Flutgrab - Derek Meister - E-Book

Flutgrab E-Book

Derek Meister

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Beschreibung

Neues vom eigenwilligsten Ermittler des Mittelalters: dem sturschädeligen Lübecker Rungholt

Viele verachten ihn, ein jeder fürchtet ihn: den Bankier D’Alighieri, der jedes Geheimnis der Lübecker Händler kennt. Ausgerechnet dieser undurchsichtige Mann bittet Rungholt nach ihm gestohlenen Schuldscheinen zu suchen. Eine einfache bitte, denkt Rungholt, ein simpler Diebstahl. Bis eine Serie von Todesfällen beginnt und klar wird, dass eigentlich eine kostbare Seekarte gestohlen wurde. Doch da ist Rungholt bereits in einen kühnen tödlichen Plan verstrickt und steht einem Gegner gegenüber, so gewitzt wie er – aber viel gefährlicher …

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Seitenzahl: 522

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Buch

Lübeck, Ende Juli anno 1394. Eine tote Magd. Acht verschwundene Kinder.

Als hätten die Lübecker nicht genug Sorgen, ersäuft die Stadt in einem nicht enden wollenden Unwetter. Auch Rungholt, dem bärbeißigen Brauer, steht das Wasser bis zum Hals. Die Lübecker können sich dieser Tage kaum eine Mahlzeit leisten, geschweige denn Rungholts Bier, da wird auch noch kurz vor den Toren der Stadt sein Konvoi überfallen, sein bester Freund Marek ist wie vom Erdboden verschluckt, und die kostbaren Handelswaren aus England werden geplündert. Seine Schulden beim unerbittlichen Roberto d’Alighieri, dem Geldverleiher aus Florenz, wird er so nie begleichen können! Doch als diesem etwas Wertvolles abhandenkommt, lässt sich der raffgierige Bankier auf einen Handel ein: Rungholt soll ihm die entwendeten Edelsteine wiederbeschaffen. Im Gegenzug erlässt d’Alighieri ihm die Schulden. Sollte Rungholt es jedoch nicht fertigbringen, den Täter zu stellen, gehen Haus, Hof und Brauerei an den berüchtigten Florenzer, und Rungholt steht vor den Scherben seiner Existenz …

Autor

Derek Meister wurde 1973 in Hannover geboren. Er studierte Film- und Fernsehdramaturgie an der Filmhochschule Potsdam-Babelsberg und schreibt erfolgreich Serien und abendfüllende Spielfilme fürs Fernsehen. Seit seinem ersten, für den Glauser-Krimipreis nominierten historischen Kriminalroman Rungholts Ehre hat er inzwischen vier weitere historische Kriminalfälle rund um den bärbeißigen Ermittler Rungholt verfasst. Derek Meister lebt mit seiner Familie in der Nähe des Steinhuder Meers.

Mehr über den Autor und seinen Ermittler Rungholt finden Sie unter:

www.rungholt-das-buch.de

Lieferbare Titel

Rungholts Ehre (36310; 37484)

Rungholts Sünde (36311; 37735)

Knochenwald (36850)

Todfracht (36894)

Derek Meister

Flutgrab

Historischer Kriminalroman

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen. Originalausgabe Mai 2012 bei Blanvalet Verlag, München, einem Unternehmen der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München. © 2012 by Derek Meister und Blanvalet Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen. Redaktion: Susann Rehlein Illustrationen: © Marion Meister, 2006, 2011 Covergestaltung: © Johannes Wiebel | punchdesign, unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com (Everett - Art; travelview; jocic; DrObjektiff; Eky Studio; javarman; vector illustration) lf ∙ Herstellung: sam Satz: Uhl + Massopust, Aalen ISBN 978-3-641-05544-8 V004

www.blanvalet.de

Für MarionOhne Dich kein Rungholt

ERSTES BUCH Brandung

Bis zum Himmel spritzet der dampfende Gischt,Und Flut auf Flut sich ohn’ Ende drängt,Und will sich nimmer erschöpfen und leeren,Als wollte das Meer noch ein Meer gebären.

Der Taucher, Friedrich Schiller

1

Lübeck, Ende Juli anno 1394

»Wenn sie dich zu lange ansehen, die Toten, nehmen sie dich hinab ins Meer. Sie ziehen dich in die Dunkelheit und stehlen dir deine Seele.«

Niemand hatte sich die Mühe gemacht, ihre Lippen zu schließen. Hübsche Lippen, wie Rungholt bemerkte. Vormals hübsche Lippen, berichtigte er sich, denn nun waren sie rissig und blau.

Auch ihre Augen waren blau. Wie durch einen Nebel starrten sie ihn an, als wollten sie ihn für das anklagen, was mit ihr geschehen war.

Rungholt mahnte sich zur Ruhe, beugte sich tiefer über das Gesicht der Toten und rückte seine Stegbrille zurecht. Das linke Glas war seit Jahren gesprungen, aber er hatte weder die Zeit noch das Geld, sich eine neue aus Italien kommen zu lassen. Hier oben im Norden waren Brillen rar.

Er rückte ihren Kopf aus den Regentropfen, die durchs schlechte Schuppendach fielen, und sah sich ihre Haut an. Wegen der Dunkelheit konnte er aber nicht genau sagen, ob sie bloß blass oder blau war. Brummelnd sah er sich nach seinen beiden Begleitern um, die im Bretterschuppen abseits der Leichen warteten und aus sicherer Entfernung Rungholts Tun zusahen. Gallberg, der Hospitalmeister, und Eric Dartzow, einer der vier Bürgermeister Lübecks, trauten sich nicht heranzutreten.

»Gallberg, ich brauche die Lampe.«

Mit einem Mal schoss grelles Licht durch die Bretterritzen des Schuppens. Ein Blitz erhellte flackernd den Raum, ließ die Züge der Neunzehnjährigen mehrmals aufleuchten. Draußen auf dem Hospitalhof konnte Rungholt Dartzows Riddere sehen, seine Leibwache. Die armen Kerle standen im Matsch und ertranken förmlich in dem Gewitter. Kurz darauf zerriss ein Donner das stete Trommeln des Regens.

Es war vor der Komplet, doch wegen der ewigen dunklen Wolken verließ Rungholt öfters sein Zeitgefühl.

Sein großer Kopf neigte sich noch einmal über das fahle Gesicht. Rungholts fässerner Körper vermochte kaum tief genug zu kommen, weil sein Bauch gegen das Brett stieß, auf dem sie die Leiche aufgebahrt hatten. Dennoch sah es für seine beiden Begleiter so aus, als versuchte er, die junge Frau zu küssen. Ihre Münder waren kaum mehr als fingerbreit voneinander entfernt, nachdem er sich mit den abgetretenen Trippen auf die Zehenspitzen gestellt hatte.

»Was treibt Ihr? … Riecht sie?«

Ohne sich umzudrehen, brachte Rungholt den Frager mit einer Handbewegung zum Verstummen. Er hatte es eilig und keine Zeit für unnütze Erklärungen. Ihn beunruhigte, dass das Gewitter seit der Vesper tobte und an Stärke nun auch noch zugenommen hatte. Diese Leichenschau kam zum ungünstigsten Zeitpunkt. »Gallberg! Lampe«, knurrte er und streckte seine Pranke nach hinten. Doch er wartete vergeblich. »Gallberg!«

Der Hospitalmeister rieb sich abwesend den Schweiß vom halbkahlen Schädel und warf noch einen Tannenzweig auf das Feuer, das er in einem Zinkeimer entfacht hatte. Augenblicklich verbreitete der Rauch sich in der Bude und schnürte ihnen den Atem ab. Immerhin vertrieb der beißende Rauch den Gestank der Verwesung, den die zwei Dutzend Leichen ausströmten, von denen viele nicht einmal ein Leichentuch bekommen hatten.

Seit anderthalb Jahren regierte in Lübeck nun schon der Hunger, doch in diesen Wochen war es besonders schlimm. Die Vitalienbrüder, eine Bande brutaler und gesetzloser Räuber zur See, hatten in der Ostsee die Oberhand gewonnen. Sie kontrollierten seit sechs Wochen, welche Schiffe Kurs auf Norwegen, Schweden und das Russenland nehmen durften. Sie plünderten und brandschatzten und griffen selbst Hanse-Konvois mit schwerbewaffneten Friedeschiffen an, die Lübeck lossandte. Der Seehandel war zum Erliegen gekommen und die Preise für einfache Lebensmittel – Stockfisch, Getreide und Fleisch – in die Höhe geschnellt.

Das Heilig-Geist-Hospital, das größte Siechenhaus zwischen See und Alpen, vermochte die Ausgezehrten nicht mehr zu fassen. Alle Betten des Langhauses, ob Frauen- oder Männergang, waren belegt, und selbst in den Fluren der Anbauten reihten sich die Strohlager aneinander. Der Armenacker hinter dem imposanten Gebäude glich einem von Pockennarben zerfurchten Gesicht. Dicht an dicht frische Gräber, die kaum zugeschüttet wieder aufgerissen werden mussten, um noch mehr Lübecker aufzunehmen. Nachdem es gut zweihundert waren, auf dem Stückchen Land zwischen Königstraße und Langem Lohberg, hatte Gallberg verfügt, die Leichen einstweilen in diese Bretterbude auf dem Gelände des Heilig-Geist-Hospitals zu bringen, wo sonst Gartengerät, Baumaterial und zwei Heuwagen lagerten. Noch immer war der Rat uneins, ob man Massengräber ausheben sollte – und solange die Herren keine Entscheidung trafen, hatten die Toten eben zu warten. Und langsam zu verrotten. Ein weiterer Blitz tauchte die aufgereihten Körper in sein weißes Licht, ließ Schatten an die Wände springen.

