Inhaltsverzeichnis
Autor
Widmung
Inschrift
Kapitel 1 – Lübeck, April anno 1393
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Copyright
Buch
Die Vitalienbrüder haben den Ostseehandel vollkommen zum Erliegen gebracht und Lübeck droht eine Hungersnot. Da wird eine Dirne tot in einer Sickergrube gefunden. Anscheinend ist sie grausam verhört und einfach dort abgelegt worden. Der bärbeißige Patrizier Rungholt, der nach entbehrungsreichen Monaten endlich wieder im Geld schwimmt, weil seine Brauerei mehr Bier denn je verkauft, wird von seinem Erzfeind Kerkring zur
Aufklärung des Dirnenmordes gezwungen.
Autor
Derek Meister wurde 1973 in Hannover geboren. Er studierte Film- und Fernsehdramaturgie an der Filmhochschule Potsdam-Babelsberg und schreibt erfolgreich Serien und abendfüllende Spielfilme für das Fernsehen. Nach seinem ersten, für den Glauser-Krimipreis nominierten historischen Kriminalroman »Rungholts Ehre«, folgt nach »Rungholts Sünde« und »Knochenwald« nun der nächste Fall mit dem bärbeißigen Ermittler.
Derek Meister lebt mit seiner Frau in der Nähe des Steinhuder Meers.
Mehr Informationen über den Autor und seinen Ermittler Rungholt finden Sie unter www.rungholt-das-buch.de.
Die Rungholt-Romane
Rungholts Ehre (36310)
Rungholts Sünde (36311)
Knochenwald (36850)
FÜR HEIDI UND DSCHINGHI
Vorwärts aber und rückwärts wollen wir Nicht sehn. Uns wiegen lassen, wie auf Schwankem Kahne, auf der See.
Die Nymphe, Friedrich Hölderlin
1
Lübeck, April anno 1393
Einundvierzig... zweiundvierzig... dreiundvierzig... vierundvierzig... fünfund -
»Du musst auch reingehen. So bringt das gar nichts«, drang Mareks Ruf zu ihm ans Ufer der Trave. »Nur ein Ratschlag. Von Wasserratte zu Landratte, mein ich.«
Die Worte seines Freundes rissen Rungholt aus seinen Grübeleien und zurück in diese Welt.
Der Abend hatte sich bereits über Lübeck gesenkt. Die letzten Hafenarbeiter waren heimgegangen, und die Holzkräne hingen verlassen über den Schiffen. Ein paar Prahme dümpelten an einem Kai und knarzten, wenn ihre Holzrücken aneinanderrieben. Ansonsten hatte sich Stille über den Hafen gelegt. Hier, wo die Holzmolen aufhörten, fiel das Ufer nicht so steil zum Wasser hin ab, und die beiden konnten ohne Schwierigkeiten in die Trave waten.
Mürrisch schlug Rungholt die Augen auf und starrte auf den Fluss, der sich grau und kalt vor ihm dahinwälzte. »Verdammt noch eins, Marek! Verflucht«, schnaubte er und spürte, wie ihm beim Anblick des Wassers schlagartig unwohl wurde. »Ich muss nachdenken. Lass mich doch nachdenken, bevor ich da reingehe!«
»Was gibt’s da zu denken, hm? Du musst es nur tun, sag ich dir.«
Mit gelüpftem Tappert und hochgekrempelten Beinlingen, stand Rungholt seit der Vesper wie ein junges Waschweib am Ufer und rührte sich nicht. Er verharrte reglos und zählte sinnlos immer wieder seine Atemzüge.
Maulend wandte er sich zu seinem Freund um. »Ich versuche hier, meine Gedanken zu ordnen, und du brüllst mir dazwischen.«
»Ich hab nicht gebrüllt, ich hab nur das Warten satt. Also wirklich mal.« Mit verschränkten Armen stand der muskulöse Kapitän da, zog seine buschigen Brauen zusammen und beobachtete Rungholt skeptisch.
