Der holistische Mensch - Johannes Huber - E-Book

Der holistische Mensch E-Book

Johannes Huber

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  • Herausgeber: edition a
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2017
Beschreibung

Immer mehr wissenschaftliche Studien weisen darauf hin, dass Körper, Geist und Seele ein komplexes System bilden, das mit anderen komplexen Systemen zusammenhängt. Ein neues Menschenbild entsteht, in dem vieles, das wir über Gesundheit, Glück und Gott zu wissen glaubten, nicht mehr gilt. Der renommierte Arzt Prof. DDr. Johannes Huber erklärt, warum es in diesem Menschenbild weder Schicksal noch Zufall gibt, warum etwas von uns schon vor unserer Geburt da war und nach unserer Geburt noch da sein wird, warum Heilung aus ganz anderen Quellen kommen kann, als wir glauben, und warum die Bibel auch wissenschaftlich betrachtet recht hat, wenn sie sagt: Am Anfang war das Wort.

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Seitenzahl: 347

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Johannes Huber:

Der holistische Mensch

Alle Rechte vorbehalten

© 2017 edition a, Wien

www.edition-a.at

Cover: JaeHee Lee

Gestaltung: Lucas Reisigl

ISBN 978-3-99001-254-3

eBook-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheim

www.brocom.de

»Von dem, dessen Fürsorge das ganze Weltall umfasst, sind alle Dinge so angeordnet, wie es zur Erhaltung und Vollkommenheit des Ganzen erforderlich ist, sodass jeder Teil wirkt und leidet, wie es ihm eben hiernach zukommt und so weit eben hiernach sein Vermögen reicht. Über diese besonderen Teile sind Herrscher gesetzt, ihr Tun und Leiden durchgängig bis ins Kleinste zu regieren und so die Vollendung des Ganzen bis in die kleinsten Teile zu befördern. Ein solches Teilchen bist nun auch du, armer Sterblicher, welches, so klein es ist, doch allezeit auf die Zwecke des Ganzen hinarbeitet und in ihnen seinen Zweck hat. Du aber bedenkst eben dies nicht, und es bleibt dir verborgen, dass alles, was da entsteht, eben nur um deswillen entsteht, damit jenes Wesen, welches dem Leben des Ganzen zu Grunde liegt, ein glückseliges sei, und dass dies Ganze nicht um deinetwillen geworden ist, sondern du um des Ganzen willen. Arbeitet doch auch jeder verständige Künstler und Arzt immer auf ein Ganzes hin, und indem er immer nach einer allseitigen Vollkommenheit strebt, vollendet er doch wahrlich nicht das Ganze des Teiles, sondern den Teil des Ganzen wegen.«

Platon (Nomoi X, 903 b-c, übersetzt von Franz Susemihl)

Inhalt

Das Vermächtnis

Teil 1: Woher kommen wir. Wohin gehen wir.

Der Schmetterlingseffekt in der Sexualität

Die Ära der hormonellen Innenpolitik

Das Weiterleben in den anderen

Der Holismus der künstlichen Befruchtung

Die Sünden der Väter sind unser Erbe

Die Schwangerschaft, eine Art früheres Leben

Die Geburt und ihr holistisches Erbe

Die vererbbare Liebe

Die Großbaustelle namens Pubertät und ihre Nachhaltigkeit

Die holistische Einbettung ins Sonnensystem

Teil 2: Gott und die Wand

Galilei und die Kirche

Inkarnation der Information

Mechanismus und Holismus

Teil 3: Wir sind mehr als die Summe unserer Organe

Der Knochen

Das Herz

Das Gehirn

Der Stoffwechsel und das Gewicht

Die Haut

Die Hormone

Die Gebärmutter

Das Immunsystem

Die Prostata

Das Ende ist der AnfangDie Liebe macht unsterblich

Das Vermächtnis

Willkommen im Haus des Holismus. Am Anfang war die Information. Alles ist durch die Information geworden. In ihr war das Leben. Und durch sie wurde der Mensch.

Der Mensch aber tickt unmenschlich präzise. Wie eine Uhr, die so merkwürdig genau geht, dass sie sich der Zeit anpassen kann. Der Homo sapiens funktioniert anders, ganzheitlich, vielfältig, mysteriös und schön verrückt, holistisch eben.

Das Wunder Mensch verwundert die Menschheit, seit sie denken kann. Wo ist die Erkenntnis, die alles erklärt? Wo ist der Schlüssel zur staubigen Kiste, auf der in Goldschrift Sinn des Lebens steht? Fragen über Fragen.

Aber es gibt gute Nachrichten. Es gibt keinen Zufall. Nichts ist einfach so da, von der Ewigkeit aus Langeweile hingespuckt. Unser derzeitiges Schicksal wird von einem früheren Leben mitbestimmt. Dieser Satz kokettiert mit der Wiedergeburt, und das ist gut so. Alles passiert nach einem großen Plan, alles hängt zusammen, alles ist eins.

Der Holismus sieht den Menschen nicht bloß als körperliches Wesen, das mit ein paar Gefühlen garniert ist, sie versucht, ihn in seiner Gesamtheit zu verstehen. Die Seele, das Vorher, das Danach. Ja, die moderne Medizin setzt sich heute schon über Begriffe wie Raum und Zeit hinweg, wagt sich auf unbekanntes Terrain, stellt Fragen, die in der Wissenschaft vor Kurzem noch auf gerümpfte Nasen und verdrehte Augen gestoßen sind.

Was war vor unserem diesseitigen Leben? Was davon hat man wie vererbt bekommen? Was kommt danach? Was hinterlässt man als Vermächtnis? Bleibt überhaupt etwas? Und vor allem: Wie kann man das alles verstehen?

Der Philosoph Peter Sloterdijk schreibt:

»In den Fakultäten galten bislang allein die harten Fakten als existent – in Zukunft muss man sich mit den harten Nicht-Fakten zurechtfinden.«

Nicht-Fakten müssen nicht nur falsche Informationen sein, sondern auch Informationen, die wir noch nicht verstehen.

Immer mehr Forscher haben ganzheitliche Sichtweisen auf das Leben. Neue Studien zeigen auf, wie der Mensch schon vor seiner Zeugung durch die Verhaltensweisen seiner Eltern geprägt wird. Wenn also jemand geboren wird, dann hat es ihn schon in Form von zwei getrennten Erbinformationen in seiner Mutter und seinem Vater bereits gegeben. Nein, die Generationen vor ihm haben schon durch ihr Handeln und Lassen die Baustelle ihres Kindes vorbereitet.

Organe kommunizieren miteinander, selbst der Knochen meldet sich und plaudert mit den Hoden, plaudert mit der weiblichen Brust, mit dem Gehirn sowieso. In allem ist Licht und Finsternis. Sex macht jung und Sex macht alt. Schwangerschaften sind eine Belastung, können aber das Leben verlängern. Kinder haben auch Teile ihrer älteren Geschwister in sich.

