8,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 8,99 €
Eine Sturmflut spült die Leiche einer Frau an den Strand, die wie eine Kreatur des Wassers wirkt: Die Meerestiere haben ihren Körper in Besitz genommen, und in ihrem Hals befinden sich Wunden, die wie Kiemen aussehen. Als eine zweite Frau tot in der Nordsee treibt, ahnt der junge Polizeichef Knut Jansen: Er hat es mit einem Serienkiller zu tun. Mithilfe der ehemaligen Profilerin Helen Henning gelingt es ihm, die Spur des Mörders aufzunehmen. Doch als den beiden bewusst wird, mit welchem Gegner sie es zu tun haben, sind sie längst im Begriff, vom Jungfrauenmacher in die Tiefe gezogen zu werden …
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 450
DEREK MEISTER
DERJUNGFRAUENMACHER
THRILLER
1. Auflage
Originalausgabe Juli 2015 im Blanvalet Verlag,
einem Unternehmen der
Verlagsgruppe Random House GmbH, München
Copyright © 2015 by Derek Meister / Blanvalet Verlag
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur
Thomas Schlück GmbH, 30827 Garben.
Umschlaggestaltung und -motiv: www.buerosued.de
Redaktion: Angela Kuepper
Herstellung: sam
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN: 978-3-641-15841-5
www.blanvalet.de
Jungfrau, komm in die Arme mein!
Sollst deines Siegers Herrin sein.
Will baun dir einen Palast schön,
In prächt’gen Kleidern sollst du gehn.
Joseph von Eichendorff
Prolog
Draußen ertrank die Welt.
Er klammerte sich ans Lenkrad seines in die Jahre gekommenen Nissan Navara, versuchte, die Straße durch die Regenwand zu erkennen.
Im Aufflammen der Blitze sahen die sturmgepeitschten Bäume wie zuckende Schattengeister aus. Mächtige Gestalten mit Tausenden Armen, die seinen Pick-up zerschmettern wollten.
Ein armdicker Ast krachte auf das Autodach, schrammte nach hinten und flog von der zugedeckten Pritsche auf den Asphalt. Vor Schreck schrie er auf, sah im Spiegel den Ast im roten Licht der Rückleuchten für immer in der Nacht verschwinden.
Das Herz schlug ihm bis zum Hals.
Obwohl im Radio seit zwei Tagen vor der Sturmfront über der Nordsee gewarnt wurde, hatte ihn die Gewalt des Unwetters heute überrascht. Der Sturm war stärker und schneller über Valandsiel aufgezogen, als alle vorausgesagt hatten.
Verrückte Welt, dachte er. Ein so heftiger Sturm Anfang Juni. Wie es wohl Silja ging? Das arme Ding war sicher völlig verängstigt.
Zögerlich gab er wieder mehr Gas. Der Gedanke, sie könne weinend im Dunkeln liegen, allein im tosenden Gewitter, versetzte ihm einen Stich. Er musste es endlich nach Hause schaffen. Er hatte extra beim Asia-Imbiss gehalten und gebackenes Curryhuhn für sie mitgenommen. Es war bestimmt längst kalt.
Er sah zum Beifahrersitz, auf dem neben dem Essen ein Tramperrucksack und zahlreiche Blätter mit seinen kalligrafischen Übungen lagen. Mit zwölf hatte er wegen Nesselfieber drei Wochen im Bett verbracht und seine Liebe für Schreibschriften entdeckt.
Als er wieder nach vorn sah, schossen Birkenäste auf ihn zu. Sofort stand er auf der Bremse, spürte, wie die Reifen blockierten, hörte sie durch das knöcheltiefe Wasser auf der Straße pflügen. Der Pick-up riss aus. Der Tramperrucksack flog, gefolgt von den Blättern und dem Curryhuhn, in den Fußraum.
»Fuck«, entfuhr es ihm, während der Wagen mit einem Ruck zum Stehen kam und der Motor erstarb. Er hatte sich quer zur Fahrbahn gestellt, keine vier Meter vor den umgestürzten Birken. Die Bäume versperrten komplett die Straße zu seinem Haus.
»Mein Gott.« Geschockt saß er da, atmete hektisch ein und aus, starrte fassungslos auf die gesplitterten Bäume. Gar nicht auszumalen, was passiert wäre, wenn er in die Äste …
Als er die Hand hob, zitterte sie so stark, dass er den Zündschlüssel des Pick-ups nicht drehen konnte.
»Zähl bis 40. Entspann dich. Es ist nichts passiert. Alles gut.« Er schloss die Augen, lehnte sich zurück und lauschte auf das Trommeln des Regens und das Heulen des Sturms.
… 28 … 29 … 30 … 31 …
Jemand klopfte an seine Scheibe. Erschrocken fuhr er zusammen.
Ein junger Mann mit Dreitagebart und verhärmten Wangen starrte ihn an. Offenbar versuchte er, in dem dunklen Wagen jemanden zu erkennen.
Der Typ war vielleicht 20 Jahre alt. Er trug eine dünne schwarze Regenjacke, die ihm bis über die Knie reichte. Die Kapuze hatte er tief ins Gesicht gezogen, sodass seine Augen kaum zu sehen waren. Er trug einen Rucksack und kurioserweise Handschuhe.
»Hallo? Sind Sie okay?«, drang seine Stimme in die Kabine des Pick-ups. Neben dem Jungen tauchte ein Mädchen im gelben Ostfriesennerz auf. Er schätzte es ebenfalls auf 20, etwas älter als seine Silja. Die Fremde zog sich die Mütze straffer über den Kopf. Klitschnasse schwarze Haare lugten darunter hervor. Sie klebten auf ihren Wangen, auf denen der Kajal verlaufen war. Die Frau trug ebenfalls einen Rucksack. Ihre Augen wirkten seltsam kalt.
»Ist alles okay«, brüllte er nach draußen gegen den Wind. »Mir geht’s gut. Ist nichts passiert.«
»Können wir mitfahren?«, fragte der Junge. »Lassen Sie uns rein?«
Den Bruchteil einer Sekunde schoss ihm der Gedanke durch den Kopf, dass die beiden die Bäume absichtlich über die Fahrbahn gelegt hatten und unter ihren Regenjacken Messer trugen.
»Was is’? Kommen Sie. Haben Sie mal Mitleid«, bettelte der Fremde. Doch es klang so aufgesetzt, so übertrieben.
Hör auf mit dem Blödsinn, schalt er sich und ließ das Fenster ein Stück herunter. »Gut. Kommt rein. Was macht ihr hier draußen?«
»Unser Wagen ist liegen geblieben. Da hinten.« Der Fremde zeigte vage in den Regen. Aber er konnte kein Fahrzeug erkennen, keine Blinklichter, nicht einmal einen Schatten. Erneut machte sich ein ungutes Gefühl in ihm breit, während er zusah, wie das fremde Pärchen um den Pick-up herumlief. Sein Pritschenwagen war ein Zweisitzer, sie mussten sich vorne nebeneinanderquetschen.
