Der hörende Mensch und die Wirklichkeit der Musik - Armin J. Husemann - E-Book

Der hörende Mensch und die Wirklichkeit der Musik E-Book

Armin J. Husemann

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Beschreibung

Naturwissenschaftlicher Nachvollzug Wie wird aus Tönen Musik? Armin Husemann stellt in diesem Buch dem Neurozentrismus der üblichen Bewusstseinstheorien eine Interpretation der physiologischen Befunde gegenüber, die Rudolf Steiner erstmals 1917 in seiner Schrift ›Von Seelenrätseln‹ angeregt hat, und unternimmt den spannenden Versuch, diese geisteswissenschaftliche Analyse naturwissenschaftlich nachzuvollziehen.

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ARMIN J. HUSEMANN

DER HÖRENDE MENSCH UND DIE WIRKLICHKEIT DER MUSIK

ARMIN J. HUSEMANN

Studien zur Physiologie des Menschen

Herausgegeben von der Eugen-Kolisko-Akademie, Filderstadt

Form, Leben und Bewusstsein

Einführung in die Menschenkunde der Anthroposophischen Medizin

(1. Auflage 2015)

Englisch: New York 2019

Die Blutbewegung und das Herz

(1. Auflage 2019)

Englisch: New York 2022

Französisch: Paris 2020

Der hörende Mensch und die Wirklichkeit der Musik

(2. Auflage 2023)

Englisch: New York 2013

Chinesisch: Taiwan 2019

Japanisch: Tokio 2018

ARMIN J. HUSEMANN

Der hörende Mensch und die Wirklichkeit der Musik

VERLAG FREIES GEISTESLEBEN

Peter Heusser

in Dankbarkeit für langjährigeFreundschaft und Zusammenarbeitgewidmet

Die Drucklegung wurde gefördert durch die Friedrich Hiebel-Stiftung.

Inhalt

Vorwort zur 2. Auflage

1. Kapitel:

Der hörende Mensch und die Wirklichkeit der Musik

Das Trommelfell / Die schwerefreie Gliedmaßenfunktion in Ohr und Auge / Hören, Kauen, Schlucken / Die Evolution des Hörens. Von der Erdschwingung zur Luftschwingung / Die Funktion des Innenohres / Die muskuläre Sinnestätigkeit im Innenohr / Von der technisch vorgestellten zur lebendigen Physiologie / Gehen – Singen – Hören / Der ganze Muskelmensch hört / Musik und Spiegelneurone / Musiktherapie / Das Auge ist destruktiv – das Ohr motiviert / Der Beweis der Schlange / Der Gang von Ton zu Ton – die musikalische Bewegung / Die Wirklichkeit der Musik / Karmabildung und Umstülpung / Der umgestülpte Wille im Hören und im Ohr / Innenohr und Darm / Die musikalische Ur-Anlage des Verdauungssystems

2. Kapitel:

Musik als «Chemie von innen»

Die musikalische Dynamik des Periodensystems / Der Fluorprozess, chemisch betrachtet / Die sieben Stufen des Lebens / Die Genese der Ätherarten und der Aggregatzustände / Der Zahlenäther / Das Periodensystem als «Schöpfungsurkunde» / Die musikalische Willensbeziehung zur Welt / Ein zweiter Mensch entsteht / Geschicklichkeit der Finger und Zahngesundheit / Acidum fluoricum bei schwerer Schlafstörung durch Ruhelosigkeit und Brennen der Beine (Restless-Legs-Syndrom)