Im Großen und Ganzen ist der Mensch kompliziert und komplex. Viel mehr als die Summe seiner Organe, mehr als eine biologische Masse aus Muskeln, Sehnen, Haut und Knochen. Holistische Betrachtung heißt, gleichzeitig mit dem Mikroskop näher zu rücken und geistig zwei Schritte zurückzutreten. Das Kleine wie auch das Große sehen. Die Mücke und den Elefanten. Das Bekannte wie das Unsichtbare. Forschen heißt, Fragen zu stellen und Antworten zu suchen. Dazu braucht es den Geist der Neugierde und den Mut, bekannte Pfade zu verlassen. Man muss Wege finden, um den Holismus unseres Körpers zu begreifen.

Manche Hardliner und selbsternannte Wissens-Monopolisten unter den Medizinern kommen mir vor wie Fiakerpferde. Stur tragen sie ihre Scheuklappen und sehen nur die gepflasterte Straße vor sich, keine Quergassen, keine Parallelstraßen, keine Straßennetze. Nie machen sie einen Blick nach hinten oder zur Seite oder nach oben. So stehen ihnen auch nie 360 Grad Rundumblick zur Verfügung.

Beim Medicinicum Lech 2017 wurde mehrmals die Frage gestellt, warum so viele Menschen den schulmedizinischen Methoden skeptisch gegenüberstehen und sich der chinesischen Medizin oder Ayurveda zuwenden. Die Schwäche unserer Schulmedizin ist ihre Spezialisierung. Aber die ist auch ihre größte Stärke. Mithilfe von Spezialisierungen hat die Schulmedizin die großartigsten Dinge zuwege gebracht.

1928 legte der Bakteriologe Sir Alexander Fleming vom Londoner St. Mary’s Hospital mehrere Nährbodenplatten mit Staphylokokken an und ließ diese Bakterien auf einem Stapel in der Ecke des Labors zurück. Dann fuhr er in die Sommerferien. Nach seiner Rückkehr ins Krankenhaus entdeckte er, dass auf dem Nährboden einer der Platten auch ein Schimmelpilz gewachsen war, in dessen unmittelbarer Nähe sich die Staphylokokken nicht vermehrt hatten. Endlich hatte er den Weg gefunden, wie sich Bakterien bekämpfen lassen. Zum ersten Antibiotikum war es nicht mehr weit. Jetzt durfte Fleming nicht lockerlassen, sondern musste weiter und weiter forschen und vor allem andere spezialisierte Kollegen auf seine Entdeckung aufmerksam machen. Eine Entdeckung, die unzählbare, wirklich unzählbare Leben gerettet hat.

Dreht man das Rad der Zeit noch weiter zurück, offenbart sich eine andere medizinische Meisterleistung, ebenfalls geboren aus dem sogenannten Zufall und weiterentwickelt mit dem Geist der Forschung: 1844 besuchte der Zahnarzt Horace Wells die Vorstellung einer Wanderbühne, bei der Freiwillige als Attraktion Lachgas einatmen konnten. Während der Vorstellung beobachtete Wells, dass eine der Versuchspersonen sich eine klaffende Wunde am Unterschenkel zuzog, ohne die geringste Schmerzreaktion zu zeigen. Daraufhin begann Wells mit Lachgas und anderen Inhalationsnarkotika zu experimentieren. Als er seine Entdeckung öffentlich vorführen wollte, ist er wegen einer falschen Dosierung kläglich gescheitert, ruinierte seinen Ruf und wurde chloroformsüchtig. Sein Mitarbeiter William Morton war glücklicher. Ihm ist eine öffentliche Vorführung gelungen. Er wurde berühmt. Auf jeden Fall war das Tor für die chirurgische Lebensrettung geöffnet.

Die Liste der Wunder ist lang, die Zufriedenheit der Patienten eher kurz. Wenn überhaupt. Die Gründe sind vielfältig: Oft sind es nur die wenigen Minuten, die sich der Schulmediziner den Damen und Herren widmen kann. Mitunter sind es unerfüllbare Wünsche oder Hoffnungen schwerkranker Menschen. Und häufig ist es einfach nur Unbehagen, ein leises Gefühl der Unsicherheit. Man sitzt im Wartezimmer und befürchtet, dass die hochspezialisierte Schulmedizin vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sieht, sich nur auf das fachärztliche Organ konzentriert, und dass die Ganzheitlichkeit der Heilkunst beim Teufel ist. Der Skeptiker nennt das Scheuklappenmedizin.

Holismus heißt aber, sich immer wieder aufs Neue umzusehen und Zusammenhänge zu erkennen, nicht Pferdeäpfel auf dem Asphalt, sondern die Straße, die Stadt, das Land, den Kontinent, den Planeten, das Weltall, die Milchstraße, das Universum und was vielleicht dahintersteckt. Den Mikrokosmos, den Mesokosmos, den Makrokosmos. Die holistische Verschränkung. Die Zahnräder des Seins und die Kanten dessen, was wir Schicksal nennen. Bis zu den Rändern des Verstands und darüber hinaus.

Dazu eine Anekdote: Der Wiener Erzbischof, Franz Kardinal König, musste wie alle anderen auch auf seine Gesundheit achten. Sein Leibarzt, ein gewisser Willibald Polterauer, besuchte seinen Patienten dann und wann. Ich habe damals Medizin und Theologie studiert und arbeitete als Sekretär des Kardinals. Natürlich konnte ich es mir nicht entgehen lassen, mit dem Leibarzt meines Chefs so oft wie möglich ein paar Worte zu wechseln. Dass er über große Erfahrung verfügte, war schon in seinen kleinsten Bemerkungen zu spüren. Einmal meinte Polterauer:

»Ein guter Arzt weiß, dass unser Körper ein sehr gutes Gedächtnis hat. Er merkt sich vieles, auch über Jahrzehnte, aus der Kindheit und, könnte man weiterdenken, vielleicht auch aus der Zeit davor.«

Wir haben über Zusammenhänge gesprochen, die den Körper im Laufe der Zeit beeinflussen. Und über Verschränkungen, die im Körper alle gleichzeitig passieren. Was passiert mit dem einen Organ, wenn ein anderes Organ sich plötzlich anders benimmt als sonst? Ist die Erinnerung des Körpers das, was ihn mit der Ewigkeit verbindet? Wie weit reicht die Erinnerung?

Offensichtlich gibt es diese Verschränkung nicht nur in der Medizin, sondern, wenn auch in ähnlicher Art, in der Physik.

Spätestens seit dem Jahr 2016 macht ein chinesisch-österreichisches Projekt Schlagzeilen. Und gerade vor Kurzem, am 29. September 2017, sind es noch mal viel mehr Schlagzeilen geworden, als der österreichische Quantenphysiker Anton Zeilinger in Wien zur öffentlichen Vorstellung der Früchte seiner Arbeit und der Arbeit seiner chinesischen Kolleginnen und Kollegen lud. Zwischen Wien und Peking wurde eine »spukhafte« Telefonverbindung hergestellt. Ein Wunder der Verschränkung.