Während er sich für das Curryhuhn entschuldigte, das sich im Fußraum verteilt hatte, zog er den besudelten Tramperrucksack hervor.
»Gebt eure mal auch her. Ich verstau sie auf der Ladefläche. Dann passt’s vielleicht.«
Die beiden Fremden reichten ihm das Gepäck.
Regentropfen stachen auf seiner Haut, und der Sturm riss ihn beinahe von den Beinen, als er sich am Wagen entlangschob. Das Wasser drückte sich durch jede Naht seines Windbreakers. Er öffnete die Abdeckplane und stellte die drei Rucksäcke auf die Ladefläche.
Ein Gewitterblitz durchzuckte die Nacht.
Sie lag wie versteinert da.
Entsetzt starrte er sie an.
»Silja?«
Sein Gaffertape klebte auf ihrem Mund. Ihre Beine und Hände waren damit gefesselt.
Ein zweiter Blitz erhellte ihr Gesicht, offenbarte, was dieser verfluchte Sturm angerichtet hatte.
Siljas Stirn war eingedrückt, ihr Schädelknochen zerschmettert. Der Regen vermischte sich mit ihrem Blut und lief kalt die Pritsche entlang.
Der Ast!, schoss es ihm durch den Kopf. Mein Gott, der Ast.
»Aber … Silja … Was …?« Er war völlig hilflos. Das sechzehnjährige Mädchen gab keine Antwort. »Du … du warst so perfekt. Silja …« Aus seiner Kehle drang ein erstickter Trauerschrei, aber der Sturm trug jeden Laut fort.
Sein Blick wanderte zur Fahrerkabine, in der die beiden mittlerweile das Licht angeschaltet hatten. Giggelnd ließ das Mädchen sich von ihrem Freund die Finger wärmen und schmiegte sich an ihn.
Mit einem entschlossenen Ruck zog er die Plane über das tote Mädchen. Dabei spürte er sein umgeschnalltes Messer am Unterschenkel reiben. Das Gefühl schenkte ihm neue Stärke.
1
Knut Jansen hielt sich mit einer Hand an einem Strauch fest und versuchte, nichts von seinem Kaffee zu verschütten, während er sich den ersten Meter die Böschung zum Strand hinabtastete. Hinter ihm im Landrover bellte Butch. Der sechs Jahre alte Labrador sah es gar nicht gern, wenn er im Auto auf sein Herrchen warten musste. Knut gab ihm ein Zeichen, endlich still zu sein. Dann trat er mit seinen neuen Westernstiefeln ein paar Disteln und vom Sturm angespültes Strandgut beiseite, bevor er den aufgeweichten Hang hinabschlitterte.
Der Trampelpfad zwischen den Büschen war der direkte Weg vom Parkplatz an den Strand. Viele Touristen – aber vor allem die einheimischen Jugendlichen – bemühten sich nie, den gepflasterten Serpentinenweg zu nehmen.
Der Radweg aus Betonplatten am Fuß der Böschung war kaum zu erkennen, so viel Sand und Unrat hatten die Wellen angespült. Auch der Strand, der sich hier, unterhalb der Promenade Valandsiels, in Form einer Sichel gen Norden zog, lag verwüstet da. Treibholz, Tang und jede Menge Plastikverpackungen glitzerten in der Morgensonne.
Am Kaffee nippend, sah Knut sich um, schirmte die Augen vor der noch tief stehenden Sonne ab und spürte, wie er von der Meeresbrise eine Gänsehaut bekam.
Vor den funkelnden Wellen konnte er auf halber Strecke zur Wasserlinie ein paar Schatten ausmachen. Zwei Männer standen bei einem Rollstuhlfahrer. Die Silhouette des Bürgermeisters von Valandsiel, Doktor Rainer Warendorp, war dank seines wasserballgroßen Bauchs leicht zu identifizieren. Und der Mann im Rollstuhl war Kiosk-Krömer. An der Leine hielt er einen winselnden Dackel fest, der vergeblich versuchte, sich loszureißen. Den anderen Schatten konnte Knut noch nicht einordnen, aber alle drei unterhielten sich, wobei sie offensichtlich vermieden, auf etwas zu starren, das neben ihnen im Sand lag.
Knut lüpfte seine abgegriffene Basecap, die er lieber als seine Polizeimütze trug, und wischte sich die Stirn ab. Er war froh, in Anbetracht der kommenden Hitze die Uniform auf seinem Gitarrenständer hängen gelassen zu haben und stattdessen in eines seiner kurzärmeligen Holzfällerhemden geschlüpft zu sein.
Seit er aus dem Haus geeilt war, ratterte Birthe beharrlich die Sturmschäden, die »Darius« angerichtet hatte, im Polizeifunk herunter. Er drehte das Funkgerät an seinem Gürtel leise und nahm noch einen Schluck Kaffee.
Bernd Magnussen, ein stämmiger Beamter, eilte herbei und schreckte ein paar Möwen auf, die auf dem Radweg im angespülten Müll nach Essbarem suchten. Mit seinen 51 Jahren war er der Dienstälteste im Revier, aber auch der Einzige mit einem Waschbrettbauch. Innerlich schmunzelnd registrierte Knut, dass Magnussen wie immer eine Hemdgröße zu klein trug. So kamen seine Muskelpakete erst richtig zur Geltung.
»Da bist du ja endlich. So was hab ich noch nich’ gesehen, Knut. Echt, und du weißt, wie lang ich dabei bin. Wirklich. Das is’ …«
»Wer hat die Leiche gefunden?«
»Kiosk-Krömer.« Magnussen strich sich über die Glatze und den Stiernacken, bevor er in den Notizen auf seinem Smartphone nachlas. »Also, Kiosk-Krömer hat sie gefunden, das heißt, sein Dackel. Die beiden sind hier morgens immer am Strand, bevor er den Kiosk aufschließt.«
»Wann?«
»Vor ’ner halben Stunde ungefähr. Als er sie fand, hat der Krömer auf die Uhr geschaut.« Magnussen kratzte eines seiner Tribal-Tattoos und sah noch einmal auf sein Smartphone. »Sechs Uhr drei. Sagt er.«
»Gut.« Knut rückte das Funkgerät an seinem breiten Gürtel zurecht. »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag übrigens.«
»Danke«, brummte Magnussen.
»Du hast ja noch gar nicht abgesperrt.«
»Das Band war alle.«
»Aha.« Knut drückte sich an seinem Kollegen vorbei, dessen Gestalt beinahe die ganze Breite des Radwegs einnahm. »Funk Birthe an. Sie soll neues Flatterband bestellen. Ich hab noch ’ne halbe Rolle im Wagen.« Kurzerhand warf er Magnussen den Autoschlüssel seines Landrovers zu.
Der machte jedoch keine Anstalten, sich zu bewegen. Nicht mal, als Knut ihn forsch musterte.
