Der integrale Yoga - Sri Aurobindo - E-Book

Der integrale Yoga E-Book

Sri Aurobindo

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Beschreibung

■ Grunderfahrungen auf dem Wege zum neuen Yoga ■ Das Durchbrechen der traditionellen Schranken ■ Die Neufassung der Reinkarnationslehre: Wiedergeburt und Evolution ■ Die Prinzipien des integralen Yoga ■ Die psychische Transformation ■ Die spirituelle Transformation ■ Die supramentale Transformation ■ Yoga für das Erd-Bewußtsein

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Sri Aurobindo

Der integrale Yoga

Übersetzt von Otto Wolff

Ihr Verlagsname

Erstmalig aus seinen Werken übersetzt

Mit einem Essay ‹Zum Verständnis des Werkes› und einer Bibliographie von Otto Wolff

Über dieses Buch

■ Grunderfahrungen auf dem Wege zum neuen Yoga

■ Das Durchbrechen der traditionellen Schranken

■ Die Neufassung der Reinkarnationslehre: Wiedergeburt und Evolution

■ Die Prinzipien des integralen Yoga

■ Die psychische Transformation

■ Die spirituelle Transformation

■ Die supramentale Transformation

■ Yoga für das Erd-Bewußtsein

Über Sri Aurobindo

Sri Aurobindo (1872–1950) war ein indischer Politiker, Philosoph, Hindu-Mystiker, Yogi und Guru.

Inhaltsübersicht

I. Grunderfahrungen auf dem Wege zum neuen Yoga1. Alles Leben ist Yoga2. Der Mensch als Gedankenfabrik – oder als Herr im eigenen Hause3. Die Realisation des Nirvāna4. Über das Nirvāna hinaus5. Die Stimme Gottes und die radikale Wende im Gefängnis6. Die großen Schauungen von Alīpur7. Auf den eigenen Weg gestelltII. Das Durchbrechen der traditionellen Schranken1. Die notwendige höhere Bewußtseinsstufe2. Wider die Weigerung des Asketen und die Negation des Materialisten3. Weltbejahung und die künftige Rolle Asiens4. Wider Entpersönlichung und Kollektivismus5. Deutschlands Meisterleistung6. Wahrer Individualismus und Gottes Person-Sein7. Der Yoga für GottIII. Die Neufassung der Reinkarnationslehre: Wiedergeburt und Evolution1. Wiedergeburt statt Reinkarnation2. Wiedergeburt als existentielle Selbstgewißheit3. Die Überwindung der Vergeltungsidee4. Der Widerspruch des höheren Ethos5. Der Widerspruch der Erfahrung6. Die ethisch blinde Natur7. Der verstiegene Individualismus der alten Wiedergeburtslehre8. Wider den Mechanismus der Karma-Lehre9. Die irrtümliche Annahme einer im Wandel identischen Persönlichkeit10. Erinnerung an frühere Leben hinderlich11. Evolution als Grundlage der Wiedergeburt12. Der Wille des Geistes in AktionIV. Die Prinzipien des integralen Yoga1. Die integrale Vollendung2. Der Doppelcharakter des integralen Yoga3. Die grundlegende Konzeption4. Die erste Grundfunktion im integralen Yoga: Sich überantworten5. Die zweite Grundfunktion: Sich öffnendes Vertrauen6. Die dritte Grundfunktion: Beiseitetreten und Gott wirken lassenV. Die psychische Transformation1. Die dreifache Wandlung2. Die Wandlung des Ich als Wandlung des Bewußtseins3. Die psychische Entität4. Die psychische Bekehrung5. Die sich durchsetzende psychische Liebe6. Die von innen her anhebende Führung7. Psychische Führung und Läuterung8. Das Psychische, die aufschließende und zu Gott hinwendende Macht9. Die psychische Selbstkontrolle10. Der sonnenhelle Weg11. Über die psychische Wandlung hinausVI. Die spirituelle Transformation1. Der Einbruch des Unendlichen2. Der Aufstieg zum vollen spirituellen Bewußtsein3. Typische Yoga-Erfahrungen im Zuge der psychisch-spirituellen Entwicklung4. Die Grenze der psychisch-spirituellen Wandlung5. Das Neuland des SupramentalenVII. Die supramentale Transformation1. Der nächste notwendige Schritt der Evolution2. Die Natur des Übergeistes3. Die Mittlerrolle der Intuition4. Die endgültige Herabkunft5. Die supramentalen Instrumente6. Die supramentale Vernunft7. Das supramentale Denken8. Das supramentale Auge9. Das supramentale Ohr10. Das supramentale Fühlen11. Die supramentale Rede12. Das supramentale Gedächtnis13. Das supramentale Urteil14. Der supramentale oder der sechste Sinn15. Die supramentale Zeitform16. Die Fülle des SeinsVIII. Yoga für das Erd-BewußtseinZum Verständnis des Werkes1. Der Universalist2. Der Seher3. Werden und Wandlung4. Der Āshram5. Yoga bei Patanjali und Aurobindo6. Das Überbewußte7. Wandlung und GewandeltwerdenBibliographie

I. Grunderfahrungen auf dem Wege zum neuen Yoga

1. Alles Leben ist Yoga

Aller Yoga ist seiner Natur nach eine neue Geburt. Er ist die Geburt aus dem gewöhnlichen, dem intellektualisierten, materiellen Leben des Menschen in ein höheres spirituelles Bewußtsein und in ein größeres und göttlicheres Sein. Kein Yoga kann erfolgreich unternommen und durchgeführt werden, wenn man nicht gründlich zu der Einsicht erwacht ist, daß die Notwendigkeit zu einer umfassenderen spirituellen Existenz besteht.

