Der junge Goedeschal - Hans Fallada - E-Book

Der junge Goedeschal E-Book

Hans Fallada

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Beschreibung

Das Frühwerk Falladas Dieser von Fallada als Pubertätsroman bezeichnete Band war die erste ernst zu nehmende Veröffentlichung des Autors, zu der dieser aber zeitlebens ein zwiespältiges Verhältnis haben sollte. Aus Verärgerung lies er sogar Restbestände der ersten Auflage aufkaufen und einstampfen. Das Buch hatte keinen Erfolg und es wurden kaum Tausend Exemplare verkauft. Fallada schrieb seinen ersten Roman unter dem Eindruck der Begegnung mit Egmont und Anne Marie Seyerlen. Zu Anne Marie hatte er auch ein erotisches Verhältnis und er widmete ihr diesen Roman. In einer expressiven und sprunghaften Sprache schildert Fallada die pubertären Nöte des jungen Kai Goedeschal, eines Beamtensohnes der wilhelminischen Epoche, der mit seinen Gefühlen und Wünschen bei seiner Umwelt kein Verständnis erntet. Null Papier Verlag

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Hans Fallada

Der junge Goedeschal

Ein Pubertätsroman

Hans Fallada

Der junge Goedeschal

Ein Pubertätsroman

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019 EV: Rowohlt Verlag, Berlin, 1920 (340 S.) 1. Auflage, ISBN 978-3-962813-56-7

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Inhaltsverzeichnis

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1

Wozu är­gern?, dach­te Kai und warf das Heft, das sich rasch zu­blät­ter­te, auf den Tisch zu­rück. All das ist Pau­ker­ge­schwätz oder Seich, Neid. Die eins gibt er mir! – Und dann sein Hohn? Wa­rum?

Er warf sich in den Lang­stuhl, brann­te eine Zi­ga­ret­te an. Den Rauch wol­kig aus­sto­ßend, dach­te er wei­ter: Im Grun­de hat er so un­recht nicht. Na­tür­lich war der Auf­satz stark be­ein­flusst. Aber mir das so auf­zu­ti­schen vor der gan­zen Bla­se von Kon­pen­nä­lern: »Eine wa­cke­re Leis­tung, Goe­de­schal, wir ha­ben Wil­de ge­le­sen. Gut nach­emp­fun­den« – dar­in lag die Ge­mein­heit!

Er stand un­ru­hig auf und zer­drück­te die Zi­ga­ret­te im Be­cher. Al­les Ein­boh­ren, Er­wä­gen half zu nichts, der Sta­chel blieb. Und es war um­sonst, sich ein­re­den zu wol­len, dass die­se zwei, drei Sät­ze von Tap­pert be­lang­los und zu­fäl­lig ge­we­sen sei­en. Eine ge­hei­me Feind­schaft hat­te aus ih­nen ge­klun­gen.

Kai Goe­de­schal fuhr hoch. Mit den Fin­gern sein Haar sträh­lend, ein we­nig Pose, sag­te er halb­laut: »Er hat mich de­mü­ti­gen wol­len. Als er die­sen Auf­satz las, den ich in ei­ni­gen Nacht­stun­den glü­hend und zit­ternd schrieb, spür­te er wohl die Auf­leh­nung: ich, Ober­se­kun­da, ein Name mit ei­ner grün­gol­de­nen Schü­ler­müt­ze, ver­stat­te­te ihm in et­was Ein­sicht, ohne zu­gleich zu be­mer­ken: ›Das ver­dan­ke ich Ih­nen.‹ Nein. In­dem er mei­nen ein­sa­men Wan­de­run­gen zu­schau­te, in de­nen nichts war als das Ra­scheln von Blät­tern, der Wind, ir­gend­wo oben in Bäu­men, manch­mal ein wei­ter Blick oder der Ton ei­nes je­ner Jagd­hör­ner, die Ei­chen­dorff so lieb­te, – fühl­te er, wie stark ich ab­lehn­te, was er, schwach, ver­fälscht, ver­wäs­sert ge­lehrt. Hier war Re­vo­lu­ti­on, Neu­land, Ei­ge­nes. Gab er mir un­ein­ge­schränkt die eins, er­kann­te er die­se Auf­leh­nung an. So schrie er: ich kenn das auch! Wie des Swi­ne­gels Fru: ick bin all do! – Na­ch­emp­fun­den! Wer hat ihn mehr, wer fühlt ihn tiefer: Tap­pert oder Goe­de­schal? Es ist und bleibt eine Schwei­ne­rei, dass es im­mer nur heißt: Leh­rer – Schü­ler, nie: Mensch – Mensch.«

Im Spie­gel fing Kais Blick die Be­we­gung der Lip­pen, wie sie sich un­ter den letz­ten Wor­ten aus­ein­an­der­tas­te­ten, wölb­ten. Er beug­te sich vor, Zit­tern stieg in ihm auf. Die­ses bei­na­he drei­e­cki­ge, gelb­li­che Ge­sicht, von vier, fünf ein­tö­ni­gen Li­ni­en um­zo­gen, war ent­färbt durch die Glut ei­nes brei­ten, selt­sam dem Zit­tern von Li­bel­len­flü­geln glei­chen­den Mun­des. Auf­ge­bo­gen, flei­schig aus den In­ner­lich­kei­ten des Lei­bes mün­dend, mit ei­nem fast blu­ten­dem Rot, des­sen Struk­tur an ro­hes, haut­lo­ses Fleisch mahn­te, bil­de­te er einen Ge­gen­satz zu der noch un­be­schrie­be­nen Lee­re der Ge­sichts­flä­chen, zu dem ver­schwim­men­den, un­si­che­ren Blick der Au­gen, einen Ge­gen­satz, den Kai dun­kel fühl­te. Ein plötz­li­cher Im­puls, den er erst in sei­nem Be­wusst­sein merk­te, als er ihm schon ge­folgt, ließ ihn den Zei­ge­fin­ger der Hand he­ben und deu­tend auf die­se Lip­pen wei­sen. So stand er sich selbst ge­gen­über, den ei­ge­nen Blick mei­dend, in die Be­trach­tung sei­nes Mun­des ver­sun­ken, der, eine fan­tas­ti­sche Blü­te, auf der Spit­ze sei­nes Fin­ger­na­gels zu tan­zen schi­en, blieb ste­hen, hob dann die Au­gen, be­geg­ne­te ei­nem Blick, der fremd und un­durch­dring­lich war, lach­te mit ei­nem Ach­sel­zu­cken ver­le­gen auf und trat ei­lig vom Spie­gel fort.

Im Stuh­le sit­zend, das Ge­sicht in den Hän­den ver­gra­ben, wäh­rend die Fin­ger in den Haa­ren wühl­ten, muss­te er un­ver­mit­telt an sei­ne Ber­li­ner Schul­zeit den­ken, nun drei, vier Jah­re zu­rück. Wie­der sah er sich, Un­ter­ter­tia­ner, ver­schüch­tert, scheu, kraft­los, ohne Ge­gen­wehr, zit­ternd in der grie­chi­schen Stun­de auf­ste­hen, vor­tre­ten, ir­gen­det­was de­kli­nie­rend, was er eben noch ge­wusst und schon völ­lig ver­ges­sen hat­te, stot­ternd, feh­ler­haft, ohne jede Mög­lich­keit, sei­ne Auf­merk­sam­keit der Ar­beit zu­zu­wen­den und die Bruch­stücke des Ge­wuss­ten wie­der­zu­fin­den. Denn da wa­ren die Au­gen der an­de­ren, im­mer­zu hin­gen sie an ihm, war­te­ten, der Blick des Leh­rers, den er seit­lich in sei­nen Schlä­fen, bren­nend in den Au­gen­höh­len fühl­te, war­te­te, er selbst, auch er war­te­te, bis dann das Schluch­zen kam, die Trä­nen, die lie­ben Trä­nen, jede grie­chi­sche Stun­de, bei je­der Fra­ge.