Die Brüder und Schwestern des Hospitals hatten die Verstorbenen auf rohe Holzbretter geschichtet. Der Koggenbauer Lüdje hatte sie dem Hospital geliehen – angeblich aus Nächstenliebe. Rungholt hatte jedoch gehört, dass sich Lüdje von den verwesenden Körpern ein gutes Einfetten der Schiffsplanken erhoffte. Die Körperfette, die bei dieser Feuchtigkeit langsam übers Holz sifften, ölten es angeblich gut. Rungholt hielt das für ein Ammenmärchen, aber so versuchte jeder, noch aus dem Tod seinen Profit zu schlagen. Kein Wunder, denn durch die Überfälle der Serovere waren der Handel und damit der Bedarf an Schiffsreparaturen oder gar neuen Koggen vollkommen zum Erliegen gekommen.

»Gallberg«, fuhr Rungholt den Mann hinter sich ungeduldig an. »Die Lampe. Verflucht. Gallberg!«

Das Knistern des Tannenzweiges vermischte sich mit dem Trommeln des Regens. Rungholt wollte gar nicht daran denken, wie sein Keller aussah. Sicher war er bereits vollgelaufen. Gestern Abend war ihm das verfluchte Wasser auf den Kopf geregnet. Es war durch den Himmel seines Bettes direkt auf seine Stirn getropft. Der Sturm hatte eine Reihe Dachschindeln heruntergerissen. Hoffentlich hatte Contz die Felle ordentlich an den Sparren angebracht und alles abgedichtet.

Endlich drückte der gedrungene Mann Rungholt eine Tranlampe in die Hand. Der Geruch von Schweiß und zu viel Bier wehte Rungholt entgegen. Er riss Gallberg die Lampe ruppig fort und zog der Frau das linke Augenlid hoch. Indem er ihr einen Holzspatel auf das Auge drückte, klappte er es um.

»Hmmm«, brummte er. »Zehn und auf der anderen Seite …« Er untersuchte auch die Innenseite des anderen Liddeckels. »Neun … Nun denn. Und die Augen … Ah ja … Geplatzte Äderchen am Rand.« Konzentriert ließ er den Schein der Lampe zu ihrem rechten Ohr gleiten. »Hier keine Flecken … Gut, haben wir das schon mal.«

Das Licht streifte die Wangen der Frau. Sie hatte feine Züge, einen kecken Leberfleck über dem Mundwinkel. Ihre Wangen fielen ein, aber das Licht des brennenden Robbenfetts schmirgelte ihre Haut eben. Die Hautfarbe jedoch war weniger appetitlich. Ein Hauch nur, doch das Bleiche, wie Rungholt auch im schlechten Lampenlicht erkennen konnte, ging ins Blau und nicht ins Weiß. »Bist so sauber. Siehst so geputzt aus«, sprach er zu sich selbst. »Hast vor deinem Tod das Badhaus besucht?«

Ihre Haare und ihre schlichte Tunika waren nass, aber er glaubte nicht, dass es der Regen gewesen war, der sie derart gründlich gewaschen hatte. Behutsam strich er ihre blonden Haare auseinander und versuchte, eine Verletzung zu finden. Vielleicht die Spur eines Knüppels, den Stich eines Messers …

Lediglich sieben Tannennadeln fand er in ihrem Haar. Stammten sie von Gallberg? Ist der Hospitalmeister mit seinen Zweigen unachtsam gewesen, hat sie herumgewedelt, als er den Leichengang entlanggelaufen ist?

»Verfluchte Entleibte«, brummte Rungholt und stellte die Tranlampe zwischen ihren nackten Füßen ab.

»Sie hatte keine Schuhe an«, mischte sich Eric Dartzow, Rungholts zweiter Begleiter, ein. Der Bürgermeister hielt sich ein besticktes Seidentuch vor Nase und Mund und trat widerwillig durch den Tannenrauch näher an die Schiffsplanke heran. »Als der Böttcher sie fand, hatte Agnes keine Schuhe an.«

»Es regnet seit Tagen. Vielleicht wollte sie ihre Schuhe nicht dreckig machen? Wie lange war sie fort?«

Der Bürgermeister seufzte. »Zwei Wochen. Vorletzten Dienstag wurde sie das letzte Mal gesehen. Auf dem Schrangen bei den Litten der Fleischhauer. Zumindest haben meine Büttel das berichtet. Sie haben sich auf dem Markt umgehört.«

»Fleischhauer? Hm. Haben die nicht geschlossen? … Und dieser Böttcher? Es ist seine Magd, ja? Die Magd des Böttchers …« Er fand den Namen nicht, obwohl Dartzow ihn genannt hatte, als er Rungholt auf dessen durchnässtem Dachboden aufgesucht und ihn gebeten hatte, sofort mitzukommen.

»Claas Meenkens. Aus der Hüx. Ja. Sie heißt Agnes. Und sie ist erst seit einem Dreivierteljahr Meenkens’ Magd. Ich habe sie ihm vermittelt.«

Rungholt warf Dartzow einen fragenden Blick zu.

»Meenkens stellt die Rotsponfässer für den Ratskeller her, ich kenne ihn flüchtig. Agnes hat bei mir im Haus gearbeitet. Es gab Streit mit meiner Frau, nun ja … Ich habe sie zum Meenkens geschickt. Der gute Mann ist über fünfzig und am Boden zerstört. Ich hab’s ihm verschwiegen, aber ich kann Agnes doch nicht wie eine der anderen Verhungerten behandeln.«

Langsam begriff Rungholt, warum der Bürgermeister ausgerechnet zu ihm gekommen war. Die beiden kannten sich nicht sehr gut, schätzten sich aber. Immerhin war es Dartzow gewesen, der Rungholt geholfen hatte, den Dornenmann zu stellen, und ihm Unterstützung bei Van der Hune gewährt hatte.

»Hat er gesagt, warum sie weg ist? Wieder Streit?«

Dartzow wischte sich die verschwitzten, langen, blonden Haare aus dem Gesicht. Er war vor ein paar Jahren erst mit zweiundvierzig Bürgermeister geworden und war noch immer eine imposante Erscheinung. »Nein«, sagte er knapp. »Sie ist fortgerannt. Wahrscheinlich eine Liebe.«

»Wahrscheinlich eine Liebe«, wiederholte Rungholt grübelnd und wandte sich wieder der Magd zu. »Soso. Die Liebe … Was hast du nur angestellt, Agnes …?«

Ohne den Blick von ihr zu nehmen, zog er sich einen Tonbecher heran, den er sich vom Hospitalmeister geliehen hatte, und ließ die Tannennadeln hineinfallen. Er suchte noch einen Moment weiter, konnte jedoch sonst nichts in ihren Haaren oder auf der Kopfhaut entdecken. Sicherlich hatte der andauernde Regen allen Staub und Dreck fortgespült. Ihre Fingernägel waren ebenfalls sauber. Ungewöhnlich für eine Magd, schoss es Rungholt durch den Kopf. Er sah sich die Finger der Reihe nach an, zückte seinen bereitgelegten Holzspan aber erst beim Ringfinger der linken Hand.

Vorsichtig kratzte er mit dem Holz etwas Dreck unter dem Nagel heraus. Es waren bloß einige Körnchen. Rungholt konnte nicht sagen, was es war, aber für Erde war die Substanz zu hell. Sand? Sie schimmerte, glitzerte, als er den Span ins Licht hielt. Er strich das Holz am Tonbecher ab.

Abermals nahm er sich ihr Gesicht vor, legte seine Pranke auf ihre Wangen. Seine Hand umschloss beinahe ihr ganzes Antlitz. Zierlicher Kopf, massige Hand. Er versuchte, ihren Kiefer zu bewegen, ihren Schädel, ihre Arme, doch die Tote ließ es nicht zu.

»Was seht Ihr?« Dartzow wedelte den Tannenqualm beiseite, konnte sich aber nicht überwinden, noch einen Schritt näher zu kommen.

Was ich sehe?, dachte Rungholt. Zwanzig Jahre, feine Haut, blondes Haar. Zwanzig Jahre Leben, unendlich langer Tod. Das sehe ich.

»Die Toten erstarren, Dartzow. Damit sie in den Himmel hinauffahren können. Sie ist wohl gestern gestorben, höchstens vorgestern. Steif wie ein Baum.«

»Eine Gruppe Soldaten hat sie gefunden, beim Wachgang an der Mauer, Höhe Hundegasse.«

Rungholt nickte. Nicht weit von dort hatte er seine Brauerei. »Erschlagen wurde die Magd nicht. Es gibt auch keine Einstichwunden und keine Brüche, soweit ich das fühlen kann. Keine Würgemale.« Er wollte hier so schnell wie möglich weg. Nicht nur wegen all der Toten – vor allem wegen seines Himmelbetts, das mittlerweile sicherlich aus dem Schlafzimmer gespült worden und die Diele hinabgetrieben war. Bei dem Gedanken, sein Haus unter Wasser vorzufinden, richtete er ein Stoßgebet gen Himmel. Lass Contz bloß die Felle aufgespannt haben.

»Was bedeutet das?«, riss ihn Dartzow ins Hier und Jetzt.

»An ihr sind keine Spuren von Gewalt. Natürlicher Tod.« Rungholt zog ihr die Leinentunika hoch. Er sah sich ihre Arme an. Der linke war leicht zerkratzt, und auch der rechte wies einige Spuren auf. Nichts Ungewöhnliches. Zwei, drei dunkelblaue Linien konnte er erkennen. Schmale Blutergüsse, nicht breiter als ein Griffel und von den Leichenflecken beinahe überdeckt. »Natürlicher Tod. Ich bleibe dabei.«

Der Bürgermeister seufzte. »Aber sie ist doch noch jung. Sie kann doch nicht einfach so gestorben sein.« Es klang auf beunruhigende Art verzweifelt.

Rungholt schlug das Leichentuch wieder über ihr Gesicht. Freiwillig war er nicht hergekommen, der Bürgermeister hatte um Hilfe gebeten. Seitdem Herman Kerkring wieder Rychtevoghede war, wusste Rungholt gern einflussreiche Ratsmitglieder auf seiner Seite. Also war er der Bitte nachgekommen und bei diesem Schietwetter mit dem Bürgermeister den Koberg hinaufgeeilt.