3. Kapitel:

Das Erlebnis der Musik und seine physiologischen Grundlagen

Die Zeiterfahrung im Erlebnis der Musik / Das innere Singen des Musikers – was liegt dem musikalischen Zeitgefühl physiologisch zu Grunde? / Zur Forschungsgeschichte der Atemdynamik des Gehirnwassers / Die weitgehende Schwerelosigkeit im Gehirn / Der Liquor als Träger des leibfreien Lebens / Wie bewegt die Atmung das Gehirnwasser? / Die Bauchvenen als Vermittler zwischen Atmung und Gehirnwasser / Die Fortsetzung der Atmung ins Innere der Gehirnkammern / Atemdynamik und Innenohr / Die Atmung zwischen Leben und Bewusstsein / Eine imaginative Physiologie der Atemdynamik des Gehirns / Die Atmung als Organ des schöpferischen Denkens / Atmen mit Farben und Tönen / Die musikalische Artikulation und Phrasierung durch die Atmung / Legato und Staccato / «Dionysos» oder die Atmung nach unten / Die Modulation der venösen Strömung durch die Atmung / Die Wesensglieder beim Eintritt des Gewebewassers in die Kapillaren / Wie spiegelt sich der Einstrom ins Herz im Bewusstsein? / Die Leier des Apoll: Vom Chemismus durch die Atmung ins Licht / Blut und Nerv im musikalischen Hören / Hören mit dem Engel / Das Atmen zwischen Apoll und Dionysos in der E-Dur-Etüde Op. 10, Nr. 3, von Frédéric Chopin / Umstülpung und Homöopathisierung – musikalisch beobachtet / Die Sonderstellung der klassischen Musik in Wien / Exkurs in die Geschichte der Musik / Gibt es eine «musikalische Geologie»? / Die Mondenkräfte im Menschen und die Musik / Die Atmung zwischen Sonne und Erde

Glossar

Anmerkungen

Vorwort zur 2. Auflage

Das vorliegende Buch will eine Brücke bauen von den Ergebnissen der Medizin zu den Erlebnissen der Musik; es will lebendig durchdachte Anatomie und Physiologie in die Erfahrungswelt integrieren, die wir in der Musik als ganzer Mensch erleben.

Die Anatomie beschreibt Tatsachen, die vor Augen liegen. Die Physiologie hingegen erforscht Lebensvorgänge, die sich der unmittelbaren Erfahrung entziehen. Die empirischen Grundlagen der Physiologie müssen erst durch experimentelle Techniken und statistische Bearbeitung gewonnen werden. Eine Denkmethode, die sich historisch an den gegebenen Sinneserfahrungen der Anatomie und Mechanik entwickelt hat, ist auf die sinnlich unzugänglichen Wirklichkeiten der Physiologie nicht ohne weiteres anwendbar. Seit jeher nimmt die Physiologie deshalb zum nicht weiter hinterfragten Konstrukt der «Modellvorstellung» Zuflucht. Rudolf Steiner hat auf dieses methodische Problem der Physiologie mehrfach hingewiesen.1 Das Thema des vorliegenden Buches betreffend führt er aus: «Wir glauben, dass im Musikgenuss das Ohr beteiligt ist und vielleicht das Nervensystem unseres Gehirns, aber das nur in einer sehr äußerlichen Anschauung. Die Physiologie ist auf diesem Gebiete durchaus im Anfange, sie wird erst zu einer gewissen Höhe kommen, wenn künstlerische Gedanken in dieses physiologische und biologische Gebiet einfließen werden.»2

Die Weiterentwicklung des naturwissenschaftlichen Denkens in der Welt der Organismen durch Rudolf Steiner, mit der erkenntniswissenschaftlichen Rechtfertigung einer neuen, künstlerisch verlebendigten Intelligenz in Anknüpfung an Goethes naturwissenschaftliche Entwürfe, fand in den vergangenen 140 Jahren noch kaum Eingang in die Universitäts-Wissenschaften.3 Statt angesichts der katastrophalen ökologischen Folgen des materialistischen Reduktionismus das Denken dem Leben gemäß weiterzuentwickeln, hält man bis heute an einer im 19. Jahrhundert sozial zur Herrschaft gelangten Denkweise fest. Die wissenschaftlich gestellte Frage nach dem Leben bleibt ein Tabu, sie ist verboten. Staats-Schule und Staats-Universität erzeugen dadurch in der Öffentlichkeit zunehmend eine diffuse Angst in Lebensfragen. An die Stelle der dringend notwendigen Vereinigung von Wissenschaft und Kunst im Fortgang der Kulturentwicklung tritt – statt der künstlerisch-kreativen Intelligenz im Sinne Goethes – die «künstliche Intelligenz» von Maschinen. Im Sinne des »Transhumanismus» beginnt der Mensch ausgeschaltet und durch Maschinen-Intelligenz ersetzt zu werden. Wenn aber in den Fragen von Gesundheit und Krankheit, Geburt und Tod der Wissenschaftler durch exakte Fantasie zum Künstler wird, der Teilprozesse vom Ganzen aus erfassen kann, dann tritt schöpferisches Denken, dann tritt moralische Fantasie an die Stelle der Angst. Wie bereits Friedrich Schiller in seinen Ästhetischen Briefen dargestellt hat, entwickelt der Wissenschaftler dadurch die moralischen Fähigkeit sein Forschungsergebnis zu verantworten. Dann kann die künstliche Intelligenz von Maschinen dem Menschen dienen, statt ihn zu ersetzen.