Er weiß, dass Wet­ten auf ihn ab­ge­schlos­sen wer­den, vor der Stun­de drän­gen sie ihn: »Goe­de­schal, nur heu­te ein­mal hal­te dich. Tu ihm nicht den Ge­fal­len.« Aber dann wie­der, wenn er vorn steht, er­höht, al­lein, be­lau­ert von al­len, dann spürt er dun­kel die Macht­lo­sig­keit al­len Weh­rens, er tut nichts dazu, ganz von selbst schon steigt es in ihm em­por, in sei­ner Keh­le ver­fängt es sich, sei­ne Fin­ger be­ben, und nun ist es da, und schon im Wei­nen selt­sam er­leich­tert, denkt er: Es ist wie­der da!

Kai Goe­de­schal fuhr hoch: »Kann ich nie ver­ges­sen? Ich will nichts mehr von je­nem Ber­li­ner Kai wis­sen. Wa­rum schmerzt das noch so frisch? Nein, ich wür­de heut nicht mehr wei­nen. Vi­el­leicht an­ders, an­ders und doch das Glei­che.«

In ru­he­lo­sem Auf und Nie­der such­te er ver­ge­bens die Quel­le zu fin­den, aus der die­se Ge­dan­ken ström­ten. Bren­nend wie einst glüh­ten die Au­gen, ver­zwei­felnd wie frü­her floh er die Spott­re­den der an­de­ren, die sei­ne ge­flick­ten Ho­sen ver­ach­te­ten. Der ge­füll­te Schul­hof, die Glo­cke in­mit­ten, – kein Fleck, wo Ruhe war. Aus den Gän­gen durch den Zu­ruf des Leh­rers ver­jagt, stand er wie­der drau­ßen, zit­ternd, be­merkt zu wer­den, schon be­merkt, schon ver­höhnt.

Er riss sich her­um. Dem Spie­gel nä­her tre­tend, ging er in sei­nem Ge­sicht je­ner Spur nach, die ihn zum noch nicht Ver­ges­se­nen ge­führt hat­te. Er fand sie nicht, er fand nicht den schmerz­li­chen Wi­der­spruch, der zwi­schen der Er­blüht­heit ei­nes flei­schi­gen Mun­des und dem trü­be Farb­lo­sen stets flie­hen­der Au­gen be­stand. Er zuck­te die Ach­seln.

»Wozu noch dar­an den­ken! Ich will nicht. Dort die Bäu­me. Stra­ßen. Men­schen. Fens­ter. So vie­les an­de­re zu be­den­ken.«

Sein Blick er­fass­te das Heft: »Ja so, der Auf­satz.« Er blät­ter­te. Aber nun, da er die­se Zei­len las, die schon durch ihre Far­be stra­fen­den, ro­ten Rand­be­mer­kun­gen des Leh­rers über­flog, schi­en all dies be­reits ver­staubt, lang vor­bei. »Im­mer­hin habe ich die eins. Wie­der ein­mal der Bes­te. Man kommt vor­an.«

2

Es klopf­te. Arne Schütt trat her­ein, groß, aus­ge­wach­sen, mas­sig ge­formt, und ging zum Lang­stuhl, in den er sich warf. Dann, wäh­rend er eine Zi­ga­ret­te an­brann­te: »Ser­vus, Kai. Was machst du?«

»Sieh da, Arne. Ich si­mu­lie­re, wie un­ser ge­mein­schaft­li­cher Freund Bie­der­mann sa­gen wür­de, über die Un­zu­läng­lich­keit des Le­bens.«

»Und?« Da Kai schwieg: »Wie­so? Wa­rum? Wes­halb?«

»Ach nichts, ich habe mich über Tap­pert ge­är­gert.«

»Nanu? Er lob­te dich über den grü­nen Klee.«

»Das ist’s ja gra­de. Du hast na­tür­lich wie im­mer nicht auf­ge­passt.«

»Bit­te. Bit­te.« Arne warf sein Ge­sicht vor, be­weg­te die Hän­de sal­bungs­voll durch die Luft und imi­tier­te ver­zerrt und faul: »Eine wa­cke­re Leis­tung, Goe­de­schal. Treff­lich nach­emp­fun­den. Was denn?«

»Du hast es ge­hört und fragst, warum ich mich är­ge­re?«

»Haupt­sa­che ist die eins.«

»Die eins ist be­lang­los, we­nigs­tens für mich. Den El­tern, Pau­kern und so wei­ter ist sie na­tür­lich die Haupt­sa­che. Aber …« Kai blieb am Fens­ter ste­hen, trom­mel­te ge­gen die Schei­ben und über­leg­te, wäh­rend er auf den von ei­nem Schnee­schau­er über­peitsch­ten Schmuck­platz sah, ob er nicht doch lie­ber schwei­gen soll­te. Aber die Lust zu spre­chen war grö­ßer als die klei­ne, im Hin­ter­grund lie­gen­de Hem­mung. »Ich sag­te vor­hin: Un­zu­läng­lich­keit des Da­seins, im Scherz. Nun wie­der­ho­le ich es ernst­haft.«

»Was hat das mit dei­nem Auf­satz zu tun?«

»Du wirst hö­ren.« Kai schwieg. Er dach­te nach, vie­les dräng­te. Um den Wor­ten mehr Ge­wicht zu ge­ben, bil­de­te er – un­be­wusst – am Mun­de zwei Fal­ten, die er dann doch gleich als ro­man­haft mar­kant är­ger­lich mit der fla­chen Hand fort­strich. Er spür­te auf den Lip­pen einen tau­ben Reiz und sag­te nun has­tig: »Hast du’s nicht schon ge­fühlt, mor­gens beim Auf­ste­hen, dass al­les so trost­los grau war? Schu­le, Schu­le, nicht ab­zu­se­hen, im­mer Schu­le, Ar­bei­ten, Pau­ker, dann die El­tern, nichts, nichts. Al­les war schon da, al­les so alt, so reiz­los. Du be­sinnst dich, du über­legst, was zu hof­fen sei, was neu­es. Du fin­dest nichts. Am Ende scheint es dir so sinn­los, dich über­haupt an­zu­zie­hen, wozu? Lebst du denn? Was ist das? Eine Ma­schi­ne, die rat­tert. Im­mer den glei­chen Gang. Du fasst die Stüh­le an, siehst dich im Spie­gel – al­les war schon da, wird so im­mer da sein. Und wäh­rend du dann am Fens­ter stehst, über­kommt es dich plötz­lich. Dei­ne Hand­ge­len­ke bren­nen. Von oben möch­test du sie in das spit­ze, split­tern­de Glas hin­ein­schla­gen, in die Puls­adern, so, so – nur da­mit du fühlst, am ro­ten Strö­men dei­nes Blu­tes fühlst: du lebst, lebst, lebst.«

Arne mach­te eine Be­we­gung, Kai rief has­tig: »Nein, jetzt nicht!« Er ging schnell auf und ab; dann ru­hi­ger: »Mehr: oder dann, abends, im Ein­schla­fen, wenn ich träu­me, ist es, als ob ein Schlei­er fällt und noch ei­ner und wie­der ei­ner. Ich ste­he auf den Ze­hen, drän­ge mich an die Luft, schmie­ge mich in sie hin­ein, nä­her, nä­her, ich zit­te­re. In den Fin­ger­spit­zen bebt schon die Nähe wär­me­rer Strö­me. Aber dann – dann ist ein Wi­der­stand da, nichts von au­ßen, in mir – nein, nein, auch nicht in mir, – ein Wi­der­stand, und gren­zen­los ent­täuscht sehe ich nichts als Schlei­er, Ne­bel, Ne­bel.«

»Das ver­schlei­er­te Bild von Sais, mein Lie­ber, das ha­ben wir alle ge­fühlt.«

»Wie falsch, o, wie falsch, was du sagst. Hat’s dich nie über­rascht, wenn du et­was re­de­test, ganz plötz­lich, sehr heiß: dies hast du doch nicht ge­sagt? Eben sprach doch et­was aus dir? – Oder – du liegst im Bett und dann merkst du ein war­mes Quel­len in der Nähe, du ahnst die Wär­me ei­nes an­de­ren Kör­pers und du duckst dich ganz hin­ein in dich, du wirst ganz klein, nur noch Kern und dei­ne Ner­ven­spit­zen ste­cken voll War­ten in der Dun­kel­heit und du war­test, du at­mest nicht, war­ten, war­ten … jetzt! Jetzt kommt es! – Du wirfst die ge­spreiz­ten Hän­de in die Luft – – – nichts! nichts! Es war wie­der nichts!«

Stil­le. Auf dem Gang drau­ßen Schrit­te, die nä­her­ka­men, an der Tür zö­ger­ten und wei­ter ver­hall­ten. Eine Tür klapp­te. Arne warf von der Sei­te einen ra­schen Blick auf den Freund und sah ver­le­gen fort.