Aber er hatte keine Zeit und vor allem keine Lust, dem zweiten Bürgermeister Lübecks seine Schlussfolgerungen haarklein zu erklären. Es war gefährlich genug, dass bereits Männer vom Rat wie Dartzow sich seiner Kenntnisse bedienen wollten. »Vielleicht wurde sie vergiftet. Das ist aber eher unwahrscheinlich. Jedenfalls ist sie wohl erstickt.«

»Erdrosselt! Also doch.«

»Erstickt. Nicht erdrosselt.« Er wischte sich Schweiß von Wange und Stirn. Die schwere Luft machte das Atmen schwer. Wieso hatte dieser andauernde Regen keine kühle Luft gebracht? Lübeck schwamm in einem Grapen, über den man den Deckel gelegt hatte.

»Woran seht Ihr das? Woran seht Ihr so was nur, Rungholt?«

»Bläuliche Haut, und da sind Fleckchen. Blutpunkte in den Lidern, geplatzte Äderchen in ihren Augen. Seht es Euch selbst an.« Lächelnd griff er nach dem löchrigen Leichentuch, wohl wissend, dass Dartzow den Anblick nicht ertragen würde. Der Bürgermeister winkte ab.

»Sie hat keine Luft mehr bekommen. Oder vor ihrem Tod einen sehr starken Husten. Hatte Agnes Husten?«

»Weiß nicht.«

»Keinen Husten. Aha. Dann ist sie erstickt. Ich bleibe dabei.«

»Das ist alles?«

»Lasst mich sie aufschneiden. Ich entnehme ihr Herz, Leber, Nieren und Lunge, wenn Ihr es genau wissen wollt. Aber dieser Körper, er spricht nicht mehr zu mir.«

»Aufschneiden?« Dartzow bekreuzigte sich. »Lasst es gut sein. Beim lieben Vater im Himmel.«

»Ihr wolltet meine Meinung … Sie ist seit Tagen verschwunden. Eine unglückliche Liebe, eine Leben auf der Straße. Hat dieser … dieser Böttcher …«

»Meenkens? Aus der Hüxstraße.«

»Ja. Hatte der überhaupt noch das Geld, um sie zu bezahlen? Um ihr Essen zu geben? Seht Euch diesen Leib an.« Mit einem Knurren zog er das Leichentuch jetzt doch noch einmal fort und riss ihre Tunika auf, sodass ihre eingefallene Brust und ihr schmaler Körper offen und bloß dalagen.

Im Leben musste sie bereits klein und zierlich gewesen sein wie ein Kind. Im Tode war sie schlank wie ein Aal. Ihre Rippen zeichneten sich als staksende Wellen ab. Ihr Bauch war eine Kuhle. Haut spannte sich über Knochen.

»Das kommt nicht von der Verwesung … Sie wäre dieser Tage nicht die Erste, die Rinde, Pferdeäpfel und Steine frisst und dran krepiert, Dartzow.« Am liebsten hätte er hinzugefügt:

In diesen Tagen stirbt es sich leider viel zu oft einfach so in Lübeck.

2

»Cooooooooonnnntz! … Dreck! … Verkackter Saubengel von einem Bangbüx! Dieser räudige Kotzenschalc!« Rungholts sonore Flüche hallten durch die Nacht. Von Gallberg kommend, war er geradewegs in sein Schlafgemach geeilt. Mit hochrotem Kopf riss er am Himmelbett herum und verfluchte die Wassertropfen, die durch die Deckenbalken bis auf seine Wangen fielen. Sie kühlten ihn nicht im Mindesten ab. Im Gegenteil.

Über seine Tirade erschrocken, rutschte Hilde der Ledereimer aus der Hand. Gemeinsam mit Rungholts Frau Alheyd hatte die Magd Henkelkannen, Schüsseln, selbst eine alte Truhe als Tropfenfänger im Schlafzimmer aufgestellt.

»Ich werde … Der soll meine Knute spüren«, belferte Rungholt. »Wieso hat Contz nicht nachgesehen? Wieso habt ihr nutzlosen Weiber nicht nachgesehen! … Ich könnt meine Bruche vollkotzen! Verflucht seid ihr alle!«

»Rungholt!«, fuhr Alheyd ihn entsetzt an.

»Ist doch wahr!« Er ließ einen langgezogenen Schrei vernehmen, atmete dann endlich durch. »Wo steckt dieser Contz, dieser Sack?«

»Zu mir hat er gesagt, er hat alles festgebunden. Er wollte nur nicht aufs Dach. Zu glitschig auf den Schindeln«, erklärte Alheyd milde. Normalerweise liebte er seine sehr viel jüngere Frau für ihren Feinsinn und ihre gütige Ader, aber in solchen Momenten wünschte er sich, eine der Hafendirnen geehelicht zu haben. »Er wollte warten, bis es aufhört zu …«

»Zu regnen?«, fuhr er Alheyd an. »Brillant!« Vor Zorn lachend, trat Rungholt eine der Kannen um. Sie flog scheppernd gegen das Himmelbett und spritzte alles voll. »Warten, bis es aufhört zu regnen! Ich werd ihn prügeln, da geht ihm die Sonne auf! Das sag ich dir. Das wird ein Fest, wird das! … Cooooontz!«

»Wir haben gemeinsam mit ihm auf den Dachböden alles zur Seite geschoben. Ist nur halb so schlimm. Wir …«

»Was hier schlimm ist, das entscheide ich. Weib!«

Rungholt schob Alheyd beiseite und blaffte seine Magd an: »Hol mehr Grapen. Und stell sie auf den Dachboden. Direkt unter die Löcher, du dummes Stück. Und wisch da oben auf! Nicht hier.« Es war lange her, dass er mit der treuen Hilde so umgesprungen war, doch er ahnte Fürchterliches, und Agnes’ Leichenschau hatte viel zu lange gedauert.

Die Tür hinter sich zuschlagend, eilte er aus dem Zimmer, polterte, so schnell es seine Knöchel zuließen, die steile Treppe zum ersten Dachboden hinauf. Der Schein einer Tranlampe, die Contz neben dem Aufgang vergessen hatte, zeigte Rungholt das Ausmaß des Unheils.

In dem niedrigen Dachboden, in den sie über ein Schwungrad komplette Karren voller Waren heraufziehen konnten, stand die schwüle Sommerluft. Die Feuchte tat ein Übriges, um Rungholt binnen weniger Augenblicke schwitzen zu lassen. Er spürte, wie sein Herz flatterte, und rang nach Atem.

Zwar hatten die Frauen mit Contz einige Truhen voller Pelze und ein paar Gewürzsäcke beiseitegeschoben, jedoch aus irgendeinem Grund nicht alles gerettet. Fünf Bücherfässer standen noch immer dort, wo Rungholt sie vorletzten Sommer eingelagert hatte. Halb so schlimm, die Tonnen waren seetauglich. Schlechter als den Büchern erging es den Tuchballen und einigen abgedeckten Stapeln Fehs, denn das Wasser hatte sich über die rauen Bodenbretter, deren Ritzen mit Spelzen und Mäusedreck verschlossen waren, seinen Weg zu ihnen gebahnt. Wahrscheinlich hatte Alheyd gedacht, die Waren stünden weit genug von dem Loch im Dach weg.

»Der Teufel soll diese Weiber holen«, knurrte Rungholt und überschlug den Wert der Eichhörnchenfelle. Sie stammten aus Novgorod. Er hatte sie als Notgroschen für solche Zeiten der Hungersnot gedacht. Wenn auch nur die Hälfte davon fleckig werden sollte, war das Geld eines halben Jahres verloren. Vergeblich versuchte er, die Fellstapel ein paar Klafter weiter zu ziehen, sie waren viel zu schwer.

Ein Donnern zerriss das Trommeln des Regens und ließ den Flaschenzug kaum merklich erzittern. Sein feines Klirren hielt an, als der Donner längst verklungen war. Rungholt meinte, das Haus beben zu spüren. Er schwang die Tranlampe. In der Ecke über dem Schlafzimmer sah es aus, als regnete es von der Decke. Es fehlten nur noch die Gewitterwolken unter dem Gebälk. In feinen Strömen lief das Wasser herab und pladderte lautstark auf die Bretter. Widerliches Wasser. Es war wie eine schimmernde Hand, die mit ihren klafterlangen Fingern mehr und mehr von seinem Hab und Gut an sich riss. Das Wasser lief die Ritzen entlang und nahm Elle um Elle des Dachbodens in Besitz. Tausende Tropfen, die sich zu einer stummen Armee vereinten und ihn hinwegspülen wollten.

Wenn es so weiterschüttet, wird dieses Scheißwasser meine Diele fluten und mir schließlich beim Unterschreiben der Verträge ein Loch in den Schädel tropfen. Das muss ein Ende haben. Augenblicklich!

»Coooooooontz!«, schrie er abermals, aber seine Worte wurden vom nächsten Donner geschluckt. Unwillkürlich zuckte er zusammen. Dann schnappte er sich eine Leiter, um auf den zweiten Dachboden hinaufzusteigen. Wieso hatten diese dummen Gänse die Schüsseln und Kannen erst im Schlafzimmer untergestellt, anstatt sie ganz nach oben zu schaffen?

Direkt unter dem First konnte er noch weniger atmen, und das Klopfen des Regens war ohrenbetäubend. Vom Wind gepeinigt, knarzten selbst die schulterbreiten Baumstämme, die als Pfetten das Dach trugen. Rungholt schob sich am Schornstein vorbei, der hier oben im Inneren des Hauses endete. Sein Qualm sollte sich auf das Getreide legen und es haltbar machen, auch wenn es dann stets nach Ruß schmeckte. Alle Fässer und selbst die kostbaren geölten Schnitzaltäre, die Rungholt seit Jahren vergeblich feilbot, hatten diesen Qualmgeruch angenommen. Weil er mit dem Bauch am versottenden Stein entlangschrubbte, saute er sich seinen teuren Tappert von oben bis unten ein. Das mit Pelz verbrämte und mit Kaninchenfellen gefütterte Gewand war augenblicklich schwarz vor Ruß und Dreck.

