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Derek Meisters Rungholt ist Kult! Der erste Fall für den eigenwilligsten Ermittler des Mittelalters …
Lübeck, 1390: In der Hauptstadt der Hanse wird die Leiche eines geheimnisvollen Fremden aus der Trave gezogen. Unversehens findet sich der störrische Patrizier Rungholt in einer finsteren Ränke wieder, denn sein Kaufmannslehrling wird beschuldigt, den Fremden erschlagen zu haben. Rungholt bleiben nur wenige Tage, um dessen Unschuld zu beweisen und somit die Ehre seines Hauses wiederherzustellen. Doch bei der hartnäckigen Jagd nach dem Mörder droht er alles zu verlieren: seine Ehre, sein Leben – und seine geliebte Tochter Mirke …
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Seitenzahl: 792
Derek Meister
Rungholts Ehre
Historischer Kriminalroman
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www.blanvalet-verlag.de
Für Marion und Marietta
Durch die Größe deiner Weisheit hast du mit deinem Handel deinen Reichtum vermehrt, dein Herz wollte wegen deines Reichtums hoch hinaus…
In die Grube werden sie dich hinabfahren lassen, und du wirst den Tod eines Erschlagenen sterben im Herzen der Meere.
Niemand bemerkte die Leiche.
Der Tote trieb stromabwärts.
Er glitt langsam den Fluss hinab, trieb seicht dahin. Äste, Abfall und die stinkende Beize der Gerber umspülten den leblosen Körper. Doch der Tote schob sich hindurch, schob sich durch den Dreck und die übel riechende Brühe des Lübecker Hafens. Er glitt durch all dies, als würde er schweben. Schwerelos. Die Augen starr gen Himmel, den Mund geöffnet. Das zerschlagene Gesicht umspült von den Wellen des Flusses.
Der Tote glitt dahin. Er glitt vorbei an den schlanken Booten der Wakenitzschiffer, die im Seichten dümpelten. Vorbei an der Stadtmauer, die mit ihrem Wehrgang weit sichtbar war. Er glitt an einem befestigten Stadttor entlang und erreichte den Seehafen. Die Kräne des Kais zeichneten sich im Morgendunst ab. Schemenhaft. Stakend hielten sie ihre Ausleger über den Fluss. Der Mann schwamm unter ihnen hindurch und an nassen Lumpen vorüber, an Obst, das Kinder in die Trave geschmissen hatten und an zerschlagenen Fässern einer unliebsamen Fracht.
Niemand sah den Toten. Es war noch vor der Morgenmesse. Die Prim hatte erst begonnen und Lübeck, die Königin der Hanse, das Zentrum des Ostseehandels, ruhte noch an diesem kalten Morgen 1390. Das klare Wetter drückte die Kälte in die Gassen. Der Himmel war beinahe weiß, nur einzelne Eiswolken zeichneten sich wie flüchtig hingeworfen ab und spiegelten sich matt im Wasser, bevor der Mann sie auf seinem Weg durchschnitt.
Die Stadt lag auf einem seichten Hügel. Während sich im Süden die Trave und die Wakenitz trafen, schmiegten sich die beiden Flüsse im Norden nur aneinander und ließen eine natürliche Landzunge zwischen sich. Die beiden Flüsse machten Lübeck uneinnehmbar und die Trave war Lübecks Händlern das Tor zur Ostsee und damit zu Reichtum und Macht. Bald würde das Wasser salziger, das sanfte Schaukeln des Flusses zur gefährlichen Strömung werden. Sie würde den Körper an Travemünde vorbei, hinaus auf das offene Meer tragen. In die Ostsee.
Möglicherweise würde der Mann jenem Weg gen Osten folgen, den die Kaufleute in ihren Koggen Jahr für Jahr nahmen. Von Lübeck die Trave hinauf in die Ostsee, dann weiter bis nach Schonen. Oder der blutige Körper würde gar der starken Ostsströmung folgen und bis ins Russenland getragen werden.
Der Tote war dem Fluss ausgeliefert. Wie ein Federkiel im Wasser Tinte verliert, so sickerte aus seinem eingeschlagenen Schädel Blut. Wieder und wieder wurde sein Kopf unter die Oberfläche gedrückt. Das schwere Blut zeichnete tanzende Fäden ins brackige Wasser und spielte mit seinem dunklen Haar. Es zeichnete eine Art stetig wechselnde Landkarte ins Travewasser. Ein flüchtiges, fragiles Gespinst aus verästelten Adern. Wege und Kanäle aus dunklem Rot, die die sanfte Strömung verwischte.
Beinahe lautlos rieb der Körper am Bauch einer Kogge entlang und verfing sich im freistehenden Ruderbalken. Der Weg des Toten fand ein jähes Ende.
Mit einem entsetzlichen Krachen drückte das Schiff den Mann gegen die Holzpfeiler des Kais. Wieder und wieder ließ die Kogge in ihrem scheinbar sanften Pendeln die Knochen des Fremden brechen.
Der Schmerz verebbte. Er hörte nicht abrupt auf, er verging nur langsam. Sickernd. Wie das Wasser bei Ebbe kaum sichtbar weicht, so zog sich kaum merklich Rungholts Schmerz zurück.
Sammelt sich der Schmerz wie das Wasser? Verschwindet das grässliche Wasser mit den Gezeiten oder gibt es dort draußen im Meer einen Berg aus Wasser? Und sammelt sich der Schmerz ebenso, wenn er verebbt? Bildet er einen See aus Schmerz, in dem sich aller Schmerz vereint, um bei der nächsten Sturmflut nur machtvoller zurückzukehren? Rungholt versuchte, die Gedanken an den Schmerz abzuschütteln. Es gelang nicht.
»Rungholt?« Jemand rief nach ihm, doch Rungholt drehte sich nicht um. Verkniffen starrte er auf die Beplankung der Möwe. Zwanghaft konzentrierte er sich auf die mit Hanf und Moos kalfaterten Planken der Kogge. Alles im Bemühen, sich nicht mehr auf den Schmerz zu konzentrieren, der in seinem Kiefer pochte. Er verfolgte das sanfte Auf und Ab des Schiffes, konzentrierte sich auf die sich überlappenden Bretter, zählte, verglich und folgte sinnlos den Maserungen und Klinkernähten. Denke an etwas anderes, ermahnte er sich. Irgendetwas. Er presste die Augenlider zusammen, holte Luft. Ein Stoßgebet.
Für ihn als ungeduldigen Menschen ließ das Schlagen in seinem Backenzahn viel zu langsam nach, nahm der Alltag um ihn herum viel zu schleppend wieder Gestalt an. Irgendwo hinter ihm kläfften Wulfframs Hunde. Der Böttcher hatte vier Bullenbeißer und musste die Viecher immer mit hinunter zum Hafen nehmen, wo sie dann angesichts des geschäftigen Treibens ihr Theater vollführten. Rungholt konnte das abgehackte Bellen der Hunde nicht ertragen. Doch jetzt war er froh, es wieder wahrzunehmen.
Langsam kehrten auch die anderen Geräusche zurück, die Farben und das Leben ringsum. Rungholt hörte einen Trupp Arbeiter, die sangen. Das Getrappel der Pferde auf den Holzbohlen. Das Rollen von Fässern über Planken. Und von irgendwo, leiser und entfernt, das Hammerschlagen und Sägen der Zimmerleute. Ihr Krach wurde von der Werft die Trave hinauf geworfen und hallte von den Backsteinhäusern wider. Der Funkenregen in Rungholts Schädel verblasste mit jedem Herzschlag. Das Klopfen und Zerren, das sich den Kiefer hinab bis in den Hals fortsetzte – auch dieses verebbte.
Endlich ließ sein Schmerz nach.
»Rungholt? Ist dir schlecht? Wieder das Wasser, hm? Rungholt?« Marek Bølge, der Kapitän der Möwe hatte seine drei Belader stehen gelassen und war besorgt an den Kai getreten. Er sah Rungholts fässerne Statur von der Seite an und kratzte sich seine zerschundenen Oberarme. Sie waren von den Tauen und von Schlägereien vernarbt. Als Rungholt stumm abwinkte, fuhr Marek fort. »Wir haben jetzt fünfzehn Fässer. Was ist mit denen hinter dem Kran? Soll ich die Männer anweisen, sie zu laden? Hm? Im Frachtraum ist noch Platz.«
Rungholt antwortet nicht.
»Dein Drittel ist erst halb voll… Rungholt?«
Rungholt nickte stumm, er merkte, dass er immer noch auf die Kogge starrte und tat einen Schritt vom Kai zurück. Er hätte an diesem diesigen Morgen nicht selbst in den Hafen kommen und die Beladung seiner Kogge überwachen sollen, schoss es ihm durch den Kopf.
Eigentlich vertraute er Marek. Schon seit ein paar Jahren machte er Geschäfte mit dem jungen Mann aus dem Skåneland. Marek Bølge kam aus Bornholm. Und damit war er Däne. Deswegen verschwieg Marek auch lieber seine Herkunft in den Wirtshäusern. Hier in Lübeck wollte niemand mit den verhassten Dänen etwas zu tun haben. Rungholt jedoch mochte den fröhlichen, jüngeren Mann, der selbst nur ein paar Brocken Dänisch sprach und seine Insel schon seit seiner Kindheit nicht besucht hatte. Darin waren sie sich gleich: Sie beide hatten den Ort ihrer Kindheit seit Jahrzehnten nicht gesehen. Marek, weil er nicht wollte; Rungholt, weil er nicht konnte.
