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Beschreibung

Die Geschichte und die Wirkung des Holocaust werden nicht nur von Historikern erforscht, sondern unter anderem auch von Literatur und Sprachwissenschaftlern sowie von Film und Fotowissenschaftlern. Stellvertretend für zahlreiche neue Studien stehen die zwölf in diesem Band versammelten Beiträge, die im interdisziplinären Doktorandenkolloquium des Fritz Bauer Instituts diskutiert worden sind. Viele verfolgen einen transnationalen Ansatz und gehen - im Sinne Saul Friedländers - über die Perspektive reiner Opfer bzw. Tätergeschichtsschreibungen hinaus. So gelangen Uneindeutigkeiten, Wechselwirkungen und Gleichzeitigkeiten in den Blick. Jahrbuch zur Geschichte und Wirkung des Holocaust

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Der Holocaust

Neue Studien zu Tathergängen, Reaktionen und Aufarbeitungen

Herausgegeben im Auftrag des Fritz Bauer Instituts von Jörg Osterloh und Katharina Rauschenberger

Campus Verlag

Frankfurt/New York

Über das Buch

Die Geschichte und die Wirkung des Holocaust werden nicht nur von Historikern erforscht, sondern unter anderem auch von Literatur und Sprachwissenschaftlern sowie von Film und Fotowissenschaftlern. Stellvertretend für zahlreiche neue Studien stehen die zwölf in diesem Band versammelten Beiträge, die im interdisziplinären Doktorandenkolloquium des Fritz Bauer Instituts diskutiert worden sind. Viele verfolgen einen transnationalen Ansatz und gehen - im Sinne Saul Friedländers - über die Perspektive reiner Opfer bzw. Tätergeschichtsschreibungen hinaus. So gelangen Uneindeutigkeiten, Wechselwirkungen und Gleichzeitigkeiten in den Blick.

Vita

Jörg Osterloh, Dr. phil., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fritz Bauer Institut. Katharina Rauschenberger, Dr. phil., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fritz Bauer Institut.

Inhalt

Jörg Osterloh, Katharina Rauschenberger: Einleitung

Die Entwicklung der Holocaustforschung in Deutschland seit 1990

Zu den Beiträgen dieses Bandes

Fluchtpunkt Transnistrien

Grenzüberschreitende Biographien und historische Kontinuitäten zwischen Erster Globalisierung, Erstem Weltkrieg und nationalsozialistischer Ostexpansion

Weltpolitik, Lebensraum, Kolonisten

Politik des Utopischen: Der Winkler-Lindequist-Ludendorff-Plan

Welche Kontinuitäten?

Wie Noah auf dem Berg Ararat

Richard Lichtheim in Genf, 1939–1946

Gestrandet in der Enklave

Im Angesicht des Holocaust

Zerbrochene Perspektiven

Writing History with an Accent

Emigrierte deutschsprachige Historikerinnen und Historiker in Großbritannien und ihre Forschungen zur deutsch-jüdischen Geschichte

»Most historical writing – at any rate writing on modern history – is also autobiography«: Die Emigrierten und ihre Forschungsthemen

»My family background virtually predestined me to become a historian«: Kurzbiographien ausgewählter Forschender

Ausgewählte Werke der Emigranten

»The Festschrift speaks of my three souls […]«: Abschließende Betrachtungen zur Rolle der Emigrierten in der britischen und (west)deutschen Geschichtswissenschaft

»Viel früher als die niederländischen Juden müssen sie sich vogelfrei gefühlt haben«

Jüdische Flüchtlinge in den Niederlanden 1940–1942

Im Visier der Besatzer?

Erste Phase: Erste Einzel- und Kollektivmaßnahmen und gesonderte Erfassung (Mai 1940 bis Anfang 1941)

Zweite Phase: Allgemeine Radikalisierung und relative Gleichbehandlung der aus Deutschland emigrierten und der niederländischen Juden (Anfang 1941 bis Herbst 1941)

Dritte Phase: Gezielte Vorbereitungen zur Deportation der jüdischen Emigranten

Reaktion der jüdischen Flüchtlinge

Fazit

Besatzungsgesellschaften und Mikrohistorie

Alltagspraxen der polnisch-jüdischen Beziehungen im Generalgouvernement

Tarnów in den verschiedenen Radikalisierungsphasen des Krieges

Die Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden in Tarnów zu Beginn der Besatzung

Die Vernichtung der Juden von Tarnów: Die »Aktion Reinhardt«

Ghettoisierung und veränderte Beziehungskonstellationen

Helfen

Fazit

Rassismus und Gemeinschaftserfahrung

Biographische Einblicke in die Juden- und Volkstumspolitik in der Slowakei 1941–1945

Die Deutsche Gesandtschaft und die deutsche Minderheit in der Slowakei

Der »volksdeutsche« Anteil an der »Arisierung«

Die Deportation der slowakischen Juden 1942

Ausgrenzung im Innern – die Verfolgung von Homosexuellen, »Asozialen« und »Drückebergern«

Der Slowakische Nationalaufstand und die Radikalisierung der antijüdischen Maßnahmen

Justice for the Enemy?

Britische Offiziere als Verteidiger deutscher Kriegsverbrecher 1945–1949

Das Konzept der Transitional Justice

Die Strafverteidigung durch britische Offiziere als Beitrag zur Transitional Justice – Zwischen traditionellen Militärgerichtsverfahren und neuartigen Strafgerichtsprozessen

»Der heiligen Rache darf nicht ein Auschwitz-Henker entgehen!«

Die erste sowjetische Zeugenaussage in Westdeutschland zwischen Propaganda und Vergeltung

Zeuge der Anklage

Bewusste Falschaussage

Prozesseinstieg der Sowjetunion

Glaubhaftigkeit der Aussage

Glaubwürdigkeit der Person

Zeitgenössische Erklärungen für die Unzuverlässigkeit der Aussage

Präparierte Zeugen

Fazit

Dialog ohne Welt

Täterschaft und moralische Erziehung in Günther Anders’ unveröffentlichtem Holocaust-Fragment »SS-Mann Kohn. Gespräch 1947«

Der Blick zurück – Anders’ Manuskripte des Exils

Die nihilistische Situation

Literarisch erzwungene Perspektivwechsel

»Modern Man Is Obsolete«

»Von jetzt an also ist keine Zeit«

Zeitordnungen und Zeitbrüche in H. G. Adlers wissenschaftlicher und literarischer Auseinandersetzung mit der Shoah

»Es gab nur ein Ziel, in einem Worte beschlossen: Ende«: Zeitmodellierung in der Studie Theresienstadt 1941–1945

»Habt ihr es noch nie empfunden, wie in einer ausgestochenen Zeit alles durcheinandergeriet?«: Zeitmodellierung im Roman Eine Reise

Geordnete und zerstörte Zeit in der Studie Theresienstadt 1941–1945 und im Roman Eine Reise

Die TV-Verfilmung Ein Stück Himmel

Janina David – die Anne Frank, die überlebte

Holocaust ermöglicht Ein Stück Himmel als TV-Serie

Wesentliche Unterschiede zwischen Buch und TV-Adaption

Antijudaismus, Antisemitismus und Rassismus in Janina Davids Autobiographie

Rezeption: Publikumserfolg in der Bundesrepublik, Ablehnung durch das SED-Regime in der DDR

Fazit

Das Nachleben der Bilder

Farbfilmmaterial aus dem Warschauer Ghetto von 1942 in Fernsehdokumentarfilmen

Der Einsatz von Archivfilmmaterial in Fernsehdokumentationen

Die Filmaufnahmen aus dem Warschauer Ghetto – Produktionskontext und Inhalt

Das Farbfilmmaterial aus dem Warschauer Ghetto in Fernsehdokumentationen

Fazit

Liste der Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Doktorandenseminars (2009–2016)

Beiträge 2016

Beiträge 2015

Beiträge 2014

Beiträge 2013

Beiträge 2012

Beiträge 2011

Beiträge 2010

Beiträge 2009

Autorinnen und Autoren

Dank

Einleitung

Jörg Osterloh, Katharina Rauschenberger

Das vorliegende Jahrbuch gibt einen Einblick in zwölf Promotionsvorhaben, die in den vergangenen Jahren in einem vom Fritz Bauer Institut und der Evangelischen Akademie Frankfurt jährlich gemeinsam ausgerichteten interdisziplinären Doktorandenseminar in Arnoldshain präsentiert wurden. Seit 2009 konnten dort jeweils zehn Doktorandinnen und Doktoranden ihre laufenden Forschungsvorhaben in einem geschlossenen Kreis vorstellen und ausführlich diskutieren. Neben Historikerinnen und Historikern waren regelmäßig Forschende verschiedener Nachbardisziplinen vertreten, da die Holocaustforschung mittlerweile weit über die Geschichtswissenschaft hinaus in zahlreichen Fachrichtungen wie etwa der Literaturwissenschaft, den Film- und Medienwissenschaften, den Erziehungs- und Kulturwissenschaften eine wichtige Rolle spielt.1

Das Seminar ermöglichte es den Teilnehmenden, sich über theoretische, methodische und darstellerische Fragen, die alle gleichermaßen betreffen, auszutauschen und durch den interdisziplinären Ansatz auch über den Tellerrand der jeweiligen Fragestellung hinauszuschauen. Auf diesem Wege trug die Veranstaltung dazu bei, einer Verinselung der Forschung der Doktorandinnen und Doktoranden entgegenzuwirken, und bot ihnen eine Plattform, auf der Kontakte geknüpft werden konnten.

