Rungholts Sünde - Derek Meister - E-Book

Rungholts Sünde E-Book

Derek Meister

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Beschreibung

Historische Hochspannung vom Feinsten!

Lübeck, zur Passionszeit 1392: Eine Hitzewelle erstickt die Stadt, doch den ehrbaren Bürgen gefriert das Blut in den Adern. Es werden Leichen gefunden, mit Steinen in der Brust an Stelle des Herzens. Auf Bitten des Magistrats ermittelt der bärbeißige Patrizier Rungholt mit seinen Helfern Kapitän Marek und der aufgeweckten Chirurgin Sinje, deren kecker Widerspruchsgeist und medizinische Kenntnisse ihn ziemlich faszinieren. Doch die Lösung des bizarren Falls liegt nicht in der Fremde, sondern bei Rungholt selbst: in seiner größten, ungesühnten Sünde – und bei einem frommen Wanderprediger …

Nach dem erfolgreichen Erstling nun der neue Roman um den bärbeißigen, Patrizier Rungholt.

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Seitenzahl: 790

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einem Unternehmen der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 München Copyright © 2007 Derek Meister / Blanvalet Verlag Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück, Garbsen. Covergestaltung: © Johannes Wiebel | punchdesign, unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com (Everett-Art; Ralf Gosch) LF · Herstellung: sam
ISBN: 978-3-641-04010-9V003
www.blanvalet.dewww.penguinrandomhouse.de

Buch

 

Lübeck, Passionszeit 1392. Eigentlich hat der bärbeißige Patrizier Rungholt andere Sorgen: Er plagt sich mit seiner baufälligen Brauerei, die ein wahres Geldgrab ist. Doch dann erschüttert ein grausiges Ereignis die Hansestadt: Bei Brunnenarbeiten wird die halb verweste Leiche eines Mannes gefunden. Jemand hat dem Opfer das Herz herausgeschnitten und ihm dafür Steine in die Brust gelegt.

Richteherr Kerkring stellt Rungholt in Aussicht, ihm beim Ausbau seines Brauereibetriebs unter die Arme zu greifen, und Rungholt lässt sich von Kerkring überreden, die Ermittlungen in dem Mordfall zu übernehmen. Wie damals vor anderthalb Jahren, als Rungholt seinen ersten Mordfall erfolgreich löste, ist auch diesmal wieder sein Freund und Helfer Kapitän Marek mit von der Partie. Doch der ist frisch verliebt in die freche Chirurgin Sinje, die sich regelmäßig auch in die Ermittlungen einmischt  …

Autor

 

Derek Meister wurde 1973 in Hannover geboren. Er studierte Film- und Fernsehdramaturgie an der Filmhochschule Potsdam-Babelsberg und schreibt erfolgreich Serien und abendfüllende Spielfilme fürs Fernsehen. Seit seinem ersten, für den Glauser-Krimipreis nominierten historischen Kriminalroman Rungholts Ehre hat er bereits drei weitere historische Kriminalfälle rund um den bärbeißigen Ermittler Rungholt verfasst. Derek Meister lebt mit seiner Familie in der Nähe des Steinhuder Meers.

 

Mehr Informationen über den Autor und seinen mittelalterlichen Ermittler Rungholt finden Sie unter: www.rungholt-das-buch.de

Inhaltsverzeichnis

Über den AutorWidmungPrologErstes Buch - TOD
Kapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22
Zweites Buch - ERLÖSUNG
Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27Kapitel 28Kapitel 29Kapitel 30Kapitel 31Kapitel 32Kapitel 33Kapitel 34Kapitel 35Kapitel 36Kapitel 37Kapitel 38Kapitel 39Kapitel 40Kapitel 41Kapitel 42Kapitel 43
Drittes Buch - LEBEN
Kapitel 44Kapitel 45Kapitel 46Kapitel 47Kapitel 48Kapitel 49Kapitel 50Kapitel 51
EpilogNachwortGlossarCopyright

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Für Marion

Prolog

Lübeck, 22. März Anno 1392 – zwei Tage vor Mittfasten

 

Die Erde ist unser aller Grab. Gerecht blickt der Allmächtige auf uns herab. Doch hier unten sind wir seiner Liebe fern.

Allrich wollte diesen beängstigenden Gedanken abschütteln, doch es gelang dem jungen Mann nicht. Zu trostlos war der schlammige Ort am Fuße des Brunnenschachts, an dem er arbeitete.

Behutsam schob er die Leiter beiseite und kniete sich hin. Der Boden unter seinen Knien fühlte sich kalt an. Seine Beinlinge hatten sich voll Wasser gesogen. Schon seit mehreren Stunden versuchten sein Bruder und er herauszubekommen, warum sich ihre Senkbohlen nicht weiter in die Erde bohrten. Anscheinend waren sie auf eine harte Erdschicht gestoßen.

Mit beiden Händen schob Allrich den feuchten Lehm beiseite und kontrollierte die schweren Holzbalken.

Hier unten sind wir fern von Gott.

In den letzten Wochen überkamen den Brunnenbauer diese frevelhaften Gedanken immer häufiger. Denn war Gott nicht überall, war er nicht allmächtig?

»Hast du was gefunden?«

Allrich sah den schmalen Schacht hinauf. Oben, kaum zu erkennen vor dem abendlichen Himmel, reckte Nantwig den Kopf über die Kante, aber anstatt sich die Leiter hinabzubemühen, grinste sein Bruder nur.

»Komm lieber runter und hilf mir!« Allrich schob noch mehr Erde und Lehm beiseite, kratzte und stocherte dann mit einer kleinen Schaufel unter der letzten, schweren Holzbohle herum, um zu finden, was ihre Bohlen aufhielt. Endlich konnte er im Matsch die untere Kante des Balkens ausmachen.

»Bring eine Fackel runter«, rief er. Es würde bald dunkel werden, und er hatte keine Lust, im Finsteren unten im sumpfigen Lehmloch zu hocken – auch wenn es einer ihrer eigenen Brunnen war. Eines ihrer eigenen, lehmigen Löcher. Und zudem ein gekonnt gegrabenes Loch. Allrich war stolz auf ihre Arbeit, auch wenn ihn das Graben in der Tiefe ängstigte. Der Brunnen maß etwas mehr als ein Klafter auf ein Klafter und führte, von Schachtbohlen bewehrt, viereckig und schnurgerade nach unten. Direkt in die Erde von Pelzhändler Fossedes Hinterhof, ihrem Auftraggeber. Da fiel Allrich ein, dass sie noch immer nicht bezahlt worden waren. Außer einem kläglichen Vorschuss hatte der Mann sie bisher nur vertröstet.

»Vorsicht mal, Brüderchen!«, ertönte Nantwigs Stimme erneut von oben. Doch die Warnung kam zu spät – die Fackel, die Nantwig fallen gelassen hatte, traf Allrich am Kopf.

»Au! Verflucht! Immer drauf, Nantwig! Natürlich! Der Herr ist ja zu dumm, mit der Fackel in der Hand runterzukommen.« Fluchend kroch Allrich herum und griff nach dem mit Binsen umwickelten Ast.

Am frühen Morgen waren die beiden Brüder auf eine Tiefe von drei Klaftern vorgedrungen, aber noch immer waren sie nicht auf ausreichend Grundwasser gestoßen. Immerhin war das Erdreich, in das sich langsam die Schachtbretter hinabgesenkt hatten, zusehends schlammiger geworden. Beinahe ohne ihr Zutun waren die schweren Holzbohlen in die Erde gesunken, nur von ihrem eigenen Gewicht beschwert. Doch gerade als Allrich die dreizehnte Bohle oben aufsetzen wollte, hatten sich die Bretter nicht mehr bewegt, auch als sie mit schweren Hämmern nachgeholfen hatten.

Mit einem dumpfen Schaben strich Allrichs Schaufel an etwas Hartem entlang. Er stocherte im Lehm herum und spürte einen Widerstand. Da steckte etwas Schweres in der Erde.

»Hier ist tatsächlich was unter dem letzten Balken«, rief er seinem Bruder zu und versuchte, das harte Stück unter der Sohlenbohle hervorzubekommen. Zuerst dachte Allrich an einen kleinen Findling, bevor er das Ding aus dem Erdreich gehebelt hatte und es in den Brunnenschacht gerutscht war.

Aber es war kein Findling. Die unterste Bohle hatte auf Backsteinen aufgesetzt. Deswegen war sie nicht weiter abgesunken.

»Hier sind noch welche.« Aufgeregt zog Allrich weitere Steine unter der Bohle hervor und konnte noch mehr Ziegelsteine unter der Sohlenbohle sehen. Er zog einen aus dem Matsch. Als er den Lehm mit der Schaufel weggekratzt hatte, sah er, dass der Ziegel schwarz war. Eine dicke Schicht Ruß bedeckte den Stein.

»Die sehen irgendwie verbrannt aus«, rief er und kratzte ein wenig mit der Schaufel am Stein herum. Die typische, rote Farbe des gebrannten Ziegeltons erschien. Das Rot war unverkennbar, dennoch stutzte Allrich. In seinem Leben als Brunnenbauer hatte er schon tausende von Backsteinen in der Hand gehalten, dieser jedoch hatte nicht das Maß eines Klostersteins.

»Ein Fuß zu einem halben zu einem drittel Fuß«, murmelte er und versuchte, den Stein mit den gespreizten Fingern abzumessen. Er war zu flach, und als Allrich ihn in der Hand wog, kam er ihm trotz der schlichten Form ohne rechte Proportion vor. Grübelnd hielt Allrich einen zweiten Stein daneben. Er hatte nicht exakt dieselbe Größe, die beiden Ziegel wichen um einen Fingerbreit ab. Anscheinend waren sie nicht in einem Formkasten gepresst, sondern wohl direkt aus einem Lehmteig geschnitten worden. So wie man vor hundertfünfzig Jahren Steine auf Maß gebracht hatte.