Dass Rudolf Steiner für die Erforschung der physiologischen Vorgänge, die das Erlebnis von Musik vermitteln, «künstlerische Gedanken in dieses physiologische Gebiet einfließen» lassen will, erscheint plausibel; denn wenn das Kunsterlebnis Gegenstand der Forschung wird, ist das Denken seinem Gegenstand nur gewachsen, wenn es selbst künstlerisch-lebendig wird, wenn es im Sinne des Goetheanismus »exakte Fantasie» entwickelt. In den Geisteswissenschaften beschäftigt Kultur-Philosophen seit langem die Frage, in welche Wirklichkeit uns das Erlebnis von Musik versetzt. Man denke an J. G. Herder, E. T. A. Hoffmann, A. Schopenhauer oder F. Nietzsche. Sie versuchten den Menschen von der Musik aus als seelisch-geistiges Wesen zu erfassen. Rudolf Steiner hat – insbesondere die Musikanschauung Schopenhauers aufgreifend – die Grundlagen für das vorliegende Buch geliefert.

Dass dieses seit langem vergriffene Buch erst jetzt in zweiter Auflage erscheint, ist dadurch bedingt, dass der Verfasser in seinen Kursen für medizinische Menschenkunde an der Eugen-Kolisko-Akademie überwiegend mit dem Erarbeiten der Grundlagen befasst war, die Medizin-Studierende für die praktische Arbeit am Patienten als Ärzte benötigen. Daraus entstand zunächst das Buch Form, Leben und Bewusstsein (2015) als Band 1 der «Studien zur Physiologie des Menschen». Darin findet sich auch eine ausführliche Darstellung zu der «Metamorphose der Bildekräfte» in der belebten Natur mit ihrem Höhepunkt in der Brutbiologie der Laubenvögel Neu-Guineas und Nordost-Australiens. Das Leben der Natur geht hier tatsächlich in den Bereich der darstellenden Künste über, in Bühnenarchitektur, Bühnenbild, Bühnenbeleuchtung, Tanz und Gesang. Das ergänzt den Inhalt von Kapitel 3 des vorliegenden Buches, wo die Metamorphose der Bildekräfte des Blutes in die Atembewegung des Gehirnwassers dargestellt ist.

Als nächstes erschien 2019 als Band 2 der »Studien zur Physiologie des Menschen» das Buch Die Blutbewegung und das Herz. Darin hat der Verfasser versucht, die Blutbildung beim Übergang des Gewebewassers in die venösen Kapillaren vom musikalischen Erleben aus zu einer imaginativen Anschauung zu bringen. Die «Blut-Überwindung» im Bewusstseins-Licht der Liquor-Bildung im Gehirn – die «Leier des Apoll» – konnte dadurch der Blut-Bildung aus dem Stoffwechselgeschehen als «dionysische Kraftentfaltung» klarer begründet gegenüber gestellt werden, was das neue 3. Kapitel in dieser Auflage bereichert hat.

Der Verfasser hat allen Grund, auch diese 2. Auflage des vorliegenden Buches seinem Freund, dem Grundlagenforscher der Anthroposophischen Medizin Prof. Dr. med. Peter Heusser zu widmen. Uns verbindet seit Jahrzehnten das gemeinsame Bestreben einer Weiterentwicklung der naturwissenschaftlichen Anthropologie durch Anthroposophie. In seinem Buch Von Seelenrätseln demonstriert Rudolf Steiner diese Weiterentwicklung an dem Unterschied zwischen dem bloßen Hören und Vorstellen von Geräuschen und Tönen durch Ohr und Gehirn einerseits und dem Erlebnis von Musik, das durch die gleichzeitig stattfindende Atemdynamik des Gehirnwassers vermittelt wird, andererseits.4 Was davon im 3. Kapitel der 1. Auflage dargestellt war, veranlasste Peter Heusser, Rudolf Steiners Theorie des musikalischen Erlebens auf die von ihm vorausgesetzten anatomischphysiologischen Annahmen hin zu überprüfen. Er fand in Victoria Halász eine daran interessierte Studentin an der Universität Wien, die diese Fragestellung in ihrer Diplomarbeit in enger Zusammenarbeit mit Peter Heusser bearbeitete.5 Rudolf Steiners Annahmen der anatomischen Strukturen, die zwischen Innenohr und Liquor cerebrospinalis vermitteln, sowie seine Beschreibung der Atemdynamik des Liquor cerebrospinalis konnten voll bestätigt werden. Victoria Halász machte den Verfasser aber auch darauf aufmerksam, dass die sog. «Liquorkontakt-Neurone» (CSF-contacting neurons), die der Verfasser in der ersten Auflage dem Zusammenhang von Rudolf Steiners Darstellung eingefügt hatte, beim Menschen nicht nachweisbar sind; sie finden sich bei allen Wirbeltieren bis zu den Primaten, nicht aber beim Menschen. Mir war also der in der Geschichte der Physiologie bekannte Fehler unterlaufen, bei Tieren gefundene Tatsachen auf den Menschen zu übertragen, ohne zu prüfen, ob sie dort vorliegen.

