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Was ist Schicksal und wie entsteht es? Faszinierende Antworten auf diese Fragen liefern moderne Wissenschaften wie Entwicklungsbiologie, Epigenetik und Reproduktionsmedizin. Der renommierte Arzt Prof. DDr. Johannes Huber zeigt, welche Rolle dabei die dunkle Materie unserer DNA spielt, wie wir geprägt wurden, noch ehe wir gezeugt wurden, wie wir selbst bestimmen können, was bisher als gottgegeben galt, und was das alles mit Heilung zu tun hat.
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Seitenzahl: 214
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Johannes Huber:
Die Anatomie des Schicksals
Alle Rechte vorbehalten
© 2019 edition a, Wien
www.edition-a.at
Cover und Gestaltung: Isabella Starowicz
Lektorat: Thomas Schrems
ISBN 978-3-99001-360-1
E-Book-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheimwww.brocom.de
»Ich habe das Gestern gesehen,ich kenne das Morgen.«(Inschrift am TotenschreinTut-anch-Amuns)
Was Sie erwartet
Das Wunder des wandelbaren Schicksals
Es sind nicht die Gene
Das Substrat des Schicksals
Das magische Immunsystem
Die Stunde Null des Schicksals
Die Prägung des Embryos
Die schicksalhaften ersten Monate
Schicksalsmacht Pubertät
Unser Gesicht sagt alles
Was können wir tun?
Claudia, Pressesprecherin meines Verlages, erinnert sich an Kaffeelöffel in der Küchenlade ihrer Mutter, auf denen die Initialien F. E. standen. Manchmal fragte sie sich, wem die gehörten, aber die Antwort darauf war ihr dann auch wieder nicht wichtig genug, um sich bei ihren Eltern danach zu erkundigen.
Schließlich interessierte sich Claudia als Kind für ganz andere Dinge als für Küchenutensilien. Vor allem für Jazzdance. Sie belegte Kurse, ohne dass ihre Eltern sie extra dazu ermutigen mussten. Später ging sie zum Ballett, und als sie von einem besseren Kurs hörte, der weiter entfernt war, wollte sie da hin.
Die Familie hatte nur ein Auto, mit dem der Vater beruflich unterwegs war, und Claudia hatte noch einen kleinen Bruder, weshalb ihre Mutter zögerte. »Wenn du in diesen Kurs willst, musst du zu Fuß gehen«, sagte sie. Claudia war das egal. Einmal die Woche ging sie unbekümmert die drei Kilometer hin und wieder zurück.
Nach ihrem Studium der Verlagswissenschaften in Rom arbeitete die frisch gebackene Dottoressa eine Weile bei einem Medienunternehmen in Dublin, doch nach einem halben Jahr gab sie den Job wieder auf. Einer der Gründe: Sie konnte dort nicht tanzen. Die wenigen Angebote, die es gab, waren teuer. Es war kein Drama für sie, aber da fehlte etwas. Tanzen gehörte einfach zu ihr.
Als sie nach Wien kam, entdeckte sie, den Traditionen der Stadt entsprechend, den Paartanz für sich. Und natürlich weiß sie längst, was die Initialen F. E. bedeuten, die sie mit der Zeit nicht nur auf Kaffeelöffeln, sondern auch auf allem möglichen Besteck und Geschirr im elterlichen Haushalt entdeckte. Es waren die Initialien der Wienerin Fanny Elßler, die von 1810 bis 1884 lebte und als Tänzerin Weltruhm erlangte. Sie war eine Vorfahrin Claudias in der mütterlichen Linie.
Gene?
Eher nicht.
In diesem Buch werden Sie erfahren, dass Ihrem Schicksal, das Sie bisher vielleicht für gottgegeben oder vom Zufall oder Ihren Genen bestimmt hielten, biologische Prozesse zugrunde liegen. Prozesse, die moderne Wissenschaften wie die evolutionäre Entwicklungsbiologie zunehmend erforschen, und die Ihr Bild von sich selbst, von Ihren Mitmenschen und von ganzen Gesellschaften und Kulturen verändern werden.