Rungholt hatte sich nie über seinen Kapitän beklagen müssen. Auch wenn Marek mit seinen buschigen Augenbrauen, seiner wettergegerbten Haut, den kräftigen Armen und seinen Narben äußerst verschlagen wirkte, so war er ein anständiger Kerl. Und er verstand es, jeden noch so winzig kleinen Winkel im Frachtraum der Kogge stets zu Rungholts Zufriedenheit auszunutzen. Marek war der ordentlichste Mensch, den Rungholt je kennen gelernt hatte.
Ich hätte bei meinem Weib bleiben sollen, überlegte er. Alles ist besser, als an diesem frühen Morgen am Hafen zu warten. Ich hätte mit Alheyd die Vorbereitungen zu Mirkes Toslach durchsprechen, vielleicht die Wirtschaftsbücher durchgehen und das Wintergeschäft mit Novgorod kalkulieren sollen. Warum bin ich nur immer so argwöhnisch?
Ich stehe Marek nur im Wege, dachte Rungholt. Er lädt ohne mich das Salz und den Wein viel schneller. Nur der Herrgott und ich wissen, dass es der Argwohn ist, der mich so früh ans Wasser getrieben hat. Was ich nicht selbst sehe, macht mich misstrauisch. Die Ungewissheit lässt mich umherlaufen, wie einen kopflosen Vitalienbruder. Nur dass diese Piraten das Wasser lieben, während es mir Angst einflößt.
Der Gedanke ließ ihn unbewusst zwischen Kogge und Kai hinab sehen, im selben Moment hasste er sich für den Blick aufs schaurige Wasser: Es lag trügerisch da, beinahe schwarz vom Kai aus. Ein kalter, dunkler Strom, der alles mit sich hinaus ins Nichts zog. Rungholt wandte sich ab. Der Anblick von Wasser machte ihn frösteln. Angst kroch ihm dann seinen Rücken hinauf, und packte seinen Hals. Es war schon genug, dass sein Misstrauen ihn mit seinem eitrigen Backenzahn bestrafte. Verflixte Sache.
»Die Fässer, Rungholt«, wiederholte Marek geduldig.
Rungholt mahlte probehalber mit dem Kiefer, bevor er schluckend antwortet. »Ladet sie alle. Auch die von hinten. Die Russen sind ganz versessen auf das Lüneburger Salz. Sie wollen diesen Winter den Schonen und ihren Heringen ein Schnippchen schlagen.«
Ein Bündel Fässer wurde hoch zur Kogge gehievt, bestimmt zwei Lasten. Eine ganze Tonne Salz, die über das breite Deck des Einmasters schwang. An der Reling nahmen die Belader das Netz mit den Fässern entgegen. Sie brüllten sich Kommandos zu und schafften es, die Fässer sanft unter Deck zu wuchten. Ein Drittel des Schiffs war für Rungholt bestimmt, den restlichen Laderaum teilten sich drei weitere Händler und Kapitän Marek.
Es hatte sich als nützlich erwiesen, so gut wie alles in Fässern zu transportieren. Selbst Bücher wurden in die Tonnen gepackt, die sie vor dem Wasser einigermaßen schützten. Rungholts Salzladung war für Novgorod bestimmt. Zwar unterhielt er auch mit Brügge Geschäfte und schickte ab und an eine Kogge ins Kontor in den Norden nach Bergen, doch mit dem Geschäft gen Osten war er groß geworden. Und so waren Novgorod, Riga und Danzig seine Haupthandelsrouten.
»Du solltest zum Bader gehen mit dem Zahn, sag ich dir«, meinte Marek. Rungholt wurde aus seinen Gedanken gerissen.
»Jetzt fang du mir auch noch damit an, Marek! Ist es nicht genug, dass meine Weiber zu Haus sich über mich das Maul zerreißen? Die reden auch schon ständig auf mich ein.« Rungholt befühlte vorsichtig mit der Zunge den eitrigen Zahn. Ein Stück war wohl abgebrochen, und der Stumpf drohte, in seine Zunge zu schneiden. Doch das Schlimmste war der Eiter und die Schwellung des entzündeten Zahnfleischs. Kaum mit der Zunge an den Zahn gestoßen, durchzuckte ein neuerlicher Schmerz seinen Schädel. Sein Körper verkrampfte sich. Ein weiteres Stoßgebet an die Heilige Medard!
Rungholt fluchte. Er hielt sich die Wange und wandte sich seinem Kapitän zu.
Marek sah Rungholt mitleidig an: »Das ist ja nicht mit anzusehen. Hol dir einen Medicus ins Haus. Das Geld wäre gut angelegt.«
»Einen Arzt?« Rungholt spie das Wort förmlich aus. »Willst du mich umbringen?«
»Des Öfteren! Schon. Ja.«
Rungholt überhörte den Kommentar geflissentlich. »Ha! Diese Pfuscher haben doch nur ihr Salär im Sinn. ›Gut angelegt?«, knurrte er. »Das wird schon werden. Der fällt raus.«
Marek musste lachen. »Seit wann bist du Optimist, hm?«
Feixend wandte er sich wieder dem Netz mit den Fässern zu, griff mit einem Haken hinein und bugsierte es zu den Beladern der Kogge. Auch Rungholt musste grinsen, soweit es der Zahn zuließ. Doch er wusste, dass seine Weigerung ernst gemeint war. Er hatte schlicht Angst vor einem Arzt, einem Medicus – diesen Kurpfuschern. Er hatte genug Geld, um sich einen guten Leibarzt zu leisten, doch der Glaube, dass es der Arzt selbst war, der den Tod erst mitbrachte, ließ ihn um diese Zunft einen weiten Bogen schlagen.
Zufrieden, dass jedenfalls die Beladung voranschritt, wandte sich Rungholt von der Kogge ab. Er sah am sperrigen Schwungrad vorbei, in dem sich zwei Arbeiter abmühten und den Kran bewegten. Schweißüberströmt stemmten sie sich gegen die Rundung des Laufrades, wurden Teil der schweren Holzkonstruktion und trieben so den klobigen Ausleger erneut vom Pier zur Möwe hinüber.
Er sog die kühle, morgendliche Septemberluft ein. Nebel lag über der Trave, doch der Himmel war nahezu wolkenlos.
Rungholt ließ seinen Blick über die Häuser gleiten, deren Giebel hinter der Stadtmauer hervorlugten. Ein Farbenspiel aus Rot und Gelb zeichnete sich vor dem frühen Himmel ab. Das kräftige Dunkelrot der Giebelhäuser an der Obertrave, das ins Gelb changierende Schimmern der geschlämmten Ziegel und das schwarze Glitzern der lasierten Schmucksteine, die die Häuser zierten.
Beinahe weiß ist das Blau des Himmels, dachte Rungholt, und genoss den Blick auf seine Stadt. Lübeck. Die Stadt der sieben Türme. Was war schon ein Brügge, was war ein Hamburg oder ein Köln? – Lübeck. Sie war das Tor zur Welt.
Als sein Blick die beiden Türme von St. Marien streifte, die zwischen den gezackten Giebeln der Kaufmannshäuser gen Himmel strebten, frohlockte sein Herz. Über fünfundsechzig Klafter, hundertfünfundzwanzig Meter, ragten die Türme grazil zu Gott empor. Mit ihnen hatte sich der Rat, hatten sich die Kaufleute Lübecks ein Denkmal gesetzt. Fast ein Jahrhundert hatten die reichsten Lübecker Geld für den Bau gesammelt. Die Aufgabe war von Patrizier zu Patrizier weitergereicht worden. Rungholt konnte sich noch erinnern, wie sein alter Herr von den politischen Querelen gesprochen hatte, die beim Bau ausgebrochen waren. In der Wärme der Dornse hatte Nyebur häufig Schwänke über die Streitereien der mächtigen Ratsherren zum Besten gegeben. Die kleine Schreibstube in Nyeburs Diele war dann voll von dem guten Rauch des Quendelkrauts und dem Duft feiner Gewürze gewesen, und Nyebur hatte erzählt und erzählt. Rungholt, kaum vierzehn Jahre alt, hatte sich die Pfeife schmecken lassen und jedes Wort in sich aufgesogen.
Und nun ist deine Tochter beinahe so alt, wie du damals, dachte Rungholt beim Anblick der Kirche. Und in wenigen Wochen, im November schon, wird Mirke in dieser Kirche heiraten. Ich werde dafür sorgen, dass der Lübecker Rat vor Vorfreude zergehen wird. Mit der Verlobung, der Toslach, am Freitag im Rathaus, werde ich den Lübecker Kaufleuten einen Ausblick auf die Hochzeit schenken, den sie nicht vergessen werden. Mirkes Toslach soll eine so prächtige Verlobung werden, dass man bis zur Heirat nur von mir, dem angesehenen und ehrbaren Kaufmann und Vater, und von seiner wunderbaren Tochter spricht.
Rungholt musste lächeln. Vielleicht war es trotz der Schmerzen, trotz seines Ekels vor dem Wasser eine gute Entscheidung gewesen, sofort nach der Morgenmesse in den Hafen zu kommen. Der Gedanke an seine Tochter erfüllte ihn mit Stolz.
Sie trafen sich heimlich.