Die bis 2016 in Arnoldshain vorgestellten 77 Dissertationsvorhaben sind vor allem an deutschen und österreichischen Universitäten entstanden. Thematische Schwerpunkte waren unter anderem Forschungen zu den nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslagern, Ghettos und anderen Tatorten des Massenmords (17 Projekte), biographische Studien sowohl zu den Tätern als auch zu den Opfern des Holocaust (10), sprach- und literaturwissenschaftliche Analysen (9), film- und fotohistorische Arbeiten (8), Studien zu den Nachwirkungen des Nationalsozialismus und des Holocaust in der Bundesrepublik und in der DDR (7) sowie Untersuchungen zu Gedenkstätten und Museen (5).

Die von uns für das Jahrbuch 2017 des Fritz Bauer Instituts ausgewählten zwölf Projekte2 zeigen eindrucksvoll die thematische Bandbreite, die die Forschung zur Geschichte der Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden und anderer Opfergruppen sowie zur Vorgeschichte und zu den Nachwirkungen der NS-Massenverbrechen heute erreicht hat.

Seit Anfang der 1990er Jahre ist das Wissen über die Ursachen, die Organisation und den Ablauf wie auch die Folgen des Genozids an den europäischen Juden erheblich angewachsen. Die Geschichtswissenschaft hat sich seither in einem zuvor nicht gekannten Maße mit der Erforschung der nationalsozialistischen Menschheitsverbrechen befasst. Die folgende historiographische Skizze konzentriert sich auf die Entwicklung der Fragestellungen und Prioritäten der Holocaustforschung im deutschsprachigen Raum, weil die im Folgenden vorgestellten Dissertationsprojekte im Kontext dieser Schwerpunkte entwickelt worden sind.

Die Entwicklung der Holocaustforschung in Deutschland seit 1990

Das Ende des Kalten Krieges und die Ablösung der staatssozialistischen Regierungen in Mittel- und Osteuropa bedeuteten eine Zäsur auch für die internationale Wissenschaftslandschaft. Nun standen die bisher nur schwer oder gar nicht zugänglichen Archive offen, wodurch die unmittelbaren Tatorte des deutschen Genozids an den europäischen Juden in den Fokus der historischen Forschung gerieten. Hinzu kam, dass bereits 1992 die Existenz deutscher Akten in Russland bekannt wurde. Diese waren nicht, wie man jahrzehntelang angenommen hatte, im Zweiten Weltkrieg vernichtet worden, sondern lagerten als Kriegsbeute im sogenannten Sonderarchiv in Moskau und standen nach dem Ende der Sowjetunion der Forschung zur Verfügung.3 In den 1990er Jahren liefen zudem die Sperrfristen für die Ermittlungsakten der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg nach und nach aus, so dass diese nun ebenfalls wissenschaftlich genutzt werden konnten.4

An mehreren deutschen Universitäten wurden jetzt Schwerpunkte in der Holocaustforschung gesetzt. Eine nicht zu überschätzende Rolle spielte Wolfgang Scheffler, seit 1986 Professor am Zentrum für Antisemitismusforschung an der Technischen Universität Berlin, der bereits seit den frühen 1960er Jahren mit Justizakten arbeitete, die im Zusammenhang mit der Strafverfolgung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen (sogenannten NSG-Verfahren) angelegt worden waren. Scheffler richtete sein Interesse auf das Tatgeschehen in Mittel- und Osteuropa und betonte die Bedeutung der Akten aus Ermittlungsverfahren gegen NS-Verbrecher.5 Einen weiteren Akzent setzte das von Norbert Frei zunächst am Institut für Zeitgeschichte in München und später an seinem Bochumer Lehrstuhl geleitete Projekt, welches einen Zusammenhang zwischen den NS-Massenverbrechen in Auschwitz und der Entwicklung des Krieges, der Besatzungspolitik, aber auch der Wirtschaft und Gesellschaft herstellte.6 An der Forschungsstelle für die Geschichte des Nationalsozialismus in Hamburg brachte seit 1992 Ulrich Herbert zahlreiche Studien auf den Weg. Er selbst leistete einen wichtigen Beitrag mit einer Monographie über den Organisator des Reichssicherheitshauptamtes, Werner Best.7 Im Rahmen des Forschungsprojekts »Weltanschauung und Diktatur« entstanden an der Forschungsstelle wegweisende Arbeiten, wie etwa die von Michael Wildt zum Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes.8 Und Götz Aly regte mit seinen zumeist überaus pointiert und durchaus gewollt provokativ vorgetragenen Thesen viele Male zu einem veränderten Nachdenken über die Ursachen und den Verlauf der Judenverfolgung und -vernichtung sowie die Rolle der deutschen Akteure dabei an.9

In einer neuen Generation junger deutscher Historikerinnen und Historiker verfügten einige zudem über die notwendigen Sprachkenntnisse, um vor allem die Ereignisse in Polen und in den Ländern der früheren Sowjetunion auch mithilfe von Quellen in den jeweiligen Landessprachen analysieren zu können. Ab Mitte der 1990er Jahre lagen erste Dissertationen zur deutschen Besatzungsherrschaft sowie zum Judenmord in Polen und in den besetzten Gebieten der Sowjetunion vor. Paradigmatisch waren insbesondere die Regionalstudien von Dieter Pohl und Thomas Sandkühler zum Distrikt Galizien sowie von Christian Gerlach zu Weißrussland.10 In diesen und weiteren grundlegenden Untersuchungen zu Osteuropa wurden die nationalsozialistische Judenverfolgung,11 die Rolle der Besatzungsverwaltung hierbei12 und die Zusammenhänge des Holocaust mit anderen (Massen-)Verbrechen der deutschen Besatzer und der einheimischen Kollaborateure immer deutlicher herausgearbeitet.13

Zugleich eröffneten die »neuen« Quellenbestände in Mittel- und Osteuropa auch neue Einblicke in die Verfolgung und Ermordung der Juden im Deutschen Reich sowie in den zwischen 1938 und 1945 annektierten Gebieten. Michael Alberti befasste sich mit dem Reichsgau Wartheland, und Jörg Osterloh untersuchte die nationalsozialistische Judenverfolgung im Sudetenland.14 Wolf Gruner brachte mit seinen Studien zum Zwangsarbeitseinsatz von Juden und zur dynamisierenden Wirkung kommunaler antijüdischer Maßnahmen auf die staatliche Judenpolitik wichtige Themen in die Diskussion ein, an die zahlreiche weitere Arbeiten anknüpften.15

Mitte der 1990er Jahre führten die erregte Debatte um die deutschsprachige Ausgabe von Daniel J. Goldhagens Buch Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust16 und insbesondere die Kritik an seiner Hauptthese, dass der Genozid an den europäischen Juden ein »nationales Projekt« der Deutschen gewesen sei, dazu, dass die Frage »nach Ausmaß und Verbreitung des Judenhasses in der deutschen Bevölkerung und nach der Bedeutung, die ihm für den millionenfachen Mord zukommt«,17 wieder diskutiert und das Wissen der Deutschen um den Genozid thematisiert wurde.18

Die 1995 in Hamburg eröffnete Ausstellung »Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944« des Hamburger Instituts für Sozialforschung konfrontierte die Deutschen mit dem Ausmaß der Verbrechen in der Sowjetunion sowie mit der Rolle der Wehrmacht beim Judenmord19 und regte dazu an, in Einzeldarstellungen die Zusammenhänge genauer zu betrachten. Vor allem am Lehrstuhl von Hans-Ulrich Thamer in Münster entstanden mehrere Doktorarbeiten, die die Besatzungspolitik und die Verbrechen der Wehrmacht in der Sowjetunion beleuchteten.20 An der Universität Mainz wiederum stand die ideologische Haltung von Wehrmachtsangehörigen im Mittelpunkt des Interesses. Anhand von Abhörprotokollen wurde in mehreren Studien die Einstellung deutscher Soldaten und ihr Fortwirken in der Kriegsgefangenschaft untersucht.21 Auch das Institut für Zeitgeschichte reagierte auf die erregten Debatten um die Wehrmachtsausstellung und brachte das Projekt »Wehrmacht in der nationalsozialistischen Diktatur« auf den Weg, das sich im Kern mit dem deutsch-sowjetischen Krieg in den Jahren 1941 bis 1944 befasste: Während Johannes Hürter sich mit der obersten Truppenführung beschäftigte, betrachtete Christian Hartmann die Praxis des Truppenalltags, und Dieter Pohl arbeitete zur Besatzungspolitik in den rückwärtigen Militärverwaltungsgebieten.22 Die Erforschung der Ermordung sowjetischer Kriegsgefangener – darunter aller jüdischen Kriegsgefangenen – aufgrund des sogenannten Kommissarbefehls sowohl für das Frontgebiet wie auch für das Deutsche Reich gehört ebenfalls in diesen Zusammenhang.23

