Der Höhenflug des Sahnehäubchens im Urwald - Inge Baacke - E-Book

Der Höhenflug des Sahnehäubchens im Urwald E-Book

Inge Baacke

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Beschreibung

Drei Autorinnen entwerfen aus je drei Stichwörtern drei völlig unterschiedliche Geschichten. Sie handeln von menschlichen Schicksalen, Träumen, Gefühlen, Erfahrungen und Entscheidungen, die das Leben für immer prägen. Lassen Sie sich überraschen!

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Die Autorinnen

Inge Baacke nahm nach einer Auszeit von 15 Jahren den Unterricht in den Fächern Französisch und Deutsch wieder auf. Mit dem eigenen, regelmäßigeren Schreiben begann sie erst nach der Pensionierung. Konflikte in Beziehungen findet sie besonders spannend.

Sonja Wahl hat an der Universität Tübingen ein Studium zur Diplom-Kauffrau abgeschlossen. Ihre Leidenschaft galt schon immer dem Schreiben. Erfahrung konnte sie hierbei bereits in jungen Jahren bei einem örtlichen Verlag sammeln. Ihr Genre sind unterhaltsame Kurzgeschichten, die das tägliche Leben lustig und spannend erzählen.

Ulrike Selje unterrichtete viele Jahre Biologie, Geographie und Astronomie. Schon als Kind schrieb sie ihre ersten kleinen Geschichten. Doch erst nach ihrer Pensionierung machte sie das Schreiben zu ihrem Hobby. In ihre Texte fließen Erfahrungen aus den Bereichen Politik und Umwelt ein, in denen sie noch immer mitarbeitet.

Inhalt

Vorwort

1. Höhenflug - Sahnehäubchen - Urwald

Inge - Hoch hinaus

Sonja - Freiheit

Ulrike - Der Wettkampf

2. Freiheit - Heimat - Rauch

Inge - Kopflos

Sonja - Auszeit

Ulrike - Die Flucht

3. Grenze - Schachtel - Schatten

Sonja - Das Geheimnis

Ulrike - Die fremden Augen

4. Ankunft - Rahmen - Spiegel

Inge - Die Schatten der Vergangenheit

Ulrike - Verirrt und verwirrt

5. Spur - Waschmaschine - Zeitung

Inge - Schmutzige Wäsche

Sonja - Nachbarschaftshilfe

Ulrike - Noch einmal Glück gehabt

6. Gartenstuhl - Lügen - Versteck

Sonja - Mahnmal

Ulrike - Die Lebenslüge

7. Bäckerei - Fensterriegel - Nebel

Inge - Trostlos

Sonja - Der Schulschwänzer

8. Hände - Kalender - Schneegestöber

Sonja - Der Einsame

Ulrike - Eine unheimliche Nacht

9. Meer - Riesenrad - Sektempfang

Inge - Hurra, wir leben noch!

Sonja - Der Plan

Ulrike - Die Entführung

10. Kamera - Pathologie - Stille

Inge - Zweifel

Sonja - Wahre Bestimmung

Ulrike - Sehnsucht

11. Gitarre - Motiv - Schalter

Inge - Der Wettbewerb

Sonja - Die Trennung

Ulrike - Ein Leben für die Musik

12. Domino - Hund - Ohren

Sonja - Das Versteck

Ulrike - Die Überraschung

13. Bouquet - Kaktus - Teppich

Inge - Der Angeber

Sonja - Erinnerungen

14. Drehbuch - Frühling - Laptop

Inge - Harte Brocken

Sonja - Der Rückzug

Ulrike - Schneegriesel

15. Kartoffeln - Schiffbruch - Sonnenuntergang

Inge - Du bist, was du isst

Sonja - Freundschaft

Ulrike - Die geduldige Zuhörerin

16. Lebensplan - Löwenzahn - Nasenbein

Sonja - Veränderung

Ulrike - Es war nur ein Traum

17. Bücherregal - Erbe - Weg

Inge - Das Schwergewicht

Sonja - Das Vermächtnis

Ulrike - Die enttäuschte Tochter

Danke!