»Hol die Rolle«, befahl Knut. »Und melde dich bei Birthe. Okay?«
Brummelnd setzte sich der ältere Beamte in Bewegung. Knut seufzte. Die Ablehnung, die Magnussen ihn tagtäglich spüren ließ, war unverkennbar, aber Knut scheute sich davor, seinen Kollegen zur Rede zu stellen. Einen Moment sah er Magnussen zu, wie er ohne Hektik die Serpentine hinauf zum Parkplatz ging, dann wandte er sich wieder dem Strand zu.
Der Bürgermeister war mit Richter Holthausen angerückt, der neben Krömers Rollstuhl mit einer Zeltstange im Sand herumpiekste. Er trug sein Jogger-Outfit, und seine Pulsuhr piepte in regelmäßigen Abständen. Im Gegensatz zum vitalen Richter wirkte der 70-jährige Kioskbesitzer in seinem Rolli noch eingefallener als sonst. Die rote Sonne warf Schatten auf seine ausgemergelten Wangen und ließ sie so grob wie aus Holz geschnitzt erscheinen. Unablässig riss er an der Hundeleine.
»Dr. Holthausen … Rainer«, begrüßte Knut die beiden Männer knapp und gab Krömer die Hand.
Nach ein paar beruhigenden Worten erfuhr Knut, dass Richter Holthausen Krömer auf den Strand gerollt hatte, um dessen entlaufenen Hund zu holen. Dann hatten die beiden die Leiche entdeckt und mit einer Zeltstange versucht, Dackel und Krabben von ihr fernzuhalten.
»Das habt ihr gut gemacht«, sagte Knut. »Rührt alle jetzt aber bitte nichts mehr an. Wer hat sie zugedeckt?«
»Magnussen«, antwortete Bürgermeister Warendorp.
Knut nickte und musste sich zwingen, länger zur Leiche zu blicken. Gott sei Dank zeichneten sich unter dem Schwarz der aufgeschnittenen und mit Sand fixierten Müllbeutel kaum Konturen ab. Zu wenige jedenfalls, um böse Bilder hervorzurufen.
Auf dem Müllbeutel schimmerte wie Abertausend winzige Diamanten die Gischt, die der Wind über den Strand hinübertrug. Es sah friedlich aus, beinahe schön, wie Knut überrascht feststellte.
An seinem Hemdkragen nestelnd, wandte sich der Bürgermeister an Knut. »Das ist wirklich furchtbar. Schau dir das besser nicht an, Junge.«
Knut lächelte säuerlich. Was bildete sich Warendorp eigentlich ein? Junge, das war vielleicht vor zehn Jahren mal aktuell gewesen. Knut musste einfach eine patzige Antwort geben: »Den ›Jungen‹ kannst du dir sparen, Rainer. Tretet mal zur Seite. Ihr alle. Ihr geht jetzt mal dahinten hin.« Knut wies zum Fahrradweg, wo Magnussen das Flatterband zwischen die Laternen band.
»Knut, komm schon. Glaubst du, wir ertragen das nicht? Wir haben sie uns schon angesehen.«
»Ja, und alle Spuren zertrampelt.«
»Unsinn!« Warendorp wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Wahrscheinlich hat sie der Sturm angespült. Die ist seit Tagen tot, vielleicht sogar Wochen.«
»Ja, die Leiche sieht in der Tat ziemlich zugerichtet aus«, mischte sich Richter Holthausen ein.
Krömer tätschelte seinen Dackel. »Fritze hat sich losgerissen. Ist einfach über den Strand … Das so was hier passiert.«
»Moment mal. Hier ist das nicht passiert«, stellte Warendorp sofort klar. »Hier nicht. Die wurde angespült.«
»Das rauszufinden ist Sache der Polizei. Also.« Niemand rührte sich. »Alle räumen jetzt den Bereich. Los jetzt!«
Nur murrend fügten sich die drei. Bevor Knut sich der zugedeckten Leiche näherte, wartete er, bis die Männer Krömer durch den Sand geschoben hatten und alle drei hinter der Absperrung waren.
Er hatte befürchtet, Leichengeruch wahrnehmen zu müssen, einen Gestank, der ihn erbrechen ließ, doch er roch lediglich die Nordsee.
Was mach’ ich jetzt?, fragte er sich. Das ist meine erste richtige Leiche.
Er ging in die Hocke und zögerte, den Müllbeutel anzuheben. Erst einmal streifte er sich die dunklen Lederhandschuhe über, die er am Gürtel trug.
»Wir haben’s auch überlebt«, rief Warendorp von der Absperrung her. Knut ersparte sich eine Antwort, lüpfte stattdessen seine Basecap und wedelte sich Luft zu.
»Hier.« Magnussen, der das Flatterband bis zur Leiche ausrollte, reichte ihm die Zeltstange. »Mach’s lieber damit.«
»Danke. Na, dann wollen wir mal.« Endlich fasste Knut sich ein Herz.
Der Müllsack rutschte weg und entblößte den Kopf der Leiche, den sie mit dem Arm bedeckte, als wolle sie sich vor der Sonne schützen. Knut sah nur drei Finger. Sie waren zu dunklen Stöckchen verschrumpelt. Die restlichen waren … abgebrochen oder abgefault.
Zwei Dutzend Krebse suchten das ab, was wohl einst ihre Haut gewesen war. Jetzt umgab ihren Körper ein vom Meerwasser glitschiges, an vielen Stellen weiß meliertes Leder. Die spinnenartigen Tiere ließen sich nicht stören und krabbelten ihr Becken hinab. Ihr rechtes Bein fehlte gänzlich, das linke war eine Handbreit oberhalb des Fußes abgerissen.
Sie trug ein Kleid, zumindest hielt Knut es dafür. Der dünne Stoff war zerfetzt und zusammengerafft, aber er meinte, einen abgewetzten Träger auf ihrer schmalen Schulter erkennen zu können. Mit einem Mal rutschte ihr der Arm von der Stirn und landete auf dem Müllsack.
Ein Totenschädel starrte ihn an.
Knut wich zurück. Ihre Augen waren geschlossen, aber die Lider völlig eingedrückt. Die Wangen ohne Fleisch, die Nase weggefressen. Lange weiße Haare umrahmten den Schädel. Ihr Mund war bloß noch ein von zwei dunklen Wülsten umschlossenes Loch.
War da etwa noch Lippenstift auf ihren Lippen?
Was, zum Henker …? Fassungslos sah Knut mit an, wie ein Bein aus ihrem Mund heraus in die Luft tastete, dann ein zweites auftauchte und schließlich eine Krabbe ihre Stielaugen herausstreckte. Sie klammerte sich an das, was einst menschliche Lippen gewesen waren, und zog sich ganz ins Freie.
Weil er nichts anderes als seinen Kaffeebecher hatte, übergab sich Knut dort hinein.
»Verdammte Scheiße«, keuchte er und versuchte, das Erbrochene von seinen Handschuhen zu schütteln. Seine neuen Westernstiefel aus Schlangenleder hatte es auch erwischt.
Bevor er einen weiteren Fluch loswerden konnte, übermannte ihn die Hilflosigkeit. Sie schwappte wie eine Springflut heran und überspülte alle Gedanken.
Was um Himmels willen tue ich jetzt?