Die 2001 gegründete Forschungsstelle Ludwigsburg der Universität Stuttgart ist bei der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung von NS-Verbrechen angesiedelt. Sie stellt ebenfalls den Judenmord in Polen und in den besetzten Gebieten der Sowjetunion ins Zentrum ihrer Arbeit.24 In den vergangenen Jahren wandte sich die Forschung in Deutschland indes auch verstärkt dem Schicksal der jüdischen Bevölkerung in den besetzten Ländern in Westeuropa zu.25

Der Blick auf den Holocaust veränderte sich 1998 durch den ersten Band von Saul Friedländers meisterhafter Gesamtdarstellung der nationalsozialistischen Judenverfolgung. Friedländer, selbst Holocaustüberlebender, verknüpfte hierin paradigmatisch die Perspektive der Verfolgten mit jener der Täter und Tatbeteiligten zu einer »integrierten« Geschichte.26 Zunehmend vollzog sich in der Forschung ein Perspektivwechsel: Standen zuvor insbesondere in Deutschland die Täter im Mittelpunkt des Interesses, fanden nun die jüdischen Opfer und andere Opfergruppen der NS-Verbrechen mehr Beachtung, wie etwa sowjetische Kriegsgefangene; auch Nachkriegsschicksale wurden in den Blick gerückt, wie jene der jüdischen Displaced Persons.27

2004 begann die Arbeit an dem Großprojekt »Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945«. Unter der Federführung des Bundesarchivs, des Instituts für Zeitgeschichte München – Berlin sowie des Lehrstuhls für Neuere und Neueste Geschichte an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg erscheinen 16 Quellenbände, die die Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden nach Ländern und chronologisch geordnet dokumentieren und sowohl die Täter- als auch die Opferperspektive einschließen.28

Ökonomische Aspekte der Vernichtungspolitik hatte die Berliner Politologin und Historikerin Susanne Heim bereits Anfang der 1990er Jahre in die Forschung eingebracht.29 Ab Mitte der 1990er Jahre wurden die wirtschaftlichen Faktoren der NS-Judenpolitik – sowohl im Deutschen Reich als auch in den annektierten und besetzten Gebieten – intensiv von Zeithistorikern sowie Wirtschafts- und Unternehmenshistorikern untersucht. Ein Meilenstein war die Studie von Frank Bajohr über die Verdrängung der jüdischen Unternehmer in Hamburg, die eine ganze Welle von Untersuchungen zur Ausschaltung von Juden aus dem Wirtschaftsleben und zum legalistisch kaschierten Raub jüdischen Eigentums in Deutschland, der sogenannten Arisierung, auslöste.30 Ab den 2000er Jahren entstanden auch grundlegende Arbeiten zur Rückerstattung des im »Dritten Reich« »arisierten« Besitzes von Juden.31

Eine wichtige Rolle spielten die Historikerkommissionen, die die Deutsche Bank, die Dresdner Bank und die Commerzbank, aber auch zahlreiche deutsche Großunternehmen wie etwa die im »Dritten Reich« gegründete Volkswagen AG oder die Chemiekonzerne BASF und Hoechst, von 1926 bis 1945 Teil der I.G. Farbenindustrie, zur Untersuchung ihrer eigenen NS-Vergangenheit einsetzten. Sie konnten die Beteiligung der Großbanken unter anderem an der Ausplünderung der Juden und der besetzten Gebiete sowie an der Finanzierung des Krieges belegen,32 ebenso die erhebliche Verstrickung deutscher Unternehmen und Unternehmer in die NS-Gewaltverbrechen.33 Die deutsche Wirtschaft hatte sich keineswegs freiwillig, sondern wegen des zunehmenden öffentlichen Drucks, vor allem wegen drohender juristischer Auseinandersetzungen und Entschädigungszahlungen an Holocaustüberlebende und ehemalige Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter im Ausland, dazu gezwungen gesehen, sich ihrer Geschichte im »Dritten Reich« zu stellen.34 Zugleich wurde die Aufmerksamkeit auf die Funktion der deutschen Finanzverwaltung bei der Ausplünderung der Juden gelenkt.35 Mittlerweile sind die Entschädigungsdebatten selbst Thema der Forschung geworden.36

Ein besonderes Augenmerk richtet die historische Forschung in Deutschland seit den 1990er Jahren zudem auf die juristische Ahndung von nationalsozialistischen Massenverbrechen sowie auf die damit verbundenen politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen.37 Zugleich führten die erinnerungs- und gedenkpolitischen Diskussionen in Deutschland in den 1990er Jahren etwa um die Gründung des United States Holocaust Memorial Museum in Washington, D.C., die Neugestaltung der KZ-Gedenkstätten in den neuen Bundesländern und die damit teilweise verbundenen Debatten über die »doppelte Vergangenheit« der Verfolgungsorte, die – wie beispielsweise die Konzentrationslager Buchenwald und Sachsenhausen – nach 1945 als sogenannte Speziallager von der sowjetischen Besatzungsmacht genutzt worden waren, sowie vor allem um das nach jahrelangen Auseinandersetzungen 2005 eröffnete Holocaust-Mahnmal in Berlin dazu, dass das öffentliche Ringen um die angemessene Erinnerung an den Holocaust zunehmend das Interesse der Geschichtswissenschaft weckte.38

Etwa seit der Jahrtausendwende lässt sich dabei eine zunehmende Transnationalisierung der Holocaustforschung konstatieren. Ulrich Herbert benannte 2013 auf einer Konferenz des Zentrums für Holocaust-Studien am Institut für Zeitgeschichte sechs Themenfelder, auf denen sie derzeit vor allem tätig ist: die regionale Ausrichtung zahlreicher Studien, die stärkere Berücksichtigung der Perspektive der Opfer, die Verbindung zwischen dem Holocaust und anderen Massenverbrechen des NS-Regimes, die wirtschaftliche Dimension der Judenvernichtung, die Rolle der deutschen Bevölkerung bei den Massenverbrechen und die Geschichte der Überlebenden.39 Frank Bajohr und Andrea Löw betonten zudem, dass sich die Forschung von der durch Raul Hilberg geprägten Unterscheidung zwischen Tätern, Opfern und Bystandern langsam löse. Zunehmend gehe man davon aus, dass der Begriff des Bystanders als unbeteiligter Zuschauer nicht haltbar ist, da dynamische Prozesse eine klare Zuordnung nicht möglich machen und die Grenzen zu den Tätern verschwimmen. So trete die Beschreibung des Holocaust als sozialer Prozess verstärkt in den Blick. Sie wiesen auch auf die wachsende Forschung zu den osteuropäischen Schauplätzen des Holocaust hin.40

Zu den Beiträgen dieses Bandes

Die immense thematische Verbreiterung, Ausdifferenzierung und zunehmende inter- und transnationale Verknüpfung der Themen innerhalb des Forschungsfeldes zeigt sich auch in den für diesen Band ausgewählten Beiträgen.

Frank Görlich fragt nach den Besonderheiten des nationalsozialistischen »Lebensraum«-Expansionismus und verfolgt, ausgehend von der Situation im Oktober 1941 im rumänischen Besatzungsgebiet Transnistrien, wo im Großraum Odessa mehr als 100.000 Nachfahren von im 19. Jahrhundert aus Deutschland zugewanderten Kolonisten lebten, einzelne Biographien bis in die Zeit des Ersten Weltkriegs zurück. Er rekonstruiert auf diese Weise die Kontinuität von Traditionen und Denkmustern und versteht Transnistrien dabei als »Fluchtpunkt« unterschiedlicher Vorgeschichten.

Richard Lichtheim (1885–1963), jahrzehntelang an wichtiger Stelle in verschiedenen zionistischen Institutionen tätig, beobachtete die nationalsozialistische Judenverfolgung sehr genau aus der Schweiz. Andrea Kirchner beleuchtet, wie Lichtheims zunehmendes Wissen um den Holocaust seine Konzeption des Zionismus beeinflusste und welche Rolle er und das von ihm geleitete Büro der Jewish Agency unter den in der Schweiz agierenden jüdischen Organisationen einnahmen.

Mit 66 aus Deutschland nach Großbritannien emigrierten Historikerinnen und Historikern befasst sich Birte Meinschien in ihrem Dissertationsprojekt. 35 von ihnen waren als ausgebildete Historikerinnen und Historiker emigriert, da sie nach der Regierungsübernahme durch die Nationalsozialisten entlassen und verfolgt worden waren. 22 der untersuchten Personen waren bereits als Kinder oder Jugendliche aus Deutschland geflohen und hatten in Großbritannien ihre universitäre Ausbildung erhalten. Weitere neun hatten ihr Studium im deutschsprachigen Raum begonnen und später in der Emigration fortgesetzt. Meinschien nimmt eine Auswahl von Mitgliedern aller drei Gruppen in den Blick und betrachtet die Folgen des Bruchs in deren Lebens- und Karriereweg für die von ihnen gewählten Forschungsthemen und die Bildung von Netzwerken, etwa im Umfeld des Leo Baeck Institute in London.

Das Schicksal jüdischer Emigranten aus Deutschland, die zwischen 1933 und 1945 in den Niederlanden Zuflucht gesucht hatten, ist das Thema der Doktorarbeit von Christine Kausch. In ihrem Beitrag konzentriert sie sich auf die Situation der über 15.000 deutsch-jüdischen Flüchtlinge in den Jahren 1940 bis 1942, die nach dem Einmarsch der Wehrmacht in die Niederlande erneut der Verfolgung ausgesetzt waren. Sie vergleicht die nationalsozialistische Judenpolitik gegenüber den geflohenen deutschen Juden mit jener gegenüber den einheimischen Juden und fragt, wie konsistent diese Politik von Beginn an war.