Am frühen Morgen auf der Lastadie. So hatten sie es ausgemacht. Hinter den Holzstapeln aus mächtigen Stämmen, die zur Verarbeitung aufgeschichtet lagen, und den staksigen Holzgerippen der Koggen konnte man ungestört sein. Genug verschwiegene Winkel und Orte. Lüdjes Werft lag flussaufwärts des Hafens. Sie war abschüssig zum Fluss hin und durch die Holzstapel, durch die Gestelle und Gerüste, durch das ganze Drunter und Drüber des Holzes, vom Hafen her schlecht einzusehen. Hier hörte niemand mit. Hier wurde man nicht gestört. Ein verschwiegener Ort direkt hinter der Stadtmauer und am Wasser.
Hier konnten sie sich lieben.
Weil er so aufgeregt war, dass sie sich endlich wieder sahen, hatte der fünfzehnjährige Daniel nicht schlafen können. Um sich abzulenken, war er am Abend fortgeschlichen und die Nacht über durch Lübeck gestromert. Schließlich war er im Travekrug gelandet. Er hatte ein paar Bier getrunken und dann gewürfelt. Später hatte er mit einem Fremden bis in die Nacht Tres Canes gespielt. Daniel liebte Tres Canes. Darin war er ein Könner, und so hatte er immer übermütigere Einsätze auf den Tisch der Wirtsstube gelegt. Ständig hatte er die Hunde im Würfelbecher und seinen Gegenüber immer höhnischer angegrinst. Der Verlierer hatte wirres Zeug gemurmelt und seinen Einsatz nicht zahlen wollen. Dieser unheimliche Kerl. Dabei waren in Daniels Becher eindeutig die drei Hunde. Die drei Einsen.
Die Erinnerung an den letzten Abend ließ Daniel an seine Wange fassen. Sie war noch etwas geschwollen und rot. Eine Strieme zog sich auf ihr entlang, wo der Fremde ihn mit seinem Ring getroffen hatte. Daniel lächelte in sich hinein, während er seine Blessur betastete. Das wunde Fleisch gab ihm ein Gefühl von Lebendigkeit. Ein Gefühl, dass er als kleiner Junge in Riga oft gehabt, jedoch die letzten Jahre bei Rungholt in der Schreibstube mehr und mehr vermisst hatte.
Daniel und der Fremde hatten sich geschlagen, doch Daniel hatte es diesem schlechten Verlierer gezeigt. Der würde niemanden mehr um seinen Gewinn prellen wollen.
»Tut es weh?« Mirke wrang ihr Taschentuch aus, hielt es Daniel hin. Doch der hörte nicht sofort.
»Was? Nein. Nur ein bisschen.« Er lächelte sie an, nahm ihr das Tuch ab und tupfte sich die Wange.
Sie saßen auf einem verwitterten Holzstamm nahe dem Wasser. Das Licht der frühen Morgensonne wurde von dem Plätschern der Trave reflektiert und spielte in ihrem Gesicht. Er gab ihr das Taschentuch wieder.
Mirke wollte es wegstecken, als sie merkte, dass Daniel etwas hineingelegt hatte. Eine silberne Tassel. Eine große Metallschließe aus zwei scheibenförmigen Fibeln, die mit einem Kettchen verbunden waren, lag in dem Tuch.
Die Fibeln, die man sich an den Mantel oder Umhang steckte, um ihn am Hals zusammenzuhalten, waren filigran verziert. Lotusblätter rankten sich zart um die Ränder der Scheiben, um in der Mitte zu einer fein gearbeiteten Blüte zu verschmelzen. Die Nadel zum Feststecken war zart aber robust. Der Goldschmied hatte das Silber gekonnt an die Scheibe gelötet und eine glänzende, federnde Bügelspange geschaffen. Die Tassel war wunderschön.
»Für mich?« Mirke juchzte vor Freude. Daniel nickte und wurde beinahe vom Baumstamm gerissen, als sie ihn umarmte.
Er lachte, während sie ihm freudig rechts und links Schmatzer gab.
Sie kannten sich schon lange. Zwei Jahre war es her, seit Daniel zu Rungholt gekommen war, um Kaufmann zu werden. Er konnte sich kaum daran erinnern, wie er Mirke das erste Mal gesehen hatte. Sie waren ja noch beide Kinder gewesen. Sie hatten zusammen gespielt, Daniel hatte auf die damals elfjährige Mirke Acht gegeben. Oft waren sie, wenn Daniels Studium es zuließ, in den Hof hinter Rungholts Haus gegangen. Dort hatten sie an einer Mauer mit Murmeln gespielt. Wer mit den Tonkugeln der kostbaren Glasmurmel am nächsten kam, hatte gewonnen. Das Spielen und die Arbeit im Haus hatten die beiden zusammengebracht. Ständig hatten sie etwas ausgeheckt. Seinem Lehrer, dem Kaufmann Rungholt, musste es wohl vorgekommen sein, als habe er ein Kind mehr, das es zu erziehen galt.
Aus ihrem Spiel wurde in diesem Sommer Ernst. Immer häufiger hatten sie sich heimlich getroffen. Vor drei Wochen dann waren sie das erste Mal zu den Mühlen außerhalb der Stadt geschlichen. Ihre Annährungen waren noch schüchtern, obwohl sie nicht Daniels erste Frau war. Er hatte sich schon ein paar Mal mit den Hübschlerinnen aus den Gängen am Hafen eingelassen. Doch diese Weiber waren käuflich. Mirke hingegen war in seinen Augen beinahe heilig. Und eine gute Partie, das war sie ebenfalls. Immerhin war Rungholt ein Ratsmitglied und wohlhabend obendrein. Das Problem war nur, dass Daniel dies alles nicht war. Er war nur ein Kaufmannslehrling, noch nicht mal ein Geselle, der – statt seinem Meister nachzueifern – dessen Tochter schöne Augen machte.
Und dies gerade jetzt. Jetzt, wo Mirke den reichen Patrizier Sebalt von Attendorn heiraten sollte. Die Vorbereitungen für Mirkes Toslach waren beinahe abgeschlossen. Der Zeitpunkt für ihre Affäre hätte nicht prekärer sein können, als direkt vor dem Eheversprechen. Die Toslach würde bindend sein, und es galt, sie vor dem Rat der Stadt, den mächtigsten Kaufleuten, abzulegen. Und vor Gott.
Daniel war drauf und dran, Mirke zu entehren. Die Hochzeitsnacht fand nicht ohne Grund unter Aufsicht der Familie und der Mägde statt. Was, wenn sie keine Jungfrau mehr sein sollte? Was, wenn Rungholt sie beide erwischte – oder ihr Zukünftiger Attendorn, dieser gebildete, dieser reiche… dieser… dieses gestandene Mannsbild?
Daniel sah sich schon gepfählt, aufgespießt auf seiner geliebten Mirke liegen. Der Holzpfahl durch ihn und durch Mirke gerammt. Er schüttelte den Gedanken ab, versuchte, nicht mehr daran zu denken.
Noch war es kein Bruch des göttlichen Eheversprechens, noch war es nicht mal das Brechen der Toslach. Dennoch, sie beide standen direkt davor. Und sie wussten es. Mirke betrachtete noch immer die glitzernde Tassel, ließ sie im Licht blitzen. Daniel sah ihr dabei zu – und bei Gott, bei seiner brennenden Wange und all seinen Sommersprossen – die düsteren Gedanken verflogen augenblicklich.
Daniel wollte es nicht tun, doch die Verführung, einen Blick zu erheischen, war einfach zu groß. Er schielte durch die weiten Ärmellöcher ihres mit Brokat bestickten Kleids und sah auf ihre Brüste. Sie zeichneten sich fest durch die eng anliegende Cotte ab, die sie unter ihrem Surkot trug. Ihre Brustwarzen waren eine teuflische Verführung, die man durch diese Fenster nur bewundern konnte.
Als Mirke seinen Blick bemerkte, musste sie schmunzeln. Keck starrte sie zurück, schnell sah er weg.
Jeden Moment galt es mit ihr auszukosten, schoss es ihm durch den Kopf. Jeden Moment. Auch wenn es Daniels letzter Morgen werden sollte, er musste sie berühren, sich an sie schmiegen.
»Nicht so schnell!« Sie nahm seine Hand und schob sie von ihrem Schenkel. »Du willst mich doch wohl nicht verführen, Daniel Brederlow?«
Er setzte das unschuldigste Gesicht auf, das er konnte. Mirke musste lachen. Verschmitzt meinte er: »Ach. Jetzt sag bloß, ich bin’s selbst gewesen. Hab mich heimlich selbst in der Schreibstube aufgesucht und dem armen Kaufmannslehrling einen Zettel unter die Bücher geschoben, heute Morgen nicht zum Schmied zu gehen. Hm?«
»Na ja…«, sagte sie. »Vielleicht warst du es. Ja. Du warst es selbst! Du redest doch immer mit dir, wenn du in die Bücher kritzelst. Brabbelst so merkwürdiges Zeug vor dich her.« Mirke äffte ihn nach und kicherte.
Er knuffte sie.
»Vielleicht war ich wirklich gar nicht da. Vielleicht hat dir ja ein Gespenst eingeredet, nicht zum Schmied zu laufen, sondern hierher zu kommen.«
»Gespenst? Du kommst mir wirklich manchmal vor, als ob du nicht von dieser Welt wärst.« Die Sonne warf ein Glitzern auf ihre Wangen. Daniel schloss die Augen und wollte sie küssen, doch als er sich ihr näherte, hörte er sie nur glucksen.