Ich sage Peter Heusser und Victoria Halász für ihre Zusammenarbeit meinen herzlichen Dank! Auch den anderen Leserinnen und Lesern, die mir Sachfehler und Druckfehler gemeldet haben, sei an dieser Stelle herzlich gedankt! Ein besonderer Dank geht an Andreas Neider, der dieses Buch in einem ausführlichen Aufsatz nicht nur sehr eingehend gewürdigt, sondern es auch in den historischen Zusammenhang des Leib-Seele-Problems von Descartes bis zu Thomas Metzinger gestellt hat.6 Weiter ist zu danken Corina Schretter für ihre mit Freude geleistete Hilfe bei der Erstellung des Manuskripts. Bei Christiane S. Wefing bedanke ich mich herzlichst für ihr Lektorat. Sie hat mit eingehender Sachkenntnis und genauem Sprachgefühl die Lesbarkeit des Textes wesentlich verbessert. Thomas Neuerer danke ich für seine meisterhafte Herstellungsarbeit sowie Claudius Weise für sein reges Interesse an dieser Neuauflage!

Dass sie zustande kam, verdankt der Autor der finanziellen Unterstützung durch die folgenden Mitglieder des Trägervereins der Eugen-Kolisko-Akademie: Gesellschaft Anthroposophischer Ärzte in Deutschland (GAÄD), Verein Filderklinik, Förderverein der Eugen-Kolisko-Akademie e.V., Gemeinschaftskrankenhaus Havelhöhe Berlin, Gemeinschaftskrankenhaus Herdecke, Klinik Öschelbronn, Paracelsus-Krankenhaus Unterlengenhardt, Friedrich-Husemann-Fachklinik für Psychiatrie in Buchenbach bei Freiburg im Breisgau, Kollegiale Instanz für Komplementärmedizin an der Universität Bern, Ausbildungsinitiative Anthroposophische Medizin e.V. Filderstadt. Ihnen allen sei herzlich gedankt.

Ein besonderer Dank geht an folgende Stiftungen: Christophorus Stiftung, Damus-Donata e.V. Stiftung, Dr. Hauschka Stiftung, Stiftung Helixor, Mahle-Stiftung GmbH und Software AG Stiftung.

Im Herbst 2023 Armin J. Husemann

1. Kapitel

Der hörende Mensch und die Wirklichkeit der Musik

«Es muss ein Wissen geben, das in den einzelnen Wissenschaften die Elemente sucht, um den Menschen zum vollen Leben wieder zurückzuführen.»

Rudolf Steiner, Die Philosophie der Freiheit7

Was auch immer in unserer Umgebung hörbar wird – Schritte im Nebenraum, ein Gespräch, ein Auto auf der Straße, das Knacken der Heizung oder der Gesang eines Vogels – alle diese Schallereignisse haben eines gemeinsam: sie werden durch Bewegung hervorgebracht.8 Wenn wir hören, nehmen wir an Bewegungsvorgängen der Umwelt teil. Das kann uns veranlassen, vom Gesichtspunkt der Bewegung aus zu untersuchen, wie das Ohr in den Menschen eingegliedert ist. Der Gang unserer Untersuchung geht dabei den Weg des Tones selbst, von außen nach innen.