»Aber das al­les ist nicht das Schlimms­te. Es gibt an­de­res. Grau­en­haf­tes. Hast du schon ein­mal die Au­gen der Leu­te an­ge­se­hen? Auf der Stra­ße? Alle Au­gen sind ge­stor­ben, sind tot. Es ist, als sei­en Häut­chen über sie ge­wach­sen. Manch­mal sehe ich mich voll Angst im Spie­gel an, voll elen­der Angst, auch mei­ne Au­gen könn­ten schon so sein. Dass ich falsch sehe, falsch se­hen muss. Nicht mehr das Le­ben se­hen kann. Und das ist es ja: es muss ja doch kom­men, muss doch. Das nun, das ist Frat­ze­rei, Ver­zer­rung, Tod. Und da, im War­ten baut man sich et­was, ein Stück Land, ein Fleck­chen Gar­ten, das ei­nem selbst ge­hört, in dem man zu Haus ist, das sagt: du lebst, du bist du.«

Arne sag­te, un­über­zeugt: »Ich ver­ste­he. So dein Auf­satz.«

Kai schwieg, dann wie­der stil­ler: »Als ich schrieb, wan­der­te ich drau­ßen in der Ein­sam­keit auf der Su­che. Ich stürm­te alle Hü­gel hin­an, zu mei­nen Fü­ßen ra­schel­te das ge­pan­ther­te Laub des Ahorn. Mei­ne Ein­sam­keit flog oben am Him­mel über mir als Ha­bicht. Ich war es, mein nä­he­res Le­ben wein­te, als ich mein Haupt zwi­schen Gun­der­mann und Schafgar­be am stau­bi­gen Gra­ben­rand schluch­zen ließ. Ich schäm­te mich, als ich den Auf­satz ab­gab. Nachts zit­ter­te ich, dass hier ein we­nig Wahr­heit, die ich nie bei an­de­ren fand, of­fen an den Tag trat. Sah ich sein blas­ses Ge­sicht mit dem spitz ver­schnit­te­nen Bart über die Ar­beit ge­beugt, press­te ich mei­ne Hän­de zu­sam­men, um nicht auf­zu­schrei­en. Dann gab er sie zu­rück. Es zuck­te in sei­nen Mund­win­keln, als er mich an­sah. Ich hät­te ihn er­schla­gen mö­gen, weil er wuss­te, es wuss­te.«

Er lehn­te den Kopf an die Schei­ben, er schwieg. Drau­ßen trieb der Ost­wind noch im­mer in schrä­gen Stri­chen Mil­lio­nen Schnee­flo­cken dem Bo­den zu. Kai folg­te ei­nem Kris­tall, bis es ir­gend­wo im Stru­del ver­schwand, seufz­te auf und wand­te sich wie­der zu Arne, der sprach: »Und was nennst du je­nes Le­ben, auf das du so war­test?«

Kai sag­te still: »Ich weiß es nicht.«

»Im Grun­de möch­test du nur raus, möch­test du nur was an­de­res. Die­ses hier lang­weilt dich, das ist al­les.«

»Et­was an­de­res, ja«, wie­der­hol­te Kai.

Nun war Arne im Fluss: »Ich will dir et­was sa­gen: du lebst zu al­lein. Ich weiß schon, die an­de­ren sind alle Pro­le­ten, mit de­nen kom­me ich dir auch gar nicht erst. Aber das: du hast dies Pech ge­habt mit dei­ner Krank­heit, gra­de als die Tanz­stun­de an­fing. Wä­rest du mit da­bei, wür­dest du nicht so re­den.«

Kai lä­chel­te: »Mag sein.«

»Nein, du brauchst nicht zu la­chen, ich mei­ne na­tür­lich nicht das Tan­zen, aber die jun­gen Mä­dels. So bist du zu al­lein. Du musst dich ver­lie­ben.«

»Geht das so auf Kom­man­do?«

»Du weißt nicht, wie schön das ist, Kai.«

»Du hast gut re­den. Wie soll ich das tun? Ich kann nicht zum nächs­ten jun­gen Mäd­chen auf der Stra­ße sa­gen: ›Mein gnä­di­ges Fräu­lein, ich lie­be Sie!‹«

»Na­tür­lich nicht. Aber komm mit in die Tanz­stun­de. Ich füh­re dich als Gast ein. Heu­te ha­ben wir großen Schluss­ball. Vi­el­leicht, dass du je­mand fin­dest.«

Und, als Kai schwieg: »Fräu­lein Rei­ser, mei­ne Dame, hat eine Freun­din, die dir ge­fal­len wür­de.«

»Wie heißt sie?«

»Ilse Lo­renz.«

»Ilse Lo­renz? Ist das nicht die Flam­me von Klotzsch? Ich habe so et­was ge­hört.«

»Ach, das ist ein­sei­tig. Ver­such dein Glück.«

»Es ist ver­rückt.«

»Gera­de dar­um.«

»Und schon heu­te Abend?«

»Ja, mach schnell. Du isst dann bei mir, und wir ge­hen zu­sam­men hin.«

»Muss ich mich um­zie­hen?«

»Bes­ser schon.«

Wäh­rend Arne in ei­nem Buch blät­ter­te und Kai sich um­zog, dach­te der: »Also das ist es: sich ver­lie­ben. Das ist die Arz­nei, die hel­fen soll. Du lie­ber Gott!«

Aber dann, als sie die ge­wun­de­ne, dunkle Trep­pe zur Die­le hin­ab­tas­te­ten, stieg eine Angst in ihm hoch: »Was tue ich? Flie­he ich vor mir? Ja, ich seh­ne mich nach Wär­me, aber kann die von au­ßen kom­men? Ach – viel­leicht über­haupt nicht von au­ßen, über­haupt nicht von an­de­ren. Vi­el­leicht liegt es an mir.«

Er at­me­te has­tig. Er flüs­ter­te: »Arne, nein, ich kann nicht, sei nicht bös.«

Der fass­te ihn am Arm: »Du hast Lam­pen­fie­ber. Das ver­geht schon.«

Es liegt am Le­ben, es liegt an den an­de­ren, dach­te Kai.

3

Auf dem Vor­platz glüh­te trüb fla­ckernd die miss­ver­gnüg­te Flam­me des Spar­bren­ners. Die auf­leuch­ten­de Hel­lig­keit des Glüh­strump­fes mach­te die bei­den zwin­kern. Im großen Spie­gel er­schie­nen ihre Ge­sich­ter fremd und weiß wie die von heim­li­chen Ver­schwö­rern.

Aus dem Zim­mer des Va­ters klang Kla­vier­spiel.

»Zieh dich im­mer an, Arne, du brauchst gar nicht erst her­ein­zu­kom­men, das dau­ert dann wie­der so lan­ge.«

Als Kai die Tür öff­ne­te, schlug ihm eine war­me, von Pfei­fen­knas­ter durch­duf­te­te Luft ent­ge­gen. Im Einat­men emp­fand er eine Feind­schaft ge­gen die­se Lau­heit, ge­gen die­ses ein­ge­zäun­te Da­heim­sein der El­tern, von dem er aus­ge­schlos­sen war, oben in sei­nem Zim­mer, das nicht sein war, in dem er zu Gast wohn­te. Hier wa­ren die bei­den zu­sam­men, hier spra­chen sie von Din­gen, an de­nen teil­zu­ha­ben für ihn nicht zu­läs­sig war. Hier war Ein­heit, Nichts-Wün­schen, Die-Welt-nicht-Brau­chen, Zu­sam­men­sein; dort oben Seh­nen, Fort­wol­len, Schluch­zen, Wei­nen, Be­geh­ren. Wei­ter vor­tre­tend grü­bel­te er tief un­ten in sich: »Sie ha­ben zu be­stim­men, und doch ist uns nichts ge­mein­sam.«

Sei­ne Mut­ter lag auf dem Sofa, stark, mit et­was hilflo­sen Zü­gen, und schrieb auf den an­ge­zo­ge­nen Ober­schen­keln mit sor­gen­vol­lem Ge­sicht einen Brief. Der Va­ter am Flü­gel un­ter­brach sein Spiel nicht, son­dern warf nur mit ei­ner klei­nen Kopf­dre­hung einen ab­war­ten­den Blick auf Kai.