Agnieszka Wierzcholska untersucht die Alltagspraxen polnisch-jüdischer Beziehungen im Generalgouvernement am Beispiel der Kleinstadt Tarnów im Distrikt Krakau, wo die jüdische Bevölkerung zum Zeitpunkt des Einmarschs der Wehrmacht im September 1939 fast die Hälfte der Einwohner ausmachte. Bereits in den Jahren zuvor hatte der Antisemitismus in der katholischen Bevölkerung spürbar zugenommen. Wierzcholska recherchiert, was mit den Lokalgesellschaften, die von jahrhundertelanger Multiethnizität und Multikonfessionalität geprägt gewesen waren, nach dem deutschen Einmarsch und unter den Rahmenbedingungen eines vor allem für die Juden mörderischen Besatzungsregimes passierte.

Der Jurist Hans Gmelin (1911–1991), hochrangiger SA-Führer und 1938 Kommandeur einer Einheit des Sudetendeutschen Freikorps, war ab 1941 in der deutschen Gesandtschaft in Bratislava tätig. Niklas Krawinkel beschäftigt sich in seinem Beitrag mit Gmelins Aktivitäten in der Slowakei und erkundet die Rolle der Gesandtschaft und der »volksdeutschen« Minderheit in der Judenpolitik in dem vom Deutschen Reich abhängigen Satellitenstaat. Dort waren die »Arisierung« jüdischen Vermögens und die Deportation der Juden im Jahr 1942 eng mit Integrations- und Ausgrenzungspraktiken in der deutschen Minderheit verknüpft.

Margaretha Franziska Bauer geht mit ihrem Untersuchungsgegenstand in die deutsche Nachkriegsgeschichte. Anhand des Agierens der englischen Verteidiger deutscher Kriegsverbrecher in britischen Militärgerichtsprozessen zeichnet sie den Versuch der britischen Besatzungsmacht nach, die Prozesse zu Vorbildern für eine unabhängige, demokratisch legitimierte Justiz zu machen. Sie diskutiert dieses weithin unbekannte Phänomen als einen Baustein im Theorem der Transitional Justice.

Der Untersuchungsgegenstand Jasmin Söhners ist die westdeutsch-sowjetische Justizkooperation bei der Strafverfolgung von NS- und Kriegsverbrechen während des Kalten Krieges. Hiermit betritt sie Neuland, da diese blockübergreifende Zusammenarbeit bisher nur wenig Beachtung gefunden hat, weil in der Regel von deren »Scheitern« ausgegangen wurde. Eine Schlüsselrolle nimmt der erste Frankfurter Auschwitz-Prozess ein. Dort traten zum ersten Mal sowjetische Bürger vor einem westdeutschen Gericht in den Zeugenstand. In ihrem Beitrag untersucht Söhner die Aussagen des ersten sowjetischen Zeugen, Aleksandr Fëdorovič Lebedev, Anführer des sowjetischen Widerstands in Auschwitz. Durchschaubar war auch für die Zeitgenossen in den 1960er Jahre bereits, dass dieser seine Anschuldigungen der jeweiligen Situation angepasst hatte. Der Beitrag zeigt, dass diese Manipulation der Wahrheit für Lebedev nicht im Widerspruch zu seinem Verständnis eines gerechten Prozesses stand.

Anna Pollmann befasst sich mit Günther Anders’ Interpretation des Holocaust vor dem Hintergrund der von ihm als absolute technokratische Tötungsmöglichkeit gedeuteten Atombombe. Beide Massentötungen, so Pollmann, seien dadurch verbunden, dass ihnen eine Zukunftsgerichtetheit fehle. Den Holocaust verstehe Anders jedoch als eine Handlung im Rahmen unseres Geschichtsverständnisses, während der Einsatz der Atombombe eine ontologische Zäsur und somit das Ende von Geschichte bedeute. Anhand eines frühen literarischen Werkes von Anders untersucht die Autorin, wie dieser eindeutige Opfer- und Täterperspektiven auflöst, indem er einen Protagonisten schafft, der als ehemaliger SS-Mann in die Rolle eines Überlebenden schlüpft. Später werde bei Anders das massenhafte Töten und Sterben im Holocaust mit den Toten der Atombombenangriffe in Hiroshima und Nagasaki parallelisiert und die Frage der moralischen Schuld neu aufgerollt.

H. G. Adler, selbst Überlebender des Holocaust, war als Wissenschaftler und Schriftsteller einer der wichtigsten Zeugen des Schicksals der Juden im Ghetto Theresienstadt und in anderen nationalsozialistischen Lagern. Julia Menzel untersucht das Verhältnis zwischen Adlers historiographischen und literarischen Texten. Sie fragt nach seinen spezifischen Darstellungs- und Erzählstrategien in seinem geschichtswissenschaftlichen und in seinem literarischen Werk. Im Fokus der Analyse von Zeitordnungen und Zeitbrüchen in Adlers wissenschaftlicher und literarischer Auseinandersetzung mit dem Holocaust stehen je eine Passage aus seinem wissenschaftlichen Hauptwerk Theresienstadt 1941–1945 und dem Roman Eine Reise.

Raphael Rauch erörtert aus filmhistorischer Perspektive die Fernsehverfilmung Ein Stück Himmel nach dem Bericht der Holocaustüberlebenden Janina David zu Beginn der 1980er Jahre und deren Wirkungsgeschichte in der Bundesrepublik und in der DDR. Dabei macht er deutlich, dass die Verfilmung und der Erfolg des Films im Westen erst infolge der Ausstrahlung der Serie Holocaust Anfang 1979 möglich geworden waren. Der Film habe besonders durch die Rettung der Protagonistin vor der NS-Verfolgung eine integrative Kraft entfaltet. Wie Rauch zeigt, verhinderte im Osten dagegen die staatliche Zensur die Veröffentlichung von Janina Davids Erinnerungen: Zu ambivalent sei die Schilderung der beteiligten Personen darin ausgefallen und zu kritisch die Rolle der Sowjetunion dargestellt worden.

Ein weiterer filmhistorischer Beitrag widmet sich der Nutzung von Sequenzen aus im Warschauer Ghetto gedrehten Propagandafilmen der SS in den Dokumentarfilmen Das Dritte Reich in Farbe (1999) und Holokaust (2000). Die eingebundenen Ausschnitte vermittelten trotz der kontextualisierenden und oft kritischen Kommentare zur Szene nur scheinbar eine objektive Darstellung des Ghettos im Sinne von »Es ist so gewesen«. Wofür sie jedoch lediglich Zeugnis ablegen könnten, so Anja Horstmann, sei der Blick der NS-Regisseure auf die Ghettobewohner. In detaillierten Analysen zeigt sie den Funktionswechsel von Propaganda-Filmschnipseln in ein und derselben Dokumentation von heute. So bemühe man sich zwar um eine historische Einbettung der als neu apostrophierten zeitgenössischen Filmausschnitte, verschleiere jedoch, dass diese der historischen Erkenntnis nichts hinzuzufügen vermögen.

Fluchtpunkt Transnistrien

Grenzüberschreitende Biographien und historische Kontinuitäten zwischen Erster Globalisierung, Erstem Weltkrieg und nationalsozialistischer Ostexpansion

Frank Görlich

»Das Anknüpfen an Traditionen«, heißt es in Sebastian Conrads Globalisierung und Nation im Deutschen Kaiserreich, »läßt sich nicht in erster Linie aus dem kulturellen Erbe ableiten, sondern muß in den sozialen und kulturellen Kontext der Zeit gestellt werden, in dem der Rückbezug zur Deutung der gesellschaftlichen Wirklichkeit relevant wird. […] Schließlich wird ja aus einer Vielzahl möglicher Bezüge ausgewählt – und zugleich werden die Anleihen für die Bedürfnisse der Gegenwart übersetzt, transformiert und mit konkreten Interessen verknüpft. Wenn in der neueren Forschung von einer regelrechten ›Erfindung von Traditionen‹ die Rede ist, dann ist die Kreativität – und Zeitgebundenheit – dieses Vorgangs damit bezeichnet, der sich aus der Eigendynamik der Traditionen gerade nicht erklärt.«41