Sie werden zum Beispiel lesen, dass es schicksalhaft prägend für Sie war, was Ihre Vorfahren, auch solche, die Sie nie kennengelernt haben, so den ganzen Tag getrieben haben, wie sie gelebt, gedacht und gefühlt haben. Dass Ihre Eltern vielleicht Mut oder auch Angst auf Sie übertragen haben. Sie werden verstehen, warum manche Kinder als kleine Sonnenscheine zur Welt kommen, während andere vom ersten Tag an in sich gekehrt sind. Sie werden sehen, welche Rolle dabei die Umwelt spielt, warum Liebe stärker ist als die DNA oder wie, medizinisch gesehen, Gedanken zu Worten, Worte zu Taten und Taten zu Schicksal werden.
Sie werden auch einen Eindruck davon bekommen, warum es, nüchtern biologisch betrachtet, über Ihr eigenes Leben hinaus wirkt und Wellen in der Zukunft schlägt, wenn Sie an sich arbeiten. Und sie werden eine naturwissenschaftliche Erklärung für das Phänomen lesen, das der Volksmund als »Fluch« kennt: Es ist tatsächlich möglich, dass etwas, das aus der Vergangenheit kommt, durch Ihr Leben spukt.
Sie werden dabei erkennen, dass Ihr Schicksal niemals festgelegt ist, dass immer alles in Bewegung ist, in Entwicklung, und dass Sie diese Entwicklung zu Ihrem eigenen Vorteil und zu dem Ihrer Kinder beeinflussen können.
Ich glaube und hoffe, dass Sie wie ich das Bedürfnis haben werden, dieses Wissen an andere weiterzugeben. Denn es zeigt auf naturwissenschaftlicher Ebene, wie wichtig unser Respekt vor der Natur, vor unseren Mitmenschen und vor uns selbst wirklich ist, und macht mit revolutionären neuen Einblicken in das Wesen Mensch toleranter gegenüber der Vielfalt dessen, was Menschsein bedeuten kann.
Johannes HuberOktober 2019
Wir sehen den Planeten von oben, aus dem Weltraum.
Ein blauer Ball, umgeben von der Schwärze des Kosmos. Alles wirkt vertraut. Der Ozean, die Kontinente, orangerote und ockerfarbene Erdmassive. Wolkenströme, die wie watteweiße Schlieren über das saphirblaue Meer ziehen. Deutlich erkennbare Wetterphänomene. Der Planet hat eine Atmosphäre. Das Klima ist angenehm mild. Jemand könnte hier wandern oder segeln, am Strand liegen und ein Buch lesen oder nachts hinaufschauen und die Sterne zählen. Dort glitzern Millionen Solitäre auf schwarzem Samt. Die Luft ist rein und frisch in dieser Welt. Fantastisch klar.
Der Planet ist nicht die Erde.
Es ist die Venus.
Vor zwei Milliarden Jahren.
Michael Way und seine Kollegen vom Goddard Institute of Space Studies bei der NASA rekonstruierten das Bild in einer Klimasimulation, ausgehend von den Daten der Pioneer-Sonde und der Magellan-Mission. Wasser, Berge, Seen, ein globaler Ozean. Die paradiesischen Bedingungen lassen vermuten, dass es damals auch Leben auf der Venus gegeben hat.
Und dann, vor 750 Millionen Jahren und ein paar Tagen, war es aus.
Die Venus verwandelte sich in einen Höllenplaneten mit extrem dichter Kohlendioxid-Atmosphäre und einer durchschnittlichen Temperatur von plus 460 Grad. Dort wandert, segelt oder liegt es sich nicht mehr so fein am Strand. Jemand würde verbrennen, er man erstickt oder auch nur einen Stern am Nachthimmel gezählt hat. Touristen verdampfen nicht gerne, wenn sie eine Woche all-inclusive gebucht haben.
Als interstellares Prachtexemplar musste die Venus ihre Vormachtstellung aufgeben, und ein anderer Stern in unserem Sonnensystem übernahm dieses Los. Die Erde.
Das zeigt, wie ausgeliefert wir kosmischen Entwicklungen, wie machtlos wir ihnen gegenüber sind. Das Schicksal hat so entschieden. Oder ein Weltenbaumeister, der sich architektonisch neu orientieren wollte. Der seinen Fokus auf etwas anderes gerichtet hat. Glück für uns, Pech für die Venus.