»Ich bin nicht zum Abendes­sen da. Arne hat mich ein­ge­la­den. Wir wol­len Ma­the­ma­tik ar­bei­ten.«

»Komm nicht zu spät wie­der, Jun­ge, dass du mor­gen aus dem Bett fin­dest. Gute Nacht.«

»Gute Nacht.« Die Tür klapp­te, er lösch­te das Licht und folg­te Arne, der laut­los ge­war­tet hat­te, auf die Stra­ße.

Es hat­te auf­ge­hört zu schnei­en. Ein ei­si­ger Wind feg­te die Häu­ser­fluch­ten her­ab. In sei­nem Zuge klap­per­ten die Gas­la­ter­nen. Der zer­tre­te­ne, ko­tig zer­rin­nen­de Schnee hef­te­te sich schlei­mig an die Schu­he. Die Freun­de häng­ten sich in­ein­an­der ein.

»Ist es dir nicht manch­mal un­an­ge­nehm, so schwin­deln zu müs­sen?«

»Das schon. Aber was soll ich tun? Sie wol­len es ja nicht an­ders.«

»Da­bei sind dei­ne al­ten Herr­schaf­ten noch ganz ver­nünf­tig. Mei­ne erst! Auf drin­gen­den An­trag ge­ben sie mir jetzt fünf­zig Pfen­nig Ta­schen­geld in der Wo­che. Was ich da­mit tu!«

»Manch­mal ekelt das einen al­les an. Die­se Heim­lich­kei­ten, die­ses Lü­gen. Im­mer ein schlech­tes Ge­wis­sen. Aber es muss ja sein. Was ha­ben wir heut abend vor? Eine Harm­lo­sig­keit. Sie hät­ten’s ver­bo­ten. Sie ver­ste­hen uns nicht.«

»Sie wol­len nur nicht. Ich rech­ne­te mei­nem al­ten Herrn vor, was ich brauch­te. Er sag­te nur: ›Ich hab in dei­nem Al­ter durch Stun­den­ge­ben schon selbst ver­die­nen müs­sen.‹ Nu ja.«

Sie schwie­gen und gin­gen ra­schen Schrit­tes die halb­dunkle Stra­ße hin­un­ter, bei­na­he ge­trös­tet von dem Ge­fühl des Schrit­t­hal­tens, des Einss­eins im Ge­hen. Und doch hat­te die­ser Rhyth­mus et­was über­re­dend Weh­mü­ti­ges, in dem Kai tief und tiefer ver­schwamm. Die brei­ten Stäm­me der Pla­ta­nen mit ih­ren trü­ben, grau ver­wa­sche­nen Fle­cken stimm­ten ihn trau­rig. Ihre na­men­los frem­de Ge­bär­de, die­ses In-Stei­nen-Ver­wur­zelt­sein schi­en ihm doch ein we­nig Ver­wandt­schaft. Auch ih­rem Er­le­ben blie­ben die Din­ge des täg­li­chen Seins fremd. Ohne Vor­be­din­gung, durch Zu­fall hier ein­ge­pflanzt gilb­ten ihre Blät­ter som­mers wohl rasch in der im­mer wie­der zu­rück­ge­strahl­ten Ju­liglut der Stra­ßen. Wohl wur­de ihre Rin­de ab­ge­scheu­ert von den Schul­tern Vor­über­ge­hen­der, aber all die­ses Äu­ßer­li­che konn­te den Kern ih­res We­sens nicht strei­fen. Ihre trü­be in die Luft ge­steck­ten Zwei­ge wa­ren voll Vor­be­halt wie an je­nem ers­ten Tage, da sie aus den Baum­schu­len hier­her­ka­men. Moch­ten un­ter ih­ren brei­ten Zwei­gen die ras­seln­den Züge der elek­tri­schen Bah­nen brau­sen, moch­ten sich beim Dunk­ler­wer­den Paa­re von Lie­ben­den in ih­ren Schat­ten schmie­gen – sie un­ter­war­fen sich nicht die­sen Täu­schun­gen. Ihre nack­ten Zwei­ge spra­chen wie am ers­ten Tage von dem Be­ste­hen ei­nes wah­re­ren Le­bens. Sie sehn­ten sich. In ih­rem Splint­holz sang stei­gen­der Saft im Früh­ling von den Wie­sen­schaum über­wog­ten Wei­den, über die schwarz­bun­tes Vieh wan­delnd des Mit­tags in ih­ren Schat­ten drin­gen wür­de.

Halb hin­ge­ge­ben, brü­der­lich strei­chel­ten Kais Fin­ger die glat­te Scha­le tröst­li­chen Seins, das eine Be­ja­hung sei­ner Sehn­sucht war. Aber sie zuck­ten be­schämt zu­rück. Wie­der ein­mal über­fiel ihn die töd­li­che Angst, sei­ne Ge­füh­le zu ver­fäl­schen, un­wahr zu ma­chen, da­durch, dass er ih­nen nach au­ßen Gel­tung ver­schaff­te. Die strei­cheln­de Hand – sie war nur ein ver­lo­ge­nes, wi­der­li­ches Zerr­bild des­sen, was er wahr­haft ge­fühlt. Dass er die­sem Im­puls zu rasch ge­folgt war, das hat­te sein wah­res Ge­fühl ver­zerrt. Nein, nicht nach au­ßen durf­ten die Ge­dan­ken trei­ben. In ihm, tief drin muss­ten sie wach­sen wie Blu­men. Man durf­te das kei­men­de Sa­men­korn nicht be­ach­ten. Wol­ken muss­ten dar­über hin­wan­dern, Son­ne schei­nen, ei­nes Ta­ges auf­blü­hend war es viel­leicht stark ge­nug, das Äu­ße­re zu er­tra­gen.

»Du, Kai«, sag­te Arne.

»Ja, du?«

»Was mein­test du ei­gent­lich mit Jung­fräu­lich­keit?«

»Wie­so?«

»Ich er­in­ne­re mich, du hat­test in der Ein­lei­tung zu dei­nem Auf­satz ir­gen­det­was von ›jung­fräu­li­chem Ber­g‹ oder so ge­schrie­ben. Was mein­test du da­mit?«

»Ach so«, sag­te Kai und schwieg einen Au­gen­blick. Ganz recht, das konn­te stim­men. Er hat­te die Ein­lei­tung ir­gend­wo ab­ge­schrie­ben. Ko­misch, dass Arne noch dar­an dach­te. »Weißt du, ich habe mir ei­gent­lich nichts Be­son­de­res da­bei ge­dacht.«

»Na, ir­gen­det­was musst du doch da­mit mei­nen. Jung­fräu­li­cher Berg!«

»Ja, was denn? Jung­fräu­lich­keit, was soll das sein? Rein­heit, Un­be­rührt­heit oder so.«

»Das ist doch eine tol­le Schwei­ne­rei!« sag­te Arne.

Kai frag­te ver­ständ­nis­los: »Wie­so?«, dann schwie­gen sie wie­der.