Rungholt quetschte sich weiter vor und zwischen den letzten beiden Stockfischfässern hindurch, als seine Säfte vollends zu kochen begannen. Hinter den Fässern schlug der Wind ihm entgegen, ein Prasseln und Toben, als stünde sein Haus auf einer Klippe an der See. Der Regen – die Gischt eines fremden Meeres. Zwei der Rinderfelle, die Contz fertig befestigen sollte, als Dartzow Rungholt abgeholt hatte, waren abgerissen und flatterten im Sturm. Außerdem waren weitere Schindeln fortgerissen worden, sodass der Regen ungehindert ins Haus pladdern konnte. Grimmig packte er eine Truhe und schob sie unter das Loch. Nach zwei Anläufen gelang es ihm, seine einundzwanzig Lispfund hinaufzuziehen. Er streckte seinen Kopf hinaus, stand stöhnend und nach Atem ringend im Regen und blickte über die Schindeln. Binnen dreier Atemzüge war er bis auf die Haut nass. Lübeck lag in der gewittrigen, blauschwarzen Nacht da wie Felsen in der Gischt. Der Sturm trieb Schauer über die Dächer und ließ den Regen kochen.

Seit letztem Jahr teilten sich die Beete seiner Magd mit einigen Baracken den schmalen Hinterhof. Rungholt hatte sie für seinen Knecht Contz und seine beiden Kaufmannsgesellen errichtet. Das Wohnhaus in der Engelsgrube stand recht hoch am Lübecker Hügel, sodass er die Schemen der anderen Häuser bis in den Süden gut in der Nacht erkennen konnte. Bei jedem Blitz erstrahlten die Staffelgiebel, die Dächer und die sieben Kirchtürme der Stadt. Das Wasser auf den Schindeln blitzte scharf im Licht, bevor alles – St. Marien, das Rathaus, der Dom, das Haus seiner Tochter – wieder von der vollkommenen Finsternis geschluckt wurden.

Rungholt ließ seinen Blick hinabgleiten, die Engelsgrube entlang zum Hafen. Er erkannte, dass es auf der anderen Seite der Trave am Horizont brannte, irgendwo hinter Lüdjes Lastadie. Wahrscheinlich hatte der Blitz unweit des Wegs nach Schwartau eingeschlagen.

»Du gehst mir da nicht rauf! Komm runter da! Hast du zu viel Genever mit Dartzow geleert?« Alheyds Schimpfen drang zu ihm ins Freie. Sie wollte ihn an der Hand packen und ins Haus ziehen, aber er drückte seine Frau mit dem Bein fort.

»Halt’s Maul, Weib«, zischte er. »Oder willst du, dass wir absaufen?! Sollen wir leckschlagen wie eine Kogge? Lass mich.«

Alheyd war mit Contz heraufgekommen. Der zwölfjährige Junge hielt sich im Hintergrund und kaute auf seinen Fingernägeln.

»Contz! Endlich!« Rungholt steckte seinen Kopf in den Dachboden. »Felle her! Und Seil! Und halt mich fest!« Der Knecht duckte sich unter jedem Wort weg. »Felle her, du verblödeter Sack! Los doch.«

Anstatt sich zu bewegen, starrte Contz bloß Hilfe suchend zwischen Rungholt und Alheyd hin und her, den Finger im Mund.

»Wenn wir hier fertig sind, darfst du die Knoten in deine Knute binden. So viele, wie dir schmecken.«

»Rungholt«, mischte sich Alheyd ein.

»Was?!«

»Du machst ihm Angst.«

»Das ist auch Sinn der Sache. Soll den verkackten Finger aus seiner Fresse ziehen.« Rungholt begann zu frieren. Warum ist Marek nicht hier, zürnte er. Dieser Haudegen von einem Kapitän hätte das Loch längst abgedeckt – und dazu wahrscheinlich im Gewitter ein Liedchen geschmettert.

Fürstlich belohnt hätt’ ich ihn, anstatt hier klitschnass mit meinem Weib und diesem … diesem … Ihm fiel vor Zorn kein passendes Wort für den Jungen ein.

Hilde war es schließlich, die Rungholt die Felle reichte. Unter Alheyds strafenden Blicken hob sie sie zu Rungholt ins Freie, woraufhin sich endlich auch Contz aus seiner Starre löste.

Mittlerweile war das Gewitter von Schwartau herübergezogen und tobte direkt über der Stadt. Donner und Blitz wurden eins. Sie zerschlugen die Nacht und fuhren Rungholt in die Knochen. Er musste beide Hände von den glitschigen Holzschindeln nehmen, um das Fell gegen den Wind zu halten und es irgendwie glatt über die Sparren zu bekommen. Er schlug es über das Loch, stützte sich mit der einen Hand auf den Schindeln ab und stemmte seinen Fuß in die Fluten, die die Dachpfannen hinabströmten.

»Contz«, schrie er. »Festbinden! Binde das Fell fest!« Immer wieder schlug der Wind die Haut hoch, peitschte sein Gesicht. Mit aller Kraft gelang es ihm, das Fell zu bändigen und hinunterzudrücken. »Los doch! … Contz?«

Auch seine zweite Hand löste er von den Schindeln, er reckte sie Contz entgegen, der ihm ein Lattenstück hochschob, damit er das Fell besser fixieren konnte. Rungholt streckte sich nach dem Holz, da schlug der Blitz ein.

Die Nacht strahlte taghell. Sofort war er ohne Orientierung. Der Blitz zerriss das Hier und Jetzt. Auf Höhe von Swonekens Badestube, keine zehn Häuser entfernt, schoss das Göttliche Feuer zuckend vom Himmel und steckte augenblicklich Hadecke Krömers Haus in Brand.

Der Donner, der nahezu zeitgleich die Luft erschütterte, war derart laut, dass Rungholts Herz einen Sprung tat und er vor Schreck den Halt verlor. Er griff sofort nach den Schindeln, aber seine Finger rutschten ab.

»Oh nein«, schoss es ihm durch den Kopf, als sein Gewicht ihn durch das Regenwasser nach unten zog. Herumwirbelnd sah er noch die Flammen den Himmel über der Schwönekenquerstraße erhellen, aber denken konnte er nur noch einen Satz: Jetzt musst du bezahlen.

Das war alles.

Nur dieser eine Gedanke.

Ich muss bezahlen.

Im nächsten Augenblick rutschte er schreiend der Nacht entgegen, hörte die Schindeln an sich entlang- und davonschlittern und versuchte verzweifelt, sich im Schlingern festzuklammern. Zu spät. Er spürte, wie sein Hintern mit einem Mal nichts mehr unter sich hatte. Die Kante! Die Traufe! Er war über das Dach hinausgeschossen.

Vier Klafter bis zur Engelsgrube. Da war nichts außer Luft. Zwanzig Ellen bis in den Tod. Rungholt schrie. Er schrie und schrie, und er stürzte und schrie, und er fiel ins Schwarz.

3

Durch das Schwarz am Grunde des Ozeans trieb der Schnee.

Er fiel nicht vom Himmel, denn es gab keinen Himmel.

Hier gab es kein Oben, kein Unten, kein Rechts, kein Links.

Der Schnee schwebte aus dieser raumlosen Finsternis heran wie sanfte Gänsefedern. In großen, zarten Flocken.

Rungholt fror. Er wollte sich auf den Bauch rollen, aber statt seiner Glieder war da bloß Kälte.

Die Flocken tanzten durch das Dunkel, zuckten eigentümlich, weil ein zitternder Wind, den Rungholt nicht spürte, an ihnen zerrte. Warum er sie sah? In dieser vollkommenen Schwärze? Das wusste er nicht.

Der Schneefall wurde dichter, die Flocken wurden kleiner und härter. Mehr und mehr von ihnen tanzten einen aufgeregten Reigen.

Es war ihm, als wollten sie ihn treffen, ihn verletzen. Und tatsächlich wurde aus dem Tanz eine wilde Jagd. Der Schnee reihte sich auf, die Flocken bildeten Fäden.

Dafür wirst du bezahlen, schoss es ihm abermals durch den Kopf. Für den Schnee wirst du bezahlen.

Rungholts Welt wurde weiß, während er bewegungslos in den Nachthimmel starrte.Wie Perlen auf einer Schnur stürzten die weißen Kristalle jetzt auf ihn herab. Ihr weißes Glitzern bekam einen rötlichen Schimmer, und es war Rungholt, als verwandelte sich der Schnee in Funken.

Der Schnee, er trägt mich in die Hölle. Lass ihn schmelzen. Ich bitte dich, Gott.

Der Schnee wurde ein Feuergestöber, das pfeilschnell seine Glut auf ihn abschoss.

»Die Hölle«, entfuhr es ihm, während die Feuertropfen niedertosten.

Lass ihn nicht wiederkommen. Nimm den Schnee von mir.

Er schrie und wollte sich herumwerfen, konnte sich aber vor Schmerz nicht bewegen. »Weg! Weg! Verschwinde!« Ein Fisch auf dem Koggendeck schnappt nach Luft.

Im nächsten Moment erkannte Rungholt endlich seine Frau und die Magd. Sie beugten sich über ihn, und er bemerkte, dass keine schimmerichte Glut auf ihn gestürzt war, sondern es die Rinnsale des Gewitters gewesen waren. Sie glühten und glitzerten rot, weil neben Alheyd und Hilde ein Mann mit einer Fackel stand.

»Er lebt«, hörte er eine ruhige, sonore Stimme.

Wo war er? Wenn dies nicht die Hölle war, dann wohl die Engelsgrube. Die harten Feldsteine, die er vor seinem Haus in die Pfützen geschmissen hatte. Ja. Er war auf die Straße gestürzt.

»Könnt Ihr Euch bewegen?«, fragte der Fremde. Im Feuerflackern streckten sich beringte Finger nach Rungholts Schulter aus.