Das Buch

Bei den Texten handelt es sich um fiktive Geschichten und Erzählungen. Jede Ähnlichkeit von lebenden und verstorbenen Personen oder realen Begebenheiten sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Vorwort

Drei Autorinnen entwickelten aus je drei gleichen Stichwörtern drei völlig verschiedene Geschichten. Sie handeln von menschlichen Schwächen, Träumen, Gefühlen, Erfahrungen und Entscheidungen, die das Leben für immer prägen.

Lassen Sie sich überraschen, welch unterschiedliche Geschichten zum Beispiel über Höhenflug, Sahnehäubchen und Urwald entstehen können.

So sammelte sich eine Vielfalt von Geschichten an, von denen 43 für dieses Buch ausgewählt wurden.

Inge Baacke lässt ihre Leser an den inneren Konflikten ihrer Akteure teilhaben oder bringt sie mit einfühlsamen Beschreibungen zum Schmunzeln.

Sonja Wahl richtet ihren Fokus auf die unauffälligen Begebenheiten des Alltags oder entwirft Geschichten, in denen die Protagonisten die Verwirklichung ihrer Wünsche und Ziele auf unerwarteten Wegen finden.

Ulrike Selje beschreibt die Schicksale von Menschen, die sich in Extremsituationen befinden oder überrascht ihre Leser mit einem unerwarteten Ende.

Inge Baacke, Sonja Wahl, Ulrike Selje

HÖHENFLUG – SAHNEHÄUBCHEN – URWALD

Inge: Hoch hinaus

Keine Frage, sie war aus den Fugen geraten in den Monaten der Pandemie. Nach der 3. Etage hämmerte das Herz, der Atem ging unangenehm heftig. Sich mit dieser Entwicklung zu versöhnen, gelang ihr nur selten. „Wär‘ dumm, wenn du nicht schnaufen würdest“, konterte die Freundin das unnötige Gejammere. „So fit, wie du bist, also bitte.“

Dass sie zweimal die Woche im Wohnzimmer Gymnastik machte, fast eine Stunde lang, dass sie vor der Arbeit joggte, um wenigstens den Rest Fitness zu bewahren, hatte sie der Freundin nicht verraten. Aber so langsam schwand selbst ihre Motivation.

Dann gab es erste Anzeichen für eine Lockerung. Sie war wie beflügelt. Sie wälzte Urlaubskataloge, schmiedete Reisepläne. Ein Aufreger musste her, ein Highlight nach dieser monatelangen, zermürbenden Langeweile und dem Eingesperrtsein. Die Safari durch Botswana, ihre Traumreise, würde sie noch nicht buchen. Wer konnte sicher wissen, dass das Virus besiegt war, eine Rückkehrgarantie hatte der Gesundheitsminister bereits verneint und überhaupt, die neue, afrikanische Mutante von Corona …

Aber die Sehnsucht nach etwas Besonderem durfte sie jetzt schon haben, etwas, das die anderen wenigstens ein bisschen neidisch machte. Immer waren die so schrecklich abgeklärt, gaben sich so blutleer, so emotionslos einverstanden mit allen Einschränkungen.

Ihre Abenteuerlust war geweckt, als sie vergangenen Freitag auf Arte diese Doku gesehen hatte. Auf urwaldähnlichem Gelände hatte da ein Start-Up über die letzten Jahre ausgefallene Übernachtungsmöglichkeiten in luftiger Höhe errichtet und erprobt. Steile Leitern führten zu den Bäumen hinauf, bei zwei von den Angeboten waren Kletterkünste gefragt. Der Boden der hüttenähnlichen Behausungen war bei einigen um einen Baumstamm herumgebaut oder thronte, wie ein Adlerhorst, in dessen Krone. Baumhausträume für Erwachsene, Höhenflüge für Erdbewohner!!!!