»So etwas braucht Zeit«, meinte Rungholt und wich einen Schritt vor dem Fluss zurück, dessen grässliches Rauschen er mit Abzählen zu bändigen versucht hatte. »Gib mir noch einen Augenblick.«
»Seitdem ich dich kenne, versuchst du deinen Frieden mit dem Wasser zu machen. Nennst du das einen Augenblick?«
Rungholt brummte, wie er es gerne tat, wenn ihm etwas nicht passte. Er wandte sich noch einmal zur Trave um und starrte auf das funkelnde Wasser, in dem sich der Fackelschein und die ersten Sterne spiegelten. Er sah dem Fluss zu und dachte: Ja, Marek. Genau das sind all die Jahre. Einunddreißig Jahre nur ein Augenblick. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte er das Wasser geliebt, das stete Rauschen und Anbranden der Wellen, das ihn und seine kleine Schwester in den Schlaf gesungen hatte, doch bei der Groten Mandränke hatte das Meer sein Leben gestohlen.
Im Jahre des Herren, anno 1362, wurde das Wasser Rungholts Feind. Er war dreizehn Jahre alt, und das Meer wurde zu einem gefräßigen Ungeheuer, das ihm alles nahm. Seine Heimat und seine Familie.
Rungholt blinzelte in den dunklen Strom der Trave, um die Bilder seiner Erinnerung zu verscheuchen. Die zuschnappenden Wellen, die die Häuser Rungholts verschlungen, die erst seine Schwester, dann Mutter, dann Vater mit sich gerissen hatten. Hinabgezogen hatten in den unersättlichen Schlund des Meeres.
Es wird Zeit, die Augen zu öffnen, beschwor er sich. Es wird Zeit. Tu es endlich. Es ist nur ein Fluss. Das Wasser ist eiskalt, du wirst die Nässe nicht spüren. Deine Füße werden taub sein, bevor du knöcheltief in den Wellen stehst. Trau dich. Es wird dich nicht verschlingen.
Als der Kapitän abermals zu einem Ratschlag ansetzte, stoppte Rungholt seinen Freund Marek mit einer entschlossenen Geste. Mit einem Ruck raffte er seinen Tappert noch höher und griff fest in den weichen Stoff. Dann atmete er mehrmals durch.
Obwohl es erst April war, hatte sich Rungholt entschlossen, endlich seine Wasserangst zu besiegen. Nachdem er im Sommer letzten Jahres aus München zurückgekehrt war, war in ihm mehr und mehr der Entschluss gereift, endlich die alten Fesseln seines Lebens abzustreifen. Den komplizierten Seemannsknoten, der sich über die Jahre selbst so fest gezogen hatte, dass niemand ihn mehr zu öffnen, zu zerschlagen vermochte. Ein erster Versuch, mit sich ins Reine zu kommen und die Absolution zu erhalten, war in München letztes Jahr gescheitert. Er hatte seine Blutsünden nicht erlassen, die Tage im Fegefeuer nicht verkürzt bekommen. Dennoch war er gestärkt nach Lübeck heimgekehrt und fühlte sich nun – gut sechs Monate später – bereit, sich seiner Angst und seiner Schuld zu stellen. Wenn er die Wasserangst besiegte, so glaubte Rungholt fest, würde er auch Irena für immer hinter sich lassen und ein ruhigeres und erfüllteres Leben führen.
Zu dumm nur, dass er sich niemals weiter als zwei, drei Fuß in die Trave getraut hatte. Die letzten Versuche waren stets genauso gescheitert wie dieser: Er versuchte sich zu konzentrieren, und sein Kapitän gab ihm weibische Ratschläge, mit denen er nichts anfangen konnte.
Trau dich. Es ist nur ein Fluss …
Rungholt starrte auf das Wasser und sah, wie es glitzerte. Ihm wurde schwindelig, weil er sich selbst zu bewegen meinte, obwohl er stillstand.