Ihr Weg hat­te sie in hel­le und be­leb­te Stra­ßen­zü­ge ge­führt. Trotz des schlech­ten Wet­ters wa­ren vie­le Leu­te drau­ßen. Ihre Ge­sich­ter schie­nen selt­sam auf­ge­dun­sen, Lei­chen gleich, die im Was­ser ge­le­gen hat­ten, und alle mit ei­nem, nur ei­nem ein­zi­gen Aus­druck, den sie mit ei­ner ver­bis­se­nen Stör­rig­keit fest­hiel­ten. Aber auch zwi­schen ih­nen mein­te Kai brü­der­lich Ver­wand­te, nahe Freun­de zu ent­de­cken, die wie er ver­zwei­felt und rast­los »such­ten«. Was? – Das Le­ben, eben je­nes Le­ben, wie es sich ihre Verzweif­lung wär­mer, Haut an Haut träum­te. Ihre Au­gen, müde von vie­lem Um­her­schau­en, ge­reizt von zahl­lo­sen, un­ge­wein­ten Trä­nen, er­leuch­te­te im­mer von neu­em ein an­de­rer Aus­blick ih­rer al­ten Hoff­nung. Ihre Lip­pen schie­nen Ge­be­te zu mur­meln zu ei­nem Herrn, der sie nicht er­hö­ren wür­de. Die Be­we­gun­gen ih­rer stets ma­ge­ren Hän­de wa­ren zweck­los und selt­sam wie fan­tas­ti­sche Blü­ten, die man im Traum sieht. Aber Kai merk­te es wohl: jene Wei­ber mit den dunklen Schat­ten un­ter den Au­gen, die eine weh­mü­ti­ge Rück­nah­me der Ver­spre­chen wa­ren, die Haut und Lip­pen ga­ben, sie hat­ten kei­nen Blick für die­se Su­chen­den. Vi­el­leicht sehn­ten auch sie sich. Es muss­te süß sein, so ver­ach­tet zu wer­den wie sie und sich dann seh­nen zu dür­fen. Wäre er eine von ih­nen, er wür­de die Bli­cke der Ein­sa­men im Netz sei­ner Hin­ge­bung zu fan­gen wis­sen. Ja, die­ses eine: ver­ach­tet sein und ver­wor­fen, konn­te einen viel­leicht dazu brin­gen, ganz heiß zu lie­ben und ge­liebt zu wer­den.

Kai fuhr auf. Arne hat­te ge­grüßt, mit ei­ner über­trie­be­nen Gran­dez­za und ei­nem Lä­cheln, das die­ser Über­trei­bung Recht ver­lei­hen soll­te. Zu spät na­tür­lich griff Kai an sei­ne bun­te Pen­nä­ler­müt­ze. Im grel­len Schein der elek­tri­schen Lam­pen sah er noch ein wei­ßes, rein­li­ni­ges Pro­fil mit tief ge­senk­ten Wim­pern, einen blas­sen Mund und über all dem ein we­nig Schwer­mut aus­ge­brei­tet, wie es schi­en.

»Wer war denn das?«

»Ilse Lo­renz«, flüs­ter­te Arne auf­ge­regt.

Kai dreh­te sich um. Zwi­schen dem Ge­wühl sah er für einen Au­gen­blick die eher klei­ne Fi­gur des Mäd­chens, die brei­ten Hüf­ten und den ru­hi­gen, stil­len Gang der sich Ent­fer­nen­den. Ein Lä­cheln stieg in ihm hoch. Und wäh­rend Arne auf ihn ein­sprach, dach­te er: Das also ist sie! Wie ab­ge­schlos­sen! Wie fern! Wie fremd!

4

Auf sei­nem Zim­mer an­ge­langt, sag­te Arne: »Setz dich, ich zieh mich schnell um. Dort ste­hen Zi­ga­ret­ten.« Und wäh­rend er die Ja­cke ab­warf, frag­te er: »Wie ge­fiel dir Fräu­lein Lo­renz?«

»Gott, ge­fal­len, Arne! Ich habe ih­ren Rücken ge­se­hen!«

»Du musst na­tür­lich vor al­lem ver­su­chen, mit ihr in Berüh­rung zu kom­men. Heu­te ist der letz­te Ball, das geht also nur ein­mal. Weißt du nichts an­de­res?«

»Ach, Arne, viel Lust habe ich über­haupt nicht.«

»Hast du Angst?« frag­te Arne und sah ihn ge­macht spöt­tisch an.

»Angst, ach was! Aber was soll ich da? Was soll ich mit den Mäd­chen re­den? Lass mich aus!«

»Nein, mein Jun­ge, du kommst mit. Im­mer klagst du über Lan­ge­wei­le, aber du tust nur nichts da­ge­gen.«

»Du sagst ja selbst, es wird nichts. Oder glaubst du, sie fliegt mir beim ers­ten Mal um den Hals?« Lei­ser da­nach: »So bin ich doch nicht.«

»Lass nur, ich fin­de schon et­was. Du musst na­tür­lich mit Klotzsch und Leh­mann, ih­ren Ver­eh­rern, fer­tig wer­den, aber das wird schon.«

»Wenn ich nun aber doch nicht mag!«

»Ich bit­te dich, Kai!«

»Was hast du da­von?«

»Ich kann das nicht an­sehn, du ver­dummst ja in dei­nem Al­lein­sein. Du weißt ja von nichts. Von nichts hast du eine Ah­nung.«

Arne sag­te das in ei­nem be­son­de­ren Ton, eine leich­te Röte stieg in sei­ne Wan­gen, und er sah rasch von Kai fort.

»Was meinst du?« frag­te der has­tig, »von was habe ich kei­ne Ah­nung?«

Arne schwieg. »Nein, nun sprich«, wie­der­hol­te Kai.

»Ach, ich mein­te nichts Be­son­de­res. Du weißt eben nichts von der Welt, von den Men­schen.« Dann lang­sa­mer: »Nichts von den jun­gen Mäd­chen.«

Kai zuck­te mit den Ach­seln: »Ich weiß schon ge­nug. Das al­les ist doch ein Blöd­sinn, die­ses Ver­lie­ben. Hei­ra­ten könnt ihr ja doch nicht.«

»Und warum nicht, bit­te, lie­ber Kai?«

»Willst du dein Fräu­lein Rei­ser hei­ra­ten? Oder meinst du, ich mein Fräu­lein Lo­renz? Da glaubst du selbst nicht dar­an.«

»Re­den wir von et­was an­de­rem«, sag­te Arne, »du ver­stehst mich nicht oder willst mich nicht ver­ste­hen. Es geht doch wahr­haf­tig nicht ums Hei­ra­ten.«

»Son­dern?«

»Ach was, jetzt lass die Sa­che in Frie­den. Du kommst eben mit.«

»Mei­net­hal­ben«, sag­te Kai und dann, spöt­tisch: »Zum Hei­ra­ten.«

Sie schwie­gen. Kai sah ge­dan­ken­voll über ein Dach fort in den dunk­le­ren Him­mel. Was er mit Arne ge­re­det, hat­te ihn kaum ge­streift, tiefer drin­nen saß je­nes halb er­schau­te, hel­le Mäd­chen­pro­fil, ihm da­durch nä­her­ge­bracht, dass er noch heu­te Abend hin­ge­neigt zu ihm spre­chen wür­de. Heu­te Abend, noch heut abend. Heu­te Abend et­was an­de­res, nicht die­se sel­ben Ti­sche, Stüh­le, Tep­pi­che, Schrän­ke, Bü­cher, nicht die Ge­sich­ter der El­tern, son­dern die er­hell­te Wei­te ei­nes Tanz­saa­l­es. Er lä­chel­te, aber sein Lä­cheln zer­ging, als er dar­an dach­te, dass er wür­de spre­chen müs­sen. Was sa­gen? Was tun? Er sah sich im Kreis der an­de­ren ste­hen: nun soll er re­den, aber er schweigt, er fin­det die Wor­te nicht, eine glü­hen­de Hit­ze steigt von den Fü­ßen in ihm auf, flo­cki­ger Ne­bel durch­zieht sein Ge­hirn, der die Wor­te sinn­los ge­trennt in der Luft hän­gen lässt, und dann ist nur ein Bild da, ein Bild: ihr stump­fes Pro­fil, blass, weiß, mit den schma­len, kaum ge­röte­ten Lip­pen. Kai räus­pert sich, er setzt an, er will sa­gen: »Arne, ich gehe nicht«, aber er schweigt. Denn so er­schre­ckend die­ses Ge­sicht dort in der Luft hängt, so süß ist doch auch sein An­blick. Nun, wenn er auch schweigt, er wird nahe sein, so nahe. Und dann ist das an­de­re da, das Zu­haus, das trü­be Zim­mer, der end­lo­se Abend, mit tau­send glei­chen vor­her, tau­send glei­chen da­nach, grau, ab­ge­grif­fen, trost­los. Nein, nur das nicht, bes­ser al­les an­de­re als dies. »Ich bin ja gar nicht an­ders wie die an­de­ren. Ich bin nur schüch­tern. Nur dies­mal, weil es das ers­te Mal ist.«

Es klopf­te. Wer­ner Klotzsch trat her­ein: »Was, noch nicht fer­tig? Höchs­te Ei­sen­bahn!«

»N’A­bend, Klotzsch, im­mer lang­sam vor­an, wir kom­men noch Zeit satt.«

Klotzsch trat zum Schreib­tisch, stö­ber­te in den Bü­chern: »Noch nicht Ho­mer prä­pa­riert?«

»Brau­chen wir gar nicht«, sag­te Arne, »mor­gen schrei­ben wir vier Stun­den Ma­the­ma­tik. Vor­her Sal­lust. Also?«

»Hab ich gar nicht dran ge­dacht.«

»Ein schlim­mer Tag für euch bei­de«, mein­te Arne.