Es geht um die Verschränkung von Quanten. Schon Albert Einstein hatte dieses Phänomen angenommen und treffend als »spukhafte Fernwirkung« bezeichnet.

Zwei Quanten, zum Beispiel Photonen, also Lichtteilchen, können nach den Gesetzen der Quantenphysik einen gemeinsamen Zustand annehmen. Diese Verschränkung bleibt auch dann erhalten, wenn man die beiden Teilchen räumlich trennt.

Wird eines der beiden Teilchen anschließend verändert, etwa indem man es mit einem weiteren Photon verschränkt, ändert sich der Quantenzustand des entfernten Partners automatisch. Dieses Prinzip funktioniert sogar über unglaubliche Distanzen von tausenden Kilometern, also auch zwischen Wien und Peking. Die Information wird gleichsam gebeamt. Nein, das trifft es nicht. Die Information ist zugleich an dem einen und an dem anderen Ort.

Das Projekt heißt Quantum Experiments at Space Scale, kurz QUESS. Nach ersten Versuchen auf dem Erdboden in China wurde im Sommer 2016 der erste Satellit in den Weltraum gesandt, der die Möglichkeit der Quantenverschränkung auch zwischen Weltraum und Erde aufgezeigt hat. Vereinfacht bedeutet das: Wenn alles nach Plan läuft, gibt es bald eine völlig neue, extrem schnelle Art des Internets. Anton Zeilinger formuliert den philosophischen Hintergrund in einem Interview so:

»Wichtiger als die Konzepte Raum und Zeit ist das Konzept der Information, und Information ist offenbar unabhängig von Raum und Zeit. Das heißt, die Information liegt vor, dass beide Systeme gleich sein müssen, auch wenn sie vor der Beobachtung noch keine vordefinierten Eigenschaften besitzen und obwohl sie keine Verbindung haben. Für mich deutet das in die Richtung, dass Information fundamentaler ist als alle anderen Konzepte. Schon das Johannes-Evangelium beginnt mit: Am Anfang war das Wort. Das kann ich auch mit Information übersetzen.«

Am Anfang war also die Information.

Die Romantik hatte das bereits in poetische Worte gekleidet. So dichtet Joseph von Eichendorff:

Schläft ein Lied in allen Dingen,Die da träumen fort und fort,Und die Welt fängt an zu singen,Triffst du nur das Zauberwort.

Der Wiener Quantenphysiker Anton Zeilinger vermutet vor allem hinter den Verschränkungsphänomenen ebenfalls eine uns noch nicht bekannte »Melodie«. Und er moniert auch, dass die spekulative Physik des 20. Jahrhunderts eigentlich die neuen Weltanschauungen prägen müsste, ähnlich wie das die mechanistische Physik zwei Jahrhunderte vorher gemacht hat.

»Das Paradigma zu jeder Zeit war, zu versuchen, Gehirn und Bewusstsein anhand der Leitwissenschaft in der Physik zu erklären«, sagt Zeilinger. »Im 19. Jahrhundert gab es mechanische Modelle des Gehirns mit Zahnrädern. Später waren es Vorstellungen mit elektrischen Relais, heute ist es die Quantenphysik.«

Sie erlaubt wesentlich mehr Verschränkungen und Korrelationen als die klassische Physik. Eigentlich ist sie holistischer.

Wenn uns die Hirnforscher bestätigen, dass sich nur ein kleines Segment der Wirklichkeit unserem Geist und unserem Verständnis erschließt, so ist das natürlich noch lange kein Gottesbeweis. Allerdings erscheint es heute intellektuell redlicher als noch vor hundert Jahren, im Nebel des uns nicht Zugänglichen einen Weltenbaumeister anzusiedeln. In Sinnstiftungsfragen ist das für mich auf jeden Fall der Plan A, im Gegensatz zum Plan B der traurigen und unromantischen Abwesenheit Gottes.

Faust, der große Wissenschaftler, kannte weder Neurowissenschaften noch Quantenphysik, und machte sich deshalb über Gretchens Glauben lustig.

Mit den Worten einer Sphinx spricht auch Philosoph Peter Sloterdijk von einer Endlichkeit des Wissens und rät, dieses Manko durch einen gewissen Surrealismus zu kompensieren:

»Durch den Sinn für das Mögliche, das Außergewöhnliche, das Wunderbare und das Absurde.«

Das Transzendentale erwähnt er nicht ausdrücklich.

Allerdings scheint es nicht mehr unvernünftig zu sein, sich für Wirklichkeiten zu entscheiden, die jenseits unserer Erkenntniswelt liegen. Ob im Gestern, im Heute oder in dem, was kommen mag, was uns erst im Morgen vermacht werden wird. Und manchmal ist so ein Vermächtnis eine Botschaft, die erst sehr viel später ihre Wirkung entfaltet.

Beim Medizinerkongress in München, es war Anfang Mai 2017, ein herrlicher Tag, hielt Sloterdijk einen Festvortrag. Wir haben ihn mit einem Brief begrüßt, einem Schriftstück von Sigmund Freud an Arthur Schnitzler:

»Ich habe mich oft verwundert gefragt, woher Sie diese oder jene geheime Kenntnis nehmen konnten, die ich mir durch mühselige Erforschung des Objekts erworben habe, und habe den Eindruck gewonnen, dass Sie durch Intuition all das wissen, was ich in langer Arbeit an Menschen aufgedeckt habe. Den Dichter, den ich stets beneidete, beginne ich jetzt zu bewundern.«

Heute würde man sagen: Sigmund freut sich. Die Dichtung, die Philosophie und die Wissenschaft sind verschränkt. Die Dichtung muss nicht so präzise sein wie die Wissenschaft, aber die Wissenschaft kann sich von der Dichtung die schönen Worte ausborgen.

Der Glaube, heißt es, kann Berge versetzen. Wer auch immer das glauben mag. Eine Sache kommt mir in den Sinn, wenn Atheisten sich mit sagenhafter Überheblichkeit über gläubige Menschen lustig machen und dogmatisch feststellen, dass der Glaube an Gott ja bekanntlich tot sei, und dass das doch ohnehin alle vernünftigen Leute wüssten. Ich erinnere mich dann immer an die suchende Vorsicht, die der frühere Bundeskanzler Bruno Kreisky bei seinen jährlichen Weihnachtsbesuchen bei Kardinal König nicht nur einmal zur Rede brachte: Dass unser Gehirn nicht fähig wäre, Transzendentales zu erkennen, aber dass man das Transzendentale deshalb auch nicht ausschließen dürfe. Es steht, so Kreiskys Meinung, fünfzig zu fünfzig.

Meine Aufgabe damals war es, die Gäste zu erwarten und zu Kardinal König hinaufzuführen. Bei einem dieser Besuche blieb Kreisky auf der wunderschönen Renaissancestiege des Palais stehen und fragte mich nach meinen Zukunftsplänen. Als ich ihm erzählte, ich wolle Arzt werden, hielt er inne, wandte sich auf der Stiege mir zu und sagte:

»Da müssen Sie das machen, was auch in der Politik gilt. Ein guter Politiker muss die Menschen lieben. Ein guter Arzt muss das auch.«

Kardinal König führte dann kurz vor seinem Tod ein Gespräch mit mir. Es war ebenso berührend wie tiefsinnig.