Der Befund, dass historische Kontinuität in der Moderne mehr Stückwerk ist als Erbstück, soll hier betont werden, denn er kommt dem erfahrungsgeschichtlichen Begriffsverständnis sehr nahe, das ich in meiner Dissertation vertrete.42 Angesichts krisenhafter, teils katastrophischer Entwicklungen im Untersuchungszeitraum, der beide Weltkriege und den Holocaust umfasst, überzeugt die Empfehlung nicht, den Kontinuitätsbegriff für die »Frage nach den vorübergehenden Verfestigungen und Stabilisierungen von Elementen der geschichtlichen Wirklichkeit« zu reservieren, ohne deren »grundsätzlich dynamischen und ergebnisoffenen Charakter« zu leugnen.43 Zu fragen ist vielmehr nach dem Ab- und Auseinanderbrechen überlieferter Denk- und Handlungszusammenhänge, nach der Freisetzung von Traditionselementen und nach innovativen Rekombinationen, die jeweils neue, mitunter verhängnisvolle Kontinuitäten auf den Weg brachten. Verbinden lässt sich eine solche an Hannah Arendt geschulte Sichtweise recht gut mit dem Koselleck’schen Theorem der parallelen Präsenz und Zusammenwirkung unterschiedlicher »Zeitschichten« in den vergangenen Gegenwarten des 19. und 20. Jahrhunderts.44 Dieses wiederum hat Birthe Kundrus auf dem Höhepunkt der Debatten über die Wirksamkeit kolonialer Überlieferungen im Nationalsozialismus für ein historiographisches Analysemodell genutzt, das die Bedeutung historischer Kontinuität in einer gegebenen Situation aus Rezeptionen und Transfers zwischen »relevanten Parallelkontexten« erklärt, die womöglich schon seit längerem korrespondierten. Will man also den Spezifika des nationalsozialistischen »Lebensraum«-Expansionismus auf die Spur kommen und geht man davon aus, dass Kolonialismus und Globalisierung um 1900, deutsche imperiale Ostorientierung und Welt- und Bürgerkriegserfahrungen der Jahre 1914 bis 1923 die wichtigsten Quellen sind, aus denen er sich speiste, gilt es, entsprechende Querverbindungen und Verflechtungen synchron und diachron in den Blick zu nehmen und die hybriden, erfahrungs- und praxisgeschichtlichen Kontinuitäten herauszuarbeiten, die sich daraus ergaben.45

Besonders geeignet als Bezugspunkt für solche Nachforschungen ist das rumänische Besatzungsgebiet »Transnistrien« im Zweiten Weltkrieg. Genauer gesagt: dessen Südhälfte, wo im Einzugsgebiet der Schwarzmeermetropole Odessa weit über 100.000 Nachfahren im 19. Jahrhundert zugewanderter deutscher Kolonisten von einem »Sonderkommando Russland« des SS-Hauptamts Volksdeutsche Mittelstelle in sogenannten Bereichskommandos zusammengefasst und einem Zwangsregime unterworfen wurden, das sie selbst gewissermaßen als Kolonisierte erscheinen ließ und sie zugleich massiv in die regionale Judenvernichtung einbezog.46 Als erstes und umfangreichstes Unternehmen des »Reichskommissars für die Festigung deutschen Volkstums« in der Ukraine wurde Transnistrien von dem Heinrich Himmler direkt unterstellten Kommando bewusst als Vorzeigeprojekt inszeniert und stand somit auch für die umfassenden Zukunftsvorhaben, denen man damit vorgriff. Zugleich gehörte es zu jenen Gebieten, in denen ab August 1941 der Zivilisationsbruch einer systematischen Menschenvernichtung nach dem Kriterium »Rasse« vollzogen wurde. Betrachten lässt sich die rumänisch-deutsche Terrorherrschaft in dem Landstreifen zwischen Dnjestr und Bug aber auch als Höhepunkt einer regionalen Konflikt- und Gewaltgeschichte, die vom Pogrom gegen die jüdische Bevölkerung in Odessa im Jahr 1905 bis zu dem stalinistischen Versuch der Zwangsmodernisierung von Wirtschaft und Gesellschaft unter der Prämisse eines eliminatorischen »Klassenkampfes« reichte. Das Geschehen von 1941 bis 1944 kann man sich insofern modellhaft vorstellen als Zusammentreffen lokaler Gewaltpotenziale und organisierter Gewalt von außen in einer Besatzungssituation, die vom nationalsozialistischen Prinzip eines »Rassenkriegs« und von der paradoxen »Vision einer kolonialen Endmodernisierung« bestimmt war.47 Studieren lässt sich die Gemengelage vor Ort anhand der Situation im Oktober 1941, als sich die wichtigsten Protagonisten der nationalsozialistischen Volkstums- und Siedlungspolitik in der besetzten Sowjetunion gleichzeitig in Transnistrien aufhielten. Verfolgt man von hier aus nun die Lebensläufe und Biographien der Akteure in die Vergangenheit zurück und sondiert man die politisch-kulturellen Kontexte, in denen sie sich bewegten, ändert sich die Blickrichtung: Transnistrien wird zum Fluchtpunkt diverser Vorgeschichten, die auf die Siedlungsexperimente der SS und die Volkstumspolitik des Reichsministeriums für die besetzten Ostgebiete in der Ukraine zielen, ohne dass sich die einen auf die anderen reduzieren ließen.48

Methodisch ist dieses Vorgehen am besten als mobilitätsbezogene Gruppenbiographik zu bezeichnen. Im Mittelpunkt stehen dabei die angesprochenen NS-Funktionäre, die, geboren um 1900, schon vor 1933 in der einen oder anderen Weise mit dem »Auslanddeutschtum« befasst oder in konterrevolutionäre Aktivitäten und sogenannte Volkstums- und Grenzlandkämpfe verwickelt waren: der gelernte Historiker Georg Leibbrandt, enger Mitarbeiter Alfred Rosenbergs im Außenpolitischen Amt der NSDAP sowie im Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete, und der Geograph und Sippenkundler Karl Stumpp, die beide 1918/19 aus dem Odessagebiet nach Deutschland gekommen waren und sich bis in die 1980er Jahre als Experten und Lobbyisten ihrer »Volksgruppe« verstanden; ihre Konkurrenten von der SS, die Umsiedlungsexperten Horst Hoffmeyer und Klaus Siebert, deren politische Sozialisation auf die Germanisierungspolitik in Preußen und den Weimarer Paramilitarismus verwies, und schließlich der Dichterpädagoge und Fernreisende in Sachen Auslanddeutschtum Karl Götz, der als Intimus Karl Strölins, des Stuttgarter Oberbürgermeisters und Vorsitzenden des Deutschen Ausland-Instituts (DAI) seit 1933, zu Himmlers oberstem Propaganda- und Bildungsfunktionär für das »Volksdeutschtum« im Schwarzmeergebiet aufstieg.

Einbezogen werden in die Studie aber auch eine Reihe von Förderern, Vorgesetzten und Vorbildern der Hauptprotagonisten, die generationsübergreifende Beziehungen erkennbar machen und den Rückbezug auf den Ersten Weltkrieg und die Zeit um 1900 überhaupt erst ermöglichen. Genannt seien hier nur der Minderheitenpolitiker Immanuel Winkler, der Kolonialfunktionär Friedrich von Lindequist und der langjährige Geschäftsführer des erwähnten Ausland-Instituts Fritz Wertheimer. Ausgehend von ihren Aktivitäten in der von den Mittelmächten besetzten Ukraine im Weltkriegsjahr 1918 sollen im Folgenden politische Konzepte und Praktiken, institutionelle Konstellationen und individuelle Initiativen mit Bezug auf die ansässigen deutschen Kolonisten angesprochen werden, die als Ansatzpunkte für Kontinuitätsfragen mit Blick auf Transnistrien und die Ukraine der Jahre 1941 bis 1944 infrage kommen. Im Vordergrund stehen zunächst zwei während des Ersten Weltkriegs entstandene Institutionen, von denen die eine, die Vereinigung für Deutsche Siedlung und Wanderung (VDtSW), den Zenit ihrer Bedeutung bereits im Sommer 1918 erreichte und rasch überschritt, während das Deutsche Ausland-Institut seine Blütezeit erst in der Weimarer Republik erlebte und im »Dritten Reich« zu einer Art Dienstleistungsstelle der SS für ethnopolitische Expertise und Datenbeschaffung umfunktioniert wurde. Danach rücken die Pläne für eine deutsche Kronkolonie oder einen autonomen Kolonistenstaat am Schwarzen Meer in den Fokus, die die politischen Phantasien wohl nicht nur russlanddeutscher Emigrantenkreise weit über 1918 hinaus beflügelten. Eine Krisenvariante dieser Pläne (angesichts ihres Scheiterns) und zwei kulturpolitische Projekte des Ausland-Instituts in der besetzten Ukraine beschließen die Darstellung. Mit einem dieser Vorhaben, einer Wanderausstellung, die 1919 in Deutschland gezeigt werden sollte, soll sie auch beginnen.