Offenbar gab es dort weder Strom noch Wasser und natürlich auch keine Toilette. Vielleicht bin ich sogar Selbstversorger, hatte sie erst vermutet. Aber es gab einen Automaten, wenn auch einen Kilometer entfernt. Dort konnte man sich mit dem Allernotwendigsten eindecken, laut Beschreibung wurde der regelmäßig aufgefüllt.

Von so einem Urlaub zu erzählen, würde schon was hermachen. Sie hatte sich vorgenommen, die sogenannte Gondel zu wählen. Eine Art Bett auf einem Brett, das frei über dem Abgrund baumelte und zu dem man sich vom „Bau“ aus an einem Seil hinüberhangeln musste. Sicherheitshalber war ein Fangnetz gespannt. Den freien Nachthimmel über sich haben, den Elementen ausgesetzt sein: Das würde das Sahnehäubchen bei ihrem Urlaub werden, schwärmte sie den Freundinnen vor.

Sie verstärkte ihr Training: Liegestütze, Klimmzüge und was ihr sonst noch erforderlich erschien, baute sie in ihr Wochenendpensum ein. Noch sechs Wochen bis zum Urlaub. Das war zu schaffen. Schwindelfrei war sie ja.

Schließlich kam der große Tag. Längst war der Rucksack gepackt, ausgeräumt und erneut gepackt worden. Die Versorgungsliste mehrfach überprüft. Erst Häkchen, dann Kreise um die Häkchen, dann Marker in diversen Farben. Alles war perfekt und los gings.

Bis auf ihre Bleibe waren bereits alle „Nester“ bezogen. Die vor ihr Angekommenen grüßten die neue Bewohnerin neugierig aus mehr oder weniger großer Höhe. Lag da nicht Hochachtung in deren Blick? Sie bemühte sich, möglichst zielstrebig auf das eigenwillige Ensemble zuzugehen, das sie als ihr „Nest“ mit angehängter Gondel ausmachte. Tatsächlich, das Nachtlager in mindestens acht Metern Höhe. Sie fand es nun doch unangenehm, so im Fokus der Aufmerksamkeit zu sein, gab sich aber unbeeindruckt.

Wie gut sie die neue Situation meisterte, begeisterte sie selbst. Sie versorgte sich zunächst von dem mitgebrachten Proviant, trank auch wenig, um die Zahl der Kletterpartien gering zu halten. In der ersten Nacht war an Schlaf nicht zu denken. Sie überwachte sorgsam ihre Position auf dem Brett und griff dankbar nach den vorsorglich angebrachten Haltegurten. Auch die für Regengüsse vorgehaltene Plane registrierte sie mit Erleichterung.

Die ungewohnte Rückenlage störte noch in der dritten Nacht. Sie fand wenig Gefallen daran, im Unterholz umherzustreifen, auch verband sie wenig mit den „Gefährten“, wie die Mitbewohner im Prospekt hießen. Sie litt unter der von ihr so nicht erwarteten Schwüle und auch der Himmel spielte nicht mit im Konzert ihrer Wünsche.

In der vorletzten Nacht konnte sie endlich den Sternenhimmel sehen. Sie hatte sich mit der erzwungenen Lage ausgesöhnt und lag reglos, in der festen Absicht, das Sternenmeer ausgiebig zu genießen.

Dann ein Erschrecken und ein Schrei. Etwas Feuchtes hatte sie offenbar aus dem Schlaf gerissen. Sie unterdrückte den Impuls, mit der Hand über das Gesicht zu wischen, griff stattdessen nach ihrem Handy. Durch die verklebten Wimpern hindurch entzifferte sie unter heftigem Blinzeln zunächst die Uhrzeit. Dann drückte sie auf Foto, dann auf Selfie, um die Sache zu begutachten, und fand ihre Vermutung bestätigt: Ein erklecklich großer, weißgrauer Batzen hatte sie aus dem nächtlichen Himmel getroffen. Hektische Bewegungen ihrerseits waren die Folge. Einige Minuten vergingen, bis sie sich wieder im Griff hatte. Den Rest der Nacht verbrachte sie unruhig, in allerlei Erwägungen verstrickt.