Am liebsten hätte er Magnussen gefragt, immerhin hatte sein Kollege bereits 20 Jahre unter seinem Vater gedient. Die Blöße würde er sich jedoch nicht geben. Spuckend versuchte er, den schlechten Geschmack zu vertreiben, wischte seine Hände im Sand ab und zückte sein Funkgerät. »Birthe?«
»Magnussen! Hör auf, immer hier durchzuklingeln, ja? Ich weiß nicht, wann Knut am Tatort ist.«
»Nein, Birthe, ich bin’s. Und das hier ist kein Tatort. Sondern der Fundort.«
»Oh, du bist das. Na, endlich.«
»Pass auf, Birthe, du schnappst dir jetzt den Ordner. Den roten. Oben links in meinem Büro.«
»Den roten. Ja, hab ich.« Er konnte förmlich sehen, wie sie ihren Hello-Kitty-Bleistift hinter dem rechten Ohr hervorzog und ihren schwarzen Pony mit einem geübten Pusten sexy zur Seite wehen ließ, um sich alles zu notieren. »Und jetzt, Schatz?«
»Birthe«, tadelte er sie, weil es ihm unangenehm war, so vor den Kollegen genannt zu werden. »Hol den Ordner. Verfahrensweisen steht da drauf oder so ähnlich. Und dann bringst du den her.«
2
Helen parkte den Wagen der Autovermietung unweit der von Pfützen übersäten Auffahrt. Sie blieb einen Moment sitzen und ließ ihren Blick den Kiesweg hinauf und an den ausrangierten Ankern entlangwandern, die den von Gestrüpp und Müll zugewehten Garten schmückten.
In allen Dörfern, durch die Helen Henning die letzten Stunden gefahren war, hatte der Sturm gewütet. Er hatte Mülltonnen umgeworfen, Büsche entwurzelt, Bäume abgeknickt. Auch die schmale Küstenstraße nach Valandsiel war gesperrt worden, weil zwei Strommasten umgestürzt waren. Das Haus ihres Vaters hatte der Sturm jedoch verschont.
Vor dem morgendlich leuchtenden Himmel zeichnete sich das Backsteinhaus mit dem dunklen Reetdach ungewöhnlich scharf ab.
Sie griff sich ihre Sporttasche und ging zum Gartentor. Eine junge Birke, die die Garage haarscharf verfehlt hatte, war auf den Rhododendron gestürzt. Der Sturm hatte ein paar Sträucher zu Boden gedrückt und Zeitungen in die Hecken geweht – das war alles. Nichts, was man nicht mit wenigen Handgriffen richten konnte.
Helen trat in den Garten, ging langsam, ein wenig steif, die Sporttasche in der Linken, auf das Haus zu. Den Abend hatte sie in einem sterilen Hotelzimmer am Hannoveraner Flughafen verbracht, weil ihr Flieger aus Seattle wegen der Sturmfront nicht in Hamburg hatte landen können.
Im Hotelfernsehen hatte ein Meteorologe im vierstündigen Sturmnacht-Special gegen den Wind angebrüllt, während die spritzende Dünung ihn aufs Meer hatte hinausziehen wollen. Wegen des Zeitunterschieds und wegen dieser brüllenden Reporterstimme hatte Helen die halbe Nacht wach gelegen.
Und wegen der Stimme ihrer Mutter vor zwölf Tagen auf ihrem Anrufbeantworter.
Die Stimme ihrer Mutter im schwarzen Kästchen, dem AB auf dem Sideboard in der Einzimmerwohnung, die nicht ihre war und in der sie illegal zur Untermiete wohnte. Im U District, direkt an der Brooklyn Avenue in Seattle, Washington.
»Dein Vater ist tot.«
An der Haustür riss Helen den Umschlag auf, den das Amtsgericht Niebüll auf ihren Wunsch per Express nach der Testamentseröffnung in die USA geschickt hatte. Während ihre Schwester bloß einen Pflichtteil bekommen sollte, hatte Joost Henning ihr nicht nur sein Wohnhaus, sondern auch das Restaurant in den Dünen vermacht. Helen hatte noch keine Ahnung, was sie mit dem Erbe anstellen sollte, wollte aber bis zum wahrscheinlichen Verkauf der beiden Immobilien vor Ort bleiben.
Zögernd blickte sie zum aluminiumweißen Himmel. Das Thermometer im Mietwagen, den sie sich noch in der Nacht am Flughafen besorgt hatte, hatte bereits am Friedhof 18 Grad angezeigt, obwohl die Sonne noch nicht vollends aufgegangen war.
Ein blendend schöner Tag.
Helen schüttete den Hausschlüssel aus dem Umschlag in ihre Hand und befühlte den Schlüsselanhänger. Ein Werbegeschenk für die Mitgliedschaft bei der Seenotrettung. Zerkratzt, vom tausendmaligen Anfassen rund geschliffen. Sie war davon ausgegangen zu zittern, doch sie blieb merkwürdig ruhig, als sie das Haus ihrer Kindheit aufschloss.
Kühle Luft, durchmischt mit kaltem Pfeifenrauch, wehte ihr entgegen. Peach Melba. Wie oft hatte sie diesen Tabak für ihren Vater bei Krömer geholt? Der Kioskbesitzer an der Promenade hatte ihr die Dose stets ohne Kommentar über den Tresen geschoben – und immer einen Lolli dazugelegt.
Pfirsich Melba – und die Knie blutig vom endlosen Ditschen hinter Krömers Bude, an den mit Altöl gestrichenen Holzbrettern. Wie oft hatte sie im Kies gekniet und mit den anderen Kindern Münzen an die Wand geworfen? Helen meinte, die Rufe ihrer Mitschüler zu hören: »Los! Die Münze! Helen, mach schon! Ditsch die weg! Du triffst die! Wirf!« Unwillkürlich musste sie lächeln, als sie an Krömer in seinem Rollstuhl und an das Münzenwerfen dachte. Ewige Sommer der Kindheit.
In ihren bunten Sneakers, die nicht zu ihrem schlichten Hosenanzug passten, trat sie auf zwei Zeitschriften und ein paar Rechnungen. Sie ging umständlich in die Hocke, indem sie den rechten Fuß ein Stück vorsetzte, und hob die Briefe auf.
Als sie kurz darauf die Sporttasche im Wohnzimmer abstellte, rieb darin Glas an Glas. Sicherheitshalber öffnete sie die Tasche und stellte fest, dass ihre Souvenirs aus der Schachtel mit Papier gerutscht waren und sich auf der Wäsche verteilt hatten.
Sie nahm die Schneekugeln heraus und reihte sie geradezu andachtsvoll auf dem Tresen der Wohnzimmerbar auf. Washington, New York, Salt Lake, Ottawa, Seattle, Las Vegas …
Nachdem sie die elf Kugeln akkurat ausgerichtet hatte, widerstand sie nur mit Mühe dem Drang, eine hochzuheben und sie zu schütteln.
Der Großteil ihrer letzten Jahre, eingefroren, zu Glas gegossene Erinnerungen.