Allrich hielt die Steine ins spärliche Licht, das durch den Schacht hinabfiel. Schemenhaft konnte er die Prägung eines Ziegelbrenners erkennen. Ein Dreieck mit einem Strich. Allrich kannte keinen Ziegelmacher in Lübeck, der dieses Zeichen benutzte. Merkwürdig.

Das Fluchen seines Bruders ließ ihn herumfahren.

»Geh mal zur Seite«, sagte Nantwig und drängte den knienden Allrich forsch an die Brunnenbohlen, indem er ihn mit der Spitzhacke wegschubste.

»So viel zum Thema ›Nicht mit Fackel runterklettern können‹, Brüderchen.« Nantwig ließ die Spitzhacke vor Allrich baumeln. »Soll ich mit Fackel und Hacke runter? Musst halt deinen Kopf nicht immer hinhalten.«

Sofort spuckte Nantwig in die Hände und holte aus, er musste Acht geben, mit der schweren Hacke nirgends anzuecken.

»Nicht die unterste Bohle«, fuhr Allrich ihm hastig dazwischen. »Nimm das Brett weiter oben. Nimm das da.« Kaum hatte Allrich gezeigt, krachte auch schon die Spitzhacke nieder. Es war nicht das richtige Gerät, um die Bohlen zu spalten, aber sie hatten die Axt in ihrer Werkstatt am Lohberg vergessen.

Die Hacke prallte vom harten Holz ab und hinterließ nur eine Schmarre. Doch Nantwig holte unbeirrt wieder und wieder aus.

Es dauerte bis zum Sonnenuntergang, bis er endlich die zweitunterste Bohle zerschlagen hatte. Allrich entzündete die Fackel. Sofort tropfte brennender Talg herab. Sie war gut gewickelt, trotzdem qualmte sie stark und begann, den Schacht zu vernebeln. Sein Bruder hatte schlechten Talg gekauft. Der Geizkragen.

Ächzend hebelte Nantwig mit der Hacke das zerschlagene Stück der Bohle heraus. Etwas nasse Erde sickerte durch das entstandene Loch und rann in den Brunnenschacht, doch Nantwig störte es nicht. Mit ein paar weiteren Schlägen hatte er die Bruchstelle auf Schulterbreite vergrößert.

Allrich steckte die Fackel in den Boden und begann seinem Bruder zu helfen. Gemeinsam kratzten sie die Erde weg.

Hinter ihren Holzbohlen verbarg sich etwas.

»Noch mehr Steine«, flüsterte Nantwig, während Allrich versuchte, an dessen breitem Rücken vorbeizuschauen.

Es waren tatsächlich Backsteine, aber diesmal waren sie nicht lose. Das Stück einer Mauer, schoss es Allrich durch den Kopf. Vielleicht hat es die Ziegel aus einer verschütteten Mauer gerissen, dachte er, als sich unsere Bohlen daran hinabschoben.

Er schielte an seinem Bruder vorbei und konnte erkennen, dass jeder Stein der Mauer, die sie freigelegt hatten, schwarz verkrustet war. Einem inneren Drang folgend, legte er die Hand auf den Ruß, als wollte er nachprüfen, ob die Steine noch warm waren. Natürlich waren sie kalt, und er musste seine Hand schnell wegziehen, weil sein Bruder bereits erneut die Spitzhacke niedersausen ließ.

Kurz darauf stieß Nantwig ein triumphierendes »Ha!« aus, denn er hatte schon nach zwei Schlägen ein ansehnliches Loch in die schwarze Mauer gehackt. Nun stocherte und zerrte er mit der Hacke darin herum, um weitere Backsteine herauszureißen.

Plötzlich knirschten die Balken über ihnen. Nervös ließ Allrich den Schein der Fackel hinaufwandern und sah, dass die anderen Bohlen nachdrückten. Sie mussten die Senkbalken irgendwie abstützen, sonst würden die mächtigen Bohlen sie noch erschlagen. Doch anstatt etwas zu unternehmen, hieb Nantwig weiter.

»Es ist ein Haus«, sagte er außer Atem und riss seinem Bruder die Fackel aus der Hand.

Allrich wollte etwas erwidern, aber Nantwig hatte bereits seinen Kopf durch das Loch gesteckt und war bis zur Hüfte darin verschwunden. Ängstlich blickte Allrich nach oben. Die Balken knirschten verdächtig. Er hob den Rest der zerschlagenen Bohle aus dem Matsch und klemmte das Stück schnell unter die Senkbretter.

Ein Haus?, fuhr es Allrich durch den Kopf. Es muss abgebrannt sein, und danach haben ein paar Überschwemmungen es absacken lassen. So weit, bis es nicht mehr sichtbar war. »Bist du sicher, dass wir keinen  … keinen Keller erwischt haben?«, fragte er. Jedoch glaubte er selbst nicht daran, denn sie hatten weit im Hinterhof gegraben, gut sechs Klafter vom nächsten Haus entfernt.

»Keller?«, erwiderte Nantwig. »Mach dich nicht lächerlich, Brüderchen. Komm.« Schnell zwängte sich Nantwig, Kopf und Schulter voraus, durch die kleine Öffnung in der Mauer.

»Unglaublich«, hörte kurz darauf Allrich seinen Bruder raunen. »Es ist nicht tief. Unser Loch reicht beinahe bis zum Boden des Hauses. Komm rein! Das musst du sehen.«

Allrich zögerte. Er blickte den Schacht hinauf. Die Nacht war über Lübeck hereingebrochen, nur ein paar Sterne waren am dunklen Ende des Brunnens zu sehen. Der Schweiß lief ihm in die Augen. Er wischte ihn fort.

Noch einmal blickte er prüfend hinab auf den schmalen Durchlass. Die schweren Bohlen drückten mit mehreren Schiffspfund Last auf sein eingeklemmtes Holzstück, das bereits handbreit im Matsch versunken war. Was, wenn es gänzlich versank oder zerbrach? Dann war ihnen der Rückweg durch die nachfolgenden Senkbohlen abgeschnitten. Sie wären gefangen.

Nantwig streckte seinen Kopf aus dem Loch und sah seinem Bruder zu, der unentschlossen am Ruß der Steinmauer herumkratzte. »Allrich! Mutter hat Recht, du bist ein Trödelhannes. Was machst du nur immer?« Ohne eine Antwort abzuwarten, verschwand Nantwig wieder im Dunkeln. »Komm jetzt endlich!«

Allrich wollte seinem Bruder folgen, doch als er sich zum Loch hinunterbeugte, zauderte er abermals.

Erstes Buch

TOD

An all seine gerechten Taten, die er getan hat, soll nicht gedacht werden. Wegen seiner Untreue, die er begangen, und wegen seiner Sünde, die er getan hat, ihretwegen soll er sterben.

Hesekiel 18,24

1

»Nein! Nein! Nein!«, belferte Rungholt und wischte sich das Kinn. Etwas Speichel war ihm aus dem Mund gelaufen, so laut hatte er geschrien. Er stippte dem kleinen Handwerksmeister mit dem Ellenstab gegen die Brust. »Wenn ich dir sage, du sollst den Kessel weiter nach vorne setzen, dann hat das zu sein, wie ich das will!«

»Aber Herr, ich dachte –«

»Herrgott! Was du denkst, das ist mir der Schiss an meinem fetten Arsch wert.« Rungholt schwitzte. Er war derart laut geworden, dass Handwerksmeister Hebestrith bei jedem Wort zusammenzuckte. Fies bohrte Rungholt dem Mann den Ellenstab erneut in die Seite, er konnte spüren, wie seine Wangen zu brennen begannen und seine Wut den Hals hinauf zu seinem schweren Schädel stieg. Rungholt holte Luft. Die Nacht war schwül, obwohl es erst März war.

»Wo wir gerade bei Hintern sind, Hebestrith! Tritt deinen vermaledeiten Gesellen in den ihren! Schaff hier Ordnung! Wenn morgen nicht alles weggeräumt ist, damit ich deinen  … deinen Pfusch in Ruhe ansehen kann, dann versenk ich dein Geld in einer Jauchegrube!«

Mit Genugtuung sah Rungholt, dass der kleine Mann seinen flaumigen Bart strich und zu Boden blickte. Na bitte.

Die Diele des großen Hauses war ein einziges Chaos. Überall steckten Fackeln, und auf dem Boden brannten kleine Feuer. Sie erleuchteten die Baustelle, denn es war bereits Nacht. Rechts und links zogen sich Gerüste entlang, im hinteren Teil hatten die Handwerker einen Durchbruch zur ehemaligen Küche in die Wand geschlagen. Die Dachbalken waren schattenhaft zu erkennen, da man hoch bis zum First sehen konnte. Leider auch darüber hinaus in die Sterne. Hebestriths Männer hatten vor wenigen Tagen den Dachstuhl mit einem Balken abstützen wollen, aber feststellen müssen, dass das Gebälk von Würmern zerfressen war. Sie hatten einige der Balken herausgerissen – immer in Angst, dass ihnen der ganze First einstürzt. Wie ein zerschlagenes Gerippe wirkte nun das zersägte Gebälk des Dachstuhls.

