der Genosse Castorp träumt immer nur von seiner Frau», sagte Rolf leise und ohne sich zu ihm umzudrehen. «Seiner eigenen. Nicht wahr?»
Otto blickte in dessen Richtung, aber Rolf bewegte sich keinen Zentimeter, starrte stur auf Heinz. Was hatte er damit sagen wollen? Von Marion wusste niemand etwas. Konnte niemand wissen.
«Also …» Heinz lehnte sich nach vorn und stützte die Hände so auf den Schreibtisch, dass die Ellbogen nach außen zeigten. «Ich war eben eine Etage höher. Und wir können jetzt erkennen, welche Herausforderungen am Tag der Republik auf uns zukommen. Wir müssen in diesem Jahr sehr wachsam sein.» Er stand auf und fing an, hinter seinem Tisch auf und ab zu gehen. «Und unsere ganze Aufmerksamkeit gilt dieses Jahr Jena, wo es zahlreiche neue Unruheherde gibt.» Nach einer Sekunde sagte er: «Grinst der Genosse Castorp da etwa?»
Otto schüttelte den Kopf. «Natürlich nicht.»
«Also, seit Beginn des Jahres hat es zahllose subversive Aktivitäten in Jena gegeben. Unsere Freunde vom Ministerium für Staatssicherheit haben da wieder einmal ganze Arbeit geleistet. Nichts bleibt unbeobachtet. Und leider gibt es auch in diesem Jahr wieder Hinweise darauf, dass Störer den Anlass nutzen wollen, den der Tag der Republik eben darstellt.» Heinz seufzte.
Günter setzte sich auf und schaute ernst. Rolf drehte sich um und sah Otto frontal an. Konnie hatte die Augen zu Boden gerichtet.
«Was?», fragte Otto in Richtung Rolf.
«Nichts.» Er schüttelte den Kopf. Otto meinte, ein Flackern in Rolfs Augen zu sehen. Das war kein gutes Zeichen. Wirkliches Engagement zeigte Rolf immer nur dann, wenn er etwas kaputt machen konnte.
Heinz hustete. «Wenn ich also kurz unsere Aufgaben darstellen darf. Am meisten wird die Ordnung ja von der Jungen Gemeinde Stadtmitte bedroht. Das sind vom Westen unterstützte Konspirateure, deren Zahl im letzten Jahr noch einmal gewachsen ist, wie wir wissen. Unsere Gewährsleute sind sich nicht ganz sicher, es gibt da einander widersprechende Berichte, was diese Gestalten aushecken, aber dass sie etwas planen, scheint sehr klar.»
Einander widersprechende Berichte bedeutete meist, dass es nichts zu berichten gab. Otto wusste nicht, wie viele Informanten es im Kreis der Jungen Gemeinde gab, aber er war sich ganz sicher, dass es mehr als nur eine Handvoll waren.
«Die Genossen von der Volkspolizei und dem MfS haben theoretisch alles im Griff», fuhr Heinz fort. «Trotzdem werden unsere Augen gebraucht. Wir haben die Anweisung erhalten, dass wir unsere Aufmerksamkeit auf jene Aktivitäten richten, die sich rund um das Gemeindehaus der Jungen Gemeinde entwickeln und natürlich auch auf dem Platz der Kosmonauten.»
Heinz wartete eine Sekunde. Als sich niemand rührte, machte er weiter. «Also ist alles klar für Freitag. Wenn es keinen Fall gibt, bei dem wir unabkömmlich sind, antreten hier um 8 Uhr. Der Genosse Castorp stößt in Jena dazu. Kleidung ist ja allen klar.»
In der Tat. Kein Anzug, sondern lässig. Lederjacke oder Blouson. Und Schuhe, in denen man zur Not jemandem hinterherrennen konnte.
«Wenn wir noch was im Ferienheim im Thüringer Wald kriegen können, sollten wir das machen», sagte Birgit. «Und wenn es geht, hab ich mir gedacht, sollten wir uns vielleicht auch endlich mal um einen Bungalow bewerben. An der Hohenwarte hab ich gedacht. Oder? Was denkst du?» Sie deckte den Tisch, an dem Otto schon saß. Die Kinder waren lärmend in ihrem Zimmer zu hören. «Wieso schafft es Rudi eigentlich immer, da oben was zu kriegen? Der ist doch nur …» Sie sah Otto an, der sich eine frisch aufgeschnittene Wurstscheibe von dem Teller nahm, den Birgit gerade auf den Tisch stellte.
«Lass das doch», sagte sie und zog einen Mundwinkel hoch. «Wir sagen den Kindern immer, dass wir zusammen anfangen.»