»Ich bin fein raus«, lä­chel­te Klotzsch über­le­gen, »Leh­mann gibt mir die Lö­sun­gen.«

»Leh­mann? Aus­ge­rech­net Leh­mann«, frag­te Arne, »dein Ne­ben­buh­ler? Wie das?«

»Ich hab ihm einen Tanz mit Fräu­lein Lo­renz da­für ab­ge­tre­ten.«

Kai und Arne lach­ten, end­los und ein we­nig über­trie­ben. »Du bist gut«, rief Arne.

»Das grenzt an Mäd­chen­han­del«, sag­te Kai und zog sei­nen Mund über­le­gen breit.

»Fin­det ihr es schlimm?« Klotzsch wur­de ängst­lich.

»Nein, nein, nur ge­ni­al.«

»Ob ich es rück­gän­gig ma­che?«

»Um Got­tes wil­len! Lass es so, was soll wohl aus dei­ner Ma­the­ma­tik­ar­beit wer­den? Ich habe schon Kai auf dem Hals.«

Kai fuhr hoch, sah Arne an: »Ich ver­las­se mich auf dich.«

»Darfst du, darfst du, um ein halb zwölf ste­cke ich dir die Re­sul­ta­te zu.«

Ent­schul­di­gend sag­te Kai: »Es ist zu dumm, dass ich in Ma­the­ma­tik so min­der­be­gabt bin, aber ich kann mir die größ­te Mühe ge­ben, ich ka­pie­re nichts. Und noch eine Fünf geht we­gen der Ver­set­zung nicht.«

»Ich hel­fe dir ja schon«, wie­der­hol­te Arne. Eine Wei­le schwie­gen sie, dann frag­te Arne wie­der: »Sag ein­mal, Klotzsch, wer steht ei­gent­lich mit Fräu­lein Lo­renz bes­ser, du oder Leh­mann?«

»Nun ich, selbst­ver­ständ­lich.«

»Ich fin­de das gar nicht so selbst­ver­ständ­lich.«

»Nun, ich bin doch oft mit ihr im Wan­der­vo­gel zu­sam­men. Wir nen­nen uns doch auch du und so.«

Arne warf auf Kai einen Blick, aber der schwieg, und so sag­te denn Arne mit viel Be­deu­tung: »Bist du nun ei­gent­lich auch schon im Wan­der­vo­gel, Kai?«

Kai fuhr auf: »Ich? Wie­so? Ach so, ja na­tür­lich. Hast du mich nun end­lich an­ge­mel­det, Klotzsch?«

»Ich dich? Aber nein!«

»Wie oft soll ich dich denn noch bit­ten?«

»Du in den Wan­der­vo­gel? Nie hast du auch nur ein Wort da­von ge­sagt! Nur ge­schimpft hast du drauf.«

Arne griff ein: »Ich sel­ber bin da­bei ge­we­sen, wie dich Kai auf dem Hof dar­um bat.«

Klotzsch sah zwei­felnd von ei­nem zum an­de­ren. »Soll­te ich das über­hört ha­ben?«

»Aber na­tür­lich.«

Kai frag­te: »Willst du es nun er­le­di­gen oder nicht?«

»Ja, aber ge­wiss doch. Nur ver­ste­he ich nicht …«

»Gott, ich will ein­mal se­hen, was ihr treibt. Aber bald, ja?«

»Selbst­ver­ständ­lich. Gleich mor­gen.«

Dann zum Es­sen. Arne und Kai das Ge­sicht leicht ge­rötet vom Wi­der­schein ei­nes Tri­um­phes, den sie ver­schwie­gen und schlau über ih­ren Ge­fähr­ten er­run­gen hat­ten und der ih­nen der Vor­läu­fer wei­te­rer Int­ri­gen zu sein schi­en.

5

Gleich am Ein­gang des Saals ver­lor Kai sei­ne Freun­de. Zu spät ge­kom­men, hat­ten sie ihn so­fort ver­las­sen, um ihre Da­men zu su­chen. An eine Säu­le ge­lehnt sah Kai ih­nen nach, ver­lor sie aus den Au­gen, und nun war nichts mehr da als die flat­tern­den wei­ßen und bun­ten Mull­klei­der der Mäd­chen. Eben be­gann der Kla­vier­spie­ler einen Wal­zer, und wie sie dort am Arme ih­rer Tän­zer da­hin­flo­gen, schie­nen sie Kai frem­de, rät­sel­haf­te Blu­men, de­nen er nie nah­kom­men wür­de. Ver­ge­bens such­te er ihre Ge­sich­ter zu er­ra­ten, die­se Ge­sich­ter aus Weiß, Rosa und Rot mit den im­mer an­de­ren Stri­chen der Au­gen­brau­en, er kam ih­nen nicht nä­her. Sie schie­nen ei­ner frem­den Gat­tung an­zu­ge­hö­ren, die Nase schloss wie ein auf­ge­setz­tes Ge­wicht nicht zu ent­de­cken­de Heim­lich­kei­ten in die Run­dung des Kop­fes ein. Kai frag­te sich, ob auch die­se wirk­lich »Men­schen« sei­en, und ir­gend­wie un­ru­hig und be­drückt ent­schied er, dass sie in nichts den Be­kann­ten und Freun­den gleich­ge­stellt wer­den könn­ten, son­dern un­ver­wandt wie Tie­re oder Bäu­me sei­nen Bli­cken die un­durch­dring­li­che Starr­heit ih­res An­derss­eins ent­ge­gen­hiel­ten.

Er seufz­te, ab­weh­rend tas­te­ten sei­ne Hän­de zur Höhe des Ge­sich­tes em­por, fie­len her­ab, aber die­se Be­we­gung schon brach­te ihm Er­leich­te­rung, und nun such­te er Nä­he­res un­ter den Tan­zen­den und fand Klotzsch. War das Ilse? Nein, sie war es nicht, ir­gend­je­mand an­de­res, et­was Stum­mes, das nicht zu ihm sprach mit ei­nem mat­ten Pro­fil und ei­nem selt­sam un­be­wuss­ten Schwin­gen der Hüf­ten. Wer­ner lä­chel­te, lach­te, re­de­te, er ge­hör­te die­ser Stun­de ganz, das Mor­gen däm­mer­te noch nicht auf, und das So­eben war ab­ge­tan. Kai dräng­te es, als müss­te er sich von sei­ner Säu­le fort­he­ben und zu Klotzsch tre­tend ihm al­les sa­gen, al­les, alle De­mü­ti­gun­gen, die ge­we­sen wa­ren, die kom­men wür­den.