Die Seele, die zu dieser tiefen und weiten Wandlung gerufen ist, kann zu dem anfänglichen Aufbruch auf verschiedene Weise gelangen. Sie kann durch ihre eigene, natürliche Entwicklung dazu kommen, die sie unbewußt zum Erwachen führt. Sie kann durch den Einfluß einer Religion oder die Anziehungskraft einer Philosophie dahin kommen. Sie mag sich dem anfänglichen Aufbruch durch eine langsame Erleuchtung nähern, oder demselben durch ein plötzliches Angerührtwerden oder eine schreckhafte Erschütterung entgegenstürzen. Sie kann durch den Druck äußerer Umstände oder innerer Notwendigkeiten dahin gestoßen oder geführt werden, durch ein einziges Wort, das die Siegel des Geistes bricht, oder durch eine lange Reflexion, durch das ferne Beispiel eines, der den Pfad gewandert ist, oder durch Berührung und täglichen Einfluß. Der Natur und den Umständen entsprechend kommt der Ruf.

Wie er auch kommen mag, eine Entscheidung muß da sein, des Geistes und des Willens und, als ihr Ergebnis, ein vollständiges und wirksames Sich-selbst-Geben. Eine neue spirituelle Idee-Macht aufnehmen, eine Aufwärtsorientierung im Wesen, eine Erleuchtung, eine Wende oder Bekehrung, die das Verlangen des Willens und Herzens sich ganz zu eigen macht, das ist jener folgenschwere Akt, der wie ein Same alle Früchte, die der Yoga zu geben hat, in sich birgt.

Eine bloße Idee, ein nur intellektuelles Suchen nach etwas Höherem, wie intensiv das Interesse des Geistes es auch ergreifen mag, richtet nichts aus. Das Herz muß sich darauf werfen als auf das eine, das zu begehren ist, und der Wille als auf das eine, das getan werden muß.

Denn Wahrheit des Geistes ist nicht nur zu denken, sondern zu leben, und sie zu leben verlangt eine einige, einzig auf eines gerichtete Zielstrebigkeit des Menschen.

Eine so große Wandlung, wie sie der Yoga plant, wird durch keinen geteilten Willen, nicht durch einen kleinen Bruchteil der Energie nur, oder durch einen zögernden Geist zustande gebracht. Wer das Göttliche sucht, muß sich Gott weihen, und Gott allein.[*]

Wenn wir die Gelegenheit, die dieses Leben uns bietet, voll nützen wollen, wenn wir dem Ruf, den wir empfangen haben, angemessen antworten und das Ziel, das vor uns aufgeleuchtet ist, erreichen, demselben nicht nur ein wenig näher rücken wollen, dann ist es wesentlich, daß wir uns ganz geben. Das Geheimnis des Erfolges liegt im Yoga darin, daß man ihn nicht nur als eines unter den im Leben zu verfolgenden Zielen ansieht, sondern als das ganze Leben[*].

2. Der Mensch als Gedankenfabrik – oder als Herr im eigenen Hause

Yoga heißt Union mit Gott, – eine Union, die entweder transzendental oder das Universum übersteigend ist, oder kosmisch und das Universum umgreifend, oder individuell, oder alles drei in einem, wie in unserem Yoga. Yoga bedeutet, anders gesagt, das Hineintreten in ein Bewußtsein, in dem man nicht mehr begrenzt bleibt durch das eigene kleine Ich, den persönlichen Geist, das persönliche Vitale und Leibliche, sondern in Union steht mit dem höchsten Selbst, oder mit dem universal kosmischen Bewußtsein, oder mit einem tieferen Bewußtsein in uns selbst, in dem man sich der eigenen Seele, des eigenen inneren Wesens und der wirklichen Wahrheit der Existenz bewußt wird[*]. Das Bewußtsein des Yogi ist nicht ein Bewußtsein von Dingen nur, sondern von Kräften, und nicht nur von Kräften, sondern des bewußten Wesens hinter den Kräften. All dessen ist man sich nicht nur in sich, sondern im Universum ebenso bewußt.

Der Mensch kennt sich nicht selbst. Die verschiedenen Schichten seines Seins zu unterscheiden, hat er nicht gelernt. Er wirft sie gemeinhin als ‹Geist› auf einen Haufen zusammen, denn durch eine geistige Wahrnehmung und ein entsprechendes Verstehen weiß er um jene und nimmt er sie wahr. Darum versteht der Mensch seine eigenen Zuständlichkeiten und Handlungen nicht, oder, wenn überhaupt, dann nur oberflächlich. Es gehört zum Fundamentalen des Yoga, daß man sich der weitgehend komplexen Struktur unserer Natur bewußt wird und der verschiedenen Kräfte gewahr, die jene bewegen, um die Führung eines weisenden Wissens über sie zu gewinnen [*].

Alle geistig entwickelten Menschen aber, die über den Durchschnitt hinausgelangen, kommen auf die eine oder andere Weise oder zumindest zu bestimmten Zeiten und Zwecken dazu, eine zweiteilende Trennung im Geist durchzuführen, nämlich den aktiven Teil, der die Fabrik der Gedanken ist, von seinem stillen Teil zu sondern, der der Meister ist, der zugleich ein Zuschauer und ein Wille ist, der die Gedanken beobachtet, beurteilt, verwirft, ausscheidet, annimmt, Verbesserung und Wandel verfügt, der auf diese Weise der Herr im Hause ist, der Herrschaft im eigenen Bereich fähig.