Schon wieder im Halbschlaf beschloss sie, den misslichen Segen bei den vermutlich hellhörig gewordenen Mitbewohnern herunterzuspielen. Bei den Freundinnen zu Hause würde sie das widerwärtige Ereignis unterschlagen, die würden sonst gewiss auf die Idee kommen, den ekligen Batzen als ihr Sahnehäubchen zu verkaufen.

Noch am Morgen war sie vom Maß ihrer Selbstüberwindung wie beflügelt.

Sonja: Freiheit

Mit einem großen Stück Erdbeerkuchen, auf dem ein riesiges Sahnehäubchen thronte, saß Elfriede in ihrem Gartenstuhl und schaufelte genüsslich Gabel für Gabel in sich hinein. „Mmmmh“, das schmeckte herrlich. Noch ein wenig Zucker darüber, mehr brauchte sie nicht. Besonders das Sahnehäubchen ließ sie langsam im Mund zerfließen und dabei ihren Blick über ihren schönen, neuen Garten schweifen.

Endlich hatte sie den Garten so gestalten können, wie sie es wollte, naturnah und lebendig. Ulrich, ihr verstorbener Mann, hätte es als Urwald bezeichnet. Früher war es sein Reich gewesen. Jeden Samstag mähte er den Rasen, damit keine Kräuter wachsen konnten. Steril, wie grün angestrichen, sah der Garten aus. Jetzt blickte sie auf ein buntes Blumenparadies.

Auch im Haus, in dem sie alleine lebte, gestaltete sie alles nach ihren Wünschen. Oft bis tief in die Nacht. Noch nie in ihrem Leben hatte sie sich so wohlgefühlt. Sie erlebte wahre Höhenflüge.

Nun konnte sie tun, was sie wollte. Auch, wenn das nur bedeutete, große Stücke Kuchen zu essen. Selbst die hatte sie sich früher nicht gegönnt.

Elfriede schmunzelte. Sogar die wöchentlichen Besuche beim Hausarzt waren ihr als eine willkommene Möglichkeit erschienen, um mit anderen Menschen ins Gespräch zu kommen. Dann fühlte sie sich als Teil einer Gemeinschaft und lebte auf.

Inzwischen störten sie die mahnenden Worte ihres Arztes, wenn er ihr erklärte, dass ihr Cholesterinspiegel schwindelerregende Höhen erreicht habe. Sie beschloss, diese Besuche aufs Notwendigste einzuschränken.

Wieder nahm sie eine Gabel von dem fetten, süßen Kuchen zu sich und ließ ihn auf der Zunge zergehen.

Endlich fühlte sie sich frei. Verzicht gab es in ihrem Leben nicht mehr!

Ulrike: Der Wettkampf

Sie stolpert über einen dicken Ast, der quer über dem Weg liegt, fängt sich aber gerade noch auf, bevor sie stürzt. Das darf sie auf keinen Fall. Wenn sie sich verletzt, dann war alles umsonst, dann wird sie ihr Ziel nie erreichen. Auch das Tablett, das sie auf der ausgestreckten Hand trägt, darf nicht zu Boden fallen. Es wird von einer halbkugelförmigen, silbernen Haube bedeckt, so wie ein Menügang in einem Gourmetlokal. Was darunter ist, weiß sie nicht. Die Aufgabe lautet, dass sie es unversehrt über die Ziellinie tragen muss. Nur dann hat sie gewonnen.

Jedes Jahr liegt etwas anderes unter der Haube. Dieses Jahr ist es leichter als im vorangegangenen. Das spürt sie beim Tragen. Dafür ist der Parcours schwieriger, scheint ihr.

Sie muss weiter, so schnell, aber auch so vorsichtig wie möglich. Fast schon treibt sie Panik an. Doch das merkt sie nicht. Sie befindet sich auf einem Höhenflug! Adrenalin überflutet ihre Adern und stachelt ihren Körper zu Hochleistungen an.