»Ich habe einen Wunsch«, sagte er. »Sie sollten sich mit der Verbindung zwischen Naturwissenschaft und Theologie befassen. Es gibt Schnittpunkte, glauben Sie mir, mehr als man denkt. Naturwissenschaft und Theologie lassen sich verknüpfen. Das eine schließt das andere nicht aus, im Gegenteil, beide Teile bilden ein Ganzes. Die große Aufgabe besteht darin, zu verstehen. Das könnte zu einer tiefen Erkenntnis führen.«

Es hat eine Zeitlang gebraucht, bis ich seinem Wunsch nachkommen konnte. Jetzt gehen die Knoten auf, alles löst und öffnet sich. Auch das ist sein Vermächtnis. Auch wenn die tatsächliche »Erkenntnis« wohl natürlich in alle Ewigkeit auf sich warten lassen wird.

Nach Jahrzehnten soll hier auch versucht werden, seine Sicht der Vernünftigkeit, an Transzendentales zu glauben, und die Versöhnung zwischen Glaube und Wissen zu kommemorieren. Und genau diese Versöhnung erlaubt auch intellektuell, redliche Antworten auf die großen Fragen zu finden, die Kardinal König immer wieder zur Rede brachte: »Woher komme ich? Wohin gehe ich?«

Damit griff er auf die gnostische Erlösungsformel zurück, die Clemens von Alexandrien zitierte:

»Wer waren wir? Was sind wir geworden? Wo waren wir? Wohinein wurden wir geworfen? Wohin eilen wir? Wovon sind wir befreit? Was ist Geburt? Was ist Wiedergeburt?«

Selbst Biologie und Medizin sprechen zunehmend von einer Art Leben vor unserer Zeugung und von einem Leben nach uns, in das beispielsweise Liebe und Zuneigung, die sich tatsächlich auch vererben lassen, weiterwirken können.

Werden die Fragen des Woher und des Wohin noch weiter gesteckt, über die Biologie hinausgehend, so soll es nicht als unvernünftig abgetan werden, wenn sich religiös musikalische Menschen zu Wort melden und das Diesseits als eine Art Exil ansehen. Ein Exil, in das man von dort hineingefallen ist, wohin man nachher wieder zurückgeht. Ein Exil, in dem man aber auch bleibt, selbst wenn man schon weg ist. So hat Sokrates von der weisen Diotima erfahren, dass der Mensch durch seine Kinder an der Unsterblichkeit teilhat. Aber nicht nur durch Kinder, wie wir sehen werden.

Das ganze Welttheater ist wie ein Puppenspiel. Wir sehen nur die Puppen, nicht die Hand, die hinter den Puppen steckt und sie führt. Auch wir Menschen sind wie Puppen. Wir bewegen uns wie Figuren auf einem Maskenball.

Die Welt ist unendlich bunt und vielgestaltig, nur können wir sie in unserer menschlichen Beschränktheit immer nur wie durch getönte Gläser sehen. Durch Brillen, die uns von der Ganzheit der Welt immer nur Teilaspekte zeigen, Schattierungen, Ausblendungen, Graustufen. Und nicht das Bild, das uns das prächtige Kaleidoskop des Alls bietet. Der Mensch begreift weniger, als er glauben kann.

Auch die Chaostheorie geht von einer uns nicht immer verständlichen Beeinflussung von Reaktionsketten aus. Der Schmetterlingseffekt ist ein Phänomen der nichtlinearen Dynamik. Er soll anschaulich machen, wie physikalische Reaktionen, die uns chaotisch erscheinen, sich beeinflussen. Es ist nicht vorhersehbar, in welchem Maß sich schon winzig kleine Änderungen der Anfangsbedingungen eines Systems langfristig auf die gesamte Entwicklung des Systems auswirken. Kann ein Flügelschlag eines Schmetterlings über Afrika einen Hurrikan in der Karibik auslösen? Er kann.

Angenommen, Sie gehen eine Minute zu spät aus dem Haus und verpassen die Straßenbahn. Dadurch verspäten Sie sich zu einem Vorstellungsgespräch und werden nicht genommen. Zerknirscht verlassen Sie die Firma und werden angerempelt. Der Mensch vor Ihnen schaut Sie an, sie reden miteinander, verlieben sich, gründen eine Familie und werden glücklich. Wären Sie pünktlich aus dem Haus gegangen, dann wäre das alles nicht passiert. Sie hätten den Job bekommen und den Lebenspartner nie getroffen. Flügelschläge des Schicksals, Myriaden von Möglichkeiten.

Jeder Quantenvorgang hat weitreichende, der Physiker sagt »nichtlokale« Auswirkungen, die mit extrem sensiblen Antennen wahrgenommen werden können. Sie stehen in einer holistischen Verbindung zueinander. So ein Band gibt es auch zwischen Kind und Mutter. Ein Band aus unendlich vielen Fäden gesponnen.

Der einprägsame Begriff »Schmetterlingseffekt« stammt übrigens von dem amerikanischen Meteorologen Edward Lorenz, der im Jahr 1972 vor der American Association for the Advancement of Science einen Vortrag über Vorsehung hielt. In seiner ursprünglichen Form verwendete er den Flügelschlag einer Möwe statt eines Schmetterlings, aber wir wollen nicht kleinlich sein, besser holistisch.

Am Anfang war die Information. Mit der Zeit kommt die Erkenntnis. Oder auch nicht. Am Ende bleibt ein Lächeln.

Teil 1

Woher kommen wir.Wohin gehen wir.

Der Schmetterlingseffekt in der Sexualität

Sie sieht ihm in die Augen, und es ist nicht nur ein Schauen. Ihr Blick umfängt den seinen, sie schmiegen sich aneinander, verflechten sich zu etwas Gemeinsamem. Noch gab es keine Berührung, und doch sind beide berührt. Sie streicheln einander, nicht nur mit den Händen, und irgendwann weiß keiner mehr, wo ein Körper aufhört und der andere beginnt.

Die Schmetterlinge im Bauch sind kein zufälliges Bild. Sicher, sie drücken das Gefühl, das jeder Mensch kennt, der schon einmal verliebt war, in seiner ganzen herrlichen Komplexität aus. Doch da ist noch mehr als das schöne Flattern im Bauch. Es gibt den Schmetterlingseffekt auch in der Sexualität. Ein Flügelschlag hier löst Tornados im gesamten Organismus aus.

Die Sexualität ist zutiefst holistisch.

Deshalb ist Sex auch so viel mehr als bloße Kopulation. Er vernetzt sowohl Organe als auch die verschiedensten Vorgänge im Körper von Mann und Frau, die man bislang nicht einmal ahnte. Körperfunktionen, Herzfunktionen, Immunfunktionen, alles ist evolutionär für den Geschlechtsverkehr perfekt eingestellt.