»Mein Rücken.« Langsam gewöhnte Rungholt sich an die Helligkeit. Er blickte in ein langgezogenes Gesicht. Kaum Falten, als habe das Leben sie dem Mann aus dem Antlitz gezogen, dabei aber Kinn und Nase ins Groteske nach unten gezerrt. Eine tiefe Narbe in Form eines gestürzten Y zog sich die ausgemergelte Wange entlang. Sie reichte beinahe vom linken Mundwinkel bis zum Ohrläppchen.

Im zuckenden Licht der Fackel wirkte der Fremde wie ein lebender Schatten mit zu langen Gliedmaßen und zu langer Nase.

Spüre ich meine Beine noch? Meine Beine? … Ja. Da sind sie. Ich kann sie bewegen, ich …

»Ich glaube, ich bin verletzt.«

Der Mann ließ seine Fackel über Rungholt gleiten, sofort drehte der geblendet den Kopf weg. Jetzt erkannte er endlich, wo er war. Er war in den zweiten Dachboden gestürzt. Keine drei Ellen vor der Traufe hatte sein Gewicht die Schindeln brechen lassen, und er war – statt auf die Straße – bloß ins Innere des Hauses gefallen. Einen Dachboden tiefer. Er lag auf dem Rücken, alle viere von sich gestreckt, wie einer der bunten Käfer, die seine Tochter Mirke einmal zu Dutzenden auf die kleine Mauer am Koberg gelegt hatte.

Rungholt war bloß einen Klafter tief gefallen, hatte aber mit seinem Rücken ein Fass zerschlagen und lag nun auf einem Butterberg. Dumm bloß, dass er in diesen Butterfässern Geschirr verfrachtete, damit es – vollkommen in Butter eingeschlossen – nicht brechen konnte. In einer Kogge konnten die Fässer ruhig bei schwerem Seegang stürzen, aber dem fetten Kaufmann hatten sie nicht standgehalten. Einige Zinnteller ragten gefährlich neben Rungholt aus dem Fett. Er wollte sich zur Seite drehen, da durchfuhr ihn ein brennender Schmerz. Etwas hatte sich in seinen Rücken gebohrt.

»Du blutest.« Alheyd schlug behutsam Rungholts rußig-nassen Tappert beiseite. Eine Lache sickerte unter seinem Rücken hervor über die Butter, dennoch keuchte er Alheyd und dem Fremden zu, ihm aufzuhelfen. Hilde leuchtete mit der Fackel, während die beiden den vor Schmerz fluchenden Rungholt aufrichteten.

In seinem Rücken steckte das Stück einer kostbaren Glasphiole. Die Scherbe war zwei Daumenbreit in sein Fleisch eingedrungen.

»Ich hole einen Arzt.«

»Nein«, entfuhr es Rungholt. »Auf keinen Fall! Willst du, dass ich krepiere? Quacksalber, verfluchte Brut … Mir geht’s ja gut, Weib. Mir geht’s gut.« Er wischte sich das Wasser aus dem Gesicht und wandte sich an den Fremden. »Ihr! Ihr zieht es raus.«

Der Mann nickte bloß und fragte ruhig: »Mit einem Ruck oder langsam?«

Normalerweise reichte Rungholt ein kurzer Blick, um sein Gegenüber einzuschätzen – doch bei diesem Fremden fiel es ihm schwer. Die schwarze, pelzverbrämte Schecke, die gezattelten Beinlinge und das mit Gulden Stuckh verzierte Wams wiesen ihn als Ratsmitglied aus, doch Rungholt hatte ihn noch nie im Rathaus gesehen. Und ein derart hagerer Ratsmann wäre ihm sicherlich aufgefallen unter all den bierbäuchigen Kaufleuten. Hier im Dunkel des Dachbodens vermochte Rungholt nicht zu sagen, ob er einem Edelmann oder einem Gauner gegenüberstand.

Angewidert wandten sich die Frauen ab, als der Fremde nach der Scherbe griff. Er ließ seine Finger auf Rungholts Rücken ruhen und zog nicht sofort. »Bereit?«, fragte er.

»Wie heißt Ihr? Warum seid Ihr hier?«

»Ich bin de Kraih. Und ich soll Euch abholen.« Der Mann seufzte, als sei ihm die Antwort peinlich. »Aber das sollten wir Männer unter uns besprechen.«

»De Kraih?« Rungholt hatte den Namen noch nie gehört. Die Krähe, dachte er. Wie passend bei einem Mann mit solcher Nase. »Mitten in der Nacht wollt Ihr mich abholen?«

»Ja. Aber ich denke, die Verschwiegenheit kommt auch Euch gelegen.«

»Verschwiegenheit endet oft mit einem Messer im Rücken«, entgegnete Rungholt ernst, wandte sich halb um und fixierte das langgezogene Gesicht. »Wer schickt Euch?«

»Das kann ich Euch leider nicht sagen«, meinte der Mann mit einem Seitenblick zu den Frauen. »Es ist besser so, glaubt mir.«

»Warum sollte ich mitkommen?«

»Weil Euch …« De Kraih beugte sich vertraulich vor und flüsterte: »Weil Euch das Wasser bis zum Hals steht. Wörtlich, will ich meinen, Rungholt. Denkt an Eure Brauerei.« Ein kaltes Lächeln umspielte seine Lippen.

»Sprecht ruhig laut. Ich habe keine Geheimnisse vor meinem Eheweib und …« Das war eine Lüge, doch bevor Rungholt weitersprechen konnte, zog de Kraih mit einem Ruck die Scherbe aus seinem Fleisch.

Abermals drang Rungholts Schrei durch die Nacht.

Die Scherbe war gerade eingedrungen und hatte sein Rückgrat um zwei Zoll verfehlt. Butter und Ruß hatten die Ränder der Wunde verschmiert, sodass Alheyd alle Mühe hatte, mit einem in Rotwein getränkten Leinenfetzen alles sauber zu reiben. Abermals wollte sie nach dem Wein greifen, aber Rungholt hatte die Karaffe bereits ausgetrunken. Jammernd hing er über dem Tisch in seiner Scrivekamere, das Kleid hochgeschoben, und sah missmutig zu, wie seine junge Frau in einen der Salzsäcke griff, um eine gehörige Prise herauszufischen.

»Wird etwas brennen. Bist du bereit?«

»Das teure Zeug an mich zu verschwenden.« Rungholt biss die Zähne zusammen und nickte. Der Schmerz kam in zwei Schüben: Als Erstes fürchterliches Brennen und kurz darauf ein atemraubendes Pochen, das sich bis in seinen linken Arm zog.

Auch eine halbe Flasche Rotspon später hatte er sich geweigert, nach einem Arzt zu rufen. Stattdessen war er, Alheyd hinterdrein, von de Kraih weg in seine Dornse gehumpelt. Das Bett im ersten Stock war ihm zu nass. Der Anblick der überlaufenden Kannen und Schüsseln hätte ihn nur ein weiteres Mal erzürnt.

»Wahrscheinlich müssen wir die Wunde ausbrennen.«

Rungholt brummte. »Ach was. Das verheilt so.«

In der Dornse war es äußerst warm und weniger schwül als im Haus. Sie teilte sich den Kamin mit der Feuerstelle der Diele, und die Glut vom Abendessen vertrieb jegliche Nachtkühle.

»Wir sollten uns beeilen«, drang de Kraihs Stimme durch die geschlossene Tür. »Mein Auftraggeber wartet nicht gerne.«

»Wer sagt mir, dass es keine Falle ist?«, rief Rungholt und hörte als Antwort erst einmal lautes Schmatzen. De Kraih ließ sich von Hilde ordentlich auftischen. Das in Bier aufgebrockte Brot vom Abendessen schmeckte dem Fremden. Obwohl ein einfaches Gericht, hatte Hilde es mit Butter, Koriander und Petersilie aus ihrem neuen Garten liebevoll verfeinert. Wahrscheinlich, dachte Rungholt, hat dieser hagere Kerl seit Wochen nichts Ordentliches zu beißen bekommen.

»Ich«, kam endlich die Antwort. »Ich sage Euch, es ist keine Falle.«

»Ach, und Euch kann ich trauen?« Ein Blitz zerriss die Nacht und ließ die Feinwaage mit ihren Gewichtchen, Rungholts Tintenfässchen und die durch die Jahre speckig gewordene Nussbaumverkleidung der Wände aufleuchten.

»Findet es doch heraus … Vorzüglich, Euer Essen, übrigens.«

Rungholt fing Alheyds Blick ein. Sie wollte nicht, dass er mit dem Fremden ging – verletzt und mitten in der Nacht. Jedoch wusste Alheyd nicht, dass ihre Brauerei seit Ende August letzten Jahres durchgehend rote Zahlen schrieb. Das Doppelhaus an der Ecke Hundegasse und Lohberg war ein tiefer Brunnen, in den Rungholt Tag um Tag mit vollen Händen seine Witten schmiss. Dass de Kraih von dieser Misere wusste, konnte nur bedeuten, der Braumeister hatte geplappert. Rungholt selbst vertuschte die finanzielle Lage der Brauerei beharrlich. Er hielt sich tapfer an dem Strohhalm fest, die Brauerei werde wieder sprudeln, sobald erst die Hungersnot vorbei war.

Er wollte aufstehen, aber Alheyd drückte ihn noch einmal herunter, um den Leinenverband festzuziehen. »Du musst zum Medicus. Oder geh zu Sinje. Tu mir den Gefallen, ja? … Ich hab nicht mal Scharpie im Haus.«

Rungholt küsste ihre Hand und strich eine Strähne unter ihre hübsch bestickte Haube. Der Goldton ihres Haares erinnerte ihn stets an Honig. »Du machst das ausgezeichnet, Alheyd. Tut mir leid, dass ich … da rauf bin.« Er nickte zur Decke.