»Du musst immer dran denken, dass...«
»Maul, Marek. Maul halten«, grummelte er. »Einmal die Schnauze zu. Lass mich machen.« Langsam setzte Rungholt seinen fassartigen Körper in Bewegung, konnte die letzten Feldsteine unter seinen nackten Füßen spüren, dann ein Stück feuchte Erde, und das Ufer fiel ab.
Erst vor drei Tagen war er hier ins Wasser gegangen – aber nur einen Wimpernschlag und nur eine Armlänge weit hinein. Diesmal wollte er bis zu den Knien ins Nass. Mindestens.
Ein weiterer Schritt und er spürte die Kälte über seine Zehen schwappen, fühlte das Eiswasser, als seine fleischigen Füße endgültig in die Trave tauchten. Er spürte sogar den Sog des Flusses an den Knöcheln, bevor sie von der Kälte taub wurden. Die Drift, mit der der Fluss alles und jeden mitzureißen versuchte, die jeden hinausriss, hinaus aufs offene Meer und...
Benimm dich nicht so weibisch, du Döskopp, schalt er sich. Du bist wirklich der einzige Kaufmann Lübecks, der sich in die Bruche pisst, wenn er ans Meer denkt. Komm schon, deine Angst macht dich zum Gespött. Kämpfe endlich dagegen an.
Ein nächster Schritt, seine Zehen tasteten sich im eisigen Wasser vor. Er wollte prüfen, wie tief er schon im Fluss stand, konnte wegen seines ausladenden Bauchs aber seine Füße nicht sehen. Langsam beugte er sich vor und hörte neben sich Marek, der gutgelaunt – ohne seine Schecke hochzuraffen – geradewegs an Rungholt vorbei ins Wasser stakste. Als sei die Trave ein Feld voller wohlriechender Blumen, schritt der Kapitän aus, schlug Wellen und fuchtelte lustig mit den Armen herum. Seine Lederstiefel hatte er am Ufer ausgezogen, nur seine bunten Beinlinge trug er noch.
»Siehst du, ist doch nichts dabei, Rungholt. Bloß Wasser.«
Eine von Mareks Wellen schwappte an Rungholts Bein, und er musste augenblicklich an kalte Hände denken, die nach ihm griffen. Die Hände einer Toten? Ihm wurde schlecht. »Wenn du die Wasserangst hättest, wärst du wohl auch kaum mein Kapitän«, maulte er und nahm den Blick hoch und sah hinüber auf Lüdjes Lastadie, um ja nicht weiter in dieses schwarze Nass zu starren. Wie Gerippe staksten die halbfertigen Koggen in den schwarzblauen Abendhimmel. Die dunklen Kais ragten in den Fluss und erinnerten Rungholt an riesenhafte Wurzeln. Mit einem Schlag kam es ihm vor, als nähre das schwarze Wasser die Knochenberge, als würde auf der anderen Seite der Trave ein Monstrum geboren. Koggenrümpfe wie Rippen, Kräne wie Haare. Erneut griff das Wasser nach ihm und ließ seinen Magen verkrampfen. Er wollte sich herumdrehen und die zwei Schritte zurück zum Ufer gehen, aber er konnte sich nicht bewegen.
Wieso bin ich so dumm und komme in der Dunkelheit hierher?, schalt er sich. Weil mich niemand so sehen soll. Den teuren Tappert aus Brokat hochgerafft und stocksteif wie ein kleines, ertapptes Kind. Und warum muss es im April sein? Weil ich ein ungeduldiger Mensch bin. Weil ich mir einbilde, alles müsse nach meiner Pfeife tanzen. Die Brauerei läuft gut, also warum nicht den Schritt ins kalte Wasser wagen? Wörtlich.
Du bist ein Döskopp, Rungholt. Ein dummer Klotz.