Elf Schneekugeln. Elf Mörder. Jeder Mörder eine eigene Kugel.
Sie öffnete die Verandatür und trat auf die Holzterrasse. Hier streckte sie den Kopf in den Wind, der vom Meer her wehte und das Dünengras rascheln ließ. Sie roch Fisch und Salz.
Hinter dem Haus, das mitten in den Dünen stand, lag das Meer. Sie sah hinaus auf die Wellen und genoss die Brise in ihrem Haar. Am Horizont war ein Windpark zu erahnen. Riffgrund West. Sie zählte 36 Masten.
36 Striche – so alt war sie jetzt. 36 Striche über der See – das Einzige, was ihren Blick in die Vergangenheit verstellte.
Denn sonst war alles wie damals.
Das Dünengras …
Als er noch lebte.
Der sanfte Wind …
Als sie das letzte Mal hier stand.
Die warme Sonne …
Als sie 16 war.
Nur die Masten von Riffgrund West hatte es 1995 noch nicht gegeben. Der Wind strich ihr die Haare gegen das Kinn. Es kribbelte eigentümlich, und Helen meinte für einen Augenblick, seine väterliche Brust zu spüren, wenn er sie an sich drückte und sanft beruhigend über ihr Haar strich.
Ihre rechte Hand begann zu zittern. Sie griff nach dem Knauf des blau lasierten Holzgeländers. Weder als sie der Anruf ihrer Mutter am anderen Ende der Welt aus dem Schlaf gerissen hatte noch an den folgenden Tagen, auch nicht im Flugzeug oder auf dem Friedhof: Sie hatte nicht geweint.
Aber jetzt liefen ihr die Tränen die Wangen hinab und benetzten ihre Bluse. Sie wischte sie nicht fort. Sie schloss die Augen und spürte den Wind auf ihrer nassen Haut.
Ein leises Husten riss sie aus der Trauer. Schlagartig war sie hellwach, sofort im Hier und Jetzt.
War ER ihr gefolgt? War das möglich?
Das Blut rauschte in ihren Ohren. Sie horchte in das Rascheln des Dünengrases, horchte auf die Geräusche hinter sich. Der leichte Wind spielte mit dem Gras, ließ ein Windspiel klirren. Ruhe.
Du redest dir was ein. Da war kein Husten. Vielleicht kreischen die Möwen. Komm runter. Da ist nichts, das…
»Hallo? Ist da wer?«, rief sie zögerlich, erhielt jedoch keine Antwort.
Da ist nichts, Helen. Er wird dir wohl kaum nachgeflogen…
Glas zerbrach. Männerfluchen.
Ihr Herz tat einen Sprung. Sie spürte, wie sich ihre Muskeln anspannten. Jemand war in das Haus eingedrungen. Instinktiv griff sie nach ihrer Glock 22 und fasste ins Leere.
Pistole und Holster lagen noch bei ihren Blusen und BHs in der Sporttasche, wo sie die Waffe nach der Zollfreigabe hineingeschoben hatte.
Unsicher drehte sie sich herum. Langsam, keine hektische Bewegung, ermahnte sie sich und suchte mit dem Blick die Schatten im Wohnzimmer ab. Niemand war durch die Panoramascheibe zu erkennen. Ihr Blick fiel zur Bar, vor ihr lag die Sporttasche mit der Glock.
ER ist dir nicht gefolgt. Das kann nicht sein, versuchte sie sich Mut zu geben, verharrte jedoch weiter reglos auf der Terrasse. Ihre Gedanken wirbelten.
Es waren bloß zehn, zwölf Schritte bis zur Tasche, aber sie musste sie öffnen, nach der Waffe suchen, sie aus dem Holster ziehen, entsichern. Diese Sekunden über würde Helen ihm unbewaffnet ausgeliefert sein und …
Tu was!, ermahnte sie sich. Tu endlich was, Helen!
Aber die Albtraumbilder, was ER mit ihr anstellen könnte, umhüllten sie und ließen sie in ihrer Angst erstarren.
3
Die Tote hatte schulterlanges Haar, Knut konnte ihr Alter nicht schätzen. Ihre Haut wirkte auf ihn wie Leder, oder besser wie gefrorenes Rindfleisch, das unter zu heißem Wasser aufgetaut wurde. Schmieriges Weiß auf Braun. Als er sich vorbeugte, um ihre Hand genau anzusehen, konnte er ein wenig abgeplatzten Nagellack erkennen. Ein schimmerndes Grün. Oder war es nur ihr Nagelbett, das sich verfärbt hatte?
»Magnussen?«
»Ja?« Sein Kollege hielt sich zwei Schritte im Hintergrund.
»Wir brauchen die Kreide, die Zahlenkarten und unser Messrad. Für die Autounfälle.«
»Hier am Strand?«
Im Sand würden sie mit dem Messrad tatsächlich nicht weit kommen.
»Hast recht. Besser die Messlatten. Und hast du die Kamera dabei?«
»Im Wagen.«
»Okay, hol sie bitte.«
»Komm schon. Wir haben doch unsere Handys.«
»Hol alles her, Magnussen.«
»Schwachsinn. Wie soll ich ’n das tragen?«
»Geh halt zweimal«, fuhr Knut den Mann an. Konnte Magnussen nicht einmal, ein einziges Mal, sofort reagieren, wenn er ihn aufforderte? Knut schüttelte den Kopf. Verflucht noch mal, dachte er, während er seinem Kollegen nachsah. Bei meinem Vater hast du gespurt wie ein Roboter, und bei mir bockst du wie ein Kind.
Es kostete Knut sehr viel Überwindung, doch er hockte sich hin und zwang sich, der Frau ins Gesicht zu blicken. Sein Magen rebellierte erneut, diesmal kämpfte er jedoch erfolgreich gegen den Brechreiz an. Je länger er die Leiche ansah, desto besser kam er mit dem Anblick zurecht, und desto größer wurde der Drang, herauszufinden, wer diese Frau gewesen war.
Er versuchte, sich an eine vermisste Seglerin, Surferin oder Touristin in den letzten Monaten zu erinnern, aber ihm fielen weder eine Polizeinachricht noch ein Zeitungsartikel ein. Eigentlich war es das bisherige Jahr über sehr ruhig an der nordfriesischen Küste gewesen.
Ruhige See.
Bis gestern.
Knut sah aufs Meer. Der sanfte Wind ließ die Wellen erst am Strand brechen. Sie waren kaum kniehoch. Gestern hatte der Sturm das Wasser bis über den Parkplatz gedrückt, und oben an der Promenade war die Gischt mit solcher Wucht gegen die Ladenfronten geschlagen, dass sie etliche Türen und Fenster aufgedrückt hatte.
Vergeblich stieß Knut mit der Stiefelspitze eine der Krabben beiseite. Das Tier dachte gar nicht daran, den Leichnam aufzugeben.
Vielleicht ist sie schon seit Jahren tot, grübelte er. Was mach ich denn jetzt?