Weltpolitik, Lebensraum, Kolonisten

Im Frühjahr 1918 reiste der Journalist und Kriegsberichterstatter der liberalen Frankfurter Zeitung Fritz Wertheimer in die von deutschen und österreichischen Truppen besetzte Südukraine. Es war nicht die erste Reportagereise, die der Südostasienfachmann badisch-jüdischer Herkunft in die Hinterlande der beweglichen deutschen Ostfront im Ersten Weltkrieg unternahm, und auch jetzt galt sein Interesse weit mehr den »wirtschaftlichen und ethnographischen Dingen« als dem »rein Schlachtenmässigen« und der großen Politik.49 Seine intensive Beschäftigung mit den Kolonisten deutscher Herkunft in der Region hing aber auch mit einem Sonderauftrag des Ausland-Instituts zusammen, dessen erster Generalsekretär er im Oktober 1918 werden sollte (und bis 1933 blieb). Das Museum und Institut zur Kunde des Auslanddeutschtums und zur Förderung deutscher Interessen im Ausland, wie es zunächst offiziell hieß, war erst vor einem guten Jahr, im Januar 1917, auf Initiative des Württembergischen Vereins für Handelsgeographie entstanden. Getragen von Kaiser, Kanzler, dem württembergischen König und einem Großaufgebot an Funktionsträgern und Honoratioren aus Adel, Staat und Zivilgesellschaft, sollte es »auslandkundliches« Expertenwissen für Deutschlands künftige Weltmachtaufgaben zentral zur Verfügung stellen und zugleich Mittelstelle zwischen Reichs- und Auslanddeutschtum sein.50

Der große Publikumserfolg, den das Ausland-Institut unter Federführung seines Vorsitzenden Theodor Wanner und des Tübinger Geographieprofessors Carl Uhlig mit einer noch im Gründungsjahr angelaufenen Wanderausstellung zu dem potenziellen Annexionsgebiet Kurland erzielen sollte, zeichnete sich bereits ab, als am 9. Februar 1918 der sogenannte Brotfrieden zwischen den Mittelmächten und der zweieinhalb Monate zuvor gegründeten »Ukrainischen Volksrepublik« die Gelegenheit eröffnete, mit den deutschen Kolonien am Schwarzen Meer einen weithin unbekannten Gegenstand zu präsentieren und die eigene wissenschaftliche Leistungsfähigkeit eindrucksvoll zu bestätigen. Auch wenn man es mit »schwerfälligen, misstrauischen, den Gedanken und Zweck der Ausstellung nicht überall begreifenden Bauern« zu tun hatte, wie Wertheimer nach der Reise in einem Exposé festhielt – die Sache schien aller Mühe wert, denn es war ungewiss, »ob, wie lange und in welcher Verfassung Menschen und Material nach dem Kriege noch zur Verfügung stehen«.51 Wie sehr erschüttert die Kolonistentradition nach vier Jahren Krieg, zaristischen Zwangsmaßnahmen und revolutionären Gewaltausbrüchen tatsächlich war, wurde Wertheimer spätestens klar, als er Mitte April die sogenannten Schwedenkolonien bei Berislaw am Dnjepr besuchte. Angst und Verunsicherung waren allgegenwärtig: »Bei den Russen will man nicht bleiben«, notierte er, »einzelne hoffen, das Land möchte zur deutschen Kolonie werden, andere träumen von der Abwanderung nach Kurland, das man ihnen in lockendsten Farben geschildert hat. Wieder andere klagen ihr Leid, und es kommt die ganze Bitternis über die letzten Jahre zum Durchbruch«.52

Sucht man nach dem Anlass für die vagen Vorstellungen der Kolonisten von einer Intervention des Kaiserreichs zu ihren Gunsten, die Wertheimer für das Ausland-Institut in der Ukraine registrierte, stößt man auf eine Institution, deren Bedeutung für die projektierte Germanisierungspolitik im östlichen Europa während des Ersten Weltkriegs nahezu unbekannt ist. Gemeint ist die vor fast genau 100 Jahren im Dezember 1916 in Berlin gegründete Vereinigung für Deutsche Siedlung und Wanderung. Blickt man auf die parallele Formierung beider genannten Einrichtungen im zweiten Halbjahr 1916, drängt sich der Eindruck eines regelrechten Gründungswettlaufs zwischen der vorwiegend kommerziell und »weltpolitisch« interessierten und der völkisch-agrarromantischen »Lebensraum«-Fraktion des kaiserzeitlichen Deutschtumsimperialismus auf.53 Die Gründung des Stuttgarter Instituts erscheint als Kulminationspunkt jener um 1905 einsetzenden Bestrebungen zu einer systematischen auswärtigen »Kulturpolitik« und »Kulturpropaganda« als Instrument informeller Machtentfaltung, deren Institutionalisierung der Historiker Karl Lamprecht kurz vor Kriegsbeginn noch vehement, aber glücklos vorangetrieben hatte. Tatsächlich führte auch von der im Mai 1914 eröffneten Leistungsschau des Buch- und Grafikgewerbes in Leipzig, deren Weltausstellungscharakter wesentlich von Lamprechts Mitarbeit herrührte, und der im Rahmen dieser »Bugra« von einem Epigonen eröffneten Sonderschau »Deutsche Geisteskultur und Deutschtum im Ausland« eine direkte Linie zur Entstehung des Ausland-Instituts. Weitaus mehr als das Institut jedoch entsprach jener Vermittlungs- und Koordinationsinstanz, die Lamprecht hatte schaffen wollen, die kurz zuvor ins Leben gerufene Vereinigung – rein funktional betrachtet.54

»Bei Wahrung voller Selbstständigkeit auf den jeweiligen besonderen Tätigkeitsfeldern« hatten sich hier der Alldeutsche Verband, der Verein für das Deutschtum im Ausland, die Deutsche Kolonialgesellschaft, der Ostmarkenverein, die Gesellschaft zur Förderung der inneren Kolonisation, der Deutsche Verein für ländliche Wohlfahrts- und Heimatpflege, der Fürsorgeverein für deutsche Rückwanderer, der Evangelische Hauptverein für deutsche Ansiedler und Rückwanderer, der katholische Raphaelsverein und weitere konfessionell gebundene Organisationen zu dem einen Zweck zusammengetan, »daß auf die gesamte deutsche Siedlung und Wanderung d. h. Einwanderung, Auswanderung, Umwanderung und Rückwanderung nach einheitlichen, das deutsche Volkstum wahrenden und fördernden Gesichtspunkten eingewirkt werden soll«.55 Mit Friedrich von Lindequist, dem ehemaligen Gouverneur von Südwestafrika und Mitinitiator der radikalnationalistischen Deutschen Vaterlandspartei, stand dem Dachverband als geschäftsführender Vorsitzender einer der aktivsten und bestvernetzten Vertreter jenes globalisierten deutschen Siedlungskolonialismus vor, der seine Betätigungsfelder und Erfolgserlebnisse ebenso in Afrika suchte wie in Südamerika oder im »Deutschen Osten«.56 Mit dem kriegsbedingten Verlust der Kolonien und den Geländegewinnen an der Ostfront wurde das östliche Europa zu seinem zentralen Phantasie- und Planungsraum.57 Zur Sondierung der Ausgangslage inspizierte Lindequist im Lauf des Jahres 1917 existierende und projektierte Siedlungsgebiete von der bulgarischen Dobrudscha bis zu dem deutschen Militärverwaltungsgebiet »Ober Ost«, wo es im Juni auch zum Schulterschluss mit der Obersten Heeresleitung (OHL) kam. Paul von Hindenburg und Erich Ludendorff, die ihre militärische Machtstellung zunehmend diktatorisch nutzten, galt die Lindequist-Vereinigung nun als »eine Art Zentralinstanz« in allen Migrations- und Umsiedlungsfragen.58 Dass sie sich nicht als »Hilfskomitee« verstand, sprach man intern offen aus. Es ging allein darum, festzustellen, ob das »Menschenmaterial« in einem bestimmten Gebiet als »verloren« einzuschätzen und »zurückzuziehen« sei oder ob es »Lebensfähigkeit« bewies und unterstützungswürdig war.59 Letzteres meinte man vor allem von den zeitgenössisch geschätzten 600.000 Kolonisten am Schwarzen Meer. Die Sorge, dass sie nach Amerika auswandern könnten, war denn auch Gegenstand eines Appells der Vereinigung an Reichskanzler Georg von Hertling und die Oberste Heeresleitung im Dezember 1917, in Brest-Litowsk für ihre »Rettung« zu sorgen.60

Politik des Utopischen: Der Winkler-Lindequist-Ludendorff-Plan

Im Rahmen der Friedensverträge der Mittelmächte mit den Regierungen Russlands und der Ukraine ist im Februar/März 1918 die Möglichkeit einer freiwilligen »Rückwanderung« deutscher Kolonisten nach ihrem »Stammland« ohne vermögensrechtliche Nachteile über einen Zeitraum von zehn Jahren geregelt worden. Ihre Abwicklung sollte die eigens gegründete Reichsstelle für deutsche Rückwanderung und Auswanderung übernehmen, während sich der erwähnte Fürsorgeverein für deutsche Rückwanderer auf die zahlenmäßige Vermehrung derselben durch Privilegierung und propagandistische Lenkung »deutschrussischer« Kriegsgefangener konzentrierte.61 Im Unterschied jedoch zu 1941 waren die südrussischen Deutschen von 1918 keine bloße Manövriermasse reichsdeutscher Experten und Strategen. Dass sie erheblichen politischen Eigensinn entwickelten, hing nicht zuletzt mit dem Autonomisierungsschub zusammen, den die sozial und konfessionell heterogene Minderheit im revolutionären »Völkerfrühling« von 1917 durchgemacht hatte, einem Geschehen, das manchem Angehörigen der deutschbaltischen Elite im Schwarzmeergebiet eher als »völkisch-sonderbündlerischer Selbstbestimmungswahn« erschien.62