Links von Rungholt, der in der Mitte der staubigen Diele stand, war beim Anbringen der Gerüste den Männern die halbe Mauer weggebrochen und nach draußen in die Gasse gefallen. Überall standen Fässer mit Material und lagen Berge aus Schutt, Brettern und Steinen herum. Das Haus an der Hundegasse glich einer leckgeschlagenen Kogge, in die durch unzählige Löcher das Wasser rann.

Nur ein großer kupferner Sudkessel, mehrere Lasten schwer und mannshoch, zeugte im Schein der Feuerstellen davon, dass dieses Schlachtfeld einmal Rungholts Brauerei werden sollte.

»Verflucht seien alle Handwerker und Schmarotzer. Wir hätten euch beim Knochenhaueraufstand allesamt vor die Stadtmauer jagen sollen«, brummte Rungholt. Der Meister schien die Attacken seines Kunden zu kennen. Jedenfalls bemerkte Rungholt, wie Hebestrith in sich hineinlächelte, während er auf seine dreckigen Stiefel blickte. Außerdem schüttelte der kleine Mann den Kopf, als wolle er sagen, reg dich nur auf – ändern wird sich eh nichts. Dieses Lächeln, dachte Rungholt. Ich sollte dir deinen Ellenstab in dein Grinsen einpassen, von links nach rechts. Damit es noch breiter wird.

Die ganze Nacht hatte Rungholt wach gelegen und sich geärgert. Immer und immer wieder hatte er in seinem Dickschädel die Probleme der letzten Tage gewälzt und war jedes Mal zum selben Ergebnis gekommen: Der Handwerksmeister Hebestrith war ein Pfuscher. Punkt. Dieser kleine Kerl wollte ihn ausnehmen. Der dachte wohl, er habe einen fetten Fisch an der Angel, den er zappeln lassen konnte.

Rungholt riss den Stab hoch, möge dieser Pfuscher von unfähigem Meister eine Lektion in Gehorsam lernen. Ich werde ihm sein überhebliches Grinsen aus dem Gesicht zimmern und  …

Doch anstatt zuzuschlagen holte er erst einmal tief und langsam Luft. Eins … Zwei … Alheyd schoss ihm durch den Kopf. Seine Frau hatte die letzten Jahre damit zugebracht, ihn vom Fluchen abzubringen. Geholfen hatte es wenig, aber immerhin musste er wegen ihrer ständigen Ermahnungen nun immer öfter bei seinen Tiraden an sie denken. Dass er überhaupt während der Wutausbrüche dachte, allein das war ein Fortschritt. Und dass er an sein geliebtes Weib dachte, das war ehrlich gesagt ein Wunder.

Seufzend ließ Rungholt den Ellenstab durch die Luft sausen, ohne den Mann zu treffen. »Hebestrith! Ich sollte dich feuern.«

Rungholt schnappte sich die Pergamentbogen mit den Bauskizzen und eilte zum Küchendurchbruch. Unvermittelt rannte er direkt in eine Werkbank, die vergessen worden war, und stieß den Tisch ruppig beiseite. Sein ausladender Bauch fegte einige Sägen und Bretter auf den Boden. Der Lärm ließ die Handwerker ringsum zusammenzucken. Rungholt musterte sie finster, während hinter ihm, gut einen Kopf kleiner, der Handwerksmeister keuchend aufschloss. Nur mit Mühe gelang es Rungholt, seinen Ärger hinunterzuschlucken. Er holte tief Luft, strengte sich an, nichts mehr zu sagen – und wäre beinahe an den nackten Steinen des Durchbruchs hängen geblieben. Murrend musste er sich wegen seines Bauches seitlich aus der Diele in die Küche drücken.

Diese Baustelle ist ein Fass ohne Boden, dachte er. Was für ein passendes Bild. Ein Fass ohne Boden und ich will eine Brauerei daraus machen. Hauptsache, die letzten Märztage und der April narren uns nicht mit zu viel Regen. Gott, ich habe doch keinen Fehler begangen, indem ich dieses Haus gekauft habe? Ist doch wohl kein schlechtes Omen in der Hundegasse zu bauen, wo ich die Tölen doch so hasse?

»Geht endlich an die Arbeit, Hebestrith. Und räumt hier auf.« Rungholt wandte sich von dem Handwerksmeister ab und fasste einen Entschluss: Auch wenn ihm das Geld schneller in den porösen Backsteinen versickerte, als er es heranschaffen konnte, diese Ruine würde seine Brauerei werden. Basta. Doch kaum hatte er diese Beschwörung gesprochen, ließ ein Scheppern ihn hochfahren, und er stieß Hebestrith zur Seite und eilte zurück in die Diele.

Hebestriths Gesellen hatten den Sudkessel nicht ordentlich gehalten, und nun war er beim Verrücken auf die Seite gekippt. Schuld war einer der Handwerker, ein schlaksiger Helfer von kaum sechzehn Jahren, der auf einem der wackligen Gerüste stand. Er hatte das Seil schlecht geführt, so dass es sich an einem Pfeiler verfangen und beim Hochziehen den Kessel umgekippt hatte.

Rungholt konnte hören, wie Hebestrith hinter ihm aufstöhnte. »Es tut mir leid, Herr. Meine Männer werden das sofort richten.«

»Richten? Ich werde dich bald richten, wenn hier nicht Ordnung einkehrt, verflucht! Soll ich im Rat veranlassen, deine Werkstatt zu schließen?«

»Herr, ich bitte Euch. Wir werden die Nacht hindurch alles aufräumen und Eure Sudpfanne setzen. Mein Wort, Herr.«

»Deinem Wort schenk ich erst Glauben, wenn ich Ergebnisse sehe!« Rungholt rief dem jungen Handwerker zu: »Nimm das Seil hoch. Schwing es um den Ausleger. Es hat sich verhakt! Hast du keine Augen im Kopf?«

Fluchend zeigte Rungholt auf die Stelle, an der sich das Seil am Pfeiler verfangen hatte.

Der Junge auf dem Gerüst stand jedoch nur da und blickte unschlüssig zwischen seinem Meister und Rungholt hin und her. Rungholt stöhnte. Wenn niemand etwas unternahm, würde seine Sudpfanne noch einen Riss bekommen.

Verwünschungen vor sich hin brabbelnd packte er das Gerüst und begann, sich hochzuziehen. Es dauerte seine Zeit, bis Rungholt seinen massigen Körper auf die wackligen Bretter gehievt hatte. Er wollte den Jungen angehen, war jedoch zu atemlos. Nach Luft ringend und japsend sagte er schließlich: »Weg! Ich mach’s selbst« und nahm dem Jungen das Seil aus der Hand.

Mit flinken Handbewegungen schlang Rungholt das Hanfseil um den Ausleger und warf ein Ende hinunter in die Diele.

»Wickelt es um den Kessel, und dann seht zu, dass ihr ein Brett findet. Wir müssen die Pfanne gerade stellen. Dahinten muss eins sein«, rief er den beiden Handwerkern unten am Sudkessel zu. Er wies auf ein paar der schmaleren Spanten, die sie aus der Decke genommen hatten und die nun vor dem Durchgang zum Hof lehnten. »Nehmt eins davon, und hebelt mir den Kessel gefälligst gerade hin, bevor wir ihn hochziehen.«

Zufrieden stellte Rungholt fest, dass die Männer endlich ihrer Arbeit nachgingen. Da bemerkte er den schlaksigen Jungen, der noch immer tatenlos hinter ihm stand. »Was ist? Wirst du fürs Gaffen bezahlt? Geh! Hol einen Flaschenzug.«

Der Junge rührte sich nicht. Stattdessen zeigte er hinter die Gerüste. »Es will Euch jemand sprechen, Herr«, meinte er mit dünner Stimme.

Nicht schon wieder dieser Hebestrith, dieser Halsabschneider von einem halben Klafter, dachte Rungholt und sah sich um. Aber Hebestrith klatschte sich gerade am Rand der Baustelle etwas Mus auf einen Teller.

Neugierig schob sich Rungholt an dem Jungen vorbei und sah vom Gerüst hinab. Er konnte schütteres Haar erkennen und die kostbare, wattierte Schecke eines Ratsmitglieds, die sich über einen runden Bauch spannte. Selbst von oben konnte Rungholt sehen, wie der Mann sich beim Umsehen ein Lächeln nur mit Mühe verkneifen konnte. Er wusste sofort, wer ihn besuchen gekommen war. Und der Besuch dieses Mannes verhieß nichts Gutes. Eigentlich bedeutete er stets Ärger.

»Kerkring?«, rief Rungholt hinab.

Der Ratsherr blickte zu ihm herauf.

»Ich komme gleich.« Rungholt trat an die Kante des Gerüsts und wollte mit langem Schritt auf ein tieferes Brett eines zweiten Gerüsts treten, doch das Knacken der Bohlen ließ ihn zögern. Lieber drehte er um und ging vorsichtig zur Leiter.

Herman Kerkring war bekannt für seine strenge Art und seine Vorliebe fürs Essen. Instinktiv suchte Rungholt nach Flecken auf Kerkrings Tappert. Doch auch wenn sich die Ratsherren einen Spaß daraus machten, von den Flecken auf dem Wanst des jungen Mannes auf sein tägliches Mahl zu schließen, war die letzten anderthalb Jahre, nachdem Rungholt erfolgreich einen Mörder gefasst und an Kerkring ausgeliefert hatte, Kerkrings Einfluss im Lübecker Rat gewachsen. Letzten Herbst hatte er sich zur kommenden Bürgermeisterwahl aufstellen lassen.