Die Zeugung beeinflusst wahrscheinlich nicht nur die beiden am Geschlechtsakt beteiligten Menschen, sie prägt auch das Kind. Der Holismus bezieht sich also nicht nur auf einen Organismus, sondern im Fall der Fälle auf drei. Und selbst über die drei geht er weit hinaus. Die holistischen Vernetzungen, die die Sexualität auslöst, betreffen das Mensch-Werden und das Mensch-Sein. Die Entstehung des Lebens und das Leben selbst.

Wir sprechen von einem Gesamt-Holismus, wenn es dieses Wort überhaupt geben kann. Eine über alle bislang gedachten Grenzen hinausgehende Zusammengehörigkeit der Dinge.

Die Sexualität ist das von der Natur erdachte komplexe Instrumentarium zur Fortpflanzung. Perfekt in ihren Abläufen für die Reproduktion. Großartig im Verbergen aller Anstrengungen innerhalb des Organismus, damit sie dem Menschen nicht Last, sondern Ekstase sein kann. Wenn sie bei allem, was sie an holistischem Flechtwerk zustande bringt, eine fade, mühevolle, lästige Pflicht wäre, ein Muss, das eben zu erledigen ist, dann könnte sie noch so genial sein, die Menschheit hätte längst keine Lust mehr, sich zu vermehren. Deshalb muss Sex so ziemlich der beste Zeitvertreib sein, den die Natur zu bieten hat.

Der Geschlechtsverkehr die Möglichkeit des Beginns von neuem Leben. Darauf ist alles ausgerichtet, dafür ist alles ersonnen, dahingehend hat sich alles entwickelt. Das Leben ist der Grund allen Holismus.

Der Zweck jedes Daseins ist es, auch weiterhin da zu sein. Nachkommen zu zeugen. Die Art zu erhalten. Mit den Augen der Natur besehen, ist der Sinn des Lebens die Fortpflanzung. Einzig und allein und ausschließlich. Ihr dient alles.

Die beiden wichtigsten Entscheidungen, die Lebewesen fällen, sind: Was werden wir fressen und mit wem werden wir uns paaren.

Fressen und paaren.

Das ist die Doppelspeerspitze jeder Existenz. Fressen sichert das Überleben und die Energiezufuhr und liefert damit die beiden Voraussetzungen, ohne die auch jede Reproduktion schwierig wird. Jeder Mechanismus, jeder Prozess, jede Reaktion im Körper lässt sich darauf abklopfen, was sie zur Vermehrung beitragen kann. Das gesamte System ist auf die Zukunft ausgerichtet und beim Homo sapiens grandios überhöht worden.

Die Sexualität nimmt da natürlich einen ganz hohen Stellenwert ein. Wenn nicht den höchsten. Irgendwie müssen diese Nachkommen ja entstehen. Es braucht einen Akt der Zeugung. Die Initialzündung. Den Ursprung. Das ist der Geschlechtsverkehr. Und wie die Evolution das sieht: jeder Geschlechtsverkehr. Die Evolution vergeudet keine Chancen. Sie ist immer auf alles gefasst. Auf das Große und das Ganze. Etwas Holistischeres als die Evolution gibt es nicht, und ihr Meisterstück ist die Sexualität.

Das, was man in Pornos sieht, ist genau das Gegenteil von dem, was Sexualität wirklich ausmacht. Die reine, primitive Mechanik nimmt auf den Schmetterlingseffekt keine Rücksicht. Das karnickelhafte Raus und Rein verrammelt das Tor, das Zutritt zu dem verschaffen würde, was hinter den Dingen steht. Eine faszinierende Welt gesamtheitlicher Zusammenhänge.

Dass einem die Tragweite nicht ständig bewusst ist, liegt nicht daran, dass man mitunter nur die schnelle Nummer im Sinn hat, um sie im Kalender abzuhaken. Ich will mich auch beileibe nicht dazu aufschwingen, anderen zu sagen, wie sie ihr Liebesleben zu gestalten haben und wie sie Sexualität interpretieren sollen. Das ist weder mein Interesse noch mein Wunsch. Ich bin nur Gynäkologe und Reproduktionsmediziner und als solcher mit den Dingen betraut, die recht ursprünglich mit der Sexualität und ihren Folgen zu tun haben. Den negativen wie den positiven. Ohne die Zusammenhänge im Hintergrund könnte ich kein vordergründiges Problem lösen. Mein Fach ist, so wie ich das sehe, ohne Holismus gar nicht zu bewältigen.

Es gehört also zu meinem Beruf, mich mit den Fakten zu beschäftigen, die mein Spezialgebiet betreffen, aber auch mit dem Dahinterliegenden. Mit den Geheimnissen, die sich jenseits der Sexualität auftun. Und in jüngster Zeit tut sich unendlich viel dahinter auf. Die Erkenntnisse überschlagen sich. Bekannte Abläufe bekommen ganz neue Bedeutungen. Es werden Brücken geschlagen, wo wir bisher noch nicht einmal den Brückenkopf einer Verbindung hervorlugen gesehen haben.

Es ist, als wäre der Körper eine Stadt, in der man einzelne Viertel wie seine Westentasche kennt und doch bislang das Gefühl hatte, jede dieser Taschen gehöre zu einer anderen Weste. Wie man von einem Viertel ins andere kommt, hätte man nicht sagen können, selbst wenn es ums Eck lag. Das ändert sich jetzt mit einer erstaunlichen Rasanz. Ein Verbindungsgässchen nach dem anderen wird entdeckt, die all die vielen Viertel miteinander verbinden, auch wenn man sie am entgegengesetzten Ende der Stadt vermutet hatte.

Derzeit lässt sich der Holismus offenbar sehr gern in die Westentaschen lugen. Es kommt einem fast vor, als hielte er sie dem Menschen sogar ein bisschen auf. Als lockte er ihn: Komm, schau hier herein, da hab ich noch etwas für dich, was du nicht gewusst hast, einen Zusammenhang, den du noch nicht hergestellt hast, so spielen die Dinge zusammen.

Das regt natürlich ziemlich dazu an, über den Zufall nachzugrübeln. Denn mit jeder der Erkenntnisse, die einander in der Forschung so jagen, wird die Möglichkeit des Zufalls kleiner. Dass ein so strukturiertes Spinnennetz an Verknüpfungen rein aus dem Nichts entstanden sein könnte, ist kaum mehr zu glauben.

Der Zufall wird zum unwahrscheinlichen Fall.

Doch worin bestehen sie jetzt, diese Neuigkeiten aus den Labors dieser Welt?

Versetzen wir uns einfach einmal in uns selbst. Sozusagen als Voyeure im Namen der Wissenschaft. Setzen wir uns in unser eigenes Theater. Nehmen wir Platz als Publikum auf der Galerie des Ichs. Betrachten wir das Schauspiel an Schmetterlingseffekten, das die Natur zum Zwecke der Zeugung eines neuen Menschen inszeniert hat. Schauen wir, was der Geschlechtsakt in unserem Organismus auslöst. Lassen wir uns zeigen, was es in uns Neues gibt.