Der Yogi aber geht noch weiter. Er ist dort nicht nur ein Herr, er tritt, während er gleichzeitig in gewisser Weise im Geist weilt, gleichsam aus ihm heraus, steht frei über ihm oder gänzlich distanziert von ihm. Für ihn trifft das Bild von der Gedankenfabrik nicht mehr ganz zu, denn er sieht, daß Gedanken von außen kommen, aus dem universalen Geist, oder aus der universalen Natur, manchmal gestaltet und klar, manchmal ungeformt, und dann empfangen sie irgendwo in uns Gestalt[*]. Die Haupttätigkeit unseres Geistes ist entweder die, diese Gedankenwellen, wie auch die vitalen Wellen, oder die Wellen subtil physischer Energie bejahend aufzunehmen oder abzustoßen, oder aber andererseits hat er dem Gedankenmaterial, oder den vitalen Bewegungen aus den umgebenden Naturkräften eine persönlich geistige Gestalt zu geben. Ich bin Vishnu Bhäskar Lele, dem Yogi aus Mahārāshtra, dafür zu großem Dank verpflichtet, daß er mir dies zeigte[*].

3. Die Realisation des Nirvāna

Die erste entscheidende Wende in meinem Leben verdanke ich einem Menschen, der, mir an Intellekt, Erziehung und Veranlagung weit unterlegen, spirituell keineswegs vollkommen oder überragend war. Da ich aber eine Kraft hinter ihm wahrgenommen und mich entschieden hatte, mich an ihn um Hilfe zu wenden, gab ich mich ganz in seine Hände und folgte der Führung mit automatischer Passivität. Er selbst war erstaunt und sagte zu anderen, daß er niemanden je zuvor getroffen habe, der sich so absolut und ohne Rückhalt und Fragen der Führung des Helfers auszuliefern vermocht hätte. Das Ergebnis war eine Folge von verwandelnden Erfahrungen so radikalen Charakters, daß er selbst nicht in der Lage war, denselben zu folgen, und er mußte mir sagen, daß ich mich mit der gleichen vollständigen Hingabe in Zukunft dem Führer in mir selbst anvertrauen solle[*].

«Setz dich hin und meditiere», sagte er, «aber denke nicht, schau deinen Geist nur an. Du wirst sehen, daß Gedanken in denselben hineintreten. Ehe sie eintreten können, wirf sie von deinem Geist zurück[*],bis er völliger Stille fähig wird.» Ich hatte nie zuvor davon gehört, daß Gedanken sichtbar von außen in den Geist eintreten, aber ich dachte nicht daran, diese Wahrheit oder Möglichkeit in Frage zu stellen, ich setzte mich einfach hin und tat es. In einem Augenblick[*] wurde mein Geist stille wie die windlose Luft auf dem hohen Gipfel eines Berges, und dann sah ich einen Gedanken, dann einen anderen in konkreter Weise von außen kommen. Ich warf sie zurück, ehe sie eintreten und das Gehirn mit Beschlag belegen konnten, und in drei Tagen war ich frei.

Von dem Augenblick an wurde das mentale Wesen in mir eine im Prinzip freie Intelligenz, ein universaler Geist, nicht mehr begrenzt in dem engen Zirkel persönlichen Denkens wie ein Arbeiter in einer Gedankenfabrik, sondern ein Empfänger von Wissen aus den hundert Reichen des Seins und frei, in diesem ungeheuren Königreich der Schau und des Gedankens zu wählen, was er wollte. Ich erwähne dies nur, um mit Nachdruck zu betonen, daß die Möglichkeiten unseres mentalen Wesens nicht begrenzt sind und daß der Geist freier Zuschauer und Herr in seinem eigenen Hause sein kann. Das bedeutet nicht, daß jedermann es auf die gleiche Weise und mit derselben Schnelligkeit der entscheidenden Bewegung tun kann wie ich, aber eine fortschreitende Meisterung und Freiheit des eigenen Geistes liegt durchaus innerhalb der Möglichkeit eines jeden, der den Glauben und den Willen dazu hat[*].

Das Nirvāna zu erreichen, das war also das erste radikale Ergebnis meines eigenen Yoga. Es warf mich plötzlich in einen Zustand oberhalb aller und ohne alle Gedanken, unbefleckt durch irgendeine mentale oder vitale Bewegung. Da war kein Ich, keine reale Welt. Nur wenn ich durch die unbeweglichen Sinne hindurchschaute, dann war da eine Welt leerer Formen, materialisierter Schatten ohne Substanz wahrzunehmen, hingelagert über die völlige Stille. Da war nicht das Eine oder gar das Viele, nur eben absolut Das, eigenschaftslos, beziehungslos, völlig, unbeschreiblich, undenkbar, absolut, gleichwohl zuhöchst real und allein real. Dies war kein mentales Vorstellungsgebilde, nichts von oben her Erlauschtes, keine Abstraktion, es war positiv, die einzige positive Realität, wenngleich nicht eine physische Welt im Raum, durchdringend, mit Beschlag belegend, oder vielmehr das überflutend und überschwemmend, was einer physischen Welt ähneln mochte, keinen Platz oder Raum lassend für irgendeine Realität außer sich selbst, nichts anderem erlaubend, überhaupt real, positiv oder substantiell zu scheinen.

Ich kann nicht sagen, daß etwas Erfreuendes oder Begeisterndes in dieser Erfahrung lag, wie sie damals auf mich zukam, was sie aber brachte, war ein unaussagbarer Friede, eine erstarren machende Stille, eine Unendlichkeit von Befreiung und Freiheit[*].

Man muß sich an den Gedanken gewöhnen, daß auch unter solchen Umständen die Möglichkeit, aktiv zu sein, besteht. In – diesem – Zustand der Leerheit führte ich die Geschäfte einer Tageszeitung und hielt im Laufe von drei, vier Tagen ein Dutzend Reden. Aber ich war es nicht, der das irgendwie zuwege brachte. Die Lebensenergie ließ den Leib die Arbeit tun, ohne jede innere Aktivität[*].