»Daniel Brederlow! Das sollte doch wohl kein Kompliment sein!«, sagte sie. Dann musste sie lachen, »Ich bin ja auch nur Einbildung. Los! Sonst bin ich ganz weg!«
Mirke raffte ihr Kleid hoch, sprang auf und rannte juchzend davon.
Na warte! Daniel setzte ihr nach, holte sie bei einem Koggengerippe ein. Er drückte sie gegen die Planken. Sie lachte, fasste ihn bei der Hüfte und küsste ihn inniglich.
»Wir müssen mit meinem Vater reden«, begann sie. Er stoppte sie mit einer Geste, begann, mit ihren Haaren zu spielen, drückte sie an sich. Dann tat er, als wollte er sie küssen, rannte aber davon.
»Du bist dran!«, rief er. Er schlug Haken und lief hinter einen Stapel Eichenholz. Lüdje hatte die Stämme gehortet. Bestimmt zweihundert Lasten. Ein mannshoher Klafter Holz für seine Koggen. Daniel huschte um ein weiteres Holzgerippe eines Schiffs.
Am Ende des Holzskelettes spähte er um den Achtersteven. Mirke folgte ihm bereits. Hatte sie gesehen, dass er hinter die Spanten geschlichen war? Sie war nicht mehr weit entfernt. Daniel sah sich um. Einige Klafter weiter, die Böschung hinab, begann das Schilf. Sollte er in die Trave steigen und sich im Seichten verstecken? Das Wasser war bestimmt nicht sehr kalt.
Er lief die Böschung zur Trave hinunter und stakste über einen ausgeglühten Feuerplatz mit schon gebogenen Spanten. Sie waren noch warm vom Vortag, als Lüdje sie mit seinen Männern erhitzt und dann Stück um Stück gebogen hatte. Die Vorfreude darauf, wie er Mirke überraschen konnte, wenn sie keinen Klafter neben ihm am Ufer stand und nach ihm sah, trieb ihn ins knietiefe Wasser.
Zwischen den sich wiegenden Schilfrohren hindurch konnte er sehen, wie sie nach ihm rief. Als sie in seine Richtung sah, wich er zurück und musste sich das Lachen verkneifen. Gleich würde sie die Böschung herabkommen, und er würde aus dem Wasser springen und sich mit ihr im Arm vor dem Schilf rollen.
Da war eine verwitterte Mole mit muschelverkrusteten Pfeilern. Keine zwei Klafter hinter ihm. Langsam schob er sich rückwärts darauf zu, den Blick nicht von Mirke lassend.
Erst nahm Daniel den Widerstand des Körpers gar nicht wahr und trat noch einen weiteren Schritt zurück. Dann blickte er sich um. Sofort überkam ihn Panik. Mirke, die noch auf der Böschung stand, hatte er schlagartig vergessen. Er war so erschrocken, dass er vergaß zu schreien. Ein Toter. Hier. Direkt vor der Stadt. Der Körper sah schlimm zugerichtet aus. Der Schädel war dem Mann wohl eingeschlagen worden. Sein ärmliches Hemd war rot vom Blut. Das Wasser der Trave hatte es nicht ausspülen können. Der Tote musste zwischen den vertäuten Koggen hindurch geschwemmt worden sein und sich endgültig an einem der verwitterten Pfeiler der Mole und dem Schilf verfangen haben.
Irgendetwas war seltsam an der Leiche, irgendetwas war eigenartig. Die pechschwarzen Haare, die schmalen Ohren. Die Neugierde siegte. Langsam watete Daniel durch das Wasser näher an den Körper heran. Er traute sich nicht, die Leiche zu berühren. Aber er war sich sicher. Ja, Daniel kannte den Toten. Es war der Fremde, mit dem er in der Nacht in Streit geraten war. Es war dieser eitle Rindskopf, der erst Tres Canes spielen, dann aber Daniel seinen Gewinn nicht auszahlen wollte. Der Mann aus dem Wirtshaus.
Er blickte sich nach Mirke um. Sie rief, neckte und lockte. Daniel reagierte nicht. Das Versteckspiel war beendet. Im doppelten Sinne, wie Daniel feststellen musste. Erst würde der Büttel kommen, die Marktfrauen und die Standbesitzer. Die Mägde und Männer aus dem Hafen. Und der Stadtrat. Und dann Rungholt. Sicherlich Rungholt. Sein Lehrmeister, in dessen Haus er ein- und ausging. Der Mann, zu dem Daniel aufblickte und dessen Tochter er aufrichtig liebte. Sie alle würden kommen und den Toten begaffen. Und Rungholt war ganz und gar nicht dumm. Er würde mit einem Blick erkennen, was Daniel und seine Mirke hinter den Holzstapeln von Lüdjes Lastadie trieben. Er würde Daniel grün und blau schlagen, würde die Knute zücken und ihn nach aller Kunst verprügeln.
Schlimmer noch. Vielleicht würde er ihn nach Bergen ins Kontor schicken oder ihn totschlagen. Und er hatte Recht damit, gestand Daniel sich ein. Rungholt hatte Recht, wenn er ihn aufknöpfte, wie einen räudigen Dänen.
All das schoss ihm durch den Kopf, als er knietief im Wasser stand, die Leiche neben sich. Er begann zu zittern. Es wurde kalt im Wasser. Und während er am Schilf vorbei Mirke beobachtete, fasste Daniel einen Entschluss.
Freudig rief Mirke ihm zu, als er ans Ufer sprang. Sie wollte ihn lachend fangen, doch Daniel überhörte ihre Rufe.
Er lief. Er rannte zwischen den Holzstapeln hindurch, an den halbfertigen Koggen vorbei, am Hafen entlang. Er bog ab, schlug Haken. Ab in die Ellerbrook, weiter, links ab, an den Bäckerbuden in der Mengstraße vorüber. Mitten hinein ins Gedränge von Händlern, Marktschreiern, Gesindel. Der Morgen hatte die Lübecker vor die Buden gelockt. Tratsch, Gegacker, Lachen. Schweine, Hühner. Geschrei und Gegrunze. Der Geruch von gebackenem Brot und glimmenden Holzscheiten. Doch Daniel hatte keinen Sinn für all die Gerüche und Farben.
Ein dicker Bäcker wollte einer Magd ihr Brot reichen, da schoss Daniel heran. Der Mann zerrte die Magd aus dem Weg. Daniel drückte sich mit Ellbogen durch die Menge, stolperte, fing sich, lief weiter. Eine Traube von Händlern stritt um den Karren eines fahrenden Bäckers. Daniel sprang einfach über den Handwagen mit dem aufgebockten Ofen. Er stieß eine fette Köchin beiseite. Heringe pladderten auf die Kopfsteine.
Er hörte ihre Verwünschungen nicht. Während sofort andere Frauen der dicken Köchin zur Hilfe eilten, war Daniel schon um die Ecke in die Schüsselbuden eingebogen. Er hörte keine Flüche, keine Rufe. Er hörte nichts. Kopflos verschwand er im Gemenge des großen Marktes vor dem Rathaus, bevor ihn die Masse auf der anderen Seite wieder ausspie.
In der Wahmgasse drückte er sich dann in einen der schmalen Gänge zwischen den Häusern. Der dunkle Gang war niedrig. Daniel musste gebückt hindurchrennen. Der überbaute Schacht war keinen Klafter breit. Nur ein Sarg musste hindurch passen, so schrieb es der Rat vor. Nachdem Lübeck, eine Halbinsel mit begrenztem Raum, vollständig bebaut war, hatte man begonnen, in den Höfen hinter den Häusern ärmliche Buden und Bretterverschläge zu errichten. Sie waren nur durch diese Gänge erreichbar. Hier wohnten die Armen. Gesindel, Dirnen, Wakenitzschiffer. Gestrandete.
Daniel achtete nicht auf die Bettler, deren Ruhe er störte und die ihn lauthals anblafften. Mit einem Mal fand er sich in einem winzigen Hof wieder. Er endete geradewegs an einer Mauer aus abgebröckelten, verwitterten Ziegelsteinen, hinter der sich ein weiterer Gang anschloss. Rechts und links die schiefen, ärmlichen Buden. Wohin? Er blieb stehen, hechelte nach Luft. Er war ein guter Läufer. Schnell und ausdauernd. Er war fünfzehn.
Die Leiche im Wasser.
Er sah sich um. Dort war eine junge Fichte, halb umgeknickt. Er konnte auf sie hinauf, sich an einem Ast hochziehen und über den umgeknickten Stamm entlang. Über die Mauer.
Der Tote. Der Tote und sein gespaltener Schädel.
Er würde fliehen. Sie würden ihn nicht erwischen.
Das Blut. Das Blut im Wasser. Das besudelte Hemd des Toten. Seine Knochen. Grotesk gebrochen und auf brutale Art verwinkelt. Unmenschlich.
Immer noch raste sein Herz von der Lauferei.
Dieses Gesicht.