Nehmen wir die Dinosaurier. Millionen von Jahren herrschten sie über die Erde. Vor rund 65 Millionen Jahren kam ihr Schicksal in Form eines Asteroiden, der im Golf von Mexiko niederging. Sein Einschlag änderte das Klima weltweit, es wurde eiskalt auf der Erde, ein Massensterben unter Dinosauriern und zahlreichen anderen Arten begann.
Dinge entstehen, Dinge vergehen. Planeten wie auch Lebewesen. Der Kreislauf der Dinge. Das Schicksal, möchte man meinen, sei gnadenlos, willkürlich und unerbittlich. In Wahrheit gibt es zwei verschiedene Arten davon.
Entweder unabwendbar. Oder veränderbar.
Das heißt, es gibt Schicksalsschläge, vor denen können wir uns nicht schützen, die kommen wie eine Axt, krachen mitten ins Leben hinein, unausweichlich treffen sie uns, es gibt kein Entrinnen. Und es gibt hausgemachte Schicksale, die wir in die Hand nehmen können, die sich sehr wohl ändern lassen.
Schicksalhaft der Kategorie Unausweichlich war der Untergang der Venus. Einst blühender Planet, dann, am Ende ihres Lebenszyklus, hat sich alles verändert. Als Mensch bleibt einem nur der staunende Blick durchs Fernrohr.
Aber da ist auch dieses andere Schicksal, das wandelbare.
Es gibt Dinge, die können wir formen, die entwickeln sich, und sie lassen sich begleiten. Wir können sie im Voraus in die richtige Spur bringen, sie lenken und auf ein gutes Fundament stellen.
Das ist die gute Nachricht.
Eine tröstliche Erkenntnis.
Eine Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens.
Der Mensch kann das Ruder übernehmen, das Ziel neu definieren und die Reiseroute bestimmen. Es funktioniert, und dieses Buch wird zeigen, was dazu beitragen kann. Wie nicht nur das Schicksal uns einen Wink geben kann, sondern auch wir ihm.
Das ist der Unterschied zwischen Aktiv und Passiv. Warten auf bessere Zeiten oder einen Weg dorthin suchen und losgehen. Hoffen, dass alles gut geht, oder selbst etwas dazu tun. Das Wissen, das wir dazu brauchen, ist da, immer mehr davon bringt die moderne Wissenschaft ans Tageslicht. Der Damm ist bereits gebrochen, die Forschung arbeitet im Akkord. Je mehr Zusammenhänge sie versteht, desto öfter können wir dem Schicksal auf die Finger klopfen, ihm Schnippchen schlagen. Einfach nur, weil wir mehr wissen und früher eingreifen können. Sehr viel früher.
Schicksale sind keine Momentaufnahmen. Sie entwickeln sich stetig, laufend, langsam und schon lange vor unserer Zeugung. Mit Myriaden Möglichkeiten, hierhin abzuzweigen oder dorthin wegzudriften. Mehrdimensionale Verschiebungen, parallele Verwerfungen, unendlich viele Möglichkeiten, bis einem schummrig wird vor Augen. Weil jede Frage zehn weitere Fragen aufwirft. Wenn das passiert ist, muss dann nicht jenes eintreten? Und wenn jenes eintritt, muss dann nicht dieses stattfinden? Und wenn dieses stattfindet, ist dann nicht alles ganz anders? Ein Webteppich unendlicher Verknüpfungen.
Zeit ist eine Variable. Sie existiert für uns nur als Richtschnur. Während sich das Jetzt zum nächsten Jetzt wandelt. Und sich gleich wieder ein neues Jetzt materialisiert.
Schicksale sind Konsequenzen scheinbarer Bedeutungslosigkeiten. Und das über Generationen hinweg. Sie entwickeln sich in einem großen holistischen System, das bei unseren Eltern beginnt, über unser adultes Leben führt und bis in unseren Tod hinein wirkt, sogar darüber hinaus. Ein Baukasten der Ewigkeit.
Wir tun gut daran, das Schicksal nicht an einzelnen Punkten festzumachen, sondern zu beobachten, wie sich alles entwickelt. Das Schicksal bereitet sich vor. Langsam, als läge es auf der Lauer. Das Schicksal bereitet sich immer vor.
Letzten Endes durch das, was wir tun. Das ist ein wichtiger Grundgedanke dieses Buches.
Dennoch müssen wir zunächst den Begriff Schicksal klären, was eine Geschichtsbetrachtung erfordert: Was war früher das Schicksal? Oder: Was haben die Menschen früher als Schicksal gesehen?