Wirkungsvollster, aber auch umstrittenster Akteur in diesem Zusammenhang war der einunddreißigjährige Immanuel Winkler aus dem bessarabischen Sarata, Vertreter jener jüngeren, politisierten Kolonistenintelligenz, in der deutschnational gestimmte protestantische Geistliche den Ton angaben. Als Pastor im Kirchspiel Hoffnungstal bei Odessa war der Charismatiker mit der Familie Georg Leibbrandts eng verbunden, und zweifellos war der väterliche Freund für den späteren NS-Funktionär nicht nur ein wichtiger Förderer, sondern auch ein überragendes persönliches Vorbild. Wenn ein zentrales biographisches Motiv in Lebenslauf und Karriere des »Ostexperten« wirksam war – von traumatischen Gewalterfahrungen abgesehen –, dann war es der Vorsatz, es diesem »genialen Pfarrer« und »Volksführer« gleichzutun und fortzusetzen, was dieser 1918 begonnen hatte.63 Als aktiver Teilnehmer der beiden großen Odessaer Kongresse – »der Deutschrussen« im Mai sowie »der deutschen Kolonisten im Schwarzmeergebiet« im August 1917 – und Repräsentant derselben bei der Provisorischen Regierung in Petrograd hatte Winkler schon im ersten Revolutionsjahr eine herausragende Rolle gespielt.64 Die politischen Anliegen der Kolonisten schienen freilich obsolet geworden angesichts des Übergangs der Revolution in Massenplünderungen und »roten Terror«, als sich Winkler im Januar 1918, nach der Auflösung der verfassungsgebenden Versammlung durch die Bolschewiki, als Emissär von Petrograd über Finnland und Schweden nach Berlin absetzte. Erst Ende Februar dort angelangt, fand der junge Pfarrer, der jetzt als »Vorsitzender des Hauptkomitees des Allrussischen Verbandes russischer Bürger deutscher Nationalität« zeichnete, nicht nur beim Fürsorgeverein und der Vereinigung für Deutsche Siedlung und Wanderung, sondern auch beim Auswärtigen Amt, der Obersten Heeresleitung und sogar bei Kaiser und Kaiserin Gehör für ein gänzlich neuartiges bevölkerungspolitisches Projekt, das als »Winkler-Plan« Furore machte: die Schaffung eines geschlossenen deutschen Siedlungsgebiets in Bessarabien und Cherson mit der Option eines deutsch-tatarischen Krimstaates als »Vorposten […] auf dem Wege in den nahen Osten« und »Auffangbecken für junge deutsche Bauernkraft, die Deutschland je nach Bedarf im Mutterlande oder als Pioniere in anderer Richtung verwenden könnte«.65

Von Zuspruch und Wohlwollen getragen, begaben sich Winkler, Lindequist als Beauftragter der Obersten Heeresleitung und der Publizist Edmund Schmid für den Fürsorgeverein über »Ober Ost«, Kiew und Odessa auf eine ausgedehnte Propagandareise durch die Kolonistengebiete am Schwarzen Meer. Bei drei eilig einberufenen Kongressen – am 9./10. April in Odessa, am 8. Mai in Byten/Krim und am 14. Mai in Prischib/Taurien – gelang es dem Trio und seinem Gefolge mit agitatorischem Geschick, weitreichenden Versprechungen und wohl auch Verfahrenstricks, einstimmige Delegiertenbeschlüsse herbeizuführen, die die Deutschen im gesamten Schwarzmeergebiet auf die Optionen Rückwanderung oder Kolonistenstaat und den Verzicht auf die ukrainische zugunsten einer angeblich schon zugesagten deutschen Staatsbürgerschaft festlegen sollten.66 Während in der Folgezeit der Streit zwischen Anhängern eines neugebildeten »Vertrauensrates« der Schwarzmeerkolonisten mit Winkler an der Spitze und einer Minderheitengruppe im Umfeld des bereits existierenden »Zentralkomitees« über die Rechtmäßigkeit der ominösen Kongressbeschlüsse eskalierte und die deutsche Botschaft in Kiew im Einklang mit der Heeresgruppe und dem Auswärtigen Amt auf konstruktive Zusammenarbeit mit der neuen ukrainischen Regierung unter Pavlo Skoropadskij drängte,67 erfuhr der Winkler-Plan eine spektakuläre geopolitische Aufwertung durch Erich Ludendorff, den starken Mann in der Obersten Heeresleitung. Bei seiner Zusammenkunft mit dem euphorisierten Ukrainerückkehrer Lindequist am 31. Mai in Spa entwarf der »Erste Generalquartiermeister« des deutschen Heeres zunächst die Vision einer staatlich gelenkten Umsiedlung von Millionen Deutschstämmigen weltweit nach dem Reich und seinen »neuerworbenen Gebieten«. Das in Südrussland nicht sogleich zur Rückwanderung kommende »Deutschtum« wollte er dagegen durch »Zusammenlegen« stärken. Nicht allerdings in einer »deutschen Kolonie«, die im Kriegsfall nicht zu verteidigen war, sondern in einem »selbstständigen« deutsch-tatarischen »Staatengebilde« auf der Krim und ihrem Vorland, in das alle zurückbleibenden Deutschen aus Bessarabien, Cherson, Wolhynien, an der Wolga und aus dem Kaukasus »übergesiedelt« würden. Mit der Ukraine werde dieses Krim-Taurien in ein Verhältnis treten »wie etwa Bayern zu Preußen«, oder es werde, im Falle einer »Wiedervereinigung« der Ukraine mit »Groß-Rußland«, mit Georgien und diversen Kosakenstaaten einen »antislawischen« Block bilden.68

Ende Mai 1918 begab sich der fünfköpfige »Vertrauensrat« der Schwarzmeerkolonisten nach Berlin, wo jetzt auch Delegierte aus Sibirien, von der Wolga und aus dem Kaukasus eintrafen. Von Ludendorffs Plänen dürften sie erst am 4. Juni bei einem Zusammentreffen mit Lindequist in den Räumen der Vereinigung für Deutsche Siedlung und Wanderung erfahren haben. Am nächsten Tag informierte Ludendorff dann den Reichskanzler über das Krim-Taurien-Projekt und rief zu einer raschen Stellungnahme auf, damit den Kolonisten »klare Auskunft über unsere Absichten« gegeben werden könne. Schützenhilfe erhielt er wiederum von Lindequist, der Hertling am 6. Juni von seiner Ukrainereise berichtete.69 Unterdessen sorgten die Auftritte, die die Delegierten in wechselnden Konstellationen etwa als Gäste des Interfraktionellen Ausschusses im Reichstag, als Redner im Preußischen Abgeordnetenhaus, im Stuttgarter Rathaus und im Ausland-Institut, in München, Leipzig, Köln, Hannover und andernorts absolvierten, für erhebliches Aufsehen bei der interessierten Öffentlichkeit.70 Überzeugt offenbar von der Gunst der Stunde, wandte sich Winkler am 17. Juni direkt an Kaiser Wilhelm II.: Wenn man schon auf einen »Kolonistenstaat als deutsche Kolonie« unter dem Schutz Seiner Majestät verzichten müsse, »glaube« man »aber wohl, dass […] mit Hilfe Deutschlands ein autonomer Kolonistenstaat mit einem deutschen Regenten an der Spitze, eigenem Heer und eigener Verwaltung geschaffen werden könnte«.71

Welche Kontinuitäten?

Zu einer abschließenden Klärung der Angelegenheit kam es in der Folgezeit nicht, obwohl der Kaiser die »Winckler-Lindequist’schen Pläne« für »unmöglich« erklärt hatte.72 Zwar zeigte sich bei der Kronratssitzung in Spa am 2. Juli 1918 in brutaler Deutlichkeit, dass Ludendorffs Hauptinteresse an den Kolonisten darin lag, »möglichst viele dieser Leute […] zu Niederlassungszwecken im Grenzstreifen« oder aber als Heeresersatz zu »bekommen«.73 Aufgegeben wurde das »utopische Projekt« eines krimtatarisch-kolonistendeutschen Staatswesens aber weder von Ludendorff noch von Lindequist oder Winkler, der noch Ende August dem neuen Außenstaatssekretär Paul von Hintze eine entsprechende Denkschrift und umfangreiche Unterlagen zusandte.74 Im Herbst 1918 war es dann Edmund Schmid, der im Auftrag des schwarzmeerdeutschen Kolonistenverbands deren Siedlungsgebiete vom Don bis Cherson bereiste, um sich »im Verkehr mit den Bauern selbst« über ihre Wünsche angesichts des absehbaren Rückzugs der Mittelmächte und des drohenden Bürgerkriegs zu unterrichten. In einer Denkschrift vom 5. November, die den Adressaten Matthias Erzberger erst Wochen nach Deutschlands Kapitulation erreichte, entwickelte Schmid, ein gelernter Kirchenmusiker aus Bayern, der 25 Jahre im Odessagebiet gelebt hatte, den verwegenen Plan, die Kolonisten mit Reichsunterstützung in eine Kaste von Bauernsoldaten mit deutscher Staatsangehörigkeit zu verwandeln, die sich selbst und den ukrainischen Staat gleich mit verteidigen könnten. Hintergrund war wohl die rasch anwachsende Selbstschutzbewegung in den deutschen und sogar den mennonitischen Kolonien. Es war derselbe Schmid, der 1933 im Eher-Verlag der NSDAP eine Schrift über Deutsche Siedlung im I., II. und III. Reich veröffentlichte und sich darin sicher zeigte, dass »Gott und Hitler« schon »zu gegebener Zeit« für wieder »möglich werdende Siedlung über die Grenze« sorgen würden und »Natur und Geschichte« dabei »nach dem Osten« wiesen.75