»Du mit deinem Sturschädel, Rungholt. Du bringst dich noch um.«

»Ach was. Ich dachte, ich mach ein zweites Loch ins Dach. Damit ’s Wasser ablaufen kann.«

Spielerisch schlug sie mit dem Leinenrest nach ihm.

»He.« Er musste lachen, versuchte sich aufzurichten, aber der Schmerz zog sich bis in seinen linken Arm. »Ich pass schon auf mich auf.«

Sie küsste seine Stirn, musste aber sauer den Kopf schütteln, als sie sah, wie Rungholt seine Gnippe aus seinem Gürtel zog und die Klinge des kleinen Klappmessers prüfte.

4

Mittlerweile waren Rungholt seine feinen, aus Lammleder gefertigten Cracowers egal, trotz der hohen Trippen waren sie längst durchgeweicht und wahrscheinlich ein Fall für die Sickergrube. Seine dicke Gugel aus Loden hielt den Regen ab, aber bereits auf Höhe des Schrangen spürte er klamme Kälte im Rücken und seinem Leinenverband, weil die Nässe an ihm hinaufkroch.

Die Buden der Fleischhauer waren zugenagelt, teilweise sogar abgebaut. Wo sonst in morgendlichem Eifer Schweinefleisch, Ochsenhälften und Schafe herangekarrt wurden, um feiner zerteilt und verkauft zu werden, herrschte Leere. Der Schrangen war verwaist.

Missmutig stapfte er durch die Pfützen. Ein gleichmäßiges, stumpfes Klappern erfüllte die stickige Luft, und Rungholt sah sich zur Fronerei um. Ein paar Gefangene hatten ihre Arme aus den schmalen Fenstern gestreckt und ließen ihre leeren Dauben gegen die Metallstangen schlagen. Wahrscheinlich vom Hunger erschöpft und zu nichts anderem mehr in der Lage. Das Gefängnis Lübecks war seit Mitte Juni überfüllt, nachdem der Rat eine Bande ehrloser Töpfer und Seifensieder festgesetzt hatte. Siebzehn Mann, die Hennikens Wagen voller Stockfisch hatten ausrauben wollen. Eine Verzweiflungstat, bloß einen Steinwurf von St. Marien entfernt. Nun hockten sie auf Reisig in den Gefängniskammern, die alle nach Handelsstädten benannt waren. Sie saßen in Paris und Brabant und krepierten da am Hunger, anstatt bei … und mit ihren Familien.

Je näher sie ihrem Ziel kamen, desto unbehaglicher wurde ihm. Er ahnte inzwischen, von wem de Kraih gesandt worden war.

Als sie in die geschwungene Gasse abbogen, Stroh und Unrat trieben an ihnen vorbei, war Rungholt sich gewiss. Sein Bauchgrimmen ließ ihn schlucken, und er hielt noch einmal an, mit dem diffusen Gefühl, vor einer Prüfung zu stehen. Einen Moment blickte er in die Nacht und kam sich vor, als wäre er wieder dreizehn Jahre alt, und der Lehrer am Koberg hatte seinen Stock bereits gezückt und verlangte die Lateinaufgaben zu sehen. Mit einem Kloß im Hals blickte er sich zum Dom um. Die Zwillingstürme des riesigen Backsteinbaus ragten in den Himmel. Schwarz auf schwarz. Es war kein Stern zu sehen, bloß der Mond versteckte sich hinter den Wolken.

»De Kraih?«

»Ja?« Der hagere Mann war vor einem gekalkten Backsteinbau stehen geblieben, hielt die Öllampe in den Regen und versuchte, Rungholt zu erkennen.

»Ihr hättet ruhig sagen können, welcher Teufel Euch schickt.«

»Tut mir leid. Ich habe meine Order.« De Kraih verneigte sich und gab mit großer Geste den Weg frei.

Rungholt trat vor. Sein Blick glitt zur Seite. Neben der Tür hingen Wimpel tropfend herab. Es sah aus, als weine die Lilie in ihrem Wappen. Er bekreuzigte sich, bevor er den silbernen Türöffner packte. Sie waren nicht zu einem Konkurrenten unterwegs oder einem Käufer für die Brauerei, sondern zu einem sehr viel unangenehmeren Mann.

D’ Alighieri.

Auf Roberto d’ Alighieri war in Lübeck niemand gut zu sprechen. Abfällig nannten sie ihn alle den Florenzer. Zumindest hinter vorgehaltener Hand, denn niemand wollte sich mit dem mächtigen Mann anlegen.

Die ehrbaren Lübecker wechselten lieber die Straßenseite, wenn sie ihn sahen – und gaben dem Mann niemals die Hand. D’ Alighieri galt als unrein, weil er Geldgeschäfte machte und mit den Schulden anderer seinen Lebensunterhalt verdiente. Der Kontakt mit ihm war laut Ratsbeschluss verboten – trotzdem stand jedes Ratsmitglied früher oder später vor seinem wimpelbewehrten, weiß getünchten Haus. All die wohlbeleibten, mit Ketten behängten Händler gaben sich bei d’ Alighieri die Klinke in die Hand und fluchten dennoch über den florentinischen Teufel.

Auf alles gefasst, trat Rungholt ein und sah sich um. De Kraih löschte seine Lampe und ging voraus, wo sich vor ihnen ein Labyrinth eröffnete. Von außen wirkte das gepflegte Haus mit den grünen Bleiglasfenstern nicht groß, aber d’ Alighieri hatte es mit den umstehenden Häusern verbunden, hatte Wände herausgebrochen und die Dielen mit einem unübersichtlichen Netz von Fluren durchzogen. Links und rechts führten immer wieder Türen in winzige Kammern, die Rungholts Dornse ähnelten, nur dass sie noch kleiner waren. Fensterlose Zimmer, in denen die Lübecker ihr letztes Hab und Gut für ein mickriges Darlehen hergaben. Zellen wie in der Fronerei, dachte Rungholt. Wie im Kerker am Schrangen werden die Lübecker auch hier festgekettet. Nicht durch Eisen, sondern durch ein viel wirksameres Mittel: einen Vertrag. Die Schulden schnüren so manchem Handwerksmeister und Kaufmann mehr Blut ab, als eine Halskrause das vermag.

Ein Weinen drang zu ihnen und ein paar Schritte später das Flehen eines alten Mannes. Geldklimpern und das metallene Schaben von Waagschalen hallten durch den Flur. Spärlich beleuchteten Öllampen und Kerzen die Gänge. Ihre Flammen spiegelten sich matt in den dunklen Holzvertäfelungen. Rungholt kam es vor, als könnte er die Verzweiflung der Schuldner riechen.

Im Vorbeigehen sah er durch einen Türspalt einen blässlichen Schreiber. Der junge Mann fuchtelte mit seinem Griffel durch die Luft und redete auf einen Kaufmann ein, den Rungholt im ersten Moment für den Kämmerer der Zirkelgesellschaft hielt, ein ehrbares Ratsmitglied aus der Mengstraße. Kaum wollte Rungholt sich jedoch vergewissern, ließ der Schreiber die Tür vor Rungholts Nase durch einen Stoß mit dem Fuß ins Schloss krachen.

Rungholt hatte nie in einer dieser Kammern gehockt, weil er seinen bisher einzigen Kredit mit d’ Alighieri persönlich verhandelt hatte. Dennoch spürte auch er seit letztem Winter, wie die Halskrause aus Rückzahlungen und Zinsen seine Kehle zuschnürte.

Zinsen, dachte er verächtlich. Verboten und dennoch geduldet. Weil die meisten Ratsherren selbst in d’Alighieris Verlies hinabstiegen, um eine Kiste voller Gold herauszuziehen. Und wofür? Um sich noch prächtigere Gewänder zuzulegen und ihre Frauen auszustaffieren, damit jeder auf dem Markt sah: Seht her! Ich habe Geld! Ich habe Macht!

D’ Alighieri lebt von der Prahlsucht anderer, dachte Rungholt. Vom Versagen, von Lügen und Neid. Das ist seine Nahrung.

Unvermittelt verzweigte sich der Flur. Obwohl Rungholt schon mehrmals hier gewesen war, um für seine Unternehmungen in England den Kredit zu bekommen, hatte er noch immer das Gefühl, ins Labyrinth des Minotaurus vorzudringen, in dem ein Menschen verschlingendes Ungeheuer lebte.

Der Florenzer hatte nichts Stierhaftes an sich, sondern erinnerte Rungholt durch seine spindeldürre, kahle Gestalt und seine Gichtfinger eher an einen verknorpelten Krebs. Zu viele Arme, kalte Augen und tödliche Scheren.

Sie bogen zwei weitere Male ab und erreichten eine mit Eisen beschlagene Tür, die von zwei Relieftafeln geziert wurde. Engel, die sich vom lieblichen Duft der Lilien betören ließen. Der Türklopfer, ein Löwe, wollte jedem die Hand abbeißen.

Während de Kraih die Tür ohne zu klopfen aufstieß, holte Rungholt noch einmal Luft. Die Narben auf seinem rechten Handrücken hatten zu jucken begonnen. Er widerstand dem Drang zu kratzen und drückte den Rücken durch. Trotz der Verletzung wollte er nicht wie ein Bückling vor dem Florenzer erscheinen.

»Scheiße«, hörte er d’ Alighieri poltern. »Das hat lange gedauert, de Kraih.«

»Verzeiht Herr, aber Rungholt hatte einen Kampf. Er …«

»Kampf?«

Rungholt trat durch die Tür und setzte ein Lächeln auf.

D’ Alighieris hagere, bleiche Erscheinung war beeindruckend im Schein der zwei Dutzend Öllampen, die ringsum standen. Ein blaues Gewand aus Brokat umfloss seine ausgezehrte Gestalt und strömte, einem Wasserfall gleich, an ihm herab, um sich über seine Schnabelschuhe zu ergießen. Ihre Spitzen lugten unter der schweren Houppelande hervor. Der Stoff drückte die Bänder herunter, mit denen d’ Alighieri sie an seinen Beinen befestigt hatte.