Rungholt war sich nicht sicher, ob er Kerkring die Hand geben sollte. Eigentlich hatte er keine Lust, dem jungen Rychtevoghede auch nur eine Spur von Höflichkeit entgegenzubringen. Kommender Bürgermeister hin oder her, dachte er. Ich mag diesen Biermuskopp nicht. Wie kann man nur so trocken sein? Ja, trocken. Nie habe ich dich bei den Frauen gesehen, niemals lachen und auch nicht weinen. Das Einzige, was du kannst, ist fressen.

Sein Vater hatte ihm den Weg in den Rat geebnet und ihn durch seinen Einfluss schon mit fünfundzwanzig Jahren auf den Richterstuhl gebracht. Schon damals war Kerkring Rungholt zu jung für den Posten eines Richteherrn erschienen, und jetzt wollte er auch noch Bürgermeister werden? Mit siebenundzwanzig? Rungholt hatte im Herbst, als sie beschlossen hatten, wer bei der kommenden Wahl in Frage kommen sollte, gegen ihn die Hand gehoben. Doch Rungholt war von den anderen Ratsmitgliedern, die über Wohl und Wehe der Lübecker entschieden, überstimmt worden. Seitdem stand Kerkring auf der Liste zur Bürgermeisterwahl und war ihm mehr und mehr aus dem Weg gegangen. Umso überraschter war er nun, als der junge Rychtevoghede ihm freundlich die Hand entgegenstreckte.

»Rungholt  … Schön.« Kerkring nickte zu den Bauarbeitern. »Wie ich sehe, geht es mit der Brauerei voran.«

Die Männer gingen ein paar Schritte vom Gerüst weg.

»Seid Ihr wegen der Grut gekommen? Ich werde mein Grutrecht schon kriegen, Kerkring. Habt keine Sorge.«

»Nein, deswegen bin ich nicht gekommen, Rungholt. Wenn es nach meinen Statuten ginge, könntet Ihr Euer Bier würzen wie Euch beliebt. Ich bin nicht wegen der Brauerei hier. Beinahe möchte ich sagen, leider bin ich nicht wegen ihr hier.«

Was soll das heißen?, fragte sich Rungholt. Will der Jungspund mich beleidigen? Ich bin leider nicht gekommen, um deine Brauerei zu schließen? Was dachte sich dieser Bangbüx? Wollten sie ihn heute alle mit ihrer Unverschämtheit narren?

Kerkring ließ seine Finger über den zerschrammten Sudkessel gleiten und besah sich seine staubig gewordenen Fingerkuppen. Rungholt entging die abfällige Geste nicht.

»Ich bin nicht wegen der Brauerei hier, Rungholt«, wiederholte Kerkring unnötigerweise.

»Dann könnt Ihr auch wieder gehen.« Rungholt erschrak selbst über seine geknurrten Worte. Er hatte nicht so garstig reagieren wollen, doch in Kerkrings Geste, mit der er den Staub musterte, lag so viel unterdrückter Hohn, dass in Rungholt erneut Streitlust aufgestiegen war. Der zerschrammte Kessel und die Unordnung in der Diele gaben Rungholt eine Blöße, die er vor dem Richteherr nur allzu gern versteckt hätte.

»Nun, ich ziehe es vor, noch einen Moment zu bleiben, Rungholt.« So etwas wie ein Lächeln zeichnete sich auf den Lippen des jungen Richteherrn ab, bevor er fortfuhr: »Wir haben eine Leiche gefunden.«

 

Rungholt und Kerkring hatten sich in die ehemalige Küche des Kaufmannshauses zurückgezogen. Hier hatte Rungholt notdürftig seine Scrivekamere inmitten von Werkzeug, maroden Truhen und alten Krügen eingerichtet. Er hatte ein paar Stühle neben einen Berg von alten Backsteinen gestellt und dafür gesorgt, dass die verrotteten Wasserronnen, die aus der Wand ragten, verschlossen worden waren.

Bevor Kerkring sich setzen konnte, musste Rungholt erst einige Tonkrüge beiseiteschieben. Er raffte die Bauzeichnung von seinem aus Brettern und Steinen improvisierten Schreibpult und legte alle Unterlagen auf eine abgedeckte Feuerstelle, die schon seit Monaten nicht mehr in Betrieb war. Während er seinen Stuhl vom Baustaub befreite, ließ er Kerkrings dreckig. Sollte ihn der junge Richteherr doch selbst abwischen. Zu den Hammerschlägen und geschäftigen Kommandos der Handwerker begann Kerkring schließlich, von einem Haus unter der Erde und von zwei Brunnenbauern zu erzählen. Er erklärte Rungholt, dass sie eine Leiche gefunden hatten, aber nicht wussten, wer der Mann sei noch wie lange er in dem Gemäuer läge.

Rungholt hörte nur mit halbem Ohr hin. Er ließ den Richteherrn zwar berichten, hatte aber kein Verlangen, etwas über Tote zu erfahren. Sein Mund war trocken. Immer wieder sah er durch den Durchbruch und nach den Handwerkern. Ihm gefiel es nicht, dass Kerkring sich so lange auf seiner Baustelle aufhielt. Es war mitten in der Nacht, und eigentlich hätten die Arbeiter längst zu Hause bei ihren Frauen und Kindern sein müssen. Nur weil Rungholt so viel Druck gemacht hatte, waren sie noch immer am Schuften. Er verstieß bestimmt gegen irgendwelche Vorschriften, da war es nicht gut, einen Richteherrn hierzuhaben. Rungholt wendete den Blick von den Handwerkern ab und sah sich lieber das kleine Fenster zur Hundegasse an, dessen Bespannung zerrissen war. Die Schweinsblase hing staubig und trostlos in Bahnen herab.

Erst als Kerkring mit den Worten endete, er habe die Leichenschau bis nach der Unterredung mit Rungholt absichtlich aussetzen lassen, wurde Rungholt hellhörig.

»Ihr habt sie aussetzen lassen, um mit mir zu sprechen?«

»Ja, denn ich wollte Euch fragen, ob Ihr einen Blick auf den Entleibten werfen könnt.«

Rungholt überlegte nur kurz. »Nein danke.«

»Ihr seid Euch sicher, Rungholt?«, fragte Kerkring leise. »Ihr wollt uns nicht helfen?«

Rungholt nickte. Aus deinem Mund hört es sich wie eine verfluchte Drohung an, dachte er. Du Lump hast meinen Antrag auf eine Brauerei doch mit Absicht letzten Sommer verschlampt. Möge Gott uns Lübeckern beistehen und dich niemals zum Bürgermeister machen, Kerkring.

»Habt Ihr etwas gesagt?«

»Ich?« Rungholt schreckte aus seinen Gedanken. »Nein.«

»Der Rat würde es zu schätzen wissen, Rungholt«, versuchte es Kerkring erneut. »Es wäre ehrenamtlich, sicher, aber ein paar gutbetuchte Abnehmer für Euer Bier können Euch wohl nicht schaden. Der Rat wäre Euch zu Dank verpflichtet. Und man munkelt, nun ja, man munkelt, die Brauerei sei ein Fass ohne Boden. Nur dass statt Bier Euer Geld hinwegrinnt.«

»Fass ohne Boden  …« Rungholt lachte und versuchte, nicht allzu gequält zu klingen. »Wie kommt Ihr darauf? Wollt Ihr mich etwa bestechen?«

»Ich?« Kerkring sah sich gespielt um. »Gott bewahre. Ich will Euch bitten. Ich will Euch bitten, dieser Grausamkeit nachzugehen, Rungholt.«

»Nun. Vielleicht sollten wir dann noch einmal über mein Grutrecht reden. Wenn Ihr so besorgt um meine Brauerei seid, könnte es meinem kleinen Vorhaben hier guttun, das Bier mit meiner eigenen Gewürzmischung zu brauen.«

»Das sehe ich ähnlich«, erwiderte Kerkring zu Rungholts Überraschung.

Rungholt ließ es sich nicht nehmen, noch ein wenig mehr zu fordern. Wollen doch mal sehen, wer hier wen erpresst, dachte er und sagte: »Das Grutrecht und das Recht, für Stadt und See zu brauen. Für beide gleichermaßen.«

Der junge Mann erhob sich lächelnd. Rungholt tat es ihm gleich, denn es war ihm wichtig, auf einer Augenhöhe zu bleiben.

»In den Jahren als Rychtevoghede Lübecks habe ich einiges von Euch hören müssen, Rungholt«, sagte Kerkring. »Aber nicht, dass Ihr unverschämt seid. Wahrlich, es steht Euch nicht gut zu Gesicht.«

Rungholt musterte den jungen Mann, der noch immer schmunzelte. »Ihr müsst wie alle anderen auch ein halbes Jahr vorher ankündigen, ob Ihr Weiß- oder Rothbier brauen wollt. Ob für den Export oder für die Stadt. Wir haben die Bestimmung erst seit vier Jahren in unserer Brauordnung, Rungholt. Ihr wisst es so gut wie ich.«

Mit einem Brummen setzte Rungholt nach: »Die Ordnung kann man ändern. Eine Ausnahme.«

»Eine Ausnahme?« Kerkring ging zu den staubigen Kodizes und Bauzeichnungen auf der Feuerstelle. »Eine Ausnahme können wir wohl ebenso wenig machen wie Ihr, Rungholt. Wenn Ihr keinen Blick auf den Leichnam werfen mögt  …«

Kerkring pustete eines der Bücher vom Staub frei und legte es zurück.

Eigentlich hatte Rungholt gedacht, der Richteherr wolle gehen, aber dieser blickte sich nur wartend um, und als Rungholt nichts sagte, seufzte er tief. »Rungholt, überlegt es Euch. Wer wäre für die Jagd auf einen Teufel in Lübeck besser geeignet, als  …«

Als der Teufel selbst, hätte Rungholt beinahe Kerkrings Gedanken beendet.