Kaum war Daniel fortgerannt, hatte Mirke nachgesehen, was passiert war. Vom Ufer aus hatte sie den Mann im Wasser gesehen. Sie hatte geschrien und war fortgelaufen. Auf halbem Weg war sie umgekehrt. Das Mädchen hatte sich hinter einem der Koggengerippe verborgen und aus sicherer Entfernung beobachtet, was geschah. Lüdjes Zimmerleute, die hinten bei der Stadtmauer Spanten gesägt hatten, hatten ihre Schreie gehört. Die Männer hatten sofort alles stehen und liegen gelassen. Einer hatte nach Lüdje gerufen, die anderen waren zum Ufer geeilt. Es dauerte nicht lange, bis sich eine Menschenmenge versammelt hatte.
Auch Rungholt und Marek war das Unglück nicht entgangen. Nachdem sie die Schreie und kurz darauf das Getuschel der Leute im Hafen gehört hatten, hatten sie das Laden abgebrochen. Rungholt hatte einem der Belader befohlen, auf die Waren Acht zu geben, dann war er mit Marek zur Lastadie geeilt. Er hatte Mühe gehabt, dem athletischen Marek das Ufer hinunter zu folgen, doch der Kapitän hatte auf ihn gewartet, ohne ein Wort zu verlieren.
Kurz darauf hatte Rungholts massiger Bauch die Menge der Gaffer geteilt wie ein Kiel das Wasser.
Rungholt sah sich den Toten flüchtig an. Lüdje und seine Männer hatten die Leiche durch das Schilf an Land gezogen und sie aufs schlickige Gras der Uferböschung gebettet. Überall an der Leiche klebte noch Blut. Ihr Mantel war abgerissen und aufgewetzt. Das Hemd des Fremden war blutig. Gebrochene Knochen staksten aus seinem Leib.
Kein schöner Anblick, dachte Rungholt und ermahnte sich sogleich, dass der Tod niemals schön anzusehen war. Ob er nun derart daher kam – brutal und plötzlich – oder sich schleichend ins Gewand stahl, wie bei all den Gebrechlichen oben im Heilig-Geist-Hospital. Vor vierzig Jahren, als Rungholt noch ein Junge war, hatte die Pest sich heimlich eingeschlichen und dann unverhohlen gewütet. Der von Prellungen übersäte und aufgerissene Körper dort im überfluteten Gras erinnerte ihn an diese Pestkranken. An ihre unförmigen Auswüchse und ihre offenen Beulen. Der leblose Körper in seinem roten, nassen Hemd dort im matschig getretenen Gras, er erinnerte ihn auch an ein anderes Schreckensbild. Einen Vorfall im verschneiten Osten, den sich Rungholt nicht gerne ins Gedächtnis rief.
Weißer Schnee blutet.
Er wandte sich ab. Er hatte nur einen kurzen Blick auf die Leiche geworfen. Er wollte nicht mehr sehen. Ein Unfall wohl, redete er sich gut zu. Ein Mann fällt ins Wasser und wird zwischen den Schiffen zerquetscht. So ist das Wasser, stellte er für sich fest. Gemein und tückisch.
Rungholt rief ein paar Handwerker und zwei Knechte zur Ordnung, die gar zu eifrig gafften. Er befahl Lüdjes Zimmerleuten, die Leiche wieder so zurück ins Wasser zu tragen und sie so schwimmen zu lassen, wie sie sie vorgefunden hatten. Widerwillig und voller Ekel, den Toten noch einmal berühren zu müssen, taten die Männer, wie befohlen. Rungholts Autorität als Ratsmitglied wurde anerkannt. Dann wies Rungholt Lüdje an, mit seinen Männern auf den Toten Acht zu geben, dass sich niemand der Leiche nähere. Denn bevor sie die Leiche anfassen durften, hatten sie das Varrecht abzuhalten, eine Gerichtsversammlung über den Leichnam. Nachdem er für Ruhe gesorgt hatte, ließ Rungholt nach den Ratsmitgliedern schicken. Und schließlich auch nach dem Arzt.
So kam es, dass Rungholt diesen Morgen doch noch nach einem Medicus rief, obwohl er diese doch so wenig ausstehen konnte und so sehr fürchtete.
Diesmal jedoch würde der Arzt den Tod keineswegs selbst mitbringen. Der Tod war ihm Stunden voraus.
Nachdem der Arzt eingetroffen war, folgte wenig später ein ganzer Tross von Bürgern. Einer der vier Bürgermeister Lübecks führte den Zug aus Ratsmitgliedern und Neugierigen an, ihm folgte abseits der Fron mit seinen Gehilfen. Unter den Ratsherren konnte Rungholt den Stadtschreiber und den Fiskal ausmachen. Rungholt nickte dem Fiskal zu. Er kannte den fünfzigjährigen, hühnerbrüstigen Mann flüchtig, der als Fürsprecher der Stadt bei Gerichtsverhandlungen auftrat. Ihnen allen folgte polternd und mit weitem Schritt der junge Herman Kerkring, einer der zwei Rychtevoghede Lübecks.
Kerkring war ein pausbackiger Jungspund, der durch seinen Vater in den Rat gekommen war. Ein Mann, der es unverhohlen auf den Platz des Bürgermeisters abgesehen und im Rat nicht allzu viele Freunde hatte. Unwirsch bahnte sich Kerkring einen Weg durch die Menge. Er sah mürrisch drein, als wollte er sagen, dass ein anderer diesen lästigen Kleinkram übernehmen solle. Als Rungholt Flecken von Mus auf dem mit Pelz verbrämten Mantel des jungen Mannes sah, war ihm klar, dass sie Kerkring beim Essen gestört hatten. Seine Leidenschaft, wie jeder wusste. Entsprechend schlecht gelaunt nahm er sich als Richteherr der Sache im Schlamm der Lastadie an.
Man hatte Kerkring eine Kiste gebracht, auf die er sich stellte. Er wollte sich die langen Schnabelschuhe nicht dreckig machen und liebte es wohl auch, andere zu überragen. Er ließ die Menge mit einer Geste verstummen. Es gehört sich für einen Richter nicht, dachte Rungholt, den großen Auftritt zu lieben. Dennoch gut möglich, dass meine Abneigung gegen ihn nur aus purem Neid resultiert. Mit seinen fünfundzwanzig Jahren hat er es weit gebracht, dachte Rungholt. Mit fünfundzwanzig, was habe ich da gemacht? Vor zwanzig Jahren? Mich in Novgorod durch verfluchte Eisstürme gekämpft. Vielleicht bin ich wirklich nur neidisch und vielleicht ist Kerkring doch kein so übler Mensch. Vielleicht tue ich ihm ja Unrecht. Rungholt beschloss abzuwarten.
Er war nicht der Einzige, der Kerkring skeptisch gegenüber stand. Vielen im Rat war der Mann zu jung, vor allem zu mächtig für sein Alter. Mit fünfundzwanzig Jahren wurde man kein Richteherr. Viele im Rat sprachen ihm die Weisheit und die Erfahrung ab, wirkliche Entscheidungen treffen zu können. Doch noch mehr Mitglieder des Rats unterhielten Geschäfte mit seinem Vater Berthold Kerkring, und so hatten sie dessen Sohn, wenn auch knapp an Stimmen, zu einem ihrer Richter ernannt.
In Anbetracht der Menge, die sich versammelt hatte, wich Kerkrings schlechte Laune seinem Geltungsbedürfnis.
»Ich habe den Auftrag, im Namen des Hochedlen und Hochweisen Rats die erste Hand daran zu legen«, sprach Kerkring, »damit Gerechtigkeit gehandhabt und die Bosheit bestraft werde. Damit denn auch keine Blutschuldenlast auf diese Stadt und deren Gebiet geladen werden möge.« Mit gewichtiger Mine blickte Kerkring sich um. Die Menge war verstummt. Er fuhr fort. »Weil man nicht eigentlich weiß noch wissen kann, ob jemand an dieses Menschen Tod schuldig sei, so wird darüber gegenwärtiges Varrecht geheget.«
Sofort begann der Stadtschreiber, mit seinem Griffel ein ordentliches Protokoll zu führen. Er hatte sein Pult aufgeklappt, das er sich umschnallen konnte und auf das er einige kleine Wachstafeln legte. Mit dem Griffel kratzte er routiniert Notizen in das Wachs. Später würde er alles genauestens ins liber judicii abschreiben, in das Buch des Gerichts. Das Varrecht, das sie nun abhielten, war dazu bestimmt, über den Toten Gericht abzuhalten. Und eine erste Leichenschau vorzunehmen, damit es erlaubt war, den Toten unter die Erde zu bringen. Außerdem würde im Falle eines Mordes die Anklage ans Blutgericht weitergegeben, sodass ein möglicher Mörder angeklagt werden konnte. Sollte es ihn geben, so hatte er nun um seinen Hals zu bangen.
Rungholt ließ seinen Blick schweifen. Er kannte das Prozedere des Varrechts nur zu gut. Es war ein ritualisiertes Zwiegespräch zwischen Kerkring und dem Fiskal – zwischen Richteherr und Stadtsprecher. Noch immer dümpelte die Leiche im Seichten. Der festgelegte Dialog zwischen den beiden nahm und nahm kein Ende. Rungholt hob die Hand vor die Augen. Die Sonne blendete etwas. Es war kühl. Möwen waren gekommen. Neugierig hatten sie sich auf den Koggengerippen und am Ufer niedergelassen. Die fahrigen Nebelbänke waren im Begriff, sich gänzlich zu lichten. Die steigende Mittagssonne löste sie schnell auf. Leichte Böen hatten eingesetzt.