Sein Atem ging so flach, dass Marek zu ihm trat und besorgt nachfragte, ob seine Säfte in Ordnung seien. Statt einer Antwort knurrte Rungholt seinen Freund an. Seine Lippen waren blau, und er hatte angefangen zu zittern. »Schlecht...«, stammelte er. »Muss mich setzen.«
Marek nahm Rungholts Arm und wollte ihn zum Ufer führen, als die beiden einen Schrei hörten. Entsetzlich lange hallte er zwischen den Kränen und Koggen, um sich dann hinter den Buden und verlassenen Fässerstapeln zu verlieren. Rungholts Nackenhaare stellten sich auf. Er kannte solche Schreie. Zu oft hatte er Männer gesehen, die sie ausgestoßen hatten. Mit einem Messer im Bauch, die Brust von einem Schwert geöffnet.
Es war ein Todesschrei.
Auch Marek war herumgefahren und ließ seinen Blick über die Koggen gleiten. »Was war das?« Drei Schiffe hatten direkt an der Kaimauer angelegt. Sie dümpelten ruhig vor sich hin. Ihre kalfaterten Planken schimmerten im Schein des Mondes, der als große Laterne hinter den Türmen des Doms aufgegangen war.
Marek nickte zum Ufer. »Lass uns nachsehen.«
Es dauerte einige Augenblicke, bis Rungholts Magen nicht mehr rebellierte und er es zuließ, dass Marek ihn langsam die wenigen Schritte zum Ufer zurückbugsierte. Die beiden waren kaum an Land, da meinte Rungholt, einen Fackelschein auf einer der Koggen zu erkennen. Eilig zog er seine Beinlinge zurecht und schlüpfte in die teuren Schnabelschuhe aus Leder, während Marek schon lange wieder in seine gefütterten Lederstiefel gesprungen war. Rungholt wollte loseilen, als Marek ihn festhielt. »Dort drüben, sieh nur.«
Rungholt brauchte einen Moment, um etwas zu erkennen, und erst als der Mond wieder hinter einer Wolke hervorkam, meinte er, auf einem der Schiffe eine offene Ladeklappe sehen zu können. Er ließ die Trippen liegen und forderte Marek stumm auf, ihm zu folgen, dann liefen sie so leise wie möglich über die Holzbohlen, die man für den Hafenplatz in den Schlamm geworfen hatte.
Geduckt schlichen sie zwischen den Stapeln aus Fässern und einem Fuhrwagen hindurch und erreichten einige Kisten, die zur Verladung am nächsten Morgen für den Kran bereitlagen. Eine war zerbrochen, vermutlich war sie beim Verladen aus dem Krannetz gerutscht und am Boden zerborsten. Marek griff sich eine der Latten, wog das Holz in der Hand und nickte zufrieden.
Vor ihnen, keine zwanzig Klafter entfernt, lagen die drei Koggen vertäut. Jemand hatte eine Planke zum mittleren Schiff hinübergeschoben. Kaum fiel Rungholts Blick auf das dünne Brett, das Kogge und Land verband, hielt er inne. Schon einmal hatte er versucht, hier im Hafen jemandem beizustehen, sich aber nicht über so ein Brett getraut. Stattdessen war er am Kai zusammengebrochen. Wegen seiner Wasserangst hatte er mit ansehen müssen, wie ein wichtiger Zeuge vor seinen Augen ermordet worden war.
»Was hast du?«, zischte Marek, der schon im Begriff war, am Kran vorbei und über die Planke zu laufen. Er drückte sich gegen das Schwungrad des Krans. »Los doch!« Der Kapitän winkte Rungholt mit dem Holzscheit zu, aber der schüttelte den Kopf, den Blick fest auf die Planke genagelt.
Einen Seufzer ausstoßend, huschte Marek zu ihm zurück. Leicht verwirrt blickte sich der Kapitän zu den Koggen um, und erst jetzt wurde ihm bewusst, weswegen Rungholt so bleich dastand.