Ich lebte in jenem Nirvāna Tag und Nacht, ehe es andere Dinge in sich aufzunehmen begann, sich überhaupt modifizierte. Aber das innere Wesen dieser Erfahrung, die ständige Erinnerung daran und seine Fähigkeit sich immer wieder einzustellen, beharrte, bis es schließlich in ein größeres Überbewußtsein von oben her aufgenommen wurde[*].

4. Über das Nirvāna hinaus

Inzwischen aber fügte sich Realisation zu Realisation und verschmolz mit der ursprünglichen Erfahrung. Zu einem frühen Zeitpunkt wich der Aspekt einer illusorischen Welt einem anderen, in dem Illusion nur ein geringes Oberflächenphänomen ist, mit einer immensen göttlichen Realität dahinter und einer höchsten göttlichen Realität darüber und einer intensiven göttlichen Realität im Herzen eines jeden Dinges, das zuerst nur als kinomatische Form oder Schatten erschienen war. Und dies war keine neue Einkerkerung der Sinne, keine Verkleinerung, kein Fall von der Höhe einer höchsten Erfahrung. All dies kam vielmehr als ein ständiges Sichüberhöhen und Ausweiten der Wahrheit. Es war nun der Geist, der die Objekte sah, nicht die Sinne, und der Friede, die Stille, die unendliche Freiheit verblieben in der Welt oder allen Welten, und sie waren nichts als ein ständiges Ereignis in der zeitlosen Ewigkeit Gottes.

Das also ist die ganze Schwierigkeit, in der ich mich befinde, wenn ich zu der Lehre Stellung nehme, nach der die sichtbare Welt nur eine Täuschung der Sinne sein soll. Das Nirvāna hat sich in meinem befreiten Bewußtsein als der Anfang meiner Realisation erwiesen, als ein erster Schritt in Richtung auf das Vollkommene, nicht als das einzig Wahre, das möglicherweise erreicht werden kann, nicht als ein kulminierendes Finale etwa. Ungefragt kam es, ungesucht, wenn auch durchaus willkommen. Ich hatte zuvor nicht die geringste Vorstellung davon, ich hatte kein Verlangen danach, mein Verlangen ging in eine gerade entgegengesetzte Richtung, nämlich spirituelle Kraft zu erwerben, um direkt der Welt zu helfen und mein Werk in ihr zu tun. Gleichwohl, das Nirvāna kam, ohne auch nur ‹Darf ich eintreten›? oder ‹Gestatten Sie›? zu sagen. Es ereignete sich einfach und ließ sich wie für alle Ewigkeit nieder, oder wie wenn es tatsächlich immer schon da gewesen wäre. Und dann wuchs es langsam in etwas hinein, das nicht weniger, sondern größer als sein Anfang war. Wie also könnte ich die Lehre vom Scheincharakter der Welt annehmen, oder wie könnte ich mich dazu überreden, die Logik eines Shankara[*] gegen die Wahrheit aufzubieten, die mir selbst von oben her auferlegt worden ist?

Ich bestehe aber nicht darauf, daß ein jeder durch meine Erfahrung hindurchgehen müßte oder der Wahrheit zu folgen hätte, die ihre Konsequenz ist. Ich erhebe keinen Widerspruch, wenn jemand die Lehre vom Scheincharakter des Seins als seines Geistes und seiner Seele Wahrheit annimmt, oder als den Ausweg aus der Schwierigkeit des kosmischen Problems[*]. Ich erhebe nur Widerspruch, wenn jemand versucht, mir oder der Welt jene Lehre als die einzig mögliche, befriedigende und allumfassende Erklärung der Dinge die Kehle hinabzupressen. Denn das ist sie ganz und gar nicht[*].

Eines darf aber wohl nicht außer acht gelassen werden, daß nämlich diese Stille des Geistes immer die geforderte Bedingung, das desideratum ist; um sie aber zu erreichen, gibt es mehr als einen Weg. Es geschieht z.B. nicht nur durch eine Anstrengung des Geistes selbst, daß man frei wird von allen eindringenden Emotionen und Passionen, oder von den dem Geist selbst eignenden Vibrationen, oder von dem einnebelnden Rauch physischer Beharrung, die Schlaf und Trägheit des Geistes mit sich bringt statt jener wachen Stille, die weiß, daß die Sache getan werden kann. Das ist nämlich nur der übliche Prozeß des Yoga der Erkenntnis[*].

Es kann auch so geschehen, daß eine Herabkunft einer großen spirituellen Stille von oben her sich ereignet, die über Geist und Herz, über die Lebensimpulse und physischen Reflexe Ruhe ausbreitet. Eine plötzliche Herabkunft dieser Art, oder eine Reihe von Herabkünften, die einander an Kraft und Wirksamkeit verstärken, sind ein wohlbekanntes Phänomen spiritueller Erfahrung. Oder es mag andererseits so vor sich gehen, daß jemand einen Prozeß der einen oder der anderen Art zu einem Zweck beginnt, der normalerweise eine längere Anstrengung bedeuten würde, und er mag, sogar beim Einsatz selbst schon, von einer plötzlichen Intervention oder Manifestation der Stille ergriffen werden, mit einer Wirkung, die zu den bei Beginn aufgewandten Mitteln in überhaupt gar keinem Verhältnis mehr steht. Man beginnt mit einer Methode, aber das Werk wird von einer Gnade von oben her in die Hand genommen, von Dem, zu Dem man strebt, oder von einem Einbruch der Unendlichkeit des Geistes selbst. Auf diese letzte Weise bin ich zu der absoluten Stille des Geistes gelangt, völlig unausdenkbar für mich selbst, ehe ich die aktuelle Erfahrung hatte[*].