Er musterte den Rychtevoghede, konnte aber keinen Argwohn erkennen. Kerkring schien es wirklich ernst zu meinen. »Ich bitte Euch, Rungholt. Ich bitte Euch als Rychtevoghede Lübecks, und wenn Ihr einschlagt, werde ich Euer Bier den Ratsmitgliedern schmackhaft machen. Wen soll ich sonst schicken, wenn nicht Euch? Ihr müsst die Blutschande von dieser Stadt nehmen, Rungholt.«

»Und was hättet Ihr davon?«

Sie waren bis zum Durchbruch gegangen, der zurück in die Diele führte. Ein Moment der Stille kehrte zwischen den beiden Männern ein, während von draußen das Hämmern und Sägen zu ihnen drang. Rungholt sah, wie es in Kerkring arbeitete.

»Wenn wir den Frevler an den Galgen bringen und die Blutschande von der Stadt nehmen? Nun, ich werde Bürgermeister.«

Rungholt war überrascht, wie ehrlich Kerkring war. Andererseits hatte er Kerkring nie beim Lügen ertappt. Auch wenn er den Richteherrn nicht mochte, wenn er dessen selbstsüchtige Art und seinen Hang zum Fressen verabscheute, Kerkring war bisher stets untadelig gewesen. Integer. Geradezu makellos. Vielleicht war es das, was Rungholt so sehr an Kerkring störte. Diese mechanische Gewissenhaftigkeit.

»Ich sehe schon, die Bitte war wohl an den Falschen gerichtet. Ihr habt genug mit Eurer Brauerei zu tun. Ich werde sehen, was sich mit dem Grutrecht machen lässt.«

Rungholt nickte, und Kerkring wandte sich zum Gehen. Er schien in die Diele mit dem Kessel zu wollen, hielt aber nochmals inne. »Ihr wollt wirklich nicht wissen, wer der Tote ist?«

»Was schert es mich.«

»Nicht neugierig? Ihr wollt nicht wissen, wer der Mann ist und wie er starb?«

Und weswegen er starb?, vollendete Rungholt die Frage. Und wichtiger noch, wer der gottlose Sünder ist, der ihn entleibte? Ihr seid nicht begierig, in den Abgrund hinter dieser frevelhaften Bluttat zu sehen?

Rungholt schüttelte den Kopf.

»Nein«, brummte er und dachte, eure bösen Geister gehen mich nichts an. Wer immer dieser Tote sein mag, warum auch immer er sterben musste. Es sind nicht meine Sünden. Ich verzichte. Ich kann keine Erschlagenen und Erstochenen mehr sehen. »Ich bin nicht interessiert, Kerkring. Es tut mir leid.«

Für Rungholt war das Gespräch beendet. Er verabschiedete sich knapp, drückte sich durch den Ausgang hinaus in die große Diele und ließ Kerkring einfach stehen.

Um sich nicht weiter mit ihm abgeben zu müssen, schnappte sich Rungholt einen Winkel von einem Schemel und trat zu einem der Gerüste. Er versenkte sich in unsinnige Messungen und sah zufrieden aus dem Augenwinkel, dass Kerkring ging. Er wollte Hebestrith anweisen weiterzuarbeiten, aber der Handwerksmeister rührte sich nicht. Stattdessen tat er unbeteiligt und löffelte eifrig seinen Brei. Er bemerkte allerdings nicht, dass er sich vor lauter Lauschen den Bart vollgeschmiert hatte.

Plötzlich ließ Rungholt ein lauter Knall herumfahren. Einen Herzschlag lang dachte er, jemand sei vom Gerüst gefallen. Doch es war Kerkring.

Er hatte einen faustgroßen Stein auf die Planke eines Gerüsts fallen lassen.

Rungholt sah den Richteherrn fragend an, doch statt eine Antwort zu geben, hob Kerkring den Stein hoch und ließ ihn erneut mit einem Krachen niederfahren.

»Und ein Engel hob einen Stein groß wie ein Mühlstein und warf ihn ins Meer und sprach: ›So wird Babylon mit Gewalt niedergeworfen und nie mehr gefunden werden‹«, sagte Kerkring und stieß den Stein mit dem Finger an.

Der Stein kreiste auf der staubigen Planke.

Fragend trat Rungholt näher. Der Stein war rot. Es war ein gewöhnlicher Stein, wie man ihn in Flüssen fand. Ein faustgroßer Flussstein. Das Wasser hatte seine Kanten geschliffen, seine Oberfläche war glatt. Bedächtig nahm Rungholt ihn auf und fühlte sein Gewicht. Er schätzte ihn auf gute vierzig Quent. Rungholt sah sofort, weswegen der Stein rot war. Die ungewöhnliche Färbung war Blut.

»Er wurde damit erschlagen?«, fragte er geradeheraus.

»Mag sein.«

»Mag sein?«

»Es mag sein, dass er auch mit dem Stein erschlagen wurde, abEr …« Kerkring räusperte sich. Er tat einen Schritt auf Rungholt zu, um nicht laut sprechen zu müssen. »Der Mörder hat ihm den Stein anstelle des Herzens hineingelegt.«

»Er hat ihm das Herz herausgenommen?«

»Ja. Und er hat den Leichnam zugenäht. Ich denke, er hat ihm das Gesicht zerschlagen, und als er tot war, hat er den Mann aufgeschnitten und  …«

Rungholt nickte brummelnd, legte jedoch den Stein zurück und wandte sich neuerlich ab. Stumm packte er die Pergamente vor Hebestrith auf die Werkbank.

»Ich dachte, man nannte Euch einst Bluthund?«, rief Kerkring. Es sollte drohend klingen, aber Rungholt hörte die Enttäuschung in seiner Stimme. »In Riga hat man Euch doch so genannt, Rungholt. Oder?«

Bluthund, dachte Rungholt. Ligawyj. Ja, sie hatten ihn so genannt. Die Hanser, die mit ihm in der Kirche von Novgorod wohnten. Seine Freunde. Und der Pope Mihails. Ligawyj, Bluthund. Freund und Feind hatte ihn Bluthund genannt. Nur für Irena war er Medwed gewesen, der Bär.

2

Rungholts massiger Körper passte nicht durch den Einlass im Brunnenschacht. Mit Mühe gelang es ihm, seine Schultern durch das Loch zu zwängen, doch sein Bauch blieb stecken. Er fluchte heftig und fuhr Kerkring an, der Allrich zu Hilfe rief. Die beiden Brunnenbauer mussten erst eine zweite Senkbohle zerschlagen, damit Rungholt sich hindurchzwängen konnte.

Kaum war er im Innern, wollte Kerkring ihm alles erklären, aber Rungholt stoppte ihn mit einer entschlossenen Geste und nahm ihm die Fackel ab. Er musste selbst sehen, mit was er es zu tun hatte.

Im Schein der Fackel konnte Rungholt die Ausmaße des Gemäuers nur undeutlich erkennen, denn das Licht wurde von rußschwarzen Wänden geschluckt. Alles war verbrannt. Nur langsam gewöhnten sich Rungholts Augen an die Finsternis.

Schwerer Gestank erfüllte die Dunkelheit. Einige verkohlte Balken waren von der Decke herabgestürzt und schrägten in den Raum. Als Rungholt an die Decke blickte, konnte er vereinzelt Wurzeln sehen, die sich einen Weg durch das niedrige Dach gesucht hatten. Irgendwann hatte irgendwer die Löcher in der Decke mit schlichten Holzplanken abgedeckt. Der Raum maß nur einige Klafter in Breite und Länge, und seine Decke wurde in der Mitte von einem Backsteinpfeiler gestützt. Er war nicht sehr hoch. Rungholt schätzte, dass die Decke nur einige wenige Fuß tief unter der Erde des Hofes verborgen lag.

Sie waren nördlich der Engelswisch in einem Hinterhof, beinahe an den Mauern der alten Burg. Direkt am Fuß des Hügels Buku, auf dem Graf Adolf von Schauenburg begonnen hatte, Lübeck zu errichten. Das war über hundertfünfzig Jahre her. Rungholt vermutete, dass das Haus in der Mitte des zwölften Jahrhunderts bei der Besiedlung der Halbinsel erbaut worden war. Danach war das Große Feuer gekommen. Kaum fünfzehn Jahre nach der Gründung Lübecks hatten die Flammen alle Häuser der Stadt niedergefegt. Wer immer das Haus am Fuß des Hügels erbaut hatte, nach dem Brand hatte er das Gebäude aufgegeben und es nicht weiter bewohnt. Stattdessen war die abgebrannte Ruine wohl bei jedem Hochwasser mehr und mehr ins lose Erdreich der Lübecker Halbinsel gesunken. Heute, Anno Domini 1392, war das Haus unter der Erde gänzlich vergessen.

Mit Bedacht tat Rungholt einen weiteren Schritt über Schutt und stand in wadentiefem Wasser. Es war durch den gestampften Lehmboden gesickert und hatte das Gemäuer gut einen Fuß tief gefüllt. Einige Deckenbalken, die nicht völlig verrottet waren, lagen im brackigen Nass, und er wäre beinahe gestolpert. Fluchend ließ er seine Fackel wandern und erkannte zerbrochene Schindeln im Wasser. Wasser. Rungholt hasste es. Allein der Geruch breitete sich als unangenehmes Gefühl aus. Je tiefer es war, desto unheimlicher war es ihm. Verdammtes Wasser. Ekelhaftes, verfluchtes Meer.