Der Florenzer saß auf einem Thron. Zumindest kam es Rungholt so vor, denn der Bankier hatte seinen hübsch gedrechselten Walnussstuhl auf Kisten gestellt. Von da oben hatte er seine drei Prokulanten, die unablässig auf Wachstafeln jedes Wort mitschrieben, besser im Auge.

Und jeder muss zu dir aufblicken, du stinkender Aasfraß.

»Tretet ein. Tretet ein.« D’ Alighieri lehnte sich vor und musterte den Besuch. »Scheiße, Ihr seid ja ganz nass.«

»Er wurde auf dem Heimweg überfallen, konnte die Männer aber in die Flucht schlagen. Ein Messer traf seinen Rücken.« De Kraih verbeugte sich und machte Rungholt Platz.

Zögerlich trat Rungholt näher an den lächerlichen Kistenthron, während hinter ihm zwei Leibwachen die Tür verstellten.

»Porca vacca«, ätzte d’ Alighieri und stand auf. Er konnte das schlechte nordische Wetter nicht leiden und hatte sich über die Jahre angewöhnt, ständig zu fluchen. Er hasste einfach alles an Lübeck: Das Wetter, die Kaufleute, die Backsteinhäuser und engen Gassen. Wahrscheinlich, dachte Rungholt, hasst er unsere Stadt, weil er sie kaum zu Gesicht bekommt und sich über ihre Pracht nur Erzählungen anhören muss.

Du hast dir hier in deinem Labyrinth dein eigenes kleines Königreich erschaffen, dachte Rungholt. Und deine Blicke gefallen mir nicht.

Tatsächlich schienen sie nicht seinen nassen Lodenmantel zu mustern, sondern etwas an ihm zu suchen. Rungholt schauderte. Er war sich nicht sicher, aber lächelte d’ Alighieri? Schwer zu sagen, ob diese schmalen, blauen Lippen dazu überhaupt fähig waren.

Der Bankier räusperte sich. »Einen Kampf sollte man wohl lieber meiden. Mit unserem … Rungholt.«

Es war das erste Mal, dass er den Bankier seinen Namen aussprechen hörte. Abermals lief ihm ein Schauer über den Rücken. Aus d’ Alighieris Mund klang es eher nach Unhold. Sein Name bekam mit einem Mal etwas Grobschlächtiges, Unanständiges. Rungholt war sich nicht sicher, ob seine Worte eine Anspielung sein sollten. Wusste der Florenzer etwas über den Kampf in seiner Jugend? Über das Massaker im Schnee? Irena? Oder lag es schlicht an d’Alighieris Dialekt?

Unhold.

»Wiesberg!«, rief d’ Alighieri seinen Leibarzt und schwang einen goldenen Kratzstab. »Kommt und helft Rungholt. Schaut nach seiner Wunde.« Er musste lachen. »Purgieren ist bei ihm wohl nicht vonnöten, Wiesberg. Scheiße auch: Seine Säfte werden gleich mehr als in Wallung geraten.« Er grinste Rungholt kalt an und winkte auch einen seiner Schreiber zu sich.

»Was meint Ihr? Ich bin im Rückstand. Das weiß ich wohl. Aber deswegen ruft Ihr doch nicht nach mir? Mitten in der Nacht?«

»Ich hasse den Schlaf, Rungholt. Ihr nicht auch?« D’ Alighieri fuhr sich mit dem Kratzer ins Gewand und rieb seine Beine. Das Ergebnis gefiel ihm offenbar nicht, denn mürrisch entblößte er seine dünnen Schenkel. Anscheinend war er unter seinem Überkleid nackt.

Mit einem Knurren schob Rungholt Wiesberg beiseite, der mit einer Daube voller Scharpieverbände und einer Schere zu ihm geeilt war und ihm allen Ernstes die Gugel abstreifen wollte. »Quacksalber. Gut, dass Ihr Verbände mitgebracht habt. Da fällt Euer Kopf nicht so hart in die Schüssel, wenn Ihr mich anfasst.«

Verwirrt blickte Wiesberg auf die Daube, bevor er begriff und unsicher ein paar Schritte zurücktrat in Richtung d’ Alighieri. Der kratzte sich noch immer. Jetzt sah er aus wie ein Wirrkopf aus dem Heilig-Geist-Hospital, so manisch ließ er den Stab über seine nackten Beine fahren, ganz entrückt. Er war erst zufrieden, als etwas Blut seine Schenkel hinunterlief. »Hirschtalg. Wiesberg hat mich, Scheiße noch eins, wunderbar geschnitten.« Er wollte weiterkratzen, aber der Kratzer zerbrach. D’ Alighieri warf ihn nach Wiesberg. Der Leibarzt schien solche Attacken gewohnt zu sein, er duckte sich nicht einmal.

»Dieser Hirschtalg, den er mir in die Schnitte gerieben hat. Die Pest, Rungholt. Die Pest. Das fühlt sich an wie tausend kackende Ameisen.«

»Der Hirschtalg ist gut für Eure Haut, d’ Alighieri. Ihr wisst, wenn Ihr zu viel purgiert, könnt Ihr zu Rinde vertrocknen. Es dauert nur zwei Gebete lang, und Ihr könntet schrumpeln wie die Haut einer Eiche.«

»Ach, porco dio«, lustlos wischte d’ Alighieri mit der Hand durch die Luft. »Und wenn schon. Das Gewitter ist gut zum Aderlass, also schneidet mich ein zweites Mal.« Er wandte sich an Rungholt. »Wird mir meine schwarze Galle rausdrücken, der Wiesberg. Bin immer so melancholisch. Aber im Ernst, was soll man in diesem kalten, dreckigen Scheißdorf auch anderes sein als melancholisch!«

Langsam spürte Rungholt die Nässe. Sie drang durch den Loden und ließ ihn unangenehm frieren. Die letzten Stunden taten ihr Übriges. Seitdem der Bürgermeister ihn aus der Scrivekamere geholt hatte, war Rungholt nicht einen Augenblick zur Ruhe gekommen. Und nun war er es leid, sich Geschichten über Lübeck oder die Viersäftelehre anzuhören. »Was wollt Ihr von mir?«

»Ich hörte, Euer Konvoi wurde aufgerieben.«

Ein Satz wie der Schlag einer Streitaxt.

»Was?«

»Bei Schwartau.«

Konnte das sein? Rungholt spürte, wie sein Herz einen Moment aussetzte. Er hatte die Flammen gesehen. War das etwa kein Blitzschlag gewesen, sondern seine Wagen aus Brügge, die so kurz vor dem Ziel angegriffen worden waren?

Marek, schoss es ihm durch den Kopf. Wenn er in einen Hinterhalt geraten war und … Hoffentlich lebte er noch.

»Wer … Wer … Von wem wisst Ihr …?«, stammelte er und musste sich zwingen, nicht weiterzusprechen oder auch nur betroffen dreinzublicken. Zeig Härte, mahnte er sich und wischte d’ Alighieris Worte beiseite. »Meine Waren sind längst in der Stadt.«

Mit einem kalten Lächeln verschränkte d’ Alighieri die Finger. Unter seinen langen Nägeln klebte Tinte. Oder war es getrocknetes Blut? Rungholt war sich nicht sicher.

»Ich habe meine Späher, Rungholt. Ich weiß, dass Eure Brauerei beklagenswert läuft. Um nicht zu sagen, verschissen beschissen. Und ich weiß, dass Ihr einen Konvoi nach Brügge geschickt habt. Vor …«, er tat, als versuchte er, sich zu erinnern, »sechs Monaten? Fünf Monaten? … Tuch habt Ihr gekauft? Eisen? … Gewürze. Sicherlich Gewürze. Nun. Ich denke, damit hättet Ihr mein großzügiges Darlehen zurückzahlen können.«

Ich muss hier raus.

Rungholt sah sich bereits im Eilschritt zu Dartzow laufen, um ein paar Riddere nach Schwartau zu schicken. Dieser stinkende Florenzer widert mich an. Ich muss sehen, ob es wahr ist. Ich muss nachsehen, was mit meinem Konvoi passiert ist. Ich muss sehen, ob Marek noch lebt.

»Seid nicht so ungeduldig«, zischte d’ Alighieri, dem offenbar keine Regung Rungholts entging. »Von Eurem Konvoi ist nichts mehr übrig. Da ist nichts zu retten. Er ist vollkommen ausgebrannt.«

»Wenn es denn stimmt. Ich zahle Euch das Darlehen für die Brauerei zurück. Zu Allerseelen habe ich sicher alles beisammen, um …«

»Das glaube ich kaum.«

Rungholt spürte, wie der Zorn in ihm hochstieg. Er ließ sich nur ungern einfach das Wort abschneiden, und wenn es nicht d’ Alighieri gewesen wäre, hätte er bereits seine Gnippe gezückt.

»Das bisschen, was Ihr an Handel noch treibt … Diese verdammte Seeblockade – wahrlich ein Disastro – verschlingt die Brauerei. Da kann ich ewig warten. Nicht nur bis November.«

»Was wollt Ihr, d’ Alighieri?«

»Scheiße auch! Immer geradeheraus. Ohne Umwege. Compesce mentem.«

Hatte der Florenzer ihn gerade beleidigt? Rungholt verstand kaum Latein. Er setzte ein Lächeln auf. »Es ist spät. Langweilt mich nicht mit Floskeln.«

»Nun denn.« Mit einem Mal stand d’ Alighieri auf. Instinktiv wich Rungholt einen Schritt zurück. Der Florenzer war gute zwei Meter groß, aber spillerig wie ein Birkenstamm. Zwei seiner Schreiber ließen das Kritzeln sein, eilten zu ihm und halfen ihm von den Kisten. Wiesberg brachte Holzpantoffeln und raffte d’ Alighieri die Houppelande hoch.

Sehr behutsam, als könnte er bei jedem Schritt zerbrechen, schob der dürre d’ Alighieri sich zu Rungholt vor. Das Licht der Öllampen spiegelte sich in seinen schwarzen Augen und verlieh seiner Haut die Farbe von vergorener Milch.