Schon kommt der dritte tiefe Graben, den sie überwinden muss. Mit Bedacht macht sie Schritt für Schritt in ihn hinab. Am Grunde fließt ein kleiner Bach - egal, die Schuhe sind sowieso schon vermatscht und die nassen Füße spürt sie nicht.

Sie muss weiter. Da hört sie lautes Schnaufen hinter sich. Umdrehen kann sie sich nicht, das würde zu viel Zeit kosten. Sie weiß auch so, dass sie schneller laufen muss. Bei der Überquerung des Grabens hat sie wertvolle Sekunden verloren.

Der Urwald, durch den sie sich hindurchkämpfen muss, wird dichter. Sie erkennt den Weg nur noch an den Markierungen der Bäume. Sie muss ihr Tempo verlangsamen, um nicht über am Boden liegende Äste zu stolpern. Das Gezwitscher der Vögel, das Knacken von Zweigen, das Rascheln der Blätter im Wind. Alles vermischt sich in ihren Ohren zu einem Ton. Sie nimmt nur die Geräusche ihrer Konkurrentinnen wahr.

Doch das Schnaufen hinter ihr ist weg. Sie hat ihre Verfolgerin abgehängt!

Ein lauter Schrei neben ihr! Oje! Jetzt ist wohl eine der Läuferinnen gestürzt, hat sich womöglich verletzt. Eigentlich sollte sie nach ihr sehen, um zu helfen. Doch dann? Dann wären alle Mühen der letzten Monate vergeblich gewesen. Dann würde sie nie den ersehnten Preis erringen. Den Preis, von dem sie schon seit Jahren träumt. Nein, sie kann es sich nicht leisten, nach der Anderen zu schauen. Auch sie könnte stürzen und sich verletzten. Dann würde sich auch niemand um sie kümmern. So ist dieser Wettkampf. Wer mitmacht, weiß, auf was sie sich einlässt. Also weiter, so schnell wie möglich. Sicherlich hatte sie dieses Zaudern schon wieder wertvolle Sekunden gekostet.

Dann steht sie vor einer Weggabelung. Und nun? Nirgendwo ein Zeichen. Ihr Herz schlägt bis zum Hals. Da sieht sie vor sich, zwischen den Bäumen, eine Bewegung. Da läuft jemand! Das wird die richtige Richtung sein. Doch das heißt auch, eine Läuferin ist vor ihr! Das darf nicht sein! Sie muss sich noch mehr anstrengen. Bloß nicht stolpern – elegant über alle Äste hinwegspringen, wie ein Reh auf der Flucht. So fühlt sie sich auch.

Heute will sie endlich die Erste werden. Sie will, dass ihr Traum nach Jahren der Mühen in Erfüllung geht. Sie will ihr Siegerbild in der Zeitung sehen. Das wäre ihre verdiente Krönung!

An diesem Wettkampf nehmen jedes Jahr nur die weltweit zwanzig besten Athletinnen teil. Sie gehört schon seit Jahren dazu. Ihre zahlreichen Trainingsstunden, für die sie so viel aufgegeben hat, müssen sich endlich bezahlt machen. Heute muss der große Tag sein, an dem sie es ist, die die Lorbeeren nach Hause trägt!

Aber vor ihr läuft noch eine Konkurrentin. Schneller, schneller, treibt sie sich an, bis zum Ziel kann es nicht mehr weit sein. Sie rennt, mobilisiert ihre letzten Reserven - doch sie kommt der anderen nicht näher. Das darf doch nicht wahr sein! Eine Andere will ihr den ersehnten Sieg vor der Nase wegschnappen!

Der Wald lichtet sich. Sie sieht die Strecke wieder vor sich. Die andere ist nicht weit von ihr entfernt. Doch wird sie sie noch überholen können? Sie will doch nicht die knappe Zweite werden! Dafür hat sie nicht trainiert! Sie will siegen! Doch noch ist die vor ihr ihrem Sieg im Weg! Sie spürt, wie ihre Kraft zur Neige geht, sie weiß, sie wird sie nicht mehr einholen können.