Seit Rungholts Heimatinsel vor dreißig Jahren in den Fluten der Nordsee versunken war, hatte er Angst vor dem Meer. Das Wasser hatte seine Familie geholt und vorletztes Jahr seine Tochter Mirke packen wollen. Rungholt war zwar zu ihr in den Krähenteich gestiegen, aber seine Wasserangst hatte er dadurch nicht verloren. Es war ein erster Sieg gewesen, aber die Schlacht war längst nicht gewonnen.

Zögerlich trat er weiter in den Raum und versuchte, sich eine große Pfütze nach einem Platzregen vorzustellen. Kein Fluss, kein See, kein Meer. Nur eine Pfütze. Die Vorstellung half, seine Wasserangst zu mindern. Trotz allem breitete sich ein ungutes Gefühl in Rungholt aus. Es war ein seltsames Unbehagen, ein Drängen, diesen Ort lieber zu verlassen. Nur langsam watete er weiter in den Raum und ins Licht weiterer Fackeln.

»Als ihr gebuddelt habt, habt ihr da Abraum gefunden? Schutt? Füllmaterial?«, fragte er Allrich und Nantwig, die ihm durch das Loch im Brunnenschacht gefolgt waren.

»Ja. In der Erde, den ersten Fuß tief.« Allrich trat zu Rungholt. »Der ganze Hof ist voll mit Scherben, Knochen und Holzresten. Wir dachten, es hat jemand hingekippt, damit man besser gehen kann. Darunter war’s nämlich ziemlich schlammig. Unsere Ringe sind durchgegangen wie durch Butter.«

Rungholt nickte. Jemand hatte die Löcher des alten Hausdachs abgedichtet und dann einfach Erde und Abfall darauf geschmissen. Wahrscheinlich war es zu jener Zeit geschehen, als man die Holzhütten an der Engelwisch einzureißen begonnen hatte, um sie durch Steinhäuser zu ersetzen. Vor gut fünfzig Jahren.

Vorsichtig duckte sich Rungholt unter den abgeknickten Deckenbalken hindurch. Seine Schulter berührte einen der Träger, der sofort in sich zusammenfiel.

Die linke Längsseite des Raumes war halb verschüttet. Es war eine Fachwerkmauer, und die Erde hatte sie eingedrückt. War es das Haus eines Kaufmanns oder eines Handwerkers gewesen? Rungholt wusste es nicht. Es gab keine Einrichtung. Alles war verbrannt.

Es kam Rungholt vor, als sei der Gestank noch beißender geworden. Ein schwerer Geruch, wie er ihn aus den Sickergruben zwischen den Häusern kannte – oder von verwesenden Tieren. Er musste gegen den Brechreiz ankämpfen.

Rungholt hielt sich ein Tuch vor Nase und Mund. Getuschel drang zu ihm, empörte Stimmen diskutierten. Langsam watete Rungholt um den Pfeiler. Dahinter, nur beschienen von den Fackeln, standen die drei Bürgermeister und zwei Büttel. Die Ratsherren hatten sich in eine der weniger eingefallenen Ecken zurückgezogen und hielten ihre kostbaren Schecken vor dem Wasser hoch wie Waschweiber ihre Röcke. Am lautesten redete Bürgermeister Herman Yborch. Mit seinen fünfzig Jahren handelte Yborch stets überlegt und war schlank wie ein Stockfisch. Rungholt kannte Yborch nicht gut, aber auch Yborch hatte sich vor dem Rat gegen Kerkrings Aufstellung zum Bürgermeister ausgesprochen, und allein diese Tatsache machte ihn in Rungholts Augen bereits sympathisch.

Stumm nickte Rungholt den Männern zum Gruß zu, doch die Ratsherren nahmen ihn kaum wahr, denn Yborch zeigte, während er sprach, immer wieder zu den Fackeln und dem Leichnam, der dort lag. Rungholt ging langsam hinüber und spürte plötzlich, wie sich seine Nackenhaare aufstellten. Vor ihm, gute vier Klafter entfernt, endete der Raum. Und dort hing ein Kreuz. Es war mehrere Ellen hoch und schwarz. Eine Jesusfigur hatte es wohl nie getragen.

»Ja, eine Kirche. Gnade uns Gott«, flüsterte Kerkring. Er schwenkte hinter Rungholt seine Fackel und leuchtete. »Sie haben sie niedergebrannt.«

»Nein. Sie haben sie nicht abgebrannt. Es war sicher nur das Große Feuer.« Rungholt sah sich noch einmal um.

Das Haus war keine Kapelle. Es war die Diele eines gewöhnlichen Kaufmannshauses. Drei Seiten waren aus Backstein, eine vierte Mauer aus Fachwerk.

Rungholt überlegte einen Moment, dann trat er näher an die Leiche, die von Fackeln und Öllampen umringt unter dem Kreuz lag.

Der Arzt mit Schnabelmaske beugte sich tief über etwas, das Rungholt nicht gleich erkannte, denn zuerst hielt er die Leiche für den Leib einer schwangeren Frau. Damit der Arzt nicht allzu nass wurde, war ein Brett vor den Schutthaufen geschmissen worden, auf dem die Leiche lag. Als der Gelehrte, der kniend den Toten begutachtete, zur Seite rutschte, erkannte Rungholt seinen Irrtum: Durch die Gase, die sich im Körper gebildet hatten, hatte sich der Leichnam unnatürlich aufgebläht, obwohl das Fleisch an vielen Stellen bereits durch Gewürm zerfressen war.

Rungholt drückte sich den Arm vor Mund und Nase. Er vertrieb einige Fliegen und trat zum Wundarzt. Kerkring hingegen sah lieber weg, als Rungholt den Schein der Fackel langsam über den Körper gleiten ließ.

Augenblicklich wünschte sich Rungholt, er wäre Kerkring nicht hierher gefolgt, wäre nicht der Verlockung eines eigenen Grutrechts und des Rechts, zwei Biersorten zu brauen, erlegen, sondern einfach in der Brauerei geblieben. Ein kleiner Spaziergang an der Märzluft, die Kühle des Abends einatmen …

Der Mund des Toten war zu einem Grinsen verschoben. Die Wangen waren teilweise aufgelöst, und ein Loch entblößte unnatürlich eine Reihe von schiefen Zähnen im Kieferknochen. Rungholt erkannte einen vergoldeten Backenzahn. Das ganze Gesicht des Toten war eingefallen, beinahe schwarz.

Die Arme und der Hals schimmerten grünlich. Die Haut der Leiche war wächsern, und Teile der Brust waren im Begriff, sich zu einer fettigen Schmiere aufzulösen. Dennoch konnte man sehen, dass sie geöffnet worden war. In den glänzenden Film aus Haut und Fleisch hatten sich Fliegenmaden gebohrt. Sie waren es, die die aufgeschnittene Brust rötlich schimmern ließen. Es waren tausende. Und ebenso viele weiße, fingernagelgroße Maden wanden sich auf und in der Haut. Nochmals leuchtete Rungholt. Die Fliegen hatten ihre Eier in die Augen gelegt. Rungholt konnte dutzende verlassene Puppen sehen.

Vierzig Augen.

Die Maden hatten Stücke der Augen gefressen und sich verpuppt, um neu zu leben. Vor Tagen schon. Vielleicht vor Wochen. Gottverfluchtes Geschmeiß, dachte Rungholt. Setzt sich immer auf die Weichteile. Krabbelt in die Ohren, in die Bauchfalten, in die Schamhaare. Zwischen die Lider. Gerne in die Augen. Dorthin, wo ein warmer Platz ist.

Vierzig Augen.

»Gott!«, entfuhr es Kerkring. Rungholt bemerkte, wie der Richteherr den Arm vor den Mund hob und verzweifelt um Fassung rang. Er drängte sich an Allrich vorbei und blieb einige Schritte entfernt stehen.

Seufzend blickte Rungholt noch einen Moment auf die Leiche, dann ging er zu Kerkring hinüber. Er nahm den Rychtevoghede beiseite und bat ihn, alle fortzuschicken. Rungholt hatte erwartet, dass Kerkring widersprechen würde, doch der junge Mann nickte stumm. Geduldig wartete Rungholt, bis die Männer diese eigenartige Kapelle verlassen hatten und auch Yborch seinen Unwill kundgetan und ebenfalls gegangen war, danach trat er erneut zum Wundarzt.

Der Mann hatte seinen schwarzen Tappert mittlerweile ausgezogen und wischte sich den Schweiß unter der Maske weg. Als er merkte, dass sich Rungholt zu ihm knien wollte, hielt er Rungholt stumm ein Tuch hin, das mit Blütenwasser getränkt war. Rungholt steckte es sich in die Nase. Tatsächlich vertrieb es den fauligen Gestank. Zumindest ließ es ihn zu einem unterschwelligen, gleichmäßigen Geruch hinter dem Duft aus Wiesenblumen werden. Er war noch wahrzunehmen, löste aber nicht sofort einen Brechreiz aus. Als sich Kerkring sein Tuch vor das Gesicht hielt, anstatt es zu rollen und sich in die Nase zu stecken, erinnerte diese Geste Rungholt für einen Augenblick an Winfried. Auch sein greiser Freund und zweiter Richteherr Lübecks lief stets mit einem Tuch vor dem Mund durch die Gassen, weil er seit Jahren hustete.

Eigentlich hätte Winfried als mein Freund in die Brauerei kommen müssen und mich überreden, das hier anzusehen. Nicht Kerkring, grübelte Rungholt und schämte sich, im Angesicht des Todes an den greisen Richteherrn denken zu müssen. Auch wenn er es nicht direkt benennen konnte, so dachte er an Winfried den Kahlen vor allem deswegen, weil er ihn roch. Es klang boshaft, aber der Greis verströmte genau jenen Geruch, den er nun wahrnahm: übertünchter Tod.