Aus dem Blick eines Mediziners lässt sich das an vielen Beispielen zeigen. Denn für die Betroffenen sind Schicksalsschläge meistens Attacken gegen die Gesundheit, schwere Erkrankungen, der Tod. So sehen es die Menschen. Die Wissenschaft aber hat in dieser zweiten Gruppe der Schicksale, in jener mit den veränderbaren, vieles getan, um das Schicksal zu verbessern. Um es abzufedern und aus Schicksalsschlägen wieder Normalität zu machen. Heilung durch die Medizin.
Gehen wir einmal zurück im Kalender der Jahrhunderte. Wir halten im Mai 1349, als in Florenz die Pest zu wüten begann.
Schicksal.
Die Menschen starben, oder sie starben nicht. Im Mittelalter war die Pest eine Geißel des Schicksals. Todbringend, unwiderruflich.
Und dann eliminierte die Wissenschaft dieses Schicksal. Es war nicht länger unwiderruflich todbringend. Heute muss niemand mehr an der Pest sterben. Weil die Medizin die Möglichkeit geschaffen hat, dieses Schicksal zu verändern. Einzugreifen. Mit völlig neuem Wissen eine Alternative zu schaffen, wo keine war.
So ist es auch heute. Es gibt völlig neues Wissen. Was wir eben noch für Schicksal hielten, ist es nicht mehr.
Ein Stichwort ist die evolutionäre Entwicklungsbiologie, Evo-Devo genannt. Sie hat bahnbrechende Erkenntnisse gewonnen, auf die ich im Laufe des Buches noch genau eingehen werde. Sie zeigt: Die Umwelt hat anscheinend mehr Einfluss auf die Entwicklung von Lebewesen als die Gene selbst. Das heißt: Unsere Umwelt bestimmt stärker über unser Leben als unsere Gene. Was faszinierende Möglichkeiten eröffnet, unser Schicksal in die Hand zu nehmen. Denn unsere Umwelt können wir gestalten.
Ein anderes Stichwort lautet microRNA. Sie ist eine Variante der herkömmlichen RNA, also der Ribonukleinsäure. Sie ist an der so genannten Genexpression beteiligt, kann also gewisse Eigenschaften der Gene ein- oder ausschalten. Das neue Wissen darüber hat zu einem ganz neuen Bild von praktisch allem geführt.
Wir haben heute ein ganz anderes Verständnis für astrophysikalische Abläufe. Früher wussten wir nichts über den Kometeneinschlag vor 65 Millionen Jahren, der die Dinosaurier ausgerottet und die ganze Erde schicksalhaft verändert hat. Biochemische Veränderungen, wahrscheinlich rund um die microRNA, mit der wir uns noch beschäftigen werden, führten damals bei vielen Spezies, vor allem bei den Säugern dazu, dass sie sich den Klimaveränderungen anpassen konnten, und zwar besser als die Reptilien und Saurier. Dadurch kam es zu einer explosionsartigen Verbreitung der Kleinsäuger. Zu den Lebewesen, die wir heute sind.
Willkommen unter uns, im Übrigen.
Leben ist Veränderung und Veränderung ist Schicksal.
Weiterentwicklung verändert den Lauf der Dinge. Wissenschaft ist Evolution, und Evolution gibt dem Schicksal einen anderen Drall mit etwas mehr Effekt. Die Pest ist besiegt. Die Wissenschaft hat das Ringen mit diesem Tod gewonnen.
Ebenso wie mit dem Tod durch das Kindbettfieber. Auch hier war es früher die Unwissenheit, die zur Schicksalsfrage für unzählige Frauen wurde. Wo werde ich entbinden? Ja, das war in Wien einmal die alles entscheidende Frage, so einfach konnte es sich das Schicksal machen.
Denn es gab nur zwei Möglichkeiten: die erste oder die zweite Frauenklinik. Die Antwort entschied über Leben und Sterben. Wenn Frauen auf der ersten Frauenklinik entbanden, war ihr Risiko groß, dem Kindbettfieber zu verfallen. Der Tod kam auf diese Weise damals schicksalhaft. Wenn sie ihr Kind auf der zweiten Frauenklinik bekamen, dort, wo es keine Studenten gab, die vor ihrer Assistenz bei einer Geburt Leichen seziert hatten, dann waren sie gerettet.