Da schnappt sie sich mit der freien Hand einen herunterhängenden Ast, holt aus und schmeißt ihn in Richtung ihrer Kontrahentin. Diese schreit auf und stürzt. Nichts wie vorbei!

Sie schafft es! Niemand ist mehr vor ihr! Sie ist die Erste! Ein Glücksgefühl überflutet sie schon vor dem Ziel! Die Zuschauer jubeln ihr entgegen! Sie ist die Beste von allen! Sie ist die diesjährige Siegerin!

Kurz vor der Ziellinie reißt sie euphorisch die Arme nach oben und stößt einen Jubelschrei aus! Dabei fliegt das Tablett mit dem Deckel in hohem Boden durch die Luft.

Kurz vor der Ziellinie liegt ein zermatschtes Sahnehäubchen – das, was sie unversehrt über die Ziellinie tragen muss, um zu gewinnen.

FREIHEIT – HEIMAT – RAUCH

Inge: Kopflos

An diesem Morgen ist es bitterkalt. Ich muss in aller Frühe zum Zahnarzt. Auf meinem Weg durchs Treppenhaus denke ich noch, wie gut, dass mein Auto in der Garage steht. Kein Freikratzen, keine steifen Finger.

Ich starte den Wagen. Im Radio sucht Fischer-Dieskau als ewiger Wanderer nach der Heimat. Weg mit dem Schmachtfetzen, auch wenn es das Lieblingslied meines Vaters war.

Vorsichtig rolle ich aus der Garagenausfahrt, biege großräumig nach rechts in die Straße ein. Um diese Zeit kann ich mir diese Freiheit erlauben. Kein Auto in Sicht. Ich werde pünktlich vor Ort sein und gewiss bald wieder zu Hause.

Die Ampel an der Einmündung nach Urach steht auf Rot. Auch hier kein Auto vor mir. Ich fahre gemächlich auf die Kontaktlinie zu. Was ist das? Vor meiner Windschutzscheibe steigt dichter, grau-schwarzer Rauch auf. Die Säule wächst und wächst. Sie muss aus meiner Motorhaube kommen. Schnell den Motor abgestellt. Nur kein Feuer! Unwillkürlich umklammere ich mit beiden Händen das Steuerrad. Als ob das helfen könnte! Die Ampel steht jetzt auf Grün, wie ich durch die lichter werdenden Schwaden erkennen kann. Jetzt nicht starten. Eine Explosion und es ist aus mit mir.

Kein Auto aus Urach, die Gegenspur frei. Ich reiße die Autotür auf und steige aus. Was tun? Wo Hilfe finden? Es wird doch niemand kommen und mich über den Haufen fahren?

Ein Sanka verlangsamt, hält ohne zu hupen, obwohl mein Auto ihm im Weg steht. Die Gefahr, dass jemand auf meinen Wagen auffährt, ist fürs erste gebannt. Hinter dem Steuer zwei junge Männer. Ich renne gestikulierend auf sie zu. Auf keinen Fall darf ich sie an mir vorbeiziehen lassen. Sie erkennen meine Not, beratschlagen durch das geöffnete Seitenfenster mit mir, der völlig Kopflosen.

„Hier können Sie unmöglich stehenbleiben. Am besten drehen Sie und fahren fürs erste in den Feldweg dort rechts.“

Natürlich, der Weg in die Felder, das ist die Rettung. Die Rauchschwaden haben sich mittlerweile verzogen. Mit reichlich Panik im Bauch und völlig verkrampfter Haltung wage ich den Neustart, drehe auf der Straße, dank der Lücke, die sie für mich freimachen, rolle von dort langsam aufs freie Feld.

Gerettet! Der Sanka ist schon abgebogen. Weil es im Wagen nach Gummi stinkt, stürze ich ins Freie. Ich trage den warmen Mantel. Das Handy ist in der Tasche – was für ein Glück! Mit zittrigen Fingern tippe ich die Nummer des Zahnarztes. Meine Entschuldigung leuchtet ein. Danach rufe ich den Abschleppdienst meiner Werkstatt. Die ist gleich um drei Ecken.