Vorhang auf für die drei Akte der vernetzten Sexualität.

Erster Akt: die Blaupause.

An der Handlung beteiligt: die männliche Samenflüssigkeit, das weibliche Immunsystem.

Kurzinhalt: Die Spermien und die Samenflüssigkeit des Mannes sind Fremdkörper in der Frau, und als solche müssten sie normalerweise vom Immunsystem angegriffen und entfernt werden. Weil das im Sinne der Fortpflanzung nicht geht, gleicht sich die Frau lokal dem Immunsystem des Mannes an. Sie modelt sich um und erstellt in sich eine tolerable Blaupause von ihm.

Jeder glaubte, dass das Ejakulat des Mannes hauptsächlich Spermien beinhaltet, auch wir Mediziner. Die Medizin denkt mechanistisch. Das holistische Prinzip, demzufolge ein Organ das andere beeinflusst, ist nicht sehr verbreitet.

Man weiß schon seit Langem, dass im Sperma nicht nur Spermien enthalten sind, die nehmen nur an die 0,5 Prozent der Sache ein. Aber die restliche Samenflüssigkeit hat es auch in sich.

Es gibt ganze Bücher, in denen alle unzähligen Bestandteile aufgelistet werden, die für die unterschiedlichsten Aufgaben zuständig sind. Die Spermien brauchen Energie, ein Navigationssystem, fremde Spermien sollen nach Möglichkeit ausgeschaltet werden. Und die eigenen Spermien müssen natürlich geschützt werden, gegen Krankheitserreger und Fressfeinde, denen sie begegnen könnten, aber auch gegen die Abwehrkräfte der Frau.

Da ist eine magische Mischung unterwegs. Magie, was für ein großes Wort für die kleinen Dinger, höre ich es von den hinteren Rängen unseres Ich-Theaters raunen. Aber ich bleibe dabei. Was diese Proteine bewirken, ist tatsächlich Magie. Denn mit ihnen bereitet der Mann die Frau auf die Fortpflanzung und letzten Endes auf das gemeinsame Kind vor.

Daher ist einmal eine gute Portion von Glückshormonen dabei, zum Beispiel Endorphin und Oxytocin. Oxytocin ist auch als Kuschel- und Treuehormon bekannt, wir werden darauf noch zu sprechen kommen. Endorphin ist ein körpereigenes Opiat. Es fehlen natürlich auch die Pheromone nicht, also die Duftstoffe, die der Körper in Liebesbereitschaft gleichsam aus allen Poren aussondert, um attraktiv zu sein.

Außerdem haben wir gesagt, dass das Immunsystem der Frau ausgetrickst werden muss, damit es die Spermien nicht zerstört. Die weißen Blutkörperchen müssen abgelenkt werden. Dafür sind Stoffe wie Prostaglandin, Spermidin und Spermin zuständig. Spermin ist nebenbei gesagt der Stoff, der für den Geruch des Spermas verantwortlich ist. Und auf das Spermidin werden wir im dritten Akt ausführlich zu sprechen kommen. Unzählige andere Stoffe, darunter auch Opiate, sind dazu da, das Immunsystem der Frau herunterzufahren. Aber ganz ausgeschaltet werden soll es auch nicht, das wäre gefährlich, es muss an das des Mannes angepasst werden. Dafür werden im Sperma von männlicher Seite verschiedene Stoffe wie zum Beispiel Adrenalin mitgeschickt, aber vor allem eigene Abwehrkräfte, eigene Immunfaktoren.

Das ist eine Nachricht, die sich nicht so leicht verdauen lässt. Vor allem für die Frau. Macht sie die Natur etwa zur Blaupause des Mannes? Der Gedanke ist unangenehm, wenn nicht unheimlich.

Schauen wir uns die Gründe an.

Durch die Ejakulation bekommt die Frau quasi eine Infusion. Es dringt Flüssigkeit in ihren Körper ein. Normalerweise ist so etwas für den Organismus ein Grund, Alarm zu schlagen. Ein körperfremder Stoff bahnt sich seinen Weg ins Innere. Wer weiß, was da alles mit hereingeschwemmt wird. Und schon blinken die Warnleuchten, und die Sirenen heulen, um die Eindringlinge schnellstens wieder loszuwerden. Normalerweise.

Passierte das bei jedem Geschlechtsakt, wäre das nicht nur ausgesprochen unbequem, es hätte unseren Fortbestand wohl verhindert. Das Ejakulat dient der Fortpflanzung, es darf nicht abgestoßen werden wie ein Parasit oder Krankheitserreger. Es muss eine Sondererlaubnis bekommen. Eine Art Passierschein, der zur Zeugung notwendig ist und die Pforten in den Organismus öffnet.

Gleich beim Eintritt ins weibliche Territorium weisen die männlichen Besucher diesen Passierschein vor. Der besteht unter anderem aus den Abwehrkräften, den Immunfaktoren des Mannes. Diese Immunfaktoren drängen sofort in die dendritischen Zellen der Frau, die für das Immunsystem tätig sind und rennen von dort aus zu den Lymphknoten weiter.

Die schauen sich das an und entschlüsseln die Botschaft an das weibliche Immunsystem. Gegen diesen Eindringling keine Feindseligkeiten. Hier sind die Codes, mit denen seine Abwehrkräfte arbeiten, die übernehmen wir jetzt.

Da die Samenflüssigkeit alles tut, um ihre Samen zu beschützen, beinhaltet sie auch viele antibakterielle, antimykotische und antivirale Stoffe, zum Beispiel Laktoferrin und Zytokin. Die beiden sind sonst auch für Zellteilung und Regulierung der Zellspezialisierung zuständig. In unserem Fall der körperlichen Liebe schützen sie neben den Spermien auch die Frau.

Über den Muttermund geht es dann für alle Bestandteile weiter. Die Operation Fortpflanzung ist angelaufen.

Ein hochgenialer Mechanismus.

Es sind also nicht nur Spermien, die da aus Jux und Tollerei hineingeschossen werden. Das ist nicht nur ein erfreulicher Geschlechtsverkehr. Es ist fast eine Parabiose. Die beiden Organismen sind zwar nicht miteinander verwachsen, aber sie vereinigen sich, und damit sind sie verschränkt.

Nur, warum genügt nicht schon der Passierschein? Wozu muss sich die Frau auch noch zur Blaupause ummodeln?

Die Antwort hat etwas Epochales. Der Mann deponiert mit der Ejakulation seine DNA in den Schleimhäuten der Frau, damit sein Sperma von ihr akzeptiert wird. Denn dieses Sperma ist nichts anderes als ein möglicher halber Embryo.