Als die Frage nach einem Kläger gestellt wurde, wurde Rungholt wieder aufmerksamer. Gespannt wartete er darauf, dass ein Kläger vortrat. Doch er wurde enttäuscht. Niemand in der Menge erhob das Wort. Scheinbar kannte niemand den Mann. Auch nach mehrfacher Aufforderung meldete sich niemand.
Der Tote blieb ein Fremder.
Und kurioserweise war genau dies der Grund, weswegen Rungholt langsam daran zweifelte, dass es ein Unfall gewesen war. Er konnte nicht sagen, weswegen er nicht mehr glaubte, dass der ärmliche Mann eines natürlichen Todes gestorben war. Aber er war derselben Meinung wie der Fron und der Arzt. Die beiden hatten, nachdem das Varrecht abgehalten und die Leiche endlich wieder an Land gebracht worden war, damit begonnen, den Fremden grob in Augenschein zu nehmen, und waren beide skeptisch, ob es sich nur um einen Unfall handelte.
Kerkring tat zuerst alle Einwände des Arztes ab und wollte den Fremden sofort verscharren lassen. Es gab keinen Kläger, demnach kein Verbrechen. Rungholt wurde klar, dass der Rychtevoghede wohl nur schnell zu seinem Mus zurückwollte. Als der Fiskal dem Arzt beisprang und ebenfalls Bedenken äußerte, nicht vorschnell zu handeln, kündigte der Richteherr dann doch einen Aufschub der Beisetzung an. Sie würden den Mann erst morgen aus der Stadt bringen und bei den Bettlern verscharren – wenn er denn eines natürlichen Todes gestorben war.
Hinrich Calve war ein schlanker, hoch gewachsener Mann. Beinahe zwei Meter, stahlblaue Augen, lichtes Haar. Sein geradezu dreieckiger Schädel mit dem hervorstechenden Kinn hatte ihm als Kind den Spitznamen »Hacke« eingebracht. Doch die Zeiten, in denen er gehänselt wurde, waren längst vorüber. Letztes Jahr war er in die Lübecker Zirkelgesellschaft aufgenommen worden, und als kleinerer unter den Lübecker Kaufleuten war die Aufnahme eine große Ehre. Es war etwas Besonderes, das ihm zeigte, er gehörte fortan der besseren Schicht an. Dafür hatte er hart gekämpft. Mit den Jahren hatte es Calve zu einer eigenen Kogge gebracht, die er sich sprichwörtlich vom Munde abgespart hatte. Ein kleines Schiff zwar nur, das nicht mehr als zwanzig Lasten trug, doch Calve musste den Laderaum nur mit einem Schiffer teilen. Und dies war sein eigener Sohn, Egbert.
Zusammen hatten sie eine Vollemascopei gegründet, bei der sie zu gleichen Teilen ihr Vermögen einbrachten. Mit vollem Risiko, doch dafür mussten sie den Gewinn mit niemandem teilen. Und ihr Gewinn würde beträchtlich sein. Calve führte Geschäfte mit Brügge. Er hatte sich letzten Winter entschlossen, sie auch nach Schonen hin auszuweiten. Deswegen war seine Kogge mit teurem flandrischem Tuch aus Brügge unterwegs nach Stralsund. Hier in Stralsund wollte er Salz hinzukaufen und alles von Egbert nach Schonen bringen lassen. Das Salz wurde dort für die Konservierung des Herings dringend gebraucht.
Calve war voller Vorfreude, Egbert nach Wochen auf See nun im Stralsunder Hafen wieder in die Arme schließen zu können. Aus Brügge hatte ihn vor einer Woche der Brief erreicht, dass Egbert das Tuch unter dem veranschlagten Preis bekommen und sich nun mit der Kogge aufmachen würde, die Waren um Dänemark herum und durch den Sund direkt nach Stralsund zu schiffen.
Während Egbert den Seeweg angetreten hatte, hatte Hinrich Calve mit seinem jüngsten Sohn Johannes den Landweg von Lübeck nach Stralsund gewählt. Ihre Fahrt war reibungslos verlaufen. Von Lübeck aus dauerte es, so es das Wetter zuließ, zwei bis drei Tage bis nach Stralsund. Während Egbert später nach Schonen aufbrechen sollte, würde Calve mit einigen Fässern voller Pelze wieder über Land zurück nach Lübeck reisen.
Als Calve an das Wiedersehen mit Egbert dachte, erfüllten Stolz und Glück sein Herz. Alles lief reibungslos. Für einen Moment fühlte er sich wie einer der Ratsherren, die – scheinbar unbesiegbar – durch die Gassen Lübecks schritten. Diese Patrizier schlossen Geschäfte von solchem Wert per Handschlag ab, dass es Hinrich Calve schon Mühe bereitete, sie sich überhaupt vorzustellen. Doch auch seine geheimen Pläne trieben voran wie ein mächtiges Schiff mit Rückenwind. Sie griffen ineinander wie die Zahnräder einer komplizierten Uhr.
Calve sah zum Rathaus hin. Sein Geschäftspartner war im Ratskeller verschwunden. Sarnow hatte nur etwas fragen wollen, deswegen war Calve gar nicht erst abgestiegen. Am liebsten hätte er den Salzkauf und das Feilschen um die Pelze schnell abgeschlossen, um bei einem Bier Sarnow besser kennen zu lernen, doch nun war er gezwungen, noch etwas auf den Mann zu warten.
Calve sah sich suchend nach seinem jüngsten Sprössling um, dem die Warterei zu langweilig geworden war. Er richtete sich im Sattel auf und ließ seinen Blick an den Backsteinhäusern des kleinen Platzes vorübergleiten. Dann sah er zu einer Bauruine hin. Wasser hatte sich in einem Kellerloch gesammelt. Johannes spielte hinter den Mauerruinen. Sein Lachen und Juchzen drang über die Baustelle und den Teich zu Calve. Der Junge jagte eine Schar Möwen um den Tümpel, doch die Vögel wollten es sich partout nicht gefallen lassen, von einem Zehnjährigen mit einem Holzschwert verscheucht zu werden. Lächelnd sah Calve seinem spielenden Sohn zu.
Die Stimme seines Geschäftspartners riss ihn aus den Gedanken.
»So, Hinrich. Wir können.« Sarnow war auf seinem Braunfalben neben Calve erschienen. Er richtete seinen Pelzkragen. Calve hatte den Geschäftsmann sofort aufgesucht, nachdem sie in die Stadt geritten waren. Sarnow war ein schlanker Mann mit lichtem Haar, dessen Gesicht durch die beiden Grübchen, die sich tief in den Wangen abzeichneten, streng wirkte.
Er ließ sein Pferd neben Calves traben und tätschelte seinem Falben den Hals. »Es wäre vielleicht besser, wir würden erst zu mir reiten, anstatt in den Hafen«, sagte Sarnow.
»Danke für die Einladung. Aber ich möchte so schnell es geht, das Schiff entladen«, entgegnete Calve.
Sarnow setzte an, wollte etwas erwidern. Er kam nicht dazu, denn Calve unterbrach ihn: »Der Junge, wisst Ihr.« Er nickte zu Johannes hin. »Er will unbedingt noch Eure astronomische Uhr sehen. Ich dachte, wir holen Egbert im Hafen ab, löschen den Kahn soweit und reiten dann zur Nikolaikirche, um ihm die Uhr zu zeigen. Wir können ja später bei Euch auf den Handel anstoßen.«
Sarnow nickte, doch man merkte dem Mann mit den strengen Mundwinkeln an, dass er nicht zugehört hatte.
Unbeirrt fuhr Calve fort: »Johannes spricht von nichts anderem als dieser Uhr. Den ganzen Tag. Vorgestern in der Messe, selbst da hat er davon geredet. Wie ein Weib auf dem Fischmarkt. Und als ich ihm endlich beteuerte, dass wir uns die Uhr ja ansehen, da hat er so laut gejubelt, dass der Priester mit der Hostienschale den Kelch umgestoßen hat. Seine ganze Corporale war rot. Das schöne Tuch, nicht mehr zu gebrauchen. Der Mann hat dreingesehen wie der Leibhaftige persönlich.«
Calve lachte. Sein Johannchen, dieser Kindskopf. Er war wirklich sein Ein und Alles. Auch Sarnow schmunzelte, doch sein Lächeln wirkte gequält. Endlich sah Calve, dass es in Sarnow arbeitete. Irgendetwas wollte er loswerden. War er deswegen schon bei der Begrüßung so still gewesen? Hatte er ihn deswegen nicht in den Ratskeller bestellt, sondern schnell auf der Straße empfangen und still seinen Falben genommen? Waren sie deswegen so stumm losgeritten?
»Seht Euch die Uhr ruhig an. Ich selbst halte sie zwar für Firlefanz, aber den Leuten gefällt’s«, sagte Sarnow, der dem Blick des hochgeschossenen Calve begegnete.
»Na, immerhin wisst Ihr jetzt immer genau die Zeit.«
»Oder wie schnell sie vergeht… Sie vergeht eigentlich immer zu schnell. Eigenartig ist das.« Sarnow versuchte erneut ein frohes Gesicht aufzusetzen. Irgendetwas stimmt nicht, zauderte Calve. Und während er seinen neuen Freund ansah, verfestigte sich der Gedanke. Irgendetwas verschwieg Sarnow ihm.