5. Die Stimme Gottes und die radikale Wende im Gefängnis

Als ich verhaftet und in Eile in das Gefängnis am Roten Markt geschafft wurde, da war mein Glaube für eine Weile erschüttert, denn in Gottes Herz und Absichten konnte ich nicht hineinschauen. Dort verzagte ich einen Augenblick und schrie in meinem Herzen zu Ihm hinaus: Was geschieht mir da? Ich glaubte, daß ich eine Mission hätte, für mein Volk und mein Vaterland zu wirken, und daß ich Deinen Schutz haben würde, bis das Werk getan sein würde. Warum denn bin ich unter einer solchen Anklage hier? Ein Tag verging und ein zweiter und ein dritter, dann sprach von innen her eine Stimme zu mir: ‹Warte ab›. Da wurde ich ruhig und wartete. Vom Roten Markt wurde ich nach Alīpur gebracht, und für einen Monat kam ich getrennt von Menschen in Einzelhaft. Da wartete ich Tag und Nacht auf die Stimme Gottes in mir, um zu wissen, was Er mir sagen wollte, um zu erfahren, was ich zu tun hätte. In dieser Abgeschlossenheit erfuhr ich die erste Realisation, die erste Belehrung. Ich erinnerte mich, daß einen Monat oder mehr vor meiner Verhaftung mich ein Anruf getroffen hatte, alle äußere Aktivität aufzugeben, in die Abgeschiedenheit zu gehen und in mich selbst hineinzuschauen, so daß ich in eine engere Gemeinschaft mit Ihm zu treten vermöchte. Ich aber war schwach und konnte dem Ruf nicht entsprechen. Mein Werk war mir sehr teuer, und im Stolz meines Herzens dachte ich, daß dasselbe leiden oder gar zusammenbrechen könnte, wenn ich nicht da sei, deswegen wollte ich es nicht lassen. Da sprach Er wiederum zu mir, so schien es mir, und sagte: «Die Ketten, die du zu zerbrechen keine Kraft hattest, habe ich für dich zerbrochen. Denn es ist nicht mein Wille, noch war es je meine Absicht, daß es so weitergehen sollte. Ich habe etwas anderes für dich zu tun, und dazu habe ich dich hierher gebracht, dich zu lehren, was du selbst nicht lernen wolltest, und um dich für mein Werk vorzubereiten.»

Dann legte er mir die Gītā[*] in meine Hände. Seine Kraft trat in mich ein, und ich war in der Lage, den religiösen Weg der Gītā auszuschreiten. Nicht nur intellektuell zu verstehen, sondern zu realisieren hatte ich, was Srī Krishna von Arjuna verlangt und was er von allen verlangt, die sein Werk zu tun streben, nämlich frei zu sein von Abneigung oder Wunsch, das Werk für Ihn zu tun, ohne des Werkes Frucht zu fordern, den Selbstwillen aufzugeben und ein passives und gläubiges Instrument in Seinen Händen zu werden, ein gleiches Herz zu haben gegen hoch und niedrig, Freund und Feind, Erfolg oder Mißerfolg, gleichwohl aber sein Werk nicht nachlässig zu tun. Ich begriff, was die Hindu-Religion überhaupt bedeutet. Ständig reden wir von der Hindu-Religion, der ‹ewigen Religion›[*], wenige unter uns wissen aber wirklich, was Religion ist. Andere Religionen sind vorwiegend Religionen des Glaubens und des Bekenntnisses, aber die ‹ewige Religion› ist das Leben selbst. Sie ist eine Angelegenheit, die nicht so sehr zu glauben als vielmehr zu leben ist. Das ist die Religion, die zum Heil der Menschheit in der Abgeschlossenheit dieser Peninsula seit alters wertgehalten worden ist. Diese Religion zu vermitteln, dazu erhebt sich Indien. Indien erhebt sich nicht, wie andere Länder es tun, um seiner selbst willen oder um die Schwachen niederzutreten, wenn es stark geworden ist. Indien erhebt sich, um das ewige Licht, das ihm anvertraut ist, über die Welt auszubreiten. Immer hat Indien für die Menschheit existiert und nicht nur für sich selbst und um der Menschheit willen, und nicht nur um seinetwillen muß es groß sein. Dies war darum das nächste, das Er mir zeigte. Er ließ mich die zentrale Wahrheit der Hindu-Religion begreifen [*].

6. Die großen Schauungen von Alīpur

Er wandte das Herz meiner Gefängniswärter mir zu, und sie sprachen zu dem Engländer, der dem Gefängnis Vorstand: Er leidet an seiner Einzelhaft, lassen Sie ihn wenigstens für eine halbe Stunde morgens und abends außerhalb seiner Zelle spazieren gehen. Das wurde verfügt, und während ich mich erging, geschah es, daß Seine Kraft wiederum in mich eintrat. Ich blickte auf das Gefängnis, das mich von den Menschen abschloß, aber ich war nicht mehr durch seine hohen Mauern gefangen, nein, es war Vāsudeva, der mich umgab. Ich ging unter den Zweigen des Baumes vor meiner Zelle auf und ab, aber es war nicht der Baum, ich wußte, es war Vāsudeva, es war Srī Krishna, den ich dort stehen und seinen Schatten über mich breiten sah. Ich schaute auf die Eisenstäbe meiner Zelle, auf das Eisengitter, das als Tür diente, und wiederum sah ich Vāsudeva. Es war Nārāyana[*], der mich bewachte und für mich Posten stand. Oder ich lag auf den rauhen Decken, die man mir als Bett gegeben hatte, und ich fühlte die Arme Srī Krishnas um mich, die Arme meines Freundes und Geliebten. Dies war die erste praktische Verwirklichung der tieferen Vision, die er mir gab. Ich blickte auf die Gefangenen im Gefängnis, auf die Diebe, die Mörder, die Schwindler, und wie ich sie ansah, da sah ich Vāsudeva, es war Nārāyana, den ich in diesen verdunkelten Seelen und geschändeten Leibern sah.