Hilflos sah Knut zum Parkplatz, dabei fiel sein Blick auf die Schar Schaulustiger, die sich hinter der Absperrung zusammengefunden hatte.
»Magnussen, warte! Das ist ja lächerlich. Warte doch mal«, wehten Warendorps Rufe über den Strand. »Jetzt bleib stehen!«
Der Bürgermeister tauchte hinter Magnussen unter dem Flatterband durch und eilte ihm nach. Knuts Beamter trug die Kamera und ein Bündel Zahlenkarten in seiner Rechten, hatte sich ein paar Messlatten untergeklemmt und den Tatortkoffer geschnappt – einen Alukoffer, in dem sie Eisenpulver, Handschuhe, einen Pinsel und verschiedene Beutel und Klebeband mit sich führten, um im seltenen Fall eines Einbruchs gerüstet zu sein.
»Knut will’s haben, also soll er’s kriegen«, entschuldigte sich Magnussen bei Warendorp und beschleunigte seine Schritte.
»Das ist doch Unsinn! Was wollt ihr denn da groß fotografieren? … Knut!«
»Geh zurück hinter die Absperrung«, ermahnte Knut den Bürgermeister, dann nahm er Magnussen den Koffer ab. »Steck die Zahlen ringsum, überall, wo du etwas im Sand siehst. Und dann legen wir die Latten aus und machen Fotos … Ich hab gesagt, zurück hinter die Absperrung!« Schroff blaffte er Warendorp an, der angesichts des Tonfalls tatsächlich stehen blieb – wenn auch reichlich perplex. Entrüstet schnappte der übergewichtige Mann nach Luft.
»Knut, mach dich nicht über mich lustig. Wenn das ein Tatort wäre, gut. Dann würde ich sagen: Sperrt ihn ab, vermesst alles und lasst die Leiche liegen, aber so …«
Knut verstand nicht recht.
»Na, ich meine, die ist angespült worden. Sieh sie dir an. Die ist doch nicht gestern hier gestorben.«
»Ja, na und?«
»Wie die aussieht, kann sie vor Monaten von irgendeinem Schiff gefallen sein. Was weiß ich! Sie geht über’n Containerschiff, es ist windig, die See kabbelig. Du kennst das.«
Unverhohlen starrte Knut den Bürgermeister an. »Nein.«
»Was – ›nein‹?«
»Kapier ich nich’.«
»Der junge Dierksen ist erst vorletzte Woche über Bord, weil er pinkeln wollte.«
»Aha. Und du glaubst, sie wollte pinkeln?«
»Was? Nein. Das hab ich nicht gesagt.«
»Sondern? … Was willst du denn sagen? Versuch’s mal simpel, damit’s der Dorfsheriff auch rafft.«
Warendorp räusperte sich. »Ach Knut, du weißt doch genau, was ich sagen will! Sie kann hier nicht einfach am Strand bleiben. Wir müssen den Sand abschleppen, alles wieder hübsch machen. Die Trecker kommen gleich. Wir haben jetzt sieben Uhr. Du weißt doch genau, was hier um neun los ist? Nach dem Sturm sind die Leute ganz heiß drauf, wieder an den Strand zu gehen. Flanieren, sonnen und so.«
»›Flanieren, sonnen und so …‹«
»Ja! Mensch, Knut, nun tu doch nicht so begriffsstutzig.« Gestikulierend trat der Bürgermeister um die Leiche und die Zahlenkärtchen, die Magnussen in den Sand gesteckt hatte. »Die muss hier weg! Gott hab sie selig, aber die kann nicht hierbleiben. Wer weiß, wann die Kripo kommt. Bis dahin rotten sich noch mehr Schaulustige zusammen. Und dann taucht Anja auf, die schreibt wieder irgendeinen Artikel, und die Touristen … Mensch, ach du weißt, was ich meine.«
Knut brummelte. »Du übernimmst die Verantwortung?«
Warendorp wischte sich die Stirn. Er nickte, aber es sah nicht sehr bestimmt aus. Knuts Blick suchte noch einmal die Absperrung ab: Trotz der frühen Zeit schossen mehr als zwei Dutzend Urlauber und einige Valandsieler mit ihren Handys Fotos und drehten Filmchen. Die Einheimischen kannte er alle, die meisten waren Geschäftsleute von der Promenade, die eigentlich so langsam ihre Shops aufschließen sollten. Der Koch Bloomfeld und seine beiden Servicekräfte vom Café Anker, der Bootsverleiher Rincke, die Zwillinge Möwenbrink vom Fischladen … Sie alle gafften sich die Augen aus und schwatzten und schwatzten. Warendorp hatte recht. Entweder den ganzen Strandabschnitt sperren und ringsum Stellwände als Sichtschutz aufstellen – wie in diesen amerikanischen Filmen, aber soweit er wusste, hatten sie so etwas gar nicht im Polizeibestand – oder die Leiche wegbringen.
Knut stieß einen tiefen Seufzer aus.
»Stecken alle. Du kannst fotografieren.« Magnussen hielt Knut die Dienstkamera hin. Ein wenig verloren glänzten die Kärtchen in der Sonne.
»Schieß so viele Bilder, wie du schaffst, bis Stockfleth mit seinem Leichenwagen hier ist. Ich funk Birthe an, die soll von Grimme Bescheid geben«, meinte Knut.
Magnussen brummte widerwillig und begann ziemlich ratlos, die von Krebsen besetzte Leiche zu fotografieren.
4
Helen führte den Kontrollschlag auf das Magazin der Pistole aus, um zu prüfen, ob es festsaß. Obwohl sie Waffen hasste, hatte sie bei der Landespolizeiverwaltung Hamburg alle nötigen Papiere angefordert, um die Glock aus den Staaten einzuführen.
Die Waffe in ihrer Hand vertrieb die Angst nicht, aber immerhin gab sie ihr etwas Halt. Eine halbe Ewigkeit hatte sie wie gefangen auf jede noch so kleine Regung gehorcht, hatte reglos draußen dagestanden und auf ihre Tasche im Wohnzimmer gestarrt, bevor sie endlich Mut gefasst hatte.
Die Vorstellung, ER habe sie bis nach Deutschland, bis in ihren Heimatort verfolgt, einen Ort, den sie ihm stets verschwiegen hatte, ängstigte sie zutiefst.
Er muss dir gar nicht persönlich gefolgt sein. Ein Anruf, und einer vom Klub taucht hier auf… Das weißt du. Es kostet ihn nichts…
Erneut konnte sie den Fremden husten hören. Es kam ihr näher vor, so als stünde er bereits neben ihr im Wohnzimmer. Ihr Blick fiel zur Treppe, die hinauf in den ersten Stock führte.
Die Pistole lag kalt und schwer in ihrer Hand.
Du wirst nicht schießen müssen. Keine Sorge. Du wirst sicher nicht abdrücken müssen…
Du kannst die Waffe führen. Alles sicher. Das Ding geht nicht einfach los. Du wirst hier niemanden erschießen. Es ist alles okay.
Und wenn ER es persönlich ist?