Das Trommelfell

Über die Ohrmuschel und den äußeren Gehörgang gelangt der Ton zum Trommelfell. Das Trommelfell bildet sich embryonal, indem sich die Haut nach innen einstülpt. Dieser Bewegung kommt aus der Mundbucht eine Einstülpung des Urdarms entgegen, die vom Rachenraum schräg nach hinten vordringt. Als «eustachische Röhre» (Tuba Eustachii) wird diese Urdarmeinstülpung am reifen Menschen zum Belüftungsweg des Mittelohres (siehe Abb. 1).

Beide Einstülpungen, diejenige der Haut von außen (aus dem Ektoderm herstammend) und die des Urdarms von innen (aus dem Entoderm), begegnen sich, indem sie die Außen- und die Innenschicht des Trommelfells bilden; dazwischen wachsen Blutgefäße ein, die (vermutlich) aus dem mittleren Keimblatt (Mesoderm) stammen.

Abb. 1: Die Bildung des Trommelfells (nach W. J. Hamilton, J. D. Boyd, H. W. Mossman, Human Embryology, London 1946)

Die Rötung des Trommelfells bei einer Mittelohrentzündung zeigt seine reiche Versorgung mit Blutgefäßen. Während sich im Auge das Blut auf die Rückseite der Netzhaut zurückzieht – Blutgefäße würden Hornhaut und Linse undurchsichtig machen –, bringt der Ton schon beim Eintritt ins Ohr mit dem Trommelfell zugleich das Blut in Schwingung.

Die schwerefreie Gliedmaßenfunktion in Ohr und Auge

Der Ton, der das Trommelfell in Schwingung versetzt, wird im Mittelohr von drei kleinen Knochen empfangen, die mittels echter Gelenke untereinander verbunden sind (Abb. 2): «Hammer», «Amboss» und «Steigbügel». Sie bilden eine Gliedmaße, die sich im Ton und durch den Ton bewegt. Der Ton schwingt also durch beide Ohren in zwei winzige Gliedmaßen hinein. Deren Gelenke können – wie die der großen Gliedmaßengelenke – an Rheuma erkranken oder altersbedingt sklerotisch versteifen, was im Fall der großen Gliedmaßen zur Bewegungseinschränkung im Gehen und Handeln führt, im Ohr zur Hörminderung. An Armen und Beinen besorgen Muskeln die Bewegung der Knochen. Im Mittelohr hingegen treten Muskeln in regulative Funktionen zurück (M. tensor tympani und M. stapedius) und an ihrer Stelle wirkt der Ton selbst: Er bewegt die Knochen in den Gelenken. So wird der Ton im Mittelohr sogleich in eine Art Gliedmaßentätigkeit hineingezogen. Oder anders ausgedrückt: Der Organismus gliedert sich mit ohrgemäß verwandelten Gliedmaßen so in die Tonschwingung ein, als sei sie Muskulatur.9 In ihren Bewegungen sind diese «Ohr-Gliedmaßen» ganz von der Einwirkung der Schwerkraft befreit, sie schwingen schwerefrei. Denn die Gehörknöchel sind so aufgehängt, dass ihre Schwingung nur Bewegungen um deren jeweiligen Massenschwerpunkt bewirkt.10 Dasselbe gilt für die schwerefreie «Arbeit» der äußeren Augenmuskulatur, da die Kugel des Augapfels um ihr Massenzentrum gedreht wird.11

Abb. 2: Die schallinduzierten Auslenkungen im Mittel- und Innenohr (nach Zenner)

Abb. 3: Primäres (Hammer-Amboss-Gelenk) und sekundäres (Sqamoso-Dental-Gelenk) Kiefergelenk halbschematisch bei einem menschlichen Embryo von 62 mm Schädel-Steiß-Länge (nach Stark 1979).

Ein phänomenologisch orientierter Sprachgebrauch sprach früher von Licht, Klang, Wärme etc. als von «Imponderabilien» – von Entitäten ohne Gewicht. Die Bau- und Funktionsweise von Ohr und Auge zeigen, wie sachgemäß dieser von Rudolf Steiner wieder benutzte Begriff ist.12

Hören, Kauen, Schlucken

Der Raum des Mittelohres, in dem die Gehörknöchel aufgehängt sind, ist mit atmender Schleimhaut ausgekleidet. Luft erhält dieser Mittelohrraum durch die bereits erwähnte eustachische Röhre, die Mittelohr und Rachenraum miteinander verbindet. Jeder kennt wohl das Gefühl, das entsteht, wenn diese Belüftung nicht funktioniert, weil z.B. durch eine Rachenentzündung die innere Tubenöffnung zugeschwollen ist. Fortwährend wird Luft durch die Mittelohrschleimhaut ins Blut eingeatmet (resorbiert). Wenn sie nun – aufgrund der Schwellung – vom Mundraum her nicht nachströmen kann, entsteht im Mittelohr Unterdruck. Beim Gesunden wird bei jedem Schluckvorgang Luft nachgeliefert, indem sich die eustachische Röhre durch eine Zwangskopplung öffnet. Wir schlucken also beim Essen die Luft ins Mittelohr.