Bedenkt man die Verheißungen und Versprechungen des Frühjahrs, wundert es nicht, dass sich die Mehrzahl der Kolonisten im Herbst 1918 »wenig freundlich zum Deutschtum« und zu Pfarrer Winkler stellte, wie Fritz Wertheimer dem Vorstand des Deutschen Ausland-Instituts im Oktober berichtete. Die Materialbeschaffung für die große Ukraine-Krim-Ausstellung wollte er denn auch nicht mehr allein dem Kolonistenverband überlassen, sondern dafür deutsche Militärstellen hinzuziehen. Im Chaos des Truppenrückzugs und des einsetzenden Bürgerkriegs wurden die zusammengetragenen Dokumente und Schaustücke in alle Winde zerstreut. So blieb von dem hoffnungsvollen Vorhaben am Ende nur Wertheimers Exposé vom Juli 1918.76 Freilich geriet das Thema nicht in Vergessenheit, im Gegenteil. Die wissenschaftliche und journalistische Bearbeitung der »Russlanddeutschen« setzte nach Kriegsende erst richtig ein und war von ihrer literarischen und politischen Überhöhung als ideale Siedler- und zugleich größte Opfergruppe des Auslanddeutschtums nicht immer zu trennen, auch und gerade im Umfeld des Ausland-Instituts. Vielfach antisemitisch kontrastiert, mit den Juden in der Sowjetunion als kolonisations- und gemeinschaftsunfähige deutschfeindliche Tätergruppe schlechthin, spielte dieser Mythos im »Dritten Reich« eine wesentliche Rolle.77

Unter einem günstigeren Stern als die gescheiterte Kolonistenschau stand ein zweites Projekt des Ausland-Instituts in der Ukraine, mit dem die öffentlich-rechtliche Einrichtung zugleich einen Schwenk von der Museumsarbeit zur aktiven auswärtigen Kulturpolitik vollzog: der Transfer »studierender Kolonistensöhne« an schwäbische Bildungsstätten zum Zwecke auslanddeutscher Elitenbildung, die auf eine Initiative Winklers vom Juni 1918 zurückging. Weit über 50 Studenten aus dem ganzen Schwarzmeergebiet wurden so noch bis Jahresende auf württembergische Universitäten und Hochschulen verteilt, darunter wohl etliche Aktivisten der Winkler-Lindequist-Kampagnen vom Frühjahr.78 Gut möglich, dass zu diesen auch Karl Stumpp gehörte. An der Universität Tübingen reüssierte der junge Mann aus Alexanderhilf bei Odessa bald als Hilfskraft des bereits angesprochenen Kolonialgeographen Uhlig, bei dem er später auch promovierte. Neben dem Studium war er im Verein studierender deutscher Kolonisten aktiv, der sich in der Nachfolge der 1914 verbotenen Dorpater Teutonia sah. Vermutlich informiert darüber, dass sich Anfang des Monats in Odessa eine bolschewistische Rätediktatur etabliert hatte, zogen die Vereinsmitglieder Ende April 1919 im Verband des Tübinger Studentenbataillons in den Kampf gegen die Räterepublik in München. Ihre mutmaßliche Beteiligung am sogenannten »Russenmord von Gräfelfing«, bei dem 52 unbewaffnete russische Kriegsgefangene von einem improvisierten Feldgericht unter Vorsitz des eingangs erwähnten späteren Oberbürgermeisters von Stuttgart und Vorsitzenden des Ausland-Instituts Strölin zum Tode verurteilt und in einer Kiesgrube erschossen wurden,79 wirft ein Licht auf den Transfer eliminatorischer antibolschewistischer Gewalt von der besetzten Ukraine des Jahres 1918 auf die Schauplätze des konterrevolutionären »weißen Terrors« im bayrischen Frühjahr 1919.80

Fragt man indes nach einer spezifischen Kontinuität antisemitischer Vernichtungsgewalt mit Bezug auf Deutschland und das Schwarzmeergebiet, so führt der Blick auf 1918 in die Irre. Denn ungeachtet verbreiteter antijüdischer Vorstellungen und Einschätzungen auf Seiten der Mittelmächte stellte ihre achtmonatige Präsenz in der Region für die jüdische Bevölkerung doch eher eine Atempause im Gewaltgeschehen dar.81 Dennoch führt eine folgenschwere, wenn auch wenig beachtete Rezeptionslinie von der Ukraine jener Jahre zum Holocaust. Sie schloss an die grundstürzend neue Erfahrung der zehntausendfachen Ermordung, Beraubung und Misshandlung jüdischer Männer, Frauen und Kinder in den Bürgerkriegsjahren 1919/20 an und mündete in die Erwartung eines gewaltigen Judenpogroms als quasi natürliche Begleiterscheinung und zugleich Königsweg künftiger antibolschewistischer Massenmobilisierung in der Sowjetukraine. Von den konterrevolutionären, zugleich gegen die Versailler Nachkriegsordnung gerichteten Machinationen des »Ludendorffkreises« und seiner ungarischen, exilrussischen und ukrainischen Verbündeten in den frühen 1920er Jahren führte sie zur NSDAP in München und fand Eingang in die ostpolitischen Konzeptionen Hitlers, Rosenbergs und schließlich auch Georg Leibbrandts, dessen eigene Erfahrungen als Bürgerkriegsteilnehmer auf Seiten der Weißen Armee im Odessagebiet freilich im Unklaren bleiben.82

Wie Noah auf dem Berg Ararat

Richard Lichtheim in Genf, 1939–194683

Andrea Kirchner

Am 9. September 1942 schrieb Richard Lichtheim, Leiter des Genfer Büros der Jewish Agency (JA), einen aufgewühlten Brief an Nahum Goldmann, in dem er über die politischen Konsequenzen der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik in Europa für die jüdische Nationalbewegung nachdachte. Er resümierte:

»Let us stop talking of Palestine as the ›solution of the Jewish problem‹. It might have been the solution for the Jews of Europe, but now it is too late. […] There is no need for a Jewish Commonwealth without Jews. The 500.000 or 800.000 of Palestine will, under the protection of the great Powers [sic], find some form of local self-government and cultural independence. But we cannot call that a Commonwealth.«84

Anlass für die drastischen Zeilen Lichtheims war die im Mai 1942 auf einer außerordentlichen Konferenz der Zionisten im New Yorker Biltmore-Hotel verabschiedete Resolution, die die Öffnung des britischen Mandatsgebiets für jüdische Masseneinwanderung, die Aufstellung bewaffneter Streitkräfte und die Errichtung eines jüdischen Staates in Palästina als Teil einer neuen, demokratischen Nachkriegsordnung forderte. Das hier formulierte, unter dem Tagungsort bekannt gewordene Biltmore-Programm bedeutete eine fundamentale Abkehr von der bis dato offiziell von den Zionisten verfolgten Politik. Bisher hatte die Zionistische Organisation (ZO) unter der Leitung Chaim Weizmanns die Strategie einer geplanten und begrenzten Einwanderung bevorzugt und die konkrete Forderung nach einem souveränen Staat bewusst vermieden. Unter dem maßgeblichen Einfluss David Ben-Gurions, des Vorsitzenden der zionistisch-sozialistischen Mapai, der größten und wichtigsten Partei des Yishuv85 in Palästina, wurden nun in New York erstmals die bisher von der revisionistischen Opposition um Vladimir Jabotinsky vorgebrachten Forderungen nach jüdischer Staatlichkeit, Armee und Masseneinwanderung in das Programm der Zionisten aufgenommen.86 Vorbei waren damit die vage formulierten Forderungen nach einer nicht näher definierten jüdischen Heimstätte in Palästina, wie sie der Baseler Kongress 1897 als Ziel der Bewegung festgelegt hatte.87

In den Augen des 1885 in Berlin geborenen Lichtheim, eines der »begabtesten und erfahrensten zionistischen Diplomaten seiner Generation«,88 kam dieser Kurswechsel zu spät. Seit Beginn des Krieges hatte er im Auftrag der Jewish Agency und der Zionistischen Organisation im schweizerischen Genf die antisemitischen Maßnahmen der Nationalsozialisten und ihrer Verbündeten verfolgt. In Anbetracht der Verfolgung und Ermordung der Juden in Europa hielt er eine millionenfache jüdische Einwanderung nach Palästina nach Kriegsende für nicht mehr realisierbar und die Forderung nach einem unabhängigen Staat damit für obsolet.

Lichtheims Kritik am New Yorker Programm erscheint angesichts seiner parteipolitischen Vergangenheit auf den ersten Blick überraschend. Unzufrieden mit der gemäßigt-liberalen Politik Weizmanns, hatte er sich im Jahr 1926 Jabotinskys Welt-Union der Zionisten-Revisionisten angeschlossen und bis 1933 deren deutschem Landesverband vorgestanden. Auch nachdem er im Jahr 1932 wegen taktischer Fragen mit Jabotinsky gebrochen hatte, hielt er weiter an den zionistischen Maximalforderungen fest. Bis 1937 blieb er offiziell Mitglied der von dem russischen Revisionisten Meir Grossmann gegründeten Jewish State Party.89