»Wie sie schwat­zen und la­chen! Sie wis­sen nicht mehr, dass ein Mor­gen da ist und vor dem Mor­gen eine Nacht, wach im Bett, zu heiß, zu heiß, trü­be, ge­pei­nigt, voll Scham. Was ha­ben sie zu re­den? Was ist da, wor­über man la­chend re­den kann? Ha­ben sie ver­ges­sen, dass es drau­ßen friert, dun­kel, grau­en­haft, ein­sam ist?«

Ja, es gab Stra­ßen, an­ge­füllt mit Men­schen, aber ihre Be­we­gun­gen wa­ren frem­der als die Äste der Bäu­me, und wenn sie lach­ten, klang es, dass man die Ohren ver­schlie­ßen, die Au­gen zu­pres­sen muss­te, um nicht zu wei­nen. Das war es. Man muss­te sie has­sen, um ih­rer Ge­dan­ken­lo­sig­keit wil­len sie has­sen, die so laut und fröh­lich sein konn­ten. »Tie­re! Tie­re!«

»Dort, Arne! Sieh da, sei­ne Dame! Si­cher ist das Fräu­lein Rei­ser, be­stimmt. O, sie plau­dern. Wie ru­hig, wie ver­bind­lich, wie er­ha­ben lä­chelnd! Arne, du, wie kannst du so lä­cheln! Du dort oben und ich. Ach, auch er ist mir weg­ge­nom­men, ich ste­he hier al­lein an mei­ner Säu­le. Ich will ih­nen nach­se­hen, ihn im­mer an­se­hen, er soll mich nicht ver­ges­sen, soll zu mir her­über­schau­en. Ich will es. Ich will es. Vor­bei. Gleich kommt er wie­der. Ich will es. Nein, auch die­ses Mal nichts, ihr seid alle fort, alle fort. Soll ich ge­hen, soll ich kehrt­ma­chen und ge­hen? Ich has­se euch! Has­se euch alle! Wie die Müt­ter schwat­zen! Was ste­cken sie die Köp­fe zu­sam­men und ma­chen sich über die Un­ge­schick­ten lus­tig! Ich has­se euch alle, alle! Ich möch­te aus­spu­cken vor euch.«

Kai dreh­te sich um und trat hin­ter die Säu­le. Ein großer Spie­gel warf ihm mit der Ges­te ei­nes über­le­ge­nen Ta­schen­spie­lers sein Bild ent­ge­gen. Er blieb ste­hen. Ja, er war or­dent­lich an­ge­zo­gen, nur der Schlips saß schief. Und wäh­rend er ihn zu­recht­zog, prüf­ten sei­ne Bli­cke das Ge­sicht. Es war nichts dar­in von dem, was er dach­te. Es war blass wie im­mer. Der Mund mit den Wulstlip­pen sah fremd aus. Die Au­gen hin­ter den Glä­sern wa­ren matt wie stets. Er konn­te ru­hig mit ei­nem sol­chen Ge­sicht hin­ge­hen und die Ilse dem Klotzsch aus­span­nen. »Na­tür­lich muss ich et­was Ver­bind­li­ches sa­gen. Was sagt man in sol­chen La­gen nur? Et­was Geistrei­ches, es wird sich schon fin­den, be­stimmt. Es wird sich nicht fin­den. Ach, al­les ist gleich. Wozu sich Mühe ge­ben? Mag sie mit ih­rem Klotzsch glück­lich wer­den und ihn küs­sen.«

In plötz­li­cher Wut schrie er sich ins Ge­sicht: »Knutscht euch ab, ihr Schwei­ne!«

Und mit ei­nem ra­schen Blick in den Spie­gel frag­te er sich, ob die­se Lip­pen wür­den küs­sen kön­nen. Er ver­such­te es. Er dach­te an jene Küs­se, die er sei­nen El­tern vor dem Schla­fen­ge­hen gab, und form­te nach ih­nen sei­nen Mund. Es war lä­cher­lich. Das göt­zen­ar­tig un­be­wegt ge­blie­be­ne Ge­sicht ver­höhn­te sein Be­mü­hen. Un­ter ei­ner tie­fen Ent­mu­ti­gung sei­nem Bil­de nä­her­tre­tend, form­te er kaum ge­trennt von je­nen Lip­pen, die den Wi­der­schein der sei­nen be­deu­ten soll­ten, lei­se und ge­hauch­te Wor­te, de­ren hei­ße­rer Atem sei­ne See­le zu ver­brü­hen schi­en: »Mund, du dort. Ge­sicht, du da. Ihr seid nicht mein, ihr ge­hört mir nicht, ich ver­leug­ne euch. So wie eue­re Un­be­weg­lich­keit und rät­sel­haf­te Ver­fär­bung mei­ne Ge­dan­ken zu Lü­gen ma­chen möch­ten, so leug­ne ich auch euch ab. Ihr seid un­wahr. Ich darf nicht sa­gen, was ich füh­le.«

Der Mund schloss sich. Nach­strö­men­der Atem trenn­te noch ein­mal die Lip­pen, de­ren tro­ckene und glat­te Haut an­ein­an­der­haf­ten zu wol­len schi­en. Kai wand­te sich ab. Plötz­lich be­merk­te er, dass die rhyth­misch ge­häm­mer­ten Wal­zer­tö­ne die gan­ze Zeit hin­durch in sei­nem Ohr ge­klun­gen hat­ten, auf­hor­chend fühl­te er sie nun wie ent­span­nen­de Kraft­lo­sig­keit den Rücken hin­a­brie­seln und pri­ckelnd sich in die Hüf­ten ver­zwei­gen. Sein im Saa­le su­chen­der Blick leuch­te­te auf.

»Mein Gott, nein, dort sitzt die Ilse Lo­renz. Wie blass sie ist! Ob sie nie rö­te­re Ba­cken hat? Wie fremd! Ob man sie lie­ben könn­te? Wie ist das, ihr nah zu sein?«

Der Tanz ist zu Ende ge­gan­gen. Die Her­ren füh­ren die Da­men zu ih­ren Stüh­len. Es wird plötz­lich ganz laut. Die Fä­cher flat­tern, wie lau­ter Tau­ben.

»Ich glau­be, ich muss jetzt zu Arne ge­hen. Nein, ich kann nicht. Ich will hier al­lein an mei­ner Säu­le blei­ben. Hier ver­las­sen, ge­nie­ße ich das Fest. Jah­re spä­ter wer­de ich in die­sen Se­kun­den glück­lich ge­we­sen sein. – Wo steht denn Arne über­haupt? Ah dort, er spricht mit Fräu­lein Rei­ser. Nun winkt er mir. Nein, ich habe das Win­ken nicht ge­se­hen. Wie glatt das Par­kett ist! Si­cher fal­le ich. Wenn ich doch zu Haus wäre, in mei­nem dunklen Zim­mer. Es ist Wahn­sinn, hier zu sein. Was la­chen die bei­den al­ten Wei­ber? Sie la­chen über mich. Na­tür­lich! O, ich woll­te … Was soll ich nur sa­gen, was soll ich in al­ler Welt den bei­den Mä­dels nur sa­gen, ich habe nicht ein Wort zu re­den.«

»Mein Freund Kai Goe­de­schal – Fräu­lein Ire­ne Rei­ser, Fräu­lein Ilse Lo­renz. Nun, hat dir un­se­re Tan­ze­rei ge­fal­len?«

»O ja, sehr.«

Fräu­lein Rei­ser wand­te ihre stil­len Au­gen Kai zu und frag­te: »Wird es Ih­nen nicht schwer, Herr Goe­de­schal, so ganz zu­zu­schau­en, wäh­rend wir an­de­ren tan­zen?«

»Nun ja, ei­gent­lich nicht so sehr.«

»Du schwin­delst ja, Kai.«

Und Klotzsch, der ne­ben Ilse stand, rief: »Na­tür­lich schwin­delt er, bren­nend gern möch­te er mit­tan­zen.«

Kai stieß her­vor, er­zürnt und ge­schwächt, sich so in die Enge ge­trie­ben zu se­hen: »Nun, du bist wohl nicht der Rich­ti­ge, das zu be­ur­tei­len.«

Schwei­gen. Vor Kais Au­gen stieg die Vi­si­on des tro­ckenen, mit Kies be­streu­ten Schul­hofs auf. Wenn sie dort in den Pau­sen zu Grup­pen ver­ei­nigt her­um­stan­den, bil­de­te die­se Art Ge­sprä­che, mit ih­ren ge­reiz­ten, ste­ri­len Ant­wor­ten, ih­rem nur Ab­wei­sen-Wol­len das Ge­mein­gül­ti­ge. Aber hier! Schon steck­ten die Mäd­chen die Köp­fe zu­sam­men und mach­ten sich über ihn lus­tig. Vor Scham und Schmerz press­te er die Fin­ger­nä­gel tief in die Hand­flä­chen.

Fräu­lein Rei­ser sag­te: »Mei­ne Freun­din Ilse sagt mir eben, dass Sie Ih­nen je­den Mor­gen be­geg­net, Herr Goe­de­schal, wenn Sie ins Gym­na­si­um ge­hen.«

»Ja, Herr Goe­de­schal ist so pünkt­lich. Wenn ich ihn noch in der Bülow­stra­ße1 tref­fe, weiß ich, dass noch viel Zeit ist. Aber beim Tref­fen in der Ober­stra­ße muss ich sehr ei­len.« Ihr Blick ruh­te auf ihm, der Klang ih­rer Stim­me schi­en sich in sei­ner Ohr­mu­schel ver­fan­gen zu ha­ben und dort nach­zu­tö­nen, tief und voll, wie er aus ih­rer Brust kam. Zu­sam­men­schre­ckend be­merk­te Kai die Bli­cke, die auf ihm ruh­ten, und er­in­ner­te sich, dass er wür­de ant­wor­ten müs­sen.