Auch dieses Schicksal ist heute von der Wissenschaft eliminiert. Früher war es tragisch und praktisch unbeeinflussbar. Denn in welche Klinik eine Frau kam, entschied bloß das Datum. An geraden Tagen kamen die Schwangeren in die zweite und an ungeraden in die erste Klinik. Manche Frauen unternahmen selbst in den schlimmsten Wehen noch alles, um die Geburt den einen, lebenswichtigen Tag hinauszuzögern. Nummer zwei war Nummer sicher, damit zogen sie das Los des Lebens. Nummer eins war der Weg in den Tod. Wer in der ersten Klinik landete, betete, dass das Ende, wenn schon, dann schnell kommen möge.
Heute hat das Kindbettfieber seinen Schrecken verloren. Die Medizin kann es heilen, sofort, mit einem einzigen Antibiotikum. Das heißt: Die moderne Medizin hat dabei nicht nur diese alte Schicksalhaftigkeit abgemildert, sondern auch den Glauben an die mörderische Willkür höherer Mächte, der sich darum rankte, ausradiert.
Pest. Kindbettfieber. Oder die Folgen von Jagdunfällen. Ein Schuss, der tödlich endete, selbst wenn einen das Schicksal dabei nur streifte. Es gab damals keine Antibiotika. Schon wieder ist es so einfach. Erstaunlich viele Herrscher unserer Geschichte gingen auf diese Art zugrunde. Hätte man ihnen Penicillin geben können, wären sie alle gerettet worden.
Oder nehmen wir den Habsburger Kaiser Karl V. Schwer deformiert in seinen Gelenken ergab er sich der Gicht, humpelte in den Escorial und erwartete dort den Tod, weil er sich praktisch nicht mehr bewegen konnte.
Heute wäre ihm das nicht passiert. Überhaupt kein Problem, das Leiden lässt sich relativ leicht verhindern, indem man den Patienten ein Anti-Harnstoff-Produkt gibt. Karl V. hätte wieder fingerschnippend heimlaufen können.
Oder: Blutdruck. Das war früher etwas, was man nicht zuordnen konnte. Es schien, als wäre man tatsächlich vom Schlag getroffen worden. Schlaganfall und tot. Gehirnschlag. Sense. Die Häufigkeit dieses Schicksalsschlages im buchstäblichen Sinn hat man heute mehr oder weniger deutlich verringert. Ein eleganter Blutdrucksenker in der Früh, und fertig ist der moderne Mensch. Er muss sich weniger Sorgen machen, dass ihn der Blitz streift. Hypertonie ist bezwingbar.
Und was man früher nicht alles unter dem Begriff Besessenheit zusammengetragen und in den Narrenturm gesperrt hat. Es ging bis hin zum teuflischen, dämonenhaften Besessen-Sein, das Exorzisten auf den Plan rief. Im Prinzip waren das nichts anderes als Neurotransmitterstörungen im Gehirn. Ein einziges Dragee heute, und der Wahn verliert seinen Sinn, der Dämon ist obdachlos.
Die Liste dieser Wenn-Danns ist lang. Wie viele Menschen sind als Andersdenkende verbrannt worden, wie viele Frauen warf man als Hexen auf den Scheiterhaufen. Oder Diabetes. Wie erfolgreich, wie friedlich hätte ein Mann wie Herodes der Große weiter regieren können, wäre Diabetes zu seiner Zeit nicht noch schicksalhaft gewesen? Welche wunderbaren Gemälde hätte uns der zuckerkranke Paul Cézanne noch hinterlassen, den der farblose Sensenmann viel zu früh holte?
Doch so viel bleibt schicksalhaft, scheint gottgegeben, vom Zufall bestimmt oder den Genen geschuldet zu sein. Das Schicksal, es durchzieht unser aller Leben noch immer als scheinbar unverfügbare Gewalt. Man möchte fast meinen, es habe eine eigene DNA. Doch jetzt macht sich der Mensch daran, dieses größte aller Rätsel zu lösen. Die Anatomie des Schicksals.