Die Pistole im Anschlag, humpelte sie im Laufschritt zur Treppe. Auf halbem Weg glitt ihr Blick in die Küche, die zur Rückseite des Hauses hinausging. Eines der Fenster war eingeschlagen. Die Scherben lagen auf den Fliesen verteilt. Im hohen Dünengras, das sie durch das zersplitterte Fenster sah, lag ein Motorrad.
Ein Chapter-Mitglied!, schoss es ihr durch den Kopf. Er hat dir tatsächlich einen Mann geschickt … Du musst hier raus!
Sie atmete tief durch, dann schlich sie die Stufen zum ersten Stock hinauf, sicherte rechts, sicherte links. Das war Standard.
Standard, Mädchen, sind mindestens zwei Beamte. Selbst in Deutschland.
Hier oben im Flur roch es muffig. Ihre Augen konnten sich nicht so schnell auf die Dunkelheit zwischen den holzgetäfelten Wänden einstellen.
Sei nicht dumm. Er wartet auf dich, Helen. Er lauert dir auf…
Nein, das hätte er auch im Flur tun können– und mich angreifen, als ich aufgeschlossen habe.
Schemenhaft erkannte sie ein Regal mit Werkzeug. Ihr Vater hatte Takelage aufgehängt, in einer Ecke lagen ein Schiffsmodell und verschiedenste Dinge: alte Rettungsringe, ein Netz, Plastikfische – wohl Dekoration für sein Restaurant.
Ihr Herz raste. Immerhin hatten sich ihre Augen mittlerweile an die Dunkelheit gewöhnt. Sie schob sich an der mit Staub überzogenen Holzverkleidung entlang. Noch zwei Schritte, und sie würde vor ihrer alten Kinderzimmertür stehen. Sie entsicherte die Waffe, und augenblicklich begann das Zittern. Der Griff der Glock wurde glitschig, er fühlte sich jetzt warm an. Unangenehm warm, als wäre die Pistole ein Tier. Sie hasste das Ding.
Ihre Sneakers setzten beinahe lautlos auf. Ein großer Schritt … die Tür. Sie griff die Klinke, stieß sie dann mit einem Ruck auf. Rechts, links, die Waffe erhoben. Niemand da. Kein Mensch.
Das Morgenlicht kämpfte sich durch eine verstaubte Scheibe. Ihr Bett stand noch immer an derselben Stelle wie früher. Wer immer es war, er hatte einige hundert Restaurant-Flyer auf der Matratze durchwühlt und teilweise auf den Boden zu allerlei Bürokram geworfen. An ihrem Kinderschreibtisch waren die Schubladen herausgerissen worden. Ein alter PC stand unberührt da, Abrechnungen und Personallisten hingen an der Wand. Ihr Vater hatte ihr Kinderzimmer als Büro benutzt.
Vier weitere Türen gingen vom Flur ab. Auf die nächste Tür zielend, schob sie sich weiter in den Gang vor. Das Schlafzimmer. Helen näherte sich im Seitschritt. Nur das Körperprofil zeigen, ermahnte sie sich, weniger Angriffsfläche für Kugeln bieten. Sie horchte, aber es war mucksmäuschenstill.
Wer immer da ist– er weiß, dass ich im Haus bin…
»OC Pac«, rief sie. »Don’t move! Don’t move! Guns down! Lie down. I’m …« Erst jetzt bemerkte sie ihren Fehler und brüllte auf Deutsch: »Ich bin bewaffnet. Ich habe eine Schusswaffe. Nicht bewegen. Waffen runter. Hände hinter den Kopf. Hände hinter den Kopf! Bleiben Sie, wo Sie sind!«
Wo lagen noch das Kinderzimmer ihrer Schwester, das Bad, das Gästezimmer? Helen versuchte, sich zu erinnern, aber plötzlich hörte sie abermals eine Scheibe zerspringen. Das Schlafzimmerfenster, dachte sie. Er flieht!
»Don’t move! Ich bin bewaffnet!« Sie drückte die Tür auf. »Halt. Polizei! Legen Sie sich auf den Boden.«
Der Angriff erfolgte schnell. Der Schatten sprang auf sie zu, hatte eine Rohrzange erhoben. Sie wehrte den Schlag ab und warf ihr ganzes Gewicht gegen den Mann, der zurücktaumelte und aufs Doppelbett fiel. Ehe er sich aufrappeln konnte, zielte sie bereits auf ihn.
Er starrte sie an. Ein Junge. Seine Augen leuchteten geheimnisvoll dunkelgrün aus dem dreckigen Gesicht. Helen schätzte ihn auf 16, höchstens.
»Shit!«, entfuhr es ihr. »Beweg dich nicht. Zange runter! Nimm die Zange runter.«
In seinem Gesicht las sie keine Angst. Da war lediglich Wut. Auf seiner Suche nach Beute hatte er das Schlafzimmer verwüstet, alle Schubladen ausgeleert und den Kleiderschrank auseinandergenommen.
Sie ließ die Waffe im Anschlag. »Beruhig dich. Wer bist du? Was machst du hier?«
»Sie sind nicht von der Polizei.«
Auf seinen Handrücken konnte Helen Narben erkennen. Endlich hörte er auf, einen Ausweg aus seiner Lage zu suchen, und setzte sich aufrecht. Er fixierte sie.
»Doch. Nein. Kommt drauf an«, antwortete sie. »Aber ich habe die Waffe. So oder so. Du kommst jetzt ganz ruhig mit. Leg die Zange aufs Bett. Langsam … Haben wir uns verstanden?«
Er nickte nicht, sagte nichts. Der Junge spielte mit seiner Unterlippe, indem er sie über seine Schneidezähne rutschen ließ. Sie wusste, dass dies ein Zeichen für angestrengtes Überlegen war – aber auch für Rast- und Ratlosigkeit.
Er kann offenbar nicht einschätzen, wer ich bin. Gut so. Lass ihn im Ungewissen. Er ist stärker als du.
Endlich legte der Junge die Zange beiseite und hob die Hände hinter den Kopf. An seinen flüssigen Bewegungen registrierte Helen, dass er nicht zum ersten Mal verhaftet wurde.
»Gut so … Sag schon, wie heißt du? Ich krieg’s eh raus. Ist hier noch wer?«
»Nein. Ich bin allein. Mein Name ist Björn. Bitte schießen Sie nicht.« Er wollte aufstehen.
»He!« Sofort ließ sie die Waffe wieder hochschnellen. »Langsam hab ich gesagt.«
Sie wies ihn stumm an, sich zu erheben und vor ihr aus dem Zimmer zu gehen. Aus seiner dreckigen Containerhose lugte der Zipfel einer Plastiktüte, und während sie hinter ihm durch den Flur ging, bemerkte sie, dass er eine Packung Zigaretten unter das Shirt auf die Schulter geschoben hatte.