Die Programmierung, die das Immunprofil der Frau verändert, bereitet sie auf das Einnisten des neuen Lebens vor wie auf ein Geschenk. Das ist etwas anderes, als sich einen Splitter einzuziehen. Ein Splitter ist kein Geschenk, er bohrt sich seinen Weg, ohne eingeladen worden zu sein. Da versteht das Immunsystem keinen Spaß und ist sofort in Aktion. Beim Sperma hält es sich zurück, obwohl es genauso ein Fremdkörper ist, der zu hundert Prozent nicht von der Frau stammt.

Schaut man sich an, was sich daraufhin alles im weiblichen Körper tut, schreien Vernunft und Gefühle wild durcheinander. Wenn der Verstand die Informationen verarbeitet, findet er den Plan der Natur völlig logisch.

Anders die Psyche. Blaupause. Umprogrammierung. Neues Immunprofil. Was muss man als Frau nicht noch alles über sich ergehen lassen? Genügt es nicht, die Umwälzungen auf sich nehmen zu müssen, die die Schwangerschaft erfordert? Genügt es nicht, für den schmerzhaften Part der Reproduktion zuständig zu sein? Muss man vorher auch noch so umgekrempelt werden?

Bedeutet das alles nicht eigentlich, dass die Frau nicht sie selbst bleiben darf? So ziemlich alle Frauen, mit denen ich über diese neue Entdeckung der Wissenschaft rede, sind zumindest entsetzt, die meisten schockiert. Wäre ich kein Mediziner, ginge es mir nicht anders.

Als Mediziner kann ich auf ein unfassbar durchdachtes Ganzes verweisen. Ein Zusammenspiel zweier verschiedener Organismen, die nur gemeinsam fähig sind, sich zu vermehren. Nur miteinander gelingt die Reproduktion. Da ist kein Organismus besser als der andere, weil keiner ohne den anderen handlungsfähig wäre. Sie ergänzen sich in einer Perfektion, wie sie nur die Evolution zuwege bringt.

Und, was nicht unter den Tisch gekehrt werden darf: Auch für das Glück und die Freude und die Liebe braucht man zwei.

Der Mann tut sich auf den ersten Blick nur in seiner evolutionären Ausrichtung leichter. Er hat den Auftrag, seine Gene zu streuen, so viele Kinder zu zeugen wie nur möglich. Darauf ist er gepolt. Er sieht eine Frau, er riecht die Geschlechtsreife, er möchte zur Sache kommen. Allerdings versucht nicht nur das sechste Gebot, sondern auch die höher entwickelte Natur ihn zu domestizieren. Das Oxytocin ist zum Beispiel so ein Domestizierungshormon.

Es ist natürlich die Frage, inwieweit Statistiken von Dating-Seiten über die gesamte Bevölkerung aussagekräftig sind, die Zahlen einer Münchner Studie sind jedenfalls interessant. Dabei wurden die Daten von 10.000 Benutzerinnen und Benutzern von Partner-Vermittlungsseiten im Internet ausgewertet.

Von den untersuchten Männern waren rund 40 Prozent auf Seiten unterwegs, die unverbindlichen Sex vermitteln. Von den untersuchten Frauen waren es nur rund 19 Prozent. Umgekehrt waren 60 Prozent männlicher Online-Dater auf Singlebörsen oder Partnervermittlungen unterwegs. Von den Frauen waren es 81 Prozent.

So simpel wie bei ihm ist die Sache bei ihr also nicht. Wenn sich die Frau mit einem Mann einlässt, und dabei kein Kondom verwendet wird, lässt sie sich von ihm verändern.

In der modernen Gesellschaft hat man von Einschränkungen genug. Seit Emanzipation und Pille schienen Frauen doch einen hohen Grad an Selbstbestimmung gewonnen zu haben.

Und jetzt das: Überleg dir, mit wem du ins Bett steigst. Ohne Kondom drohen nicht nur Krankheiten, sondern auch noch eine Umprogrammierung durch die männliche DNA.

Da die Umprogrammierung das Immunsystem betrifft, ist die Frau anfälliger für Viren oder Allergien. Vor allem die viel besprochenen Humanen Papillomviren, man kennt sie unter dem Kürzel HPV, übertragen sich mit höherer Chance.

Sex ist die intimste Kommunikation der Welt. Ist ein Mann sehr kommunikativ, früher hätte man gesagt: ein Hallodri, öffnet die Frau ihm durch die Immunanpassung nicht nur Tür und Tor für seine Spermien, sondern möglicherweise auch für die Viren, die er auf diesem Weg mitbringt. Die marschieren fröhlich pfeifend durch die offenen Pforten und beginnen dort ihr katastrophales Geschäft.

Dort, das ist in erster Linie der Muttermund. Denn genau dort fährt die weibliche Immunabwehr ihre Hürden herunter. Deshalb ist der Muttermund so anfällig für die HPV-Infektion, die letztlich zum Zervix-Karzinom, dem Gebärmutterhalskrebs, führt. Da man Hallodris auch heute noch nicht auf den ersten Blick erkennt, rät die Medizin dringend zu einem Kondom.

Das Sperma beinhaltet zwar sehr viele Abwehrstoffe, die auch die Frau schützen, aber nur wenn es gesund ist. Zu diesen Abwehrstoffen gehören nämlich auch die sogenannten Granulozyten, und die kommen in besonders hoher Konzentration vor. Es sind Fresszellen. Und genau das ist die Schattenseite. Sie können nämlich schon mit allen möglichen Viren im Bauch angetanzt kommen. Dass man sich beim Geschlechtsverkehr auch mit Hepatitis oder dem HIV anstecken kann, wissen wohl die meisten.

Besonders in der jungen Generation wird aber so ein erhobener Zeigefinger äußerst ambivalent aufgenommen. Die einen sind betroffen und nicken. Ja, das Gefühl, wählerischer sein zu wollen, hätten sie ohnehin schon die längste Zeit, jetzt habe es nur einen Namen bekommen.

Die anderen sind betroffen und schütteln den Kopf. Nein, jung wie sie sind, wären sie genau im richtigen Alter, um à la carte zu lieben. Dass sie sich dabei nicht die ultimative Vielfalt gönnen sollten, wäre nur das, was die alten Leute sagen. Was solle denn schon groß passieren?

Die Wissenschaft gibt die Antwort: Schläft eine Frau ständig mit neuen Partnern, bringt sie ihren Körper wahrscheinlich durcheinander.

Erstens muss er quasi im Akkord immer wieder neue Blaupausen herstellen. Er weiß nicht mehr, auf welche davon es jetzt ankommt, und ist desorientiert.

Zweitens nimmt man an, dass die Anpassung des Immunsystems auch eine Neurogenese im Gehirn auslöst. Es entstehen neue Nervenzellen, die nicht mehr wissen, wozu sie jetzt da sind.

Das trifft aber auch auf den männlichen Körper zu.

Beim Mann sind die Auswirkungen naturgemäß geringer. Er modelt sich lokal und immunologisch nicht um wie die Frau, allerdings baut auch er Neurone im Gehirn auf. Außerdem scheidet der männliche Organismus beim Geschlechtsverkehr einen Schwall an Vasopressin aus. Das Hormon sorgt dafür, dass er ab jetzt wie eine Hyäne auf das gemeinsame Territorium aufpasst.