Als der Prozeß vor Gericht begann und wir vor den Richter gebracht wurden, folgte mir das gleiche innere Wissen. Er sagte zu mir: «Als du ins Gefängnis geworfen wurdest, verließ dich nicht dein Mut und schriest du nicht auf zu mir: Wo ist nun Dein Schutz? Blicke jetzt auf den Richter, blicke jetzt auf den Ankläger.» Ich blickte hin, und es war nicht der Richter, den ich sah, es war Vāsudeva, es war Nārāyana, der dort auf der Bank saß. Ich blickte auf den Ankläger, und es war nicht der Ankläger, den ich sah, es war Srī Krishna, der dort saß, es war mein Geliebter und Freund, der dort saß und lächelte: ‹Nun, fürchtest du dich?› Er sagte: «Ich bin in allen Menschen und beherrsche alle ihre Handlungen und Worte. Mein Schutz ist immer noch mit dir, und du sollst dich nicht fürchten. Diese Anklage, die gegen dich gebracht worden ist, belasse ganz in meiner Hand. Sie ist nicht deine Sache. Nicht wegen dieses Prozesses habe ich dich hierher gebracht, sondern zu einem anderen Zweck. Die Anklage selbst ist mir nur ein Mittel für mein Werk und nichts weiter.»

Als dann die Verhandlungen des Prozesses begannen, fing ich an, für meinen Verteidiger viele Instruktionen zu schreiben, was in den Aussagen gegen mich falsch sei und in bezug auf welche Punkte die Zeugen ins Kreuzverhör genommen werden sollten. Dann geschah etwas, das ich nicht erwartet hatte. Die Anordnungen, die für meine Verteidigung getroffen waren, wurden plötzlich geändert, und ein anderer Verteidiger stand für mich da. Er kam unerwartet, ein Freund, aber ich wußte nicht, daß er kommen würde. Ihr habt alle den Namen des Mannes gehört, der alle anderen Gedanken aus seinem Sinn schlug und seine gesamte Praxis im Stich ließ, der Tag für Tag, Monate hindurch die halbe Nacht aufsaß und seine Gesundheit opferte, um mich zu retten, Srījut Cittaranjan Das. Als ich ihn sah, war ich zufrieden, immer noch hielt ich es aber für notwendig, ihm Instruktionen zu schreiben. Auch das alles wurde dann aus meiner Hand genommen, und ich hatte von innen her die Botschaft: «Dies ist der Mann, der dich von den Schlingen befreien wird, die um deine Füße gelegt sind. Packe jene Papiere weg, du bist es nicht, der ihm Anweisungen geben wird, ich werde ihn anweisen.» Von da an sprach ich zu meinem Verteidiger nicht ein Wort über den Prozeß, noch gab ich ihm eine einzige Instruktion, und wenn mir einmal eine Frage gestellt wurde, dann fand ich jedesmal, daß meine Antwort der Sache nicht half. Ich hatte alles ihm überlassen, und er nahm es ganz in seine Hände, mit welchem Ergebnis, wißt ihr.

Während der ganzen Zeit wußte ich, was Er mit mir vorhatte, denn ich hörte es wieder und wieder, unablässig lauschte ich der Stimme von innen her: «Ich führe, darum fürchte nichts. Wende dich deinem eigenen Werk zu, um dessentwillen ich dich ins Gefängnis gebracht habe, und wenn du herauskommst, dann denke daran, nie dich zu fürchten, nie zu zaudern. Denke daran, daß ich es bin, der dies tut, nicht du oder irgendein anderer. Was für Wolken auch heraufziehen mögen, was für Gefahren, Leiden, Schwierigkeiten und Unmöglichkeiten sich dir auch entgegenstellen mögen, nichts ist unmöglich, nichts ist schwierig. Ich bin in der Nation und in ihrem Aufstehen, und ich bin Vāsudeva, ich bin Nārāyana, und was ich will, soll sein, nicht was andere wollen. Was mir heraufzuführen gefällt, kann keine menschliche Macht aufhalten[*].

7. Auf den eigenen Weg gestellt

Während dieser Periode wurde seine Lebensanschauung radikal gewandelt. Er[*] hatte Yoga mit der ursprünglichen Idee begonnen, spirituelle Kraft und Energie und göttliche Führung für sein Werk im – politischen – Leben zu gewinnen. Aber sein inneres spirituelles Leben hatte ständig an Weite und Universalität zugenommen und einen umfassenderen Platz eingenommen, es beanspruchte ihn jetzt völlig, und sein Werk wurde Teil und Frucht desselben. Außerdem griff es nun weit über den Dienst am Vaterland und dessen Befreiung hinaus und fixierte sich in einem Ziel, zuvor nur geahnt, das weltweit in seiner Bedeutung war und die gesamte Zukunft der Menschheit betraf[*].