»Ist das nicht ein Irr­tum, gnä­di­ges Fräu­lein? Sie sind mir nie auf­ge­fal­len.«

Sie lach­ten. Arne frag­te fröh­lich: »Sehr höf­lich bist du nicht, Kai.«

Klotzsch rief: »Be­dan­ke dich für das Kom­pli­ment, Ilse!«

»Sie müs­sen ent­schul­di­gen, gnä­di­ges Fräu­lein, ich bin so sehr kurz­sich­tig. Und dann – dann – ich sehe nicht gern die Leu­te auf der Stra­ße an und mag nicht, dass sie mich wie­der an­se­hen.«

Die an­de­ren lach­ten schon wie­der. Kai warf einen ra­schen Blick auf das Kla­vier, aber der Spie­ler un­ter­hielt sich noch mit dem Tanz­leh­rer. Fing es denn nie wie­der an?

»Sie dür­fen mich nicht falsch ver­ste­hen. Ge­gen den ein­zel­nen habe ich gar nichts. Aber dies ge­gen­sei­ti­ge Sich­be­ob­ach­ten, Prü­fen, Mes­sen ist schreck­lich. Dies Ge­fra­ge mit den Au­gen: Wer bist du?«

»Ich mag das ge­ra­de gern«, rief Klotzsch, und auch Arne lä­chel­te vor sich hin, wenn er je­ner ers­ten Ver­su­che ge­dach­te, mit den Mäd­chen Blick­ge­fech­te zu füh­ren. Es war süß, das Auge so lan­ge im an­de­ren ru­hen, ver­sin­ken, tau­chen zu las­sen, bis dies ab­irr­te und lei­se auf­ge­hen­de Röte Hals und Ge­sicht des Mäd­chens über­spül­te.

Aber Ilse Lo­renz rief: »Das ver­steh ich gut, es ist so zu­dring­lich!«

»Ja«, sag­te Kai, »es ist zu­dring­lich. Ken­nen Sie ›Jett­chen Ge­ber­t‹? Scha­de. Das Buch müs­sen Sie le­sen. Wenn Sie mö­gen, leih ich es Ih­nen ein­mal.«

»Ger­ne.«

»Ja, da wird gleich im An­fang er­zählt, wie Jett­chen schön und stolz die Stra­ße her­un­ter­geht, und alle se­hen ihr nach. Ach ja, so et­was Schö­nes und Stol­zes, das darf man an­se­hen, das bleibt des­we­gen doch schön und stolz und fern, aber wir …« Er wag­te nicht, wei­ter­zu­re­den.

»Ja Kai, du meinst, wir ge­wöhn­li­che Sterb­li­che, da lohnt es sich nicht«, frag­te Arne.

»Nein«, sag­te Fräu­lein Rei­ser, »ich füh­le wohl, was Herr Goe­de­schal meint, dass …«

Da setz­te der Kla­vier­spie­ler wie­der ein. Die Her­ren ver­beug­ten sich und im Um­dre­hen wa­ren die Da­men fort­ge­wir­belt, einen Au­gen­blick sah Kai noch das blass­blaue Kleid von Ire­ne, der dunkle Schei­tel Il­ses tauch­te zwi­schen den Tän­zern auf und ver­ging, dann stand er wie­der al­lein.

Stra­ße im Ber­li­ner Orts­teil Schö­ne­berg  <<<

6

Er war al­lein, und nun, da er von den leer­ge­wor­de­nen Stüh­len zum Saa­l­en­de zu­rück­trat, be­dau­er­te er schon, dass die­ses so leicht ver­lau­fe­ne Ge­spräch nicht län­ger ge­währt hat­te. In­dem er die Au­gen schloss, er­in­ner­te er sich an ein lei­ses Lä­cheln von Ilse, ein Lä­cheln, das wie ein Stern über der leich­ten Me­lan­cho­lie ih­res Ge­sich­tes auf­ge­gan­gen war. Es schi­en ihm, als müs­se er dies ihm ge­währ­te Lä­cheln um den Mund gleich ei­nem Ver­mächt­nis tra­gen.

»Nun ist al­les gut«, sag­te er zu sich und ließ sei­ne Au­gen ru­hi­ger durch den Saal ge­hen, des­sen Ge­wirr ihn nicht mehr er­schreck­te. »Ist nicht jetzt mit dem ers­ten Schritt auch der schwers­te ge­tan? Beim Wie­der­se­hen wer­de ich an die schon ge­spro­che­nen Wor­te an­knüp­fen kön­nen, ein Weg liegt vor mir, und ich, ich wer­de ihn ge­hen.«

Aber so sehr er sich müh­te, nur Freu­de zu emp­fin­den, mein­te er doch, auf sei­ner Zun­ge einen bit­te­ren Ge­schmack zu spü­ren, ir­gend­wo saß ein Wi­der­ha­ken und pei­nig­te ihn. »Wa­rum freue ich mich nicht?« frag­te er. »Wa­ren die Mäd­chen nicht gut zu mir?«

Er schwieg. Das Lä­cheln ver­ging ganz, und plötz­lich war al­les wie­der da, al­les von vor­hin: Scham, De­mü­ti­gung, Neid und Selbst­ver­ach­tung. Nun fiel es ihm ein: das Köp­fe­zu­sam­men­ste­cken, ra­sche Bli­cke der bei­den Mäd­chen, ihre Wor­te, die ihm Brücken bau­en soll­ten. »Ach, was ist ge­sagt und was ist nicht ge­sagt, das für mich nicht Scham und Ekel sein muss? Ich füh­le es wohl, so fremd ich hier bin, dass sie mir ge­hol­fen ha­ben – aus Mit­leid. Arne hat mit ih­nen ge­re­det, ich bin vor­ge­führt als ein Wun­der­tier, wie im Hör­saal ein Kran­ker durch sei­nen Arzt.«

Die Scham über ihr Mit­leid mach­te ihn zum äu­ßers­ten un­ru­hig. Es war ihm, als müs­se er um­her­lau­fen, ir­gen­det­was tun, et­was Lau­tes, Auf­se­hen­ma­chen­des, um zu zei­gen, dass er auch ohne dies Mit­leid da war, dass er sich nicht schäm­te. Dann blieb er ste­hen, er sag­te: »Glaubt ihr denn, ich durch­schaue euch nicht? Gott sei Dank, ich bin im­mer noch klü­ger als ihr. Ich neh­me eure Hil­fe, weil es mir so ge­fällt, aus Missach­tung, Gleich­gül­tig­keit. Ver­reckt doch, was geht das mich an.« Er fühl­te, dass je­des Wort Lüge war, fühl­te klar, dass er in ei­nem Ton sprach, der nicht ein­mal ihn über­zeug­te. Schwank­te nicht noch in sei­nem In­nern die wei­che Wei­ner­lich­keit, die wie er­trin­kend nach der hilf­rei­chen Hand ge­fasst hat­te? Beb­ten nicht noch sei­ne Knie?

»Fei­ge war ich, fei­ge wie im­mer. Des­we­gen sehe ich kei­nen Men­schen an, des­we­gen sage ich kein zor­ni­ges Wort. Ich habe nicht ein­mal den Mut zu mei­nen Ge­füh­len. Ewig aus Halt­lo­sem ge­hemmt, möch­te ich vor­wärts und lege mir selbst die Sch­lin­gen, die mich zu Fall brin­gen.«

Sei­ne Ge­dan­ken er­schreck­ten ihn. Er schüt­tel­te den Kopf ein­mal, zwei­mal, vie­le Male, er zwang sei­ne Au­gen aus der Fer­ne in das nahe flat­tern­de Weiß der Mäd­chen­klei­der. Sein Ohr hör­te statt auf die lei­sen Stim­men der An­kla­gen und Verzweif­lung auf das Ge­läch­ter der Tän­zer. Er fand Arne und Ire­ne; ih­rem Tanz nach­bli­ckend, er­riet er ei­nen