Damit agiert er wie recht viele andere Männchen von so manchem Fisch über die Vögel bis zu den Säugetieren. In sein abgestecktes Revier, in dem das Weibchen brütet, darf keiner hinein. Solange die Brut da ist, macht das Vasopressin den Mann zum Verteidiger der Familie.

Natürlich gibt es auch den Fall, dass es gar nicht zur Familie kommt oder dass einer der Partner sich vom anderen trennt. Mit oder ohne Kinder. Die Scheidungsrate ist ja kein Geheimnis. Obwohl sie seit 2007 stetig abnimmt, gehen immer noch vierzig Prozent aller Paare auseinander, und es sind heute auch nicht alle Paare verheiratet.

Worauf ich hinaus will, ist der Scheidungs- und Liebeskummer. Dem kommt kaum jemand aus. Das ist ein Phantomschmerz unserer Gesellschaft. Über dem kann man nicht einfach die Augen verschließen. So einfach macht es uns der Holismus nicht.

Schuld am Herzschmerz sind ein paar an der Fortpflanzung beteiligte Hormone wie das Territoriumshormon Vasopressin oder das Bindungs- und Treuehormon Oxytocin. In diese Mittel hat der Organismus im Hinblick auf die Vermehrung ausgiebige Mengen investiert. Völlig unnötig, wie sich bei einer Trennung herausstellt. Der Partner ist weg. Über Nacht werden die Botenstoffe nicht mehr gebraucht, sie verschwinden, wie der geliebte Mensch verschwunden ist.

Den Entzug nennt man Liebeskummer.

Darüber hinaus werden die Neurone, die sich im Vertrauen auf die neue Zwei- und mögliche Dreisamkeit im Gehirn assoziiert haben, mitten in ihrer Begeisterung gestoppt. Wird ein Mensch vom Partner verlassen, unterbricht das die Aktivität dieser neuen Neuronen von außen. Für den Körper ist das eine Stresssituation, die das ganze Desaster mit dem Liebeskummer erst in Gang bringt. Tiefe Traurigkeit, schwere Depressionen, Burn-out, man kennt das ja.

Unterschätzen sollte man das nicht. Alles im Körper war auf Partnerschaft eingestellt, da ist es eigentlich nicht verwunderlich, wenn die Umstellung somatische, also tatsächlich körperliche Folgen hat. Liebeskummer belastet die Gesundheit, mitunter ein Leben lang. Im angelsächsischen Bereich ist das eine anerkannte Erkrankung, an der die Frauen statistisch gesehen mehr leiden als die Männer. Nicht weil sie romantischer oder bindungsfreudiger wären, wie man das landläufig oft so dahinsagt. Es hängt mit der immunologischen Anpassung zusammen, welcher der Mann nicht ausgesetzt ist. Die Blaupause war letztlich für nichts.

Zweiter Akt unseres Naturschauspiels: die Dauerbindung.

An der Handlung beteiligt: das Oxytocin, das Gehirn, das Stickmonoxid, das Herz.

Kurzinhalt: Der Geschlechtsakt bringt im Gehirn neue Neurone hervor, das Oxytocin regt das Herz an, sich zu regenerieren und sogar neues Muskelgewebe zu bilden.

Ohne das Oxytocin würde die Liebe nicht viel mehr Spaß machen, als sich am Schienbein zu kratzen. Es gebe keine Schmetterlinge, keine Zärtlichkeit, keine Treue. Kein Mensch hätte Vertrauen zum anderen. Jede Geburt wäre ein Desaster. Und jedes Baby würde als vergessenes Straßenkind aufwachsen. Das alles wegen des Fehlens eines einzigen Hormons.

Das ist natürlich ein bisschen übertrieben, aber nicht viel. So könnte die Welt durchaus aussehen, ohne dieses Oxytocin, das uns zu dem sozialen Wesen macht, das schon Platon in uns erkannt hat, obwohl er nie etwas von Hormonen gehört hatte.

Mittlerweile wissen wir so einiges über das Oxytocin. Es ist der Stoff, der so ziemlich bei allem mitspielt, was zwei Menschen brauchen, um einen dritten in ihr Leben treten zu lassen. Liebe. Vertrauen. Treue. Solidarität. Nachhaltigkeit. Kraft. Gesundheit. Und insbesondere ein starkes Herz.

Die Sexualität stellt all das bereit, indem sie beim Geschlechtsakt das Oxytocin hinausschleudert, das den Rest erledigt. Das sind schon so einige beachtliche Jobs, die die Natur einem einzigen Hormon zutraut. Schauen wir uns kurz seinen Lebenslauf an.

Das Oxytocin ist ein Hunderte Millionen Jahre altes Molekül. Entdeckt hat man es beim Caenorhabditis elegans, einem Fadenwurm. Der hat diesen Namen, weil er so elegant dahinschwänzelt. Der grazile Wurm musste einen ganzen Haufen Oxytocin-Experimente über sich ergehen lassen, weil er trotz seiner Winzigkeit von nicht einmal einem Millimeter Länge den Säugetieren in manchem ähnlich ist. Genauso wie beim Menschen dient Oxytocin auch bei diesem Fadenwurm dazu, die Fortpflanzung einzuleiten.

Erkennen und paaren. Bei den alten semitischen Völkern war das ein- und dasselbe. Ihr Synonym für die Paarung war das Erkennen. Adam erkannte Eva, und sie gebar den ersten Sohn. Es gehört zum Uraltwissen der Menschheit, dieses Erkennen. Wie richtig und wie poetisch. Ein weiteres Indiz dafür, dass der Geschlechtsakt mehr ist als nur Gerammel.

Freigesetzt wird dieses Oxytocin vom Hinterlappen der Hirnanhangdrüse, und dort hat es, neben vielen anderen, eine zum Erkennen passende Funktion. Sie befähigt den Menschen, Gesichter zu schärfen und sie sich zu merken. Bei den Säugetieren und dem Homo sapiens ist diese Fähigkeit weit ausgebaut.

Das Oxytocin hat auch zwei ganz andere Funktionen, die aber holistisch nicht vom Rest seiner Talente zu trennen sind. Es bewirkt, dass die Gebärmutter sich bei der Geburt zusammenzieht. Das sind die Wehen, die das Kind aus dem Bauch hinausdrücken. Daher kommt auch der Name des Oxytocins, der auf Altgriechisch gleichermaßen »Wehen bei der Geburt«, aber auch »schnelle Geburt« bedeuten kann. Außerdem ist es dafür verantwortlich, dass die Brustdrüse Milch absondert. Darüber hinaus hat es die Natur für Zärtlichkeit und Zuneigung verantwortlich gemacht. Vor der Geburt zu kuscheln hilft also, die Wehen einzuleiten. Beim Stillen zu kuscheln fördert den Milchfluss. Nach dem Orgasmus macht