Rungholt tastete nach seiner Brille, doch er hatte sie vergessen. Sie lag noch irgendwo auf den Spanten oder Brettern in seiner zukünftigen Brauerei. Einen Fluch brummelnd beugte er sich vor zur Leiche. Allrich hatte wohl die Wahrheit gesagt, als er beteuert hatte, sie nicht berührt zu haben, immerhin hatte der Mörder dem Toten nicht den Goldzahn herausgebrochen. Demnach war es wahrscheinlich keine Tat aus Habgier.

»Und ich werde ihnen ein Herz geben, und ich werde einen neuen Geist in ihr Inneres geben  …«, begann Rungholt mit Blick auf den halbverwesten Leichnam zu flüstern. »Und ich werde das steinerne Herz aus ihrem Fleisch entfernen und ihnen ein fleischernes Herz geben  …«

»Ein fleischernes Herz, damit sie in meinen Ordnungen leben und meine Rechtsbestimmungen bewahren und sie befolgen  …«, führte Kerkring die Worte weiter. Der Richteherr versuchte, Rungholt ein Lächeln zu schenken, doch die süßliche Fäule ließ ihn wieder zurückweichen.

»Und sie werden mir zum Volk. Und ich werde ihnen zum Gott sein«, schloss Rungholt und sagte für einen Moment nichts. »Wer immer dies getan hat, auf ihn wartet die Hölle.«

Der Arzt lüpfte die Bauchdecke, die durch einen langen Schnitt geöffnet worden war. Er entfernte Reste des Fadens, mit dem die Leiche zugenäht worden war, und hielt sie mit spitzen Fingern hoch. Rungholt konnte nicht denken. Der Blütenduft seines getränkten Tuchs verschwand allmählich, und als sein Blick erneut auf den Körper fiel, musste er sich abwenden.

Auch Kerkring war nun gänzlich zurückgetreten, stand bei Allrich und Nantwig, die nervös von einem Fuß auf den anderen traten. »Einfach das Herz herausgeschnitten. Gott erbarme sich unser«, stammelte er und bemühte sich, die Leiche nicht anzusehen. »Vergib uns unsere Schuld, wie wir vergeben unsern Schuldigern  …«

Rungholt versuchte sich zu konzentrieren und den Gestank zu vergessen. »Nicht einfach herausgeschnitten«, unterbrach er Kerkrings Vaterunser. »Das ist unmöglich.«

»Wieso? Er hat es doch herausge  …« Kerkring brach ab. »Woher wisst Ihr?«

Weil ich genug Männer getötet habe, dachte Rungholt und biss sich auf die Lippe. Er massierte seinen Nasenrücken, damit Kerkring glaubte, er würde nachdenken, doch er wusste, dass es vorschnell gewesen war, den Richteherrn zu tadeln. Sein Einwand konnte ihn in Schwierigkeiten bringen. Er hatte über das Fleisch und vor allem das tote Fleisch als guter Christ nichts zu wissen. Niemals durfte Kerkring etwas vom Schnee erfahren und dass er letzten Sommer für ein kleines Vermögen die Abschrift eines Kodex der dreißigbändigen Enzyklopädie Al-Tastif Liman Ajiz’an Al-Ta’lif erstanden hatte. Die Abschrift eines bereits über dreihundertfünfzig Jahre alten Buches. Abulcasis, ein arabischer Wundarzt, hatte in Spanien ein umfangreiches Werk über die Anatomie des Menschen geschrieben.

Nachdem Rungholt vorletzten Winter mit dem Tod eines Muselmannes konfrontiert worden war, hatte er begonnen, sich für die islamische Wissenschaft zu interessieren. Sein Kapitän Marek Bølge hatte ihm von einem ketzerischen Pergamentbuch berichtet, in dem auf frevelhafte Weise aufgeschnittene Menschen abgebildet seien. Rungholt hatte Marek eine Unsumme zugesteckt, damit er einen Band von Abulcasis’ Kodex, den At Tasrif, einem dubiosen Händler in Novgorod abkaufte. Der Kapitän weigerte sich bis heute standhaft, auch nur einen Blick in diese gotteslästerlichen Seiten zu werfen. Die Pergamente, allesamt in Arabisch abgefasst, bargen durch ihre wundervollen – und zugleich erschreckenden – Illuminationen und Skizzen einen unermesslichen Schatz. Rungholt hatte das Buch sogleich in sein Geheimversteck in der Wandverkleidung seiner Dornse gelegt. Vor neugierigen Augen gut verborgen neben seinen Weinkrügen und den Wacholderschnäpsen. Möge kein Lübecker, kein gläubiger Christ, dieses Buch jemals sehen.

»Rungholt, woher wisst Ihr das alles?«, wiederholte Kerkring seine Frage.

»Ich weiß es eben«, knurrte Rungholt.

»Von Eurem Leibarzt?«

»Ja, von meinem Leibarzt.« Rungholt winkte ab. Das war zu pampig, schoss es ihm durch den Kopf, die Antwort war zu schnell gekommen. Er bemerkte, dass nun auch der Arzt ihn musterte. Selbst diesem Quacksalber war klar, dass er log. Es war stadtbekannt, dass Rungholt Ärzte hasste. Er besaß keinen Leibarzt, und der letzte, den er aufgesucht hatte, war eine dickbrüstige, rothaarige Zahnbrecherin gewesen. Damals hatte er der Frau Geld geboten, dass sie ihn nicht heilt und ihre Hände von ihm lässt.

Obwohl der Quacksalber eine lange Schnabelmaske trug, konnte Rungholt sein Grinsen geradezu spüren. Ärzte, vermaledeite Brut.

»Er hat Recht«, hörte Rungholt dann jedoch den Arzt sagen. Der Mann stand auf und lüpfte seine Maske. »Erst die Haut, dann das Fleisch, dann die Knochen.« Er wies auf den Brustkorb der Leiche. »Man kann das Herz nicht einfach herausnehmen. Erst muss man den Brustkorb zerschlagen. Wie es aussieht, Kerkring, seid Ihr der Einzige hier, der das nicht weiß.«

»Mein Gott«, sagte Kerkring. »Er hat ihm die Rippen zerschlagen?«

»Nein«, meinte der Arzt.

Rungholt sah ihn fragend an, und als sich der Mann wieder der Leiche zuwandte, stützte Rungholt sich auf seiner Schulter ab und kniete sich ebenfalls hin. Seine Knöchel knackten, und er spürte, wie ihm das Blut wegen der plötzlichen Bewegung wegsackte. Es schwindelte ihm, doch Rungholt war zu aufgeregt, um sich langsam hinzuhocken. Stöhnend schob er sich neben den Arzt auf das Brett. Beinahe brach es unter Rungholts Gewicht.

»Hier und hier.« Der Arzt hob die teigige Haut des Toten mit einer Schere an und deutete auf die Rippen. »Er hat sie nicht zerschlagen.«

Jetzt sah Rungholt, was der Arzt meinte. Die ersten Rippen auf der linken Seite waren direkt am Brustbein abgetrennt worden. Wie bei einem Gänsebraten, schoss es Rungholt durch den Kopf. Der Mörder hatte handbreite Stücke aus den Rippenknochen herausgesägt. So hatte er das Herz aus dem Fleisch schneiden und es seitlich herausziehen können.

Rungholt kontrollierte das mit Blütenwasser eingelegte Tuch. Es war beinahe trocken. Der Brustkorb sieht aus wie eine Gans zu Ostern. Wenn Alheyd und Hilde das Geflügel braten und mit der großen Schere vorher die Knochen knacken. Ausgeweidet. Ich sollte mich um meine Brauerei kümmern. Der Teufel hat hier gewütet. Aber ein Teufel in Lübeck geht mich nichts an. Die anderen im Rat sollen ihn austreiben, diesen Satan. Nicht ich. Es geht mich nichts an. Ich habe andere Probleme.

»Was hat er mit dem Herzen getan?«, wollte Kerkring wissen.

»Vielleicht verfüttert oder weggeschmissen. Ich weiß es nicht. Vielleicht gegessen?«, entgegnete Rungholt genervt.

Kerkring war schockiert, meinte daraufhin jedoch, um sich Mut zu machen: »Nein. Er  … Er hat es nur woanders begraben. Sicher. Er hat eine Herzbestattung gemacht. Irgendwo anders.«

»Wer weiß.« Rungholt wurde die Schere in die Hand gelegt. Der Arzt nickte ihm auffordernd zu, er solle sich um die Leiche kümmern. Rungholt zögerte lange, dann schlug er seinen Umhang nach hinten und begann die abgetrennten Rippen vorsichtig zu untersuchen. Die Schnittflächen an den Knochen waren allesamt zu glatt, um gebrochen worden zu sein.

»Er hat sie tatsächlich zersägt«, sagte er.

Der Arzt nickte.

»Und hier habt Ihr den Stein entdeckt? Wo das Herz war?«

»Ja. Genau wo das Herz ist.« Der Arzt deutete neben sich auf das Brett, wo die Fäden lagen. »Er hat den Körper zugenäht.«

Rungholt nickte und tastete mit der Schere in den Überresten des Mannes herum.

»Hier ist noch etwas. Etwas Festes. Glaub ich. Fühlt sich an wie  … wie ein Knorpel.« Er war mit der Schere unter dem Lungenflügel auf etwas gestoßen.