»Euer Junge ist ein intelligenter Bursche, Calve. Er ist etwas Besonderes.«
Calve nickte. Er hatte drei Kinder als Säuglinge verloren. Noch an der Mutterbrust hatte der Tod sie geholt. Nur Egbert, inzwischen über zwanzig Jahre alt, und der kleine Johannes hatten überlebt. Johannes war wirklich etwas Besonderes. Der Junge hatte Phantasie, und er war begabt, was Zahlen und Berechnungen anbelangte. Beim Rechnen auf der Linie zog er die Münzen schneller als so manch gerissener Kaufmann. So ungestüm und kindlich er mit seinen zehn Jahren auch war, so neugierig und findig war er auch. Noch zwei Winter und er würde in ihre Handelsgesellschaft als Lehrling einsteigen.
Er sah sich nach seinem Sohn um. »Sarnow, wenn es etwas gibt, was…« Er brach ab, setzte erneut an. »Wir sind Freunde, Ihr könnt es mir sagen, wenn Ihr mir zu viel Rabatt eingeräumt habt. Ich kann verstehen, dass das Salz dieses Jahr sehr gefragt ist. Wenn Ihr nachverhandeln wollt…«
Sarnow hatte verstanden, doch er blieb stumm.
Calve, der auf eine Antwort wartete, deutete Sarnows Schweigen dahingehend, dass er sich wohl geirrt hatte. Wahrscheinlich galt ihr Geschäft noch. Und nichts war vorgefallen.
»Gut, dann wollen wir aufbrechen.« Calve klatschte in die Hände, um sich selbst Mut zu machen. Schnalzend gab er seinem Pferd die Zügel und rief nach seinem Sohn.
»Johannes! Wir wollen in den Hafen. Egbert wartet. Wir müssen die Kogge löschen.«
Johannes lief zu ihnen.
»Vater! Wenn wir die Kogge mit den neuen Kränen entladen, dann können wir sechseinhalb Lasten mit einem Mal von Deck holen.« Seine Worte überschlugen sich beinahe, so schnell musste er alles loswerden. Calve musste lächeln. Das Köpfchen seines Sohnes war voll von solchen Zahlenspielereien. Wo er stand und ging rechnete es in seinem kleinen Schädel. »Und – also wenn wir… Ich meine… Vater, also wenn wir 90 Lasten haben, ja? …Und jedes Mal das Löschen so lange braucht, wie wenn ich die Fischergasse in Lübeck zweimal hinuntergehe, dann…«
Zufrieden gab der Junge schließlich bekannt, dass sie mit den neuen Kränen so viel Zeit beim Entladen sparen würden, wie er brauche, um halb Lübeck zu umrunden. Calve warf Sarnow einen glücklichen Blick zu. Johannes – kaum zehn Jahre alt und schon ein Rechengenie.
»Per Galopp – oder im Trab?«, neckte Calve ihn.
»Ach Papa! Zu Fuß doch. Rumgehen«, entrüstete sich Johannes und schüttelte über seinen Vater nur den Kopf. »Doch nicht mit den Pferden. Da ist man aber auch noch schneller. Lass mal rechnen. Wenn ein Pferd fünfmal so schnell ist, wie ein Mann, dann…«
»Willst du die Uhr noch sehen?«
»Die astronomische?« Calves Sohn blickte ihn staunend an. »Ist sie denn schon fertig?«
Calve suchte eine Antwort bei Sarnow.
»Nein. Ich denke, Lilienfeld wird noch ein paar Jahre brauchen. Aber er hat eine kleinere mitgebracht und sie aufgehängt. Bis in die Nacht hinein bastelt er an einem großen Nachbau. Ein bisschen kann man schon sehen.«
»Wirklich?« Johannes strahlte wie ein Honigkuchenpferd.
Die beiden sahen ihm zu. Der Junge war im Begriff, sich auf sein Pferd zu schwingen, doch der Gaul wollte nicht still stehen. So gut Johannes auch rechnen konnte. Was seinen Kopf bis zum Bersten füllte, schien seinen Muskeln und seiner Koordination zu fehlen. Endlich war der Junge aufgestiegen. Doch bevor Calve seinem Sohn Befehl geben konnte, zum Hafen zu reiten, fasste Sarnow seinen Arm.
»Hinrich, wartet«, sagte Sarnow.
Calve fixierte den stattlichen Mann neben sich auf dem Pferd. Etwas Besonnenes, etwas Ruhiges ging von diesem Stralsunder aus. Und etwas unsagbar Trauriges.
Sarnow fuhr leise fort: »Ihr braucht Euren Sohn nicht schicken. Es wird keine Kogge kommen.«
Hinrich verstand nicht.
»Eure Kogge. Sie ist… Sie ist überfällig.«
»Überfällig? Sie ist nicht vorgestern in St. Mauritius eingelaufen?«
»Nein. Egbert, er… er wird wohl nicht kommen.« Sarnow bemerkte, dass er zu hart gesprochen hatte und versuchte es anders. »Ihr seid mein Freund und mein Geschäftspartner, Hinrich, aber… aus unserem Geschäft wird wohl nichts. Es tut mir Leid.«
Calve war verwirrt. Er verlangte Antwort. Was war geschehen? Was verschwieg Sarnow?
Sarnow zügelte umständlich sein Pferd, nestelte an den Riemen. »Die Überfälle im Sund, sie haben dramatisch zugenommen. Kaum ein Schiff in letzter Zeit, das die Passage um Dänemark unbeschadet genommen hat.« Er seufzte. »Selbst im Konvoi werden unsere Schiffe aufgerieben, Hinrich. Unsere Friedeschiffe, die die Konvois schützen sollen, sie nützen nichts. Die Vitalienbrüder scheinen jede Route genau zu kennen. Wir –« Er konnte Calve nicht ansehen, nicht bei dem, was er ihm nun zu sagen hatte. »Heute Morgen haben wir die Leiche eines Seemanns gefunden.«
Weiter kam Sarnow nicht, denn Calve hatte in sein Zaumzeug gegriffen und Sarnows Pferd zu sich gedreht.
»Egbert?«, fragte Calve.
Ihre Blicke trafen sich. Sarnow schwieg.
»Ihr sagtet, ihr habt einen Seemann gefunden?«
Das Abendlicht tauchte Sarnows Gesicht in warmes Rot, aber seine Züge wirkten dennoch streng. »Drüben. Am Strand auf Rügen. Mit Sicherheit können wir es noch nicht sagen, aber… Ich habe eben gehalten, um mit dem Bürgermeister zu sprechen. Ich musste wissen, ob es stimmt.«
Hinrich schien nicht zu verstehen. Er starrte Sarnow an, doch sein Blick ging durch ihn hindurch. Starr.
Johannes rief. »Vater? Nun komm endlich. Egbert wird sicher schon warten, und wir wollen doch noch zur Uhr!«
Der Junge war schon vorausgeritten, er hatte nichts mitbekommen. Calve antwortete nicht.
»Ihr hättet ihn wohl kaum erkannt, Hinrich. Tut es Euch nicht an. Er ist schnell gestorben. Noch bevor die Vitalienbrüder ihm zusetzten. Er wurde drüben an der Insel Öhe angespült. Vor Schaprode.«
»Sie… Sie haben ihn einfach in die Ostsee geworfen?« Calve hatte nur die Hälfte gehört. Seine Gedanken hingen bei Egbert, seinem ältesten Sohn. Nur langsam wurde ihm bewusst, dass Egbert, dass dieser Bär von einem ausgewachsenen und erfahrenen Schiffer, tot auf einer Gott verlassenen, salzigen Wiese vor Schaprode lag. Die Tränen schossen ihm in die Augen. Vitalienbrüder, Serovere… Diese Kaperer waren die Plage Gottes. Möge sie die Pest holen. Mögen sie im Fegefeuer schmoren! Der Schmerz presste ihm die Augen zusammen. Nicht weinen.
Rungholt kehrte erst am frühen Abend in sein Haus in der Engelschegrove zurück. Die Gasse, in der er wohnte, erschien ihm oft wie eine einzige, geschwungene Welle aus gezackten Backsteingiebeln. Die Häuser beidseits der nur teilweise mit Kopfstein gepflasterten Flucht schienen den Besuchern ihr Gesicht zuzuwenden und sie zu begrüßen.
Die Engelsgrube führte sanft geschwungen vom Ufer der Trave hinauf zu St. Jakobi, eine der kleineren Kirchen Lübecks. Unweit von ihr hatten die Kaufmänner vor mehr als hundert Jahren eine Schule eingerichtet. So war die Ausbildung der Schüler nicht mehr nur Sache der Kirche allein. Auch Rungholt war oben am Ende der Engelsgrube in die Schule gegangen. Mit mehr als vierzehn Jahren hatte er damals zwischen den jüngeren Kindern gesessen. Einst hatte Nyebur ihn hingeschickt. Und nun schickte er seinerseits seinen Lehrling Daniel in die Schule.