Inzwischen war die Regierung entschlossen, sich Srī Aurobindos zu entledigen. Eines abends erhielt Srī Aurobindo in der Geschäftsstelle des Karmayogin[*] die Nachricht, daß die Regierung eine Haussuchung in der Geschäftsstelle durchzuführen und ihn zu verhaften beabsichtige. Wie er noch überlegte, wie er sich verhalten sollte, erhielt er plötzlich einen Befehl von oben her[*], nach Candernagor in Französisch-Indien zu gehen. Er gehorchte dem Befehl sofort, denn es war jetzt seine Regel, sich nur zu bewegen, wie er durch die göttliche Führung bewegt wurde, ihr niemals zu widerstehen noch von ihr abzuweichen. Er hielt sich nicht damit auf, sich mit jemandem zu besprechen. In zehn Minuten war er vielmehr am Flußufer und auf einem Schiff, das auf dem Ganges verkehrte. In wenigen Stunden war er in Candernagor. In Candernagor tauchte er ganz unter in einsame Meditation, und alle andere Aktivität hörte auf. Dann aber erhielt er den Anruf, sich nach Pondicherry zu begeben. Ein Boot mit einigen jungen Revolutionären aus Uttāpārā brachte ihn nach Kalkutta, wo er an Bord der ‹Dupleix› ging und Pondicherry am 4. April 1910 erreichte.

Die Praxis des Yoga absorbierte Srī Aurobindo in Pondicherry von dieser Zeit an mehr und mehr. Alle Teilnahme an irgendwelcher öffentlichen politischen Aktivität hörte für ihn auf, über Sitzungen des wiedererstandenen indischen Nationalkongresses zu präsidieren, lehnte er mehr als einmal ab, und er machte es sich zur Regel, von jeglicher Art öffentlicher Äußerung abzusehen, die nicht mit seiner spirituellen Aktivität verbunden war. Als seine Schau der Zukunft sich klärte, sah er, daß die schließliche Unabhängigkeit Indiens durch den Gang der Kräfte, deren er gewahr wurde, gesichert sei, daß Britannien durch den Druck des indischen Widerstandes und der internationalen Ereignisse gezwungen sein würde, die Unabhängigkeit zuzugestehen, daß Britannien sich bereits auf diese endliche Notwendigkeit hinbewegte, wie widerstrebend und zögernd auch immer. Er wurde überzeugt, daß ein bewaffneter Aufstand nicht mehr notwendig sei und daß dessen heimliche Vorbereitung nicht mehr betrieben zu werden brauchte, ohne der nationalen Sache zu schaden, während der revolutionäre Geist jedoch lebendig erhalten werden müßte und würde. Seine eigene persönliche Teilnahme an der Politik war darum nicht mehr unentbehrlich. Ganz abgesehen von dem allen aber, wurde ihm die umfassende Größe des spirituellen Werkes, das ihm aufgetragen war, klarer und klarer, und er sah, daß er notwendigerweise alle seine Energie darauf konzentrieren müsse. Als der Āshram dann entstand, hielt er denselben darum von allen politischen Verbindungen oder Aktionen frei. Die britische Regierung und zahlreiche andere konnten es freilich nicht glauben, daß Srī Aurobindo aller Politik entsagt hätte, und sie vermuteten, daß er insgeheim an revolutionären Aktivitäten teilhabe, ja sogar in der Sicherheit Französisch-Indiens eine Geheimorganisation schaffe. Das alles aber war reine Einbildung und Gerücht, nichts derartiges existierte. Sein Rückzug aus der politischen Tätigkeit war vollständig, genauso wie es sein persönliches Sichzurückziehen in völlige Abgeschlossenheit im Jahre 1910 war.

Das aber bedeutete nicht, wie die meisten annahmen, daß er sich auf irgendwelche Höhen spiritueller Erfahrung zurückgezogen hätte, ohne weiteres Interesse an der Welt oder am Schicksal Indiens. Das konnte es nicht bedeuten, denn das Prinzip seines Yoga selbst bestand ja nicht nur darin, Gott zu realisieren und ein vollkommenes spirituelles Bewußtsein zu erreichen, sondern eben auch darin, alles Leben und die gesamte Aktivität der Welt in den Skopus dieses spirituellen Bewußtseins und Handelns aufzunehmen und das Leben auf den Geist zu basieren und ihm einen spirituellen Sinn zu geben. In seiner Zurückgezogenheit beobachtete Aurobindo scharf alles, was in der Welt und in Indien geschah, und er griff immer, wenn es notwendig war, aktiv ein, dies jedoch nur mit einer spirituellen Kraft und einem stillen spirituellen Handeln. Denn es gehört zur Erfahrung derer, die im Yoga weit fortgeschritten sind, daß es außer den gewöhnlichen Kräften und Tätigkeiten des Geistes, des Lebens und des Leibes, alle auf die Materie bezogen, auch noch andere Kräfte und Mächte gibt, die aus dem Hintergrund und von oben her wirken können und tatsächlich auch wirken. Es gibt auch eine spirituelle dynamische Kraft, die die im spirituellen Bewußtsein Fortgeschrittenen besitzen können, wenngleich auch nicht alle Wert darauf legen, sie zu besitzen oder, wenn sie sie besitzen, zu gebrauchen, und diese Kraft ist größer und wirksamer als irgendeine andere. Diese Kraft war es, die er anwandte, sobald er sie erreicht hatte, zuerst nur innerhalb des begrenzten Feldes persönlicher Arbeit, später aber in ständiger Anwendung auf die Weltmächte. Er hatte keine Ursache, mit dem Ergebnis unzufrieden zu sein oder zu meinen, daß eine andere Art von Aktion erforderlich sei[*].

Faktisch jedenfalls weiß ich, daß ich durchaus nicht alle notwendigen Kräfte besaß, als ich begann, ich hatte sie durch Yoga zu entwickeln, viele von ihnen jedenfalls, die, als ich begann, in mir nicht existent waren, und die vorhanden waren, hatte ich auf einen höheren Grad hin zu entwickeln[*].