Jeder Eingriff, jeder Zugriff auf das Schicksal, so viel ist klar, hat Konsequenzen. Gute, schlechte, wer weiß das schon immer so genau. Es ist, als würde man an Rubiks Würfel drehen oder eine Schachpartie beginnen oder gegen einen japanischen Go-Meister spielen. Jeder Zug bedingt etwas. Jeder Zug ist wichtig. Jeder Zug entscheidet, was acht Züge später geschieht, und damit entscheidet er irgendwann das ganze Spiel.
Ob abwendbar oder nicht. Es gab immer wieder Denkrichtungen und Bestrebungen, die eine Vermutung äußerten: Vielleicht kann man ja doch etwas machen. Das ist eine jahrtausendalte Geschichte im Weisheitsschatz der Menschheit. Der Zweifel am Determinismus und der Glaube an die aktive Veränderung.
Die Antike konzentrierte sich dabei auf Schicksalsschläge des Einzelnen.
Ich. Kann. Etwas. Tun.
Oder eben nicht.
Die Oder-eben-nicht-Variante können wir bei Ödipus und Odysseus nachlesen, die ein schicksalhaftes Fatum vorhergesagt bekamen. Die Weissagung der Sphinx für Ödipus war: »Du wirst deinen Vater ermorden und deine Mutter heiraten.« Und tatsächlich, was immer er tat, da fuhr die Eisenbahn drüber, es kam genau wie vorhergesagt.
Im Detail, wen’s interessiert, geht die Geschichte so: Laios, König von Theben, ist im Streit mit König Pelops. Das Orakel von Delphi weissagt ihm: »Wenn du einen Sohn zeugst, wird er dich töten und deine Frau heiraten.« Laios’ Frau Iokaste willigt ein, den Neugeborenen zu töten. Und das nicht gerade gnadenvoll: Füße durchstechen, zusammenbinden, und von einem Hirten im Gebirge aussetzen lassen. Der Hirte aber hat Mitleid. Er übergibt den Knaben dem Königspaar Polybos und Merope von Korinth. Sie nennen ihn Ödipus, was so viel wie Schwellfuß bedeutet.
Ödipus wächst auf, ohne seine Herkunft zu kennen. Als er erfährt, nicht der leibliche Sohn seiner Eltern zu sein, wendet er sich an das Orakel von Delphi. Das weiß ja bekanntlich alles.
Er erfährt: »Du wirst deinen Vater töten und deine Mutter zur Frau nehmen.« Ödipus schüttelt den Kopf, Orakel sind manchmal so penetrant melodramatisch, denkt er, schauen wir einmal. Er bricht auf nach Theben, um das Vorausgesagte zu verhindern. Auf dem Weg gerät er in Streit mit dem Fahrer eines Wagens, der ihn seiner Ansicht nach zu arrogant behandelt. Er erschlägt ihn und damit seinen leiblichen Vater. Erster Teil der Prophezeiung erfüllt.
Vor Theben überwindet Ödipus eine Sphinx, die vorzugsweise Reisende verschlingt. Er löst ein Rätsel, das sie ihm aufgibt, woraufhin sich die Sphinx vom Felsen stürzt. Da Theben nun von dieser Plage befreit und der alte König tot ist, wird Ödipus zur Belohnung zum neuen König ernannt. Und er heiratet seine Mutter. Zweiter Teil erfüllt. Weder sie noch er wissen von ihrem Verwandtschaftsverhältnis.
Die Tragödie reflektiert das Unvermögen des Menschen, sein Schicksal voraussehen zu können.
Es ist, als würde das Schicksal uns Scheuklappen anlegen und sagen: Was links und rechts ist, braucht dich nicht zu interessieren, du kannst mir nicht entkommen. Deswegen werden furchtbare persönliche Schicksalsschläge auch heute noch mit einer griechischen Tragödie verglichen.
Ähnlich bei Odysseus. Die düstere Vorhersage lautete: »Wenn deine Krieger die heiligen Kühe des Gottes sowieso schlachten, dann wirst du nur alleine und unter großen Opfern wieder Hellas erreichen.« Und prompt, so war es. Odysseus‘ Krieger haben sich zwar redlich bemüht, die Kühe nicht zu schlachten, aber sie waren auf der Insel des Sonnengottes Helios gestrandet und hatten so einen furchtbaren Hunger, dass die Rindviecher letzten Endes dran glauben mussten. Während Odysseus schlief, ging die Vorsehung in Erfüllung.