»Ich weiß nicht.« Rungholt versuchte, den Knorpel mit der Schere im Körper zu greifen, aber er konnte unter dem eingefallenen, schmierigen Lungenflügel nicht sehen, was er tat. Nach einer Pause legte er die Schere beiseite und zögerte erneut. Noch immer sah der Tote mit seinem bizarren Lächeln und klagenden Höhlen gen Himmel.

Vierzig Augen blickten in den Himmel.

Das Bild von den Toten im Schnee kam schlagartig. Mit einem Mal sah Rungholt Männer vor sich. Sie alle starrten wie dieser Tote. Still und stumm. Er schüttelte die Erinnerung ab.

»Gebt mir ein Tuch. Irgendetwas.«

Der Leibarzt tastete seine Brust ab, konnte auf die Schnelle aber nichts finden. Schließlich reichte Kerkring Rungholt sein Taschentuch. Rungholt konnte nicht hinsehen, als er es dem Toten aufs Gesicht legte. Noch immer waren die eingefallene Nase und die Wangen unter der kostbaren Seide zu erahnen, aber es war besser, das faulige Gesicht nur als einen Abdruck sehen zu müssen.

Dann atmete Rungholt durch und fasste mit der bloßen Hand in den Brustkorb des Mannes. Er schob seine Hand tief in die Leiche. Er fühlte das Fleisch. Es war eiskalt. Wässrig, fettig. Wie getauter Lehm. Er tastete. Die durchtrennten Rippen, dann die Lunge, und –

Der Brechreiz kam plötzlich. Er spürte, wie sein Magensaft säuerlich und ätzend seine Kehle hinaufschoss. Immerhin gelang es ihm, alles wieder herunterzuzwingen, doch das Kratzen im Hals blieb. Und der üble Geschmack. Er zwang sich zu einer anteillosen Miene, während er weiter in dem Toten herumtastete. Endlich zog er seine Hand heraus. Jetzt war auch Kerkring wieder neugierig herangetreten. Alle sahen sie auf Rungholts verschmierte Hand, die er langsam öffnete.

Ein Fetzen Stoff.

Mit seinen dicklichen Fingern rieb er Leichenfett und Blut von dem Tuch. Obwohl der Stoff aufgeweicht, nasskalt und schmierig war, konnte Rungholt spüren, dass es sich um ein feines Tuch handelte. Wahrscheinlich war es wie Kerkrings Taschentuch aus Seide. Nachdem er mit dem Fingernagel ein wenig der Leichenreste beiseitegekratzt hatte, konnte er die ursprüngliche Farbe ausmachen. Leicht grünlich schimmerte es unter dem schwarz gewordenen Blut und den verrotteten Fleischresten, und Rungholt erkannte, dass es sich um einen Teil einer Stola handelte. Es war der Fetzen einer liturgischen Schärpe, wie sie sich Priester über die Schultern hängten.

»Mein Gott«, raunte Kerkring. »Ein Priester? Ausgerechnet  … Der Herr erbarme sich unser.«

Rungholt nickte. Unser Mörder betet den Teufel an, durchfuhr es ihn. Ein Dämon oder eine Hexe, die den Teufel anbetet und den Männern das Herz raubt. Ein Ketzer, der diesem Priester das Herz gestohlen und einen kalten Stein hineingelegt hat.

Ob Mann oder Frau – wer auch immer dies getan hatte, wofür brauchte er das Herz? Kerkring hatte Recht mit der Frage: Was hatte er damit gemacht? Vollführte er ein Ritual damit? War es eine abartige Rache? Oder hatte der Mörder dies alles nur getan, um sie zu verwirren?

Es war noch zu früh, etwas Genaues zu sagen. Rungholt nahm sich vor, morgen in der Früh den Priester von St. Marien nach der Schärpe zu fragen. Ächzend kam er wieder auf die Beine. Er wischte sich die Hand an seinen Beinlingen ab und sah sich um, denn ihm war eine ganz andere Frage in den Sinn gekommen.

»Wie ist er hier reingekommen?«

Die Männer sahen sich an.

»Es muss irgendwo einen Einstieg geben. Irgendwie muss man hier rein- und wieder herauskommen.« Rungholt sah zur Decke. Er ließ sich von Allrich die Fackel geben. Außer Wurzeln und Planken konnte er nichts sehen. Das Holz sah alt aus, unberührt. Dennoch gab er Weisung: »Sucht oben im Hof alles ab. Vielleicht ist jemand von oben rein und hat die Leiche abgeseilt.«

So recht konnte er an diese Möglichkeit nicht glauben, aber in den mit Ruß überzogenen Wänden fehlten keine Steine. Er ließ alle Wände ableuchten, konnte aber nirgends erkennen, dass welche herausgebrochen oder ausgetauscht worden waren. Nur gegenüber ihrem Durchbruch fand Rungholt die Überreste eines alten Tores in der Fachwerkwand. Wahrscheinlich hatte es einst auf den Hof geführt. Klaftertief war das Erdreich hier in das Haus gedrückt worden, so dass das Tor gefüllt und die verkohlten Gefache beinahe vollständig eingedrückt worden waren.

Er trat näher an den eingestürzten Torbogen. Behutsam ließ Rungholt die Fackel über den Erdhügel und die herausgebrochenen Ständer und Riegel gleiten und hob ein verrottetes Stück eines Lehmgefachs an. Doch er konnte nicht sagen, ob es vor wenigen Tagen oder bereits vor hundert Jahren aus der Wand gedrückt worden war.

»Kerkring?« Rungholt sah sich nach dem Rychtevoghede um.

Der junge Mann kämpfte mit einer Fackel, die auf seinen Bierbauch zu tropfen drohte. Er untersuchte mit Allrich noch immer die Decke. »Ja?«

»Holt zwei Büttel. Sie sollen Schaufeln mitbringen.« Wohlwollend registrierte Rungholt, dass Kerkring ohne Widerrede Rungholts Befehl an Allrich weitergab.

Erst eine Stunde später, als Rungholt die Leiter hinaufstieg und in die Nacht hinaustrat, wurde ihm bewusst, dass er die Ermittlung übernommen hatte. Er hatte zugestimmt, diese Blutschande aufzudecken, ohne sagen zu können, wann genau er ja gesagt hatte.

Die Märznacht roch köstlich.

 

Vom Fundort der Leiche bis zu seinem Haus in der Engelsgrube waren es kaum drei Minuten Fußweg. Es war nach Mitternacht, als Rungholt in die Gasse bog, aber er hatte es nicht eilig, denn in seinem Kopf hatte sich der Anblick der Leiche festgesetzt, und selbst nachdem er sich zwang, an seine Brauerei und damit an den unliebsamen Handwerksmeister Hebestrith zu denken, verflogen die Bilder nicht. Die Luft war noch immer lau, nur ab und an ein Windhauch. Der Vollmond schien durch vereinzelte Federwolken, deren ausgerissene Schlieren sich beinahe weiß vom schwarzen Himmel abzeichneten.

Die Engelsgrube führte den Hügel zum Koberg hinauf, auf dem die kleine Kirche St. Jacobi mit ihrem schlanken Turm in die Nacht ragte. Zwei Nachtwächter mit Tranlampen kamen ihm die schmale Straße entgegen und grüßten. Rungholt ging die gewundene Gasse zur Hälfte hinauf und blieb vor seiner Tür mit dem schweren Eisenklopfer in Form eines Vogelkopfes stehen, den er vor Jahren in Brügge gekauft hatte. Ohne es zu wollen, blickte er hoch zum Türsturz. Dat bose vemeide unde acht de ryt war dort über dem Holz der Tür eingemeißelt. Das Böse vermeide und achte das Recht. Beim Anblick des Sinnspruchs entfuhr ihm ein Brummeln. Wieder einmal hat jemand in Lübeck diese Mahnung missachtet, dachte er und drückte die Haustür auf. Jemand hat Schande über meine Stadt gebracht. Blutschande. Die Sünden hören niemals auf, und die Sünder sterben niemals aus.

Das Stolastück, das sie gefunden hatten, sprach für einen Priester, doch einen Geistlichen mit Goldzahn hatte Rungholt noch nie gesehen, denn war es ihnen nicht untersagt, weltlichen Reichtum zu besitzen oder sich damit zu schmücken? Rungholt kannte die Vicarien und Commendisten, die beinahe jeden Tag in St. Marien und im Dom die Memoria sprachen und Seelenmessen abhielten. Zumindest kannte er sie vom Sehen. Jemand mit Goldzahn war nicht darunter.

Er überlegte, ob er zum Ordo Praedicatorum gehen sollte. Der Bettlerorden des heiligen Dominikus hatte seine Kapelle nicht weit der Engelswisch. Vielleicht konnten die Mönche ihm mit der Stola weiterhelfen.

Aber er mochte die Dominikaner nicht. Sie waren ihm unheimlich mit ihrer Vorstellung von der Sünde und ihrem ewigen Gerede von der Hölle. Für seinen Geschmack gemahnten sie ihn zu eindringlich an die Qualen im Fegefeuer. Rungholt konnte sich die ewige Verdammnis sehr gut allein vorstellen, und allzu oft hatte er schon während des Büßens gewusst, dass seine Beichten und Fürbitten keinen Sinn haben würden. Auch ihn würde der Herr der Fliegen holen.

Vierzig Augen blickten in den Himmel. Und rot war der Schnee. Die Fliegen schlüpften in ihre Münder und flogen in ihre Augen. Die Fliegen drückten Lider auf, die für immer geschlossen sein sollten.

Er hielt Irena in seinen Armen. Er wiegte sie, während die Fliegen kamen. Er achtete darauf, dass der Teufel sie nicht mit seinem Gewürm schändete.