Rungholt zwang sich, keinen weiteren Schritt zurückzuweichen, strengte sich an, dem Mann in die Augen zu blicken.

D’ Alighieri beugte sich vor, und Rungholt meinte, Hirschtalg selbst im Atem des Florenzers zu riechen. Einen Moment studierte d’ Alighieri Rungholts Augen, dann zischte er vertraulich: »Ihr werdet das Darlehen nicht zahlen können, also will ich nur eins von Euch … Eure Brauerei.«

»Meine Brauerei?«

»Das Doppelhaus an der Hundegasse. Mit Sudkessel und allem, was darin ist. Und ich will dein Scheiß-Grutrecht sowie alle Bestellungen und deine Fracht- und Kundenlisten.«

Verärgert bemerkte Rungholt, dass d’ Alighieri begonnen hatte, ihn zu duzen. Am liebsten hätte er dem Kerl den Hals aufgeschnitten. Was er hier vortrug, war kein Angebot, sondern eine Beleidigung.

»D’ Alighieri!« Rungholt trat derart forsch auf den Florenzer zu, dass dessen Wachen nervös nach ihren Schwertern griffen. »Ihr beleidigt mich! Ihr holt mich mitten in der Nacht her, um meine Ehre zu kränken und mir ins Gesicht zu sagen, ich könnte meine Schulden nicht zurückzahlen?«

»Gut erkannt …« Statt zurückzuweichen, lächelte d’ Alighieri bloß. »Scheiße, Rungholt. Lasst Eure Fäuste unterm Mantel. Ihr mögt Handelsrouten kennen. Ihr mögt wissen, was die Menschen in zwei Monaten oder drei Jahren zu kaufen wünschen. Ich jedoch, ich kenne meine Kunden. Ich kenne ihre Bücher. Vaffanculo, ich kenne manche Gläubiger besser, als sie sich selbst kennen.«

Seine schwarzen Augen schienen Rungholt zu durchdringen.

»Euer Novgorodgeschäft ist wegen der Vitalienbrüder zusammengebrochen. Ergo keine Einnahmen. Scheißpack, diese Serovere. «

Rungholt öffnete den Mund, aber d’ Alighieri fuhr an seiner statt fort: »Euer Schwiegersohn in England? Liegt er noch immer mit Koliken danieder und hat Probleme, seine Miete aufzutreiben? Musste sich ein dreckiges Loch nehmen, weil der Stalhof überfüllt ist. Platzt ja aus allen Nähten Euer Kontor da drüben. London. Beschissenes Wetter, genau wie hier.«

»Er hat viel Wolle eingekauft. Das Geschäft läuft glänzend. Wir werden alles über Brügge …«

»… bis Schwartau bringen«, beendete d’ Alighieri und lachte.

Rungholt fühlte nach der Gnippe, war bereit, das Klappmesser zu zücken. Du blutloser Wittenfresser machst dich über mich lustig? Sollst sehen, wie schön ich dich zur Ader lasse. Staunen wird Wiesberg. Der Zorn peitschte Rungholt die Röte ins Gesicht. Das Schlimmste waren nicht d’ Alighieris Worte, sondern dass er Recht hatte. Dieser Aasfresser sprach lediglich aus, was Rungholt seit Pfingsten wusste.

»Verkackte Lage, Rungholt. Das ganze schöne Geld … Einfach hinfort. Ihr habt keine Einnahmen. Die letzten Monate nicht. Ich weiß es. Und Eure Brauerei frisst Euch die Haare vom Kopf.« Er strich sich sehr behutsam mit den Gichtfingern über seine Glatze und rief mit einem Mal: »Wiesberg! Hirschtalg her. Das Kribbeln lässt nach.«

Sofort eilte Wiesberg zu ihm. Fassungslos und innerlich bebend musste Rungholt zusehen, wie Wiesberg d’ Alighieri die Houppelande über den Kopf schlug. Der Florenzer war darunter tatsächlich splitternackt. Er hatte bloß seine übertriebenen Schnabelschuhe an. Sein Schwanz baumelte wie eine vertrocknete Birne hin und her. Sein ausgemergelter, blasser Körper war an Beinen, Armen, selbst am Bauch von Schnitten gezeichnet. Wie oft mochte Wiesberg seinen besten Patienten zur Ader gelassen haben? Hundert Mal, Tausend Mal?

Rungholt wurde übel. Alle Wut versiegte angesichts dieses entstellten Leibs. Er wollte nur ins Bett und spürte, dass die Müdigkeit zurückkehrte und wie eine Welle über ihm zusammenschlug. Für einen Augenblick trübte sich sein Gemüt. Der Schmerz im Rücken, die Sorge um Marek. Jetzt musste er also bezahlen. Der Regen schlug gegen die Bleiglasfenster. Sein Haus, sein Heim, von den Fluten hinfortgerissen. Gott sandte ihm seine persönliche Sintflut.

»Keine Einnahmen, ergo keine Rückzahlung. Causa finita est. Die Sache ist entschieden.«

Rungholt versuchte tief Luft zu holen, um den Schwindel zu vertreiben. Der stechende Schmerz, der ihm vom Rücken in den Arm fuhr, weckte ihn aus seiner Verzweiflung. Nein. Für ihn war noch nichts entschieden. Noch bestimmte er den Handelsabschluss! Das Geschäft war eine Beleidigung, d’ Alighieris Forderung viel zu hoch, hatte Rungholt sich einst doch das Recht erstritten, als Einziger für den Export und für die Stadt zu brauen. Sobald die Serovere aufs Rad gespannt wären, würde die Brauerei mehr als sprudeln.

Würde … Sobald … Wenn …

»Es kann noch Jahre dauern«, fuhr d’ Alighieri fort, der offenbar abermals Rungholts Gedanken gelesen hatte und ihn über sein hochgerafftes Kleid hinweg anblickte, »bis die Serovere vertrieben sind. Jahre.«

Ich weiß, dachte Rungholt, ich kann die Brauerei nicht so lange am Leben erhalten. Du hast schon Recht …

»Dieses Geschäft ist eine Beleidigung, d’ Alighieri. Und das wisst Ihr. Ihr erpresst mich mit Euren Zinsen und …«

Die Tür wurde aufgerissen. Ein Büttel mit krausen schwarzen Haaren stürzte herein. Er hatte dreckige Beinlinge an und eine derbe Heuke aus Hanf. Seine Knie, die durch große Löcher lugten, waren zerschrammt und kotbeschmutzt wie seine Füße, die in groben Holzschuhen steckten.

»Scheiße!«, fluchte d’ Alighieri. »Nicht jetzt!«

Schnurstracks eilte der Junge auf d’ Alighieri zu. Er hatte einen Knüppel in der Rechten, doch bloß de Kraih stellte sich ihm in den Weg. Die Prokulanten verzogen sich jeder in eine andere Ecke.

»Herr! D’ Alighieri, Herr!«, rief der Krauskopf ganz außer Atem.

»De Kraih, lasst ihn durch. Lasst ihn …«

Einen Moment wusste der Büttel offenbar nicht, wie er standesgemäß vor d’ Alighieri treten sollte. Der Junge zögerte und sah zunächst Wiesberg zu, der sich hingekniet hatte, d’ Alighieri in den Oberschenkel schnitt und das Blut in einer Schüssel auffing. Der Büttel entschied sich, seinem Herrn einfach ins Ohr zu flüstern, und trat zögernd neben den Medicus.

Es waren keine guten Nachrichten, denn kaum hatte der Krauskopf ausgesprochen, schlug d’ Alighieri voller Wut um sich. Er traf Wiesbergs Schüssel, und etwas von seinem Blut spritzte auf den Boden.

»Ihr seid zu dumm, ihr verkackten Nichtsnutze von bescheuerten Nordlichtern! Ein einzelner Mann! Ein Dieb! Und ihr könnt ihn nicht festhalten!? Wie konnte er entkommen?«

»Er ist durch eine Mauer und … hat uns den Weg versperrt … Dazu der Regen … Wir haben ihn verloren.«

D’ Alighieri schnappte nach Luft und trat schließlich Wiesberg in die Seite, der verzweifelt versuchte, den Blutfluss zu stoppen.

»Steht hier nicht rum! Lauft los! Merda, was steht ihr hier rum?«, fuhr d’ Alighieri erst den Jungen an, dann seine Wachen und schließlich de Kraih. »Findet ihn! Geht ihn suchen! Und bezahlt die Wachtmeister, sie sollen die Tore schließen. Er darf nicht aus der Stadt gelangen.«

Rungholt sah sich das Schauspiel an und hatte mit einem Mal eine Eingebung, die ihn für einen Lidschlag lächeln ließ. Das war es. Das war die Lösung. Die Planke inmitten des Mahlstroms, an die er sich klammern konnte.

»Wie ich höre«, begann er vorsichtig, »sucht Ihr jemanden?«

D’ Alighieri winkte ab, als sei sein Wutausbruch nicht der Rede wert.

»Nun, ich könnte Euch behilflich sein.«

»Ihr?«

»Der Rat bittet mich ab und an um Hilfe.« Das war nur halb gelogen.

»Der Rat … Richtig. Man sagt, Ihr würdet Leichen küssen und mit Eurer Nase Mörder finden … Scheiße, hattet Ihr nicht auch einen Spitznamen …« D’ Alighieri blickte Hilfe suchend zu den Deckenbalken hoch, dann zu den zahlreichen Öllampen. Rungholt fiel sofort auf, dass er bloß so tat, als müsse er sich an den Namen erinnern. »Ligawyi … Ist russisch, nicht?«

Rungholt brummte lediglich. Er würde d’ Alighieri nicht den Gefallen tun, es zu übersetzen. »Ich finde ihn für Euch, d’ Alighieri. Wenn Ihr bestohlen wurdet, finde ich den Dieb.«

»Ach.«

»Und ich nehme an, er hat etwas von beträchtlichem Wert gestohlen.«