Wenn man aber Gott will, dann nimmt Gott es selbst auf sich, das Herz zu reinigen und die religiöse Disziplin zu entwickeln und die notwendigen Erfahrungen zu geben. Auf diese Weise kann es geschehen und geschieht es tatsächlich, wenn man Glauben und Vertrauen zu Gott hat und den Willen, sich ihm zu übergeben. Denn daß Gott das tut, schließt ein, daß man sich in die Hände Gottes legt, statt sich auf die eigenen Anstrengungen allein zu verlassen, und das wiederum heißt, daß man in einem fortschreitenden Sich-selbst-Geben seinen Glauben und sein Vertrauen auf Gott setzt. Das ist tatsächlich das Prinzip des religiösen Fortschrittes, dem ich selbst folgte, und es ist der zentrale Vorgang des Yoga, wie er mir vor Augen steht[*]

II. Das Durchbrechen der traditionellen Schranken

1. Die notwendige höhere Bewußtseinsstufe

Ich darf sagen, daß es ganz und gar nicht meine Absicht ist, irgendeine alte oder neue Religion für die Zukunft der Menschheit zu propagieren. Es gilt einen Weg zu öffnen, der noch blockiert ist, nicht eine Religion zu begründen, das ist meine Konzeption von der Sache[*].

Die Menschheit steht gegenwärtig in einer Krise ihrer Evolution, die Wahl ihres zukünftigen Schicksals liegt darin verborgen. Denn eine Entwicklungsstufe ist erreicht, auf der der menschliche Geist in gewissen Richtungen eine enorme Entwicklung erreicht hat, in anderen aber muß er verwirrt einhalten und kann seinen Weg nicht mehr finden. Der Mensch hat mit seinem ewig regen Geist und Lebenswillen für seine geistigen, vitalen und physischen Ansprüche und Bedürfnisse ein äußeres Lebensgerüst von nicht mehr beherrschbarer Ausdehnung und Komplexheit aufgerichtet, eine vielfältige politische, soziale, administrative, ökonomische, kulturelle Maschinerie, ein organisiertes kollektives Instrument zu seiner intellektuellen, sinnlichen, ästhetischen und materiellen Befriedigung. Der Mensch hat ein System der Zivilisation geschaffen, das zu mächtig geworden ist für seine begrenzte geistige Fähigkeit und sein Verstehen, zu mächtig für seine noch viel begrenztere spirituelle und moralische Fähigkeit, um es wirklich gebrauchen und lenken zu können, diesen nur zu gefährlichen Diener seiner nur auf Ausbeutung gerichteten Ichhaftigkeit und ihrer Begierden. Denn kein größerer schauender Geist, keine größere intuitive, erkennende Seele hat bislang die Oberfläche seines Bewußtseins durchbrochen, um diese elementare Fülle des Lebens überhaupt zu einer Möglichkeit freien Wachstums für etwas zu machen, das über dieses Leben hinausgriffe. Die Wissenschaft hat dem Menschen zugleich viele Potenzen der kosmischen Kraft zur Verfügung gestellt und hat das Leben der Menschheit materiell einheitlich gemacht. Der aber diese kosmische Kraft braucht, das ist das kleine, menschliche, individuelle oder gemeinschaftsgebundene Ich, das gar nichts Universelles in seinem Erkenntnislicht oder in seinen Bewegungen hat, keinen inneren Sinn und keine innere Kraft dazu, aus diesem physischen Zusammenrücken der menschlichen Welt eine wahre Lebenseinigkeit, eine Geisteinigkeit oder eine spirituelle Einheit zu schaffen. Was wir aber finden, ist nichts als ein Chaos sich bekämpfender mentaler Ideen, der Druck individueller und kollektiver physischer Notdurft und Bedürfnisse, vitale Ansprüche und Wünsche, die Impulse eines unwissenden Lebensdranges, der Hunger und Ruf nach Lebensbefriedigung der Individuen, Klassen und Völker, ein reicher Fungus politischer, sozialer und ökonomischer Kuren und Vorstellungen, ein aufgeregtes Wirrwarr von Schlagworten und Heilmitteln, – und dafür sind die Menschen bereit, zu unterdrücken und sich unterdrücken zu lassen, zu töten und sich töten zu lassen, um das alles irgendwie kraft der immensen und furchtbaren Mittel, die ihnen zur Verfügung stehen, aufzuzwingen, – und das in dem Glauben, daß dies der Ausweg sei, der Weg zu etwas Idealem. Die Evolution des menschlichen Geistes und Lebens, das ist das Notwendige, muß vielmehr zu einem zunehmenden Universalismus hinführen.

Ein Leben der Einheit, der Gemeinsamkeit und Harmonie, aus einer tieferen und umfassenderen Wahrheit des Seins herausgeboren, das ist die einzige Lebenswahrheit, die die unvollkommenen, intellektuellen Konstruktionen der Vergangenheit ersetzen kann.

Es ist ein solcher Wandel und eine solche Neuordnung des Lebens, die die Menschheit, blind noch, zu suchen beginnt, aber doch in der Gegenwart mehr und mehr mit dem Gefühl, daß nicht weniger als ihre Existenz daran hängt, daß der Weg dahin gefunden wird.

Ein vollkommen neues Bewußtsein in vielen Einzelnen, das ihr ganzes Sein verwandelt, ihr geistiges, vitales und physisches natürliches Selbst verwandelt, ist erforderlich, damit das neue Leben in Erscheinung treten kann. Nur eine solche Transformation des allgemeinen Geistes, Lebens, Leiblich-Natürlichen kann eine neue kollektive Existenz ins Leben rufen, die sich lohnt. Der Schwung der Evolution muß nicht nur darauf gehen, einen neuen Typus geistiger Wesen zu schaffen, sondern eine neue Ordnung von Wesen, die ihre gesamte Existenz von unserer gegenwärtigen vergeistigten Tierheit auf eine höhere spirituelle Ebene der Erdnatur gehoben haben[*].