Abb. 4: Die Metamorphose des Kiefergelenks der Reptilien (1, 2) in das Hammer-Amboss-Gelenk der Säugetiere (3, 4) (nach Gaupp 1911).

Aber auch zum Kauen hat der Hörvorgang eine tiefe Beziehung, wie die Embryonalentwicklung des Mittelohres zeigt: In der Embryonal- und Fetalzeit des Menschen reicht eine knorpelige Fortsetzung des Unterkiefers – man kann nur staunen! – ins Mittelohr hinein (Abb. 3). Sie endet dort im Hammer und bildet mit dem Amboss ein Kiefergelenk. Dieses primäre Kiefergelenk ist das spätere Hammer-Amboss-Gelenk! Im sechsten Monat der Fetalentwicklung wird dieser Unterkieferknorpel (Meckelscher Knorpel) zurückgebildet; der Hammer bleibt als Rest übrig, verknöchert wie der Amboss, und das Gelenk zwischen beiden wird Hörgelenk. Für das Kauen entwickelt sich stattdessen ein neues, das sogenannte sekundäre Kiefergelenk. Diese erstaunliche Metamorphose des primären Kiefergelenkes in ein Hörgelenk (Abb. 3 und 4) in der Individualentwicklung des Menschen ist die Wiederholung eines Schrittes, der sich stammesgeschichtlich von den Reptilien zu den Säugetieren vollzogen hat (Reichert-Gauppsche Theorie) des Kiefergelenkes (siehe Abb. 4).13 Gisbert Husemann fasste diese Metamorphose in den Satz zusammen: «Hören ist nach innen genommenes Kauen.»14

Abb. 5: Kriechtiere – Bodenschall ist stark und von Bedeutung, Luftschall wird reflektiert und ist schwach (Tumarkin 1968).

Abb. 6: Die Vorderglieder im Dienst des Hörens (nach Portmann 1976)

Die Evolution des Hörens. Von der Erdschwingung zur Luftschwingung

Der der Erde aufliegende Leib von Amphibien und Reptilien leitet Bodenschall tiefster Frequenzen zum Innenohr weiter, und zwar über das bei diesen Tierklassen relativ großräumige Liquorsystem von Rückenmark und Gehirn. Dies gilt für Vibrationen und tiefste Bassfrequenzen.15

Höhere Frequenzen werden über die Vordergliedmaßen fortgeleitet. Amphibien und Reptilien haben hierfür ein zweigeteiltes ovales Fenster. Die vordere Hälfte ist über den Gehörknöchel des Mittelohres (Columella) der Luft exponiert für Luftschall, der hinteren Hälfte liegt eine knöcherne Platte auf (Operculum, siehe Abb. 6). Letztere ist über Sehnen und Muskeln mit dem Schulterblatt verbunden, wodurch höherfrequenter Boden- und Wasserschall über die Vorderglieder dem Mittel- und Innenohr zugeleitet wird.16 (Abb. 5 u. 6) Die Größe der schwingenden Masse der Vorderglieder begrenzt dieses Hören auf einen tiefen bis mittleren Frequenzbereich. Indem die Säugetiere nun den Rumpf ganz von der Erde wegstemmen und die Gliedmaßen unter den Rumpf drehen, vollzieht sich zugleich auch die Verinnerlichung des Hörens – das frühere Kaugelenk wird Hörgelenk; zugleich wird die Verbindung zwischen Trommelfell und Vordergliedmaßen zurückgebildet. Mit diesem Schritt zur reinen Luftschallperzeption steigt das Frequenzspektrum nochmals in die Höhe.17 Das Hörvermögen in der Evolution geht in dem Maße in die Höhe, wie die schwingende Masse, die an der Fortleitung beteiligt ist, zurücktritt:

Abb. 7: Der Anstieg der Tonhöhenwahrnehmung in der Evolution der Wirbeltiere (Tierzeichnungen von Christian Breme)

Abb. 8: Äußerer Gehörgang, Mittelohr und Innenohr mit knöchernen und häutigen Labyrinth

Mit der Verinnerlichung erschließt sich das Hören also zugleich höhere Tonfrequenzen. Mit der Steigerung der Tonfrequenzen steigern sich auch die Schrittfrequenzen der Tiere; sie beginnen zu laufen, zu rennen, ja zu fliegen. Wir werden sehen, dass dies keine äußerliche Analogie ist, sondern Ausdruck eines gesetzmäßigen Zusammenhanges.

Die deutsche Sprache benennt «hohe» und «tiefe» Töne räumlich, was mit der tieferen und höheren Lage des Leibes im Verhältnis zur Erde korreliert. Dass Vögel, die sich räumlich von der Erde entfernen, auch sehr hohe Töne und Fledermäuse sogar Ultraschall erzeugen, ist offenbar kein Zufall. Auch von ganz anderer Seite her hat man entdeckt, dass die deutsche Sprache, indem sie die Frequenz der Töne mit «Höhe» und «Tiefe» räumlich benennt, auf eine Wahrheit deutet. Man hat nämlich herausgefunden, dass Menschen mit Amusie, d.h. mit der Unfähigkeit, Tonhöhenunterschiede innerhalb einer Melodie wahrzunehmen, eindeutige Einschränkungen in der räumlichen Gestalterfassung aufweisen (etwa vier Prozent der Menschheit).18

Die Funktion des Innenohres

Das Innenohr entzieht sich der gewöhnlichen Sinnesbeobachtung. In mikroskopischer Größenordnung lebt es dort, wo sonst das blutbildende Knochenmark zu Hause ist im Innern des Knochens der Schädelbasis. Dort liegt sein spiralförmiger häutiger Schlauch von zweieinhalb Windungen in einem knöchernen Spiralgang des Felsenbeins.

Innen mit wässriger Lymphe («Endolymphe») erfüllt und außen umgeben von »Perilymphe» schwimmt das Innenohr auch äußerlich so in der «Perilymphe», wie Gehirn und Rückenmark im Gehirnwasser schwimmen. Der Perilymphraum hat zum Gehirnwasserraum direkten Kontakt über den Ductus perilymphaticus (oder Aquaeductus cochleae), der Endolymphraum hingegen hat indirekten Kontakt zum Gehirnwasser über den Ductus bzw. Saccus endolymphaticus (Abb. 8).

Die Schwingungen des Tones, vom Trommelfell empfangen und von den Gehörknöchelchen weitergeleitet, erscheinen in der Innenohrlymphe als sogenannte Wanderwelle. Nach Békésy, der für seine Wanderwellentheorie den Nobelpreis erhielt, löst jeder Ton eine Wanderwelle in der Endolymphe der Scala media aus. An der Stelle des Schneckengangs, wo diese Welle «brandet», d.h. in sich zur Ruhe kommt, indem sie zusammenbricht, werden die Sinneszellen erregt. Die Länge der Wanderwelle ist dabei abhängig von der Frequenz des Tones: Hohe Töne branden schon am Beginn der Schnecke, je tiefer die Frequenz, umso länger wandert die Welle, bis sie brandet und Basstöne branden erst in der Schneckenspitze. Man mag sich hier daran erinnern, dass ein lautes Rockkonzert bei günstigen Bedingungen noch in einer Entfernung von mehreren Kilometern hörbar ist – aber nur in den Bässen! Wie in der Schnecke, so gilt auch hier: Tiefe Töne haben eine große räumliche Reichweite, hohe Töne eine geringe (Abb. 9 und 10).

Nach Békésy sollte nun die Brandung der Innenohrlymphe die Härchen der Hörzellen auslenken und dies durch Depolarisation der Sinneszellen die Nervenerregung der sensorischen Nerven auslösen.19 Unklar blieben dabei lange Zeit zwei Fragen. Erstens ist die Fähigkeit des menschlichen Ohres, Tonhöhen zu unterscheiden, viel genauer, als sie nach dieser Voraussetzung sein könnte. Zweitens blieb lange unklar, weshalb drei Viertel der Sinneszellen – die drei Reihen der äußeren Haarzellen – nicht sensorisch, sondern im Wesentlichen efferent für die motorische Antwort innerviert sind. Nur das von den äußeren Haarzellen relativ isoliert liegende Band der inneren Haarzellen des Cortischen Organs ist überwiegend sensorisch (afferent) innerviert (vgl. Abb. 11).