Rungholt war froh, hier zu wohnen. Die Gasse zwischen dem Hafen und der Breiten Straße lag abseits des eigentlichen Kaufmannviertels. Hier fühlte er sich wohl. Da er das Wasser verabscheute und mied, wo immer er konnte, galt er als Außenseiter unter den Kaufleuten und seinen Mitstreitern im Rat. Vielleicht hatte er sich deswegen vor einigen Jahren, als er das Backsteinhaus mit den drei verwitterten Giebelstaffeln kaufte, für diese Lage entschieden. Intuitiv, wie er auch seine Geschäfte tätigte. Andererseits war es das Viertel der Schiffer, in dem er nun wohnte. Ein Umstand, der angesichts seiner Wasserangst nicht gerade für seine Intuition sprach. Rungholt stellte sich trotz allem gerne vor, dass die Engelsgrube eine Art Sinnbild für das Leben eines tüchtigen Kaufmannes darstellte: Geschwungen führte sie hinab von der Kirche und der Schule – dem Göttlichen und dem Wissen – bis hinab zum Hafen und dem Meer – bis hinab zu Arbeit und Tod.
Dat bose vemeide unde acht de ryt! – Das Böse vermeide und achte das Recht! So hatte es sich Rungholt zur Gemahnung über die Tür seines Hauses meißeln lassen.
Als er die weite Diele betrat, hatte er den Fremden am Ufer schon beinahe wieder vergessen. Nachdem Kerkring mit dem Fiskal das Varrecht abgehalten hatte, war Rungholt mit dem jungen Richteherrn aneinander geraten. Die beiden hatten sich nicht einigen können, wohin sie die Leiche einstweilen bringen sollten.
Zufrieden stellte Rungholt fest, dass in seiner Diele reges Treiben herrschte. Die Knechte waren dabei, einen Karren zu entladen. Sie hatten ihn in die Diele gefahren und hievten nun die Fässer mit Pelzen und Hering hinauf in den Speicher unter dem Dach. Sie grüßten Rungholt, der nur kurz Weisung gab und sich dann hinter das Haus zurückzog. Hier hatte er an die Rückseite einige Buden für seine Bediensteten angebaut. Dennoch gab es noch einen kleinen Hof mit zwei Bäumen und einem Kräuterbeet, das seine Magd Hilde inniglich liebte. Einige dornige Büsche schlossen das Beet ab. Auf der anderen Seite wurde der Hof von einer Mauer abgegrenzt, an die ein Gatter und ein kleiner Schuppen für Schweine und Ziegen gebaut worden war. Zufrieden ob seines frühen Tagwerkes setzte sich Rungholt auf die Bank im Hof. Er hatte seine Pfeife und einen Krug Bier mit hinausgenommen. Nun lauschte er den Vögeln und musste grinsen, als er sich das Gesicht des Baders ins Gedächtnis rief. Der Bader aus der Fischergrube war wenig begeistert gewesen, als sie den toten Mann zwischen seine Zuber und Bottiche gelegt hatten. Dem armen Mann haben wir wohl für Tage das Geschäft versaut, dachte Rungholt schmunzelnd, aber besser so, als den Fremden gleich zu verscharren oder auf dem Markt aufzubahren und von allen angaffen zu lassen, wie es Kerkring gewollt hatte.
Ob es ein Unfall war, wie der junge Richteherr glaubte, oder Mord, wie Arzt und Fron vor sich hin geflucht hatten, hatte man noch nicht sagen können. Der Arzt hatte sich jedenfalls geweigert, den Unbekannten in seinem Haus aufzunehmen. Immerhin war es möglich, dass der Mann selbst ein Mörder war und sich eigenhändig entleibt hatte. Und wer Selbstmord beging, war ein Sünder, hatte ein todeswürdiges Verbrechen verübt und musste bestraft werden. So waren auch erste Stimmen laut geworden, ob man den Fremden nicht einfach in ein Fass stopfen und wieder der Trave übergeben sollte. Was, wenn der Atem des Toten durch die Sünde eines Selbstmordes vergiftet war? Mit seiner Weigerung hatte der Arzt sich viel Verständnis bei den Zuschauern verschafft, doch Rungholts Meinung, was Quacksalber anbelangte, nur bestätigt.
Sein Backenzahn schmerzte. Er gurgelte etwas mit dem leichten Bier. Das Bier war allemal bekömmlicher als das Wasser der Stadt. Der Druck unter seinem Zahn wollte jedoch nicht nachlassen. Rungholt ging hinein, entschied sich für einen Wacholderschnaps aus seinem geheimen Sortiment. Der Alkohol brannte, als hätte er sich einen glühenden Kienspan in die Wange gerammt. Er fluchte so laut, dass ein Knecht besorgt angerannt kam. Nachdem das Brennen einer molligen Wärme von innen wich, war Rungholt zufrieden wieder in den Hof getreten. Der Genever aus Flandern war ein edler Tropfen. Wahrlich. Geht auch ohne Arzt, dachte er und setzte sich wieder auf die Bank. Er schenkte sich noch einmal ein.
Was für ein guter Genever. Ich sollte noch mehr Fässer bestellen und sie nächstes Jahr nach Novgorod verschiffen, überlegte er zufrieden. Vielleicht ist das auch was für meinen zukünftigen Schwiegersohn, für Attendorn, das Schlitzohr. Seit Wochen bekniete Attendorn ihn, endlich eine Kompanei zu gründen. Jedoch zögerte Rungholt noch, die Verträge zu unterschreiben. Erst wollte er Attendorns Brautgabe auf solide Füße stellen. »Wenn ich schon das hohe Risiko eines Geschäfts mit Euch eingehe«, hatte Rungholt gesagt, »dann möchte ich für meine Tochter eine nicht minder hohe Absicherung!« Schließlich hatte Attendorn nicht nur Geld, er hatte auch eigene Schiffe im Rücken. Zwei Koggen nannte er sein Eigen.
Bis zu Mariä Himmelfahrt vor zwei Jahren waren es sogar drei Koggen gewesen, doch dann hatten die Vitalienbrüder ein Schiff aufgerieben. Es war irgendwo im Sund gesunken. Man hatte niemals wieder etwas von der Heiligen Berg gesehen. Dennoch war Rungholts Schwiegersohn in spe noch immer reich. Es war also nur fair, diesem Patrizier einiges an Morgengabe für seine Tochter Mirke abzuverlangen. So spekulierte Rungholt auf das schlanke, aber edle Kapitänshaus an der Wakenitz und auf mindestens ein bescheidenes Grundstück in der Marlesgrube. Die Heirat war ein Handel, den es wohl zu durchdenken und möglichst vor der Verlobung strategisch abzuschließen galt.
Rungholt schmauchte ein paar Züge und versuchte, sein Rotrückchen zu finden. Seit Jahren schon beobachtete er den kleinen Vogel, der im Gestrüpp nistete, und nahm regen Anteil an dessen Leben. So hatte er im Mai gesehen, wie der kleine Sperlingsvogel mit seinem Weibchen mehr als fünf Eier ausgebrütet hatte. Wahrscheinlich waren schon mehrere Generationen der Vögelchen gekommen und gegangen, doch Rungholt hatte in seiner querschädeligen Art für sich entschieden, dass es immer dasselbe Rotrückchen samt Familie war. Heute konnte er seinen Vogel aber nirgends entdecken. Er hörte nur sein Tschilpen.
Rungholt gönnte sich auf der Bank nur eine kurze Pause. Nyeburs Knute hatte ihm beigebracht, bis zum Vesperbrot zu arbeiten und dann erst zu saufen. Nur wenn es galt, noch dringend ein Schiff zu löschen oder ein schnelles Geschäft zu tätigen, arbeitete Rungholt länger.
Das Schifflöschen habe ich schon hinter mir, frohlockte Rungholt, während er an seinem dritten Krug nippte. Gut, dachte er, dass ich so früh heute Morgen im Hafen war. Die Änderungen in Attendorns Vertrag sind schnell aufgesetzt. Mirke und seine Frau Alheyd würden vom Markt bestimmt eine Leckerei mitbringen. Sie wollten gegen Abend zurück sein. Dann wäre Rungholt längst fertig, könnte das Kochen beaufsichtigen und gut versorgt nach der Vesper im Ratskeller ein paar weitere Humpen kippen.
Er schnappte sich den Genever und zog sich in seine Dornse zurück. Der kleine Raum vorn in der Diele des Kaufmannshauses war sein Allerheiligstes. Hier bewahrte er die Unterlagen und Register auf sowie gut versteckt seine Kasse. Hier standen sein Schreibpult, seine schweren Bücher, seine Waagen und Rechenhilfen. Die Bücher und Unterlagen, so unordentlich sie auch verstreut lagen, strahlten etwas aus, das ihn beruhigte. Der Geruch der Tinte und der Codices erinnerte ihn an seine Geschäfte, an Abschlüsse und Niederlagen. Der Glanz der Feinwaagen im Futteral, die präzise Mechanik der Instrumente, mit denen er wog und vermaß, das ordentliche Rechenbrett und schließlich das Klimpern der Rechenmünzen selbst gaben seinem Alltag eine Form.
Hinter einem losen Nussholzbrett an der Wandverkleidung neben seinem Schreibpult hielt er seine Weine und Schnäpse verborgen. Rungholt stellte den Genever zu den anderen edlen Tropfen zurück. Er hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, die Schlückchen zu verstecken. Er redete sich ein, es sei wegen seines Weibes Alheyd, um ihr keinen Grund zum Murren zu liefern. Seine Frau konnte es nicht leiden, wenn er Schnaps oder Wein trank. Eigentlich konnte sie es nicht leiden, wenn er sich überhaupt ein Schlückchen gönnte.