Es war nicht anders möglich, so war die alte, antiquierte Definition. Es geht nicht anders. Was kommen soll, kommt. Von oben. Egal, was du tust. Du kannst rennen in deinem Hamsterrad, zappeln in deinem Käfig oder meditieren für bessere Tage. Tja, Pech, das Drehbuch ist längst geschrieben.
Auch bei der Odyssee geschah alles wie vorhergesagt. Ein vom zornigen Zeus losgesandter Orkan zerstört sein Schiff, Odysseus strandet bei Kalypso und wird für sieben Jahre ihr Geliebter, weshalb er sehr stark verzögert nach Hause kommt. Weil er so lang weg war, hat seine Frau Penelope ihn für tot gehalten und, als er wieder erscheint, auch nicht gleich erkannt. Um sie herum hat sich ein Schwarm von Freiern angesammelt, die er alle tötet. In Hollywood wäre das der Showdown vor dem Happy End. Hier nicht. Odysseus herrscht wieder auf Ithaka und stirbt schließlich, weil einer seiner Söhne, Telegonos, ihn nicht als seinen Vater erkennt und im Streit mit einem Speer aufspießt. Typisch griechische Tragödie.
Du kannst in den Trojanischen Krieg ziehen, zehn Jahre auf Irrfahrt gehen, gegen einen menschenfressenden Riesen kämpfen, dir von singenden Sirenen den Kopf verdrehen lassen, dich mit Todesqualen und blutdurstigen Seelen in der Unterwelt herumschlagen, aber das Schicksal holt dich ein. Es holt dich immer ein. Das ist die Botschaft.
Doch schon in der Antike gab es eben auch einen anderen Blickwinkel.
Eine Perspektive sind die Moiren, drei Frauen, fürs Schicksal zuständig. Obwohl die wirklichen Götter allesamt Männer waren, waren die Schicksalsgöttinnen immer Frauen. Sie vereinen Geburt und Tod.
Es wird in diesem Buch noch viel von der Geburt, von der Schwangerschaft, von der Zeit vor der Schwangerschaft und von der Schicksalhaftigkeit dieser Lebensphase die Rede sein. In den Moiren ist sie schon vorweggenommen.
Die drei Moiren bestimmen über unser aller Leben. Klotho, die Spinnerin. Sie ist es, die unseren Lebensfaden spinnt. Lachesis, die Zuteilerin, misst diesen Lebensfaden und teilt das Lebenslos zu. Atropos, die Unerbittliche, schneidet den Lebensfaden ab.
Die ihnen zugeteilten Attribute sind die Spindel, das goldene Messer und eine Wasserschale, aus der die Zukunft gelesen werden kann. Spannend, die weibliche Weitsicht. Klotho als Jungfrau, Lachesis als Mutter, Atropos als alte Frau. Man hat das Schicksal damals schon gegendert.
Das ewig Weibliche zieht uns nicht zuletzt deswegen an, weil es mit der Entstehung des Lebens und daher mit der Entstehung des Schicksals verbunden ist. Leben und Schicksal sind Synonyme.
Die Götter sind in der griechischen Mythologie dem Wirken der Moiren unterworfen, sie haben keine Gewalt über die Schicksalsfrauen. Selbst Zeus, der Göttervater, kann nicht hineinpfuschen und keine ihrer Entscheidungen widerrufen.
Die Kernaussage ist: Die Moiren sind immer lebenswegzeichnend. Sie bestimmen das Schicksal. Aber – es ist nicht unausweichlich. Kommt ein Mensch dem Tod vor seiner ihm bestimmten Zeit sehr nahe oder plant er Dinge, die mit seinem oder dem Schicksal anderer nicht übereinstimmen, können ihm die Moiren warnende Gedanken schicken.
Wir hören dieses: Obacht! Wir sagen »innere Stimme« dazu oder Gewissen. Der Stimme des Herzens zu folgen, ist in diesem Sinne existenziell wichtig. Wer dagegen handelt, verschuldet möglicherweise sein weiteres Schicksal selbst.
Mit dem Segen der Moiren können Menschen ihr Schicksal beeinflussen. Und zum Guten wenden. Darum arbeiten die drei eng mit Nemesis, der Göttin des gerechten Zorns, der Vergeltung, zusammen. Und mit Aidos, der Göttin des Gewissens.