Abb. 9: Schematische Darstellung der Wanderwelle im häutigen Labyrinth

Abb. 10: Die Lage der Tonfrequenzen nach Békésy (siehe Zenner 1994)

Abb. 11: Schematische Anatomie des Cortischen Organs nach Zenner 1994

Beide Fragen sind weiter aufgeklärt worden, als man entdeckte, dass die äußeren Haarzellen ein kontraktiles Zytoskelett besitzen. Die Muskelproteine(!) Aktin und Myosin finden sich hier in einer hoch geordneten Weise dergestalt, dass zum Beispiel in den Härchen der Sinneszellen (Stereozilien) die Aktinfilamente eine nahezu kristallförmige Struktur aufweisen. Sie sind hier nicht biegsam, sondern starr, und ihre Auslenkung geschieht gelenkartig in der Kutikularplatte der Sinneszelle, in der sie mit einer starken Verjüngung verankert sind. Aber auch in der Zellwand der Haarzellen findet sich hoch geordnetes Aktin und Myosin.20

Abb. 12: Die Wanderwelle von Békésy und ihre Einhüllende.

Der cochleäre Verstärker bedingt eine hohe, scharfe und frequenzabhängige Auslenkung der Basilarmembran (nach Weaver und Lawrence), zit. nach Zenner 1994.

Die muskuläre Sinnestätigkeit im Innenohr

Wenn die passive Wanderwelle der Endolymphe nun an dem für die auslösende Frequenz charakteristischen Ort der Schnecke brandet, so werden die Sinneshärchen der äußeren Haarzellen dadurch passiv ausgelenkt. Die Wirkung dieser Auslenkung ist eine Öffnung von Poren der Sinneszellen für die kaliumreiche Endolymphe, in die sie hineinragen. Dies depolarisiert die Zelle; sie kontrahiert sich durch das kontraktile Protein Prestin als Ganze und beugt sich mitsamt der in ihr eingewachsenen Sinneshärchen in Richtung auf die inneren Haarzellen.21 Dabei wird die Tektorialmembran, die auf den Spitzen der Sinneshärchen zart aufliegt, mitbewegt. Die Bewegungsantwort auf die Wanderwelle des Tones überträgt sich nun über die Endolymphe durch Flüssigkeitskoppelung auf die Sinneshärchen der inneren, überwiegend sensorischen Haarzellen. Sie werden ebenfalls ausgelenkt; aber sie antworten nun nicht muskulär, sondern die Stereozilienauslenkung bewirkt hier eine Depolarisation, die als Nervenpotenzial fortgeleitet wird.

Der Ton wird also im Innenohr von einer sensiblen Muskeltätigkeit in Empfang genommen. Das Ohr ist ein muskuläres Sinnesorgan. Man kann die aktive Muskelantwort durch die äußeren Haarzellen mit der Auslösung von Muskel-Eigenreflexen vergleichen. Der Reflexhammerschlag des untersuchenden Arztes dehnt z.B. die Sehne der Kniestreckermuskeln. Die darin enthaltenen Sinnesrezeptoren vermitteln über das Rückenmark eine Kontraktion der gedehnten Kniestrecker. Die sensible Muskeltätigkeit des Ohres ist aber vor allem mit den Bewegungsphänomenen der Arme und Beine zu vergleichen: Wir nehmen durch Muskelspindeln und Gelenkrezeptoren die Winkeländerung einer Gliedmaße wahr und antworten mit einer Muskelaktivität dieser Dehnung entsprechend, etwa beim Gehen als Reaktionen auf die beugende Schwerkraft.

Die aktive Muskelantwort der äußeren Haarzellen verstärkt nun die vom gehörten Ton erregte Wanderwelle in ihrer Amplitude; und sie verschärft sie in ihrer Spitze. Dadurch wird erstens die Hörschwelle um bis zu 40 dB gesenkt, zum anderen aber die Diskriminationsfähigkeit zwischen zwei Tonhöhen gesteigert. Man spricht deshalb von einem im Innenohr tätigen cochleären Verstärker und Filter (vgl. Abb. 12).22