«Ich hör ja auch schon auf.» Otto leckte sich die fettigen Finger demonstrativ ab. «Rudi kriegt in der HO-Gaststätte eben immer seine Sachen, nicht nur das Bier. Wir haben ja auch was davon. Und er ist … Er hat eben sehr gute Kontakte.»
«Mögen tu ich ihn ja nicht, den Rudi. Er guckt immer so komisch.»
«Wie meinst du das?»
«Na, du weißt schon. Wie Männer eben manchmal gucken.» Birgit war in der Küche und schnitt Brotscheiben auf der Maschine ab.
Otto hatte die Hand schon über dem Wurstteller, zog sie aber zurück, als Birgit wieder hereinkam.
«Als ob andere Frauen keine Brüste hätten. Was muss er dann immer auf meine starren?»
Otto guckte Birgit in die Augen, dann auf ihre Brüste, dann wieder in ihre Augen.
«Du nimmst mich nicht ernst.»
«Doch. Ich nehme dich natürlich ernst. Ich starre ja auch gern auf … Ich meine, ich gucke mir die ja auch gern an.»
«Das ist was anderes. Du bist mein Mann.»
«Schon.»
«Hol die Kinder.»
«Mach ich. Ich mag ihn eigentlich auch nicht.»
«Rudi?»
«Hmhm. Aber es ist manchmal einfach nützlich, sich mit solchen Leuten gutzustellen.»
Birgit stand mit beiden Händen auf den Tisch gestützt. «Wegen dem Bier?»
«Ja», Otto dachte nach, war aber gerade nicht in der Lage, zwei und zwei zusammenzuzählen, zu müde, zu hungrig. Bei Rudi hatte er so ein Gefühl. Wen der alles kannte, und was der alles kriegte. «Auch deshalb.»
Birgits Gesicht war eine Frage.
«Ich weiß es nicht. Irgendwas sagt mir einfach, dass es gut ist, den auf seiner Seite zu haben. Ich kann das auch nicht besser sagen. Verstehst du, was ich meine?»
«Ich versuche es. Holst du endlich die Kinder?»
«Warum wir?», fragte Otto und zog an der Zigarette.
Konnie fuhr den Wartburg gerade aus Gera hinaus. «Weil Heinz es so gesagt hat. Die anderen sind beschäftigt.»
«Heinz sagt viel, wenn der Tag lang ist.»
«Er ist eben der Leiter», sagte Konnie langsam. «Vielleicht wirst du auch irgendwann Leiter. Dann sagst du, was die anderen tun sollen.»
Otto atmete aus, bevor er husten musste, und betrachtete Konnies Profil. Er war der Jüngste der Gruppe, vor eineinhalb Jahren erst dazugekommen. Er war selbst auch nur ein paar Jahre älter als der junge Genosse. Und irgendwie war es natürlich, dass sie beide zusammen unterwegs waren. Es fiel ja auch auf, dass sie oft nebeneinander standen oder saßen, wenn es Besprechungen gab oder wenn sie abends in der Heinrichsbrücke endeten. Aber er wusste, dass er Konnie eigentlich nicht kannte.
War das ein leises Lächeln auf seinen Lippen?
Und wie hatte er diese letzte Bemerkung zu verstehen?
War Konnie so willig, sich in die Hierarchie einzufügen, wie es diese Sätze sagten? Er wirkte nicht immer so. Aber wer zeigte sich schon so, wie er wirklich war?
Manchmal ertappte er sich dabei, Konnie als einen Freund zu sehen. Na gut, das war eine Freundschaft, die natürlich noch wachsen musste. So etwas brauchte wirklich viel Zeit.
Manchmal aber dachte er auch, was er immer gedacht hatte, seitdem er sich entschlossen hatte, zur Kriminalpolizei zu gehen. Pass auf. Lass dich nicht ein.
Die Gefahr hatte auch lange nicht bestanden. Mit den Alten verband ihn nichts als die Arbeit. Sie waren gute Polizisten, und als solche schätzte er sie. Selbst Rolf. Aber sonst?
«Vielleicht werde ich ja tatsächlich mal Leiter», sagte Otto. «Dann schicke ich dich jeden Morgen nach Lobenstein, um nach dem Rechten zu sehen.»
Jetzt lächelte Konnie richtig.
«Also bitte noch mal genau. Warum sind wir unterwegs? Ich hab nur noch das mit der Schule mitgekriegt, als ich gekommen bin.»
«Dieser Junge aus Eisenberg wird vermisst. Siebzehn Jahre. Seit vorgestern. Da ist er nicht nach Hause gekommen.»