Auch die Mutter schickt warnende Gedanken, das ist ebenfalls nicht uninteressant. Und mit diesen Gedanken, hat man sich vorgestellt, kann man möglicherweise in das Schicksal eingreifen. Die Warnung mag nicht direkt in den Geist fahren wie eine Erleuchtung oder ein Download aufs Handy. Es genügt ein leises Gefühl, dass da etwas nicht richtig ist. Irgendetwas stimmt nicht.
Zwei Aspekte ziehen sich bildhaft bis in die Moderne: die Nemesis, der Zorn, und Aidos, das Gewissen. Mit beiden agiert der Mensch. Er schneidet sich möglicherweise selber den Lebensfaden ab, im Zorn. Einhalt gebietet nur das Gewissen, das empfiehlt, nicht blind loszupreschen, sondern ein paar Schritte zurückzutreten oder innezuhalten.
Das Schicksal bereitet sich vor, es ist ein longitudinaler Prozess, und die Gedanken spielen eine enorm wichtige Rolle dabei, denn aus den Gedanken kommen die Taten, im schlimmsten Fall sogar die Schicksalsschläge und Katastrophen. Unsere Gedanken, um die es in diesem Buch auch noch ausführlich gehen wird, können der rote Teppich sein, auf dem das Schicksal in unser Leben stolziert. Sein Beginn ist oft nichts anderes als etwas Gedachtes, nichts als Energie.
Die Botschaft ans Universum, könnte man sagen. Sie kommt an wie eine E-Mail an den lieben Gott.
Schicksalhaft ist es aber zum Beispiel auch, in welchem Staatsgefüge wir leben. Ist es ein guter, sozialer, gerechter, ein lebenswerter Staat oder das Gegenteil davon? Ein höchst moderner Aspekt, aber bereits das älteste Epos der Welt widmete sich ihm. Ein 4.000 Jahre alter Text, geschrieben auf Sumerisch. Entdeckt wurden die Tafeln im heutigen Irak. Das älteste Epos der Menschheitsgeschichte. Das Gilgamesch-Epos.
Im Gilgamesch-Epos, das übrigens bereits etwas thematisiert, was derzeit in Silicon Valley Hochkonjunktur hat, nämlich die Relativierung der Todesangst und des Sterbens, war es schicksalhaft, ob man einen guten oder einen schlechten König hatte. Die Politik schwingt immer mit. Das war schon in der Odyssee so und wurde im Rathaus von Siena im zwölften Jahrhundert noch einmal wunderschön als Fresko verewigt: die gute Regierung und die schlechte Regierung. Welche man bekommt, ist auch Frage des Schicksals. Das hat sogar einen gewissen Zeitgeist.
Es ist schicksalhaft, welchem politischen System wir angehören oder ausgeliefert sind. Zu Platons Zeit war schon die Demokratie in Griechenland eingezogen, vor allem in Athen, die Kultur wurde hochgehalten und über all dem stand sein berühmter Satz: »Jeden Tag danke ich den Göttern, dass ich als Mensch, als Mann, als Grieche und als Bürger Athens geboren wurde.«
Es hat nach wie vor eine große Bedeutung, in welchem politischen System wir aufwachsen. Nordkorea? Tibet? Berlin? Meidling?
Im Gilgamesch-Epos, in der Unterwelt, gibt es übrigens auch einen bösen Geist namens Namtaru, der mehr oder weniger alles durcheinanderbringt und auch den guten Herrscher zum bösen macht. Namtaru wirft üble Schicksale auf die Menschen: Sie haben Wasser, aber er bewirkt, dass es nicht trinkbar ist. Sie haben etwas zu essen, aber er bewirkt, dass die Nahrungsmittel ungenießbar werden und alle daran sterben.
Dazu gibt es eine Analogie in der Gegenwart, in der Wasser kaum mehr trinkbar ist ohne Filter und in der uns viele Nahrungsmittel krank machen, weil sie mit zu viel Salz und Zucker versetzt und geschmacksverstärkt sind. Namtaru wäre heute Lebensmittelchemiker.
Die Moderne nimmt nun das Schicksal mehr und mehr in die eigene Hand. Um beim Beispiel Krankheiten zu bleiben, bei denen der Mensch früher dem Tod geweiht war – sie folgen heute einer simplen Gleichung: Diagnose plus Therapie ist gleich Heilung.