»Ich – ich bin vor dem Sturm hier rein. Ich bin grad aufgewacht. Ich wollte nichts klauen. Echt.«
»Klar. Und der Sturm hat das Zimmer verwüstet.«
»Ich hab nichts angerührt. Ich bin grad aufgewacht. Weil – weil ich Sie gehört habe.«
Endlich waren sie die Treppe runtergegangen und im Wohnzimmer angelangt. Im Licht der Panoramascheibe sah der Junge weniger bedrohlich aus. Er hatte keine Kutte an, wie die Leder- und Jeanswesten bei den Rockern hießen. Und er trug keine Patches, die typischen Aufnäher und Abzeichen.
ER hatte ihn nicht geschickt.
Dem Shirt nach zu urteilen war Björn Metal-Fan. Sein Haar hatte er zu einem Pferdeschwanz gebunden, und die beiden Abdrücke am Nasenrücken zeigten ihr, dass er gewöhnlich eine Brille trug. Helen bemerkte die Springerstiefel, aber er trug keine weißen Schnürsenkel. Da waren gar keine Schnürsenkel oder Socken.
»Wie alt bist du?«
»Zwölf.«
Helen lachte. »Das glaubst du doch selbst nicht. Wo ist dein Ausweis?«
Ohne nachzudenken, griff Björn zu seiner Hosentasche, ein Reflex, den er zu spät korrigierte. Na, dachte Helen, das hast du gut gemacht.
»Du bist also mindestens 16. Hier kriegt man den Personalausweis doch immer noch mit 16?«
Er nickte.
»Was ist mit deinen Händen passiert?«
Der Junge zuckte mit den Schultern.
»Das sind doch Brandverletzungen.« Irgendjemand hatte Zigaretten auf seinen Handrücken ausgedrückt.
Abermals zuckte Björn mit der Schulter. »Rufen Sie doch die Polizei.«
5
Er erwachte zusammengekauert. Nackt wie ein Embryo lag er zwischen Spüle und Schrank auf dem Boden.
In seinem Schädel hämmerte es. Die Schmerzen waren so wuchtig, dass er kaum die Augen öffnen konnte.
Nachdem er die beiden Wanderer zurück nach Valandsiel gebracht und sich artig verabschiedet hatte, war er zu seinem Wohnwagen gefahren. Er hatte es aufgegeben, noch einmal zum Haus vorzudringen.
Eigentlich hatte er in dieser Nacht alles aufgegeben.
Silja war tot.
In den Stunden, in denen der Sturm seinen Wohnwagen zu zerschmettern versuchte, hatte er hilflos dagesessen, dem Unwetter gelauscht, dem Knacken und Ächzen seines winzigen Heims. Schließlich hatte er dem Kreisen seiner Gedanken mit Isopropanol Einhalt geboten.
Taumelnd kam er auf die Beine.
Du musst etwas unternehmen. Du musst Silja verschwinden lassen, ermahnte er sich. Aber anstatt sofort loszulegen, gab er dem Drang nach, noch einmal an dem 99-prozentigen Alkohol zu schnüffeln.
Unter dem Bonsai-Draht zog er den Zehn-Liter-Plastikkanister hervor, drehte den schwarzen Verschluss ab und atmete tief ein.
Der Geruch war stechend. Das Isopropanol ätzte in seinem Hals und ließ ihn husten. Aber es dämpfte die Kopfschmerzen. Normalerweise nahm er gleich mehrere Züge, übertrieb es oft – wie letzte Nacht –, doch jetzt zwang er sich, den Kanister zurückzustellen.
Als er den Wohnwagen öffnete, stach ihm die Sonne in die Augen. Gegen das gleißende Licht ankämpfend, trat er vor die Tür. Wie die Schränke des Wohnwagens war auch sie bemalt. Mehrere Schichten blauer Farbe waren dick übereinandergepinselt worden, sodass die Tür in einem tiefgründigen Blau erstrahlte, auf das ein Kind gelbe Seesterne mit Plakafarbe gepinselt hatte.
Seine Hand legte sich auf das Blau, er fühlte die Farbschichten, die Riefen der groben Pinsel, unter seinen Fingerkuppen, die vom Isopropanol gereizt waren und die er oft mit Pflastern verband. Er spürte das Blau und drückte, fast zärtlich, die Tür zu.
Einige Male holte er tief Luft. Er roch das Meer und die Kiefern und traute sich, die Lider weiter zu öffnen. Die Sonne wärmte sein Gesicht. Ihre Liebkosung tat gut.
Wasser vom gestrigen Gewitter floss noch immer die schmale Auffahrt herunter und überflutete seinen nächsten Nachbarn, dessen Vorzelt zerfetzt im Gebüsch hing.
Parzelle 182 lag als letzter Stellplatz oben auf der Klippe vor den Kiefern. Er hatte ihn erst vor wenigen Monaten für weitere drei Jahre gemietet. Der Platz war nicht teuer, weil er recht abseits lag, weit weg vom Kiosk, den Duschen und dem Anleger. Außerdem gab es keinen Wasseranschluss, und von hier oben konnte man bloß über einen steilen Trampelpfad auf den Kiesstrand gelangen. Es gab wahrlich bessere Parzellen auf der »Weißen Klippe«.
Warum hast du Scheißsturm mir meine Silja genommen?, fragte er stumm. Er spürte, wie Wut in ihm aufkeimte und seine Lethargie hinwegfegte. Gut so. Er würde sich erst um Silja kümmern, und dann?
Es bleibt noch Zeit, ermahnte er sich. Du brauchst einen neuen Plan. Du wirst ihn abarbeiten. Punkt für Punkt.
Aus dem Außenfach des Caravans, in dem er allerlei Werkzeug verstaut hatte, zog er seine Kettensäge hervor. Silja würde er nichts tun, aber er wollte die Straße zu seinem Gehöft freiräumen. Da sein Pick-up keine Winde besaß, griff er sich ein stabiles Abschleppkabel.
Während er Öl und Gemisch auf die Kettensäge goss, rechnete er im Kopf hoch, wie lange es dauern würde, die Bäume wegzuschaffen. Er schätzte, 40 Minuten. Und wenn er sich beeilte, vielleicht eine halbe Stunde.
Der Nissan Navara D21 parkte direkt hinter dem Caravan. Wie in der Nacht zuvor schlug er die Plane beiseite. Darunter war es feuchtwarm. Ihre stahlblauen Augen waren blutunterlaufen und starrten ihn an. Ein paar Fliegen huschten über ihre Kopfwunde. Siljas Top war hochgerutscht, und er konnte große Leichenflecken erkennen, die sich von ihrem Rücken ausgehend hinauf zu ihren Schultern zogen.
Wie angeschlagene Stellen an einem wunderbaren Apfel.
Seufzend legte er Kettensäge und Abschleppkabel neben die Leiche und machte sich auf den Weg.
6
»Emilie, warte doch mal! … Bleib doch stehen.« Knut versuchte, sich vor die junge Ärztin zu schieben, aber sie war schneller.
Etwas Unverständliches brummelnd, bog Doktor Emilie Berg in die Aufnahme der Teleportal-Klinik ein, dem einzigen Krankenhaus Valandsiels. Der Wartebereich war von ungewöhnlich vielen Patienten besetzt, wie Knut registrierte.