»Es sind Schiffe, Rungholt. Es ist wie an Land, wenn sie festgemacht sind. Es geht kein Wind, nicht mal eine Böe. Hier ist Totenflaute.«
Statt einer Antwort nickte Rungholt lediglich. Seit seiner Kindheit war er auf keinem Schiff mehr gewesen. Er spürte, wie sich sein Hals zuzog. »Wir sollten… Wir sollten die Nachtwache rufen, Büttel holen und...«
»Rungholt. Seit wann...?« Marek sprach es lieber nicht aus, sondern zischte: »Bis die hier sind... Nach Lübischem Recht brauchst du zwei Zeugen, sag ich dir, um einen Dieb anzuklagen. Lass uns mal kurz zählen.« Kopfschüttelnd zeigte er erst auf sich, dann auf Rungholt. »Du hast es doch auch gehört. Was immer da vorgeht, wir müssen was tun, hm?« Weil Rungholt nicht reagierte, löste Marek kurzerhand Rungholts Gnippe von dessen Gürtel und drückte Rungholt das kleine Klappmesser in die Hand. Doch der starrte nur skeptisch weiterhin an ihm vorbei auf das Schiff. Marek winkte ab und huschte erneut zum Kran zurück. »Los jetzt«, forderte er seinen Freund auf.
Endlich löste Rungholt sich seufzend aus der Starre und rannte so schnell es seine Knöchel zuließen ebenfalls zum Kran. Im Mondlicht konnte er den Namen der Kogge nur schlecht entziffern: Fronica. Kaum im Schatten des Schwungrads angelangt, musste er mit ansehen, wie Marek zur Planke hinüberlief, um dort auf ihn zu warten.
»Warum muss ich Ochse gerade heute im Hafen ein Bad nehmen?«, fluchte Rungholt leise und richtete ein Stoßgebet gen Himmel. Vor sich hin maulend, die Gnippe fest umklammert, rannte er zu Marek. Stumm gab er seinem Freund Zeichen, aufs Schiff zu gehen, blieb selbst jedoch direkt an der Planke stehen. Unter dem Holz schimmerte der Fluss. Die Sterne, die sich im Wasser zwischen dem mächtigen Rumpf der Kogge und den Baumstämmen der Mole spiegelten, ließen Rungholt schwindeln. Der Einmaster knarrte. Die ächzenden Planken, erinnerten Rungholt schlagartig an das Knarren eisgefrorener Bäume.
»Du bist so ein Feigling, Rungholt.«
»Was?« Rungholt fuhr hoch.
»Du kotzt mich an, Rungholt. Da ist jemand in Gefahr, und du trödelst, weil du ständig an dich selbst denken musst.«
»Was? Wie... Wie sprichst du mit mir, du dummer Däne?«
»Solln’s doch alle hören. Du willst eh nicht nachsehen, hm. Hab doch Recht. Dann schlagen wir hier Alarm. Wir schreien hier wie die Bangbüxe und warten, bis die Nachtwache kommt. Helfen ist dir doch zuwider. Du stehst lieber schnaufend rum und scheißt die Leute zusammen...« Marek war lauter geworden. »Du hast schon einmal hier gelegen und nicht geholfen. So sieht’s doch aus.«
Rungholt spürte, wie seine Wangen zu glühen begannen. Freund hin oder her.
»Deine Wasserangst ist eine Ausrede, Rungholt. Mehr nicht. Du schiebst sie eitel vor dir her, wie deine Freunde im Rat ihre pfundschweren Amtsketten.«
Der Zorn stieg in Rungholt auf. Je mehr die Überraschung wich, dass sein Freund ihn beleidigte, desto schneller schlug sein Herz, und wie gewohnt spürte er die Wut in sich aufsteigen.
»So lass ich nicht mit mir reden, Marek!«
»Na und? Ich habe Recht, sag ich dir. Du bist ein Bangbüx. Du scheißt dir in die Bruche.«
»Sei leise!«
Um Rungholt herum begann es zu brennen.
»Damit es niemand hört? Damit niemand hört, wie du Fettsack hier schlotternd stehst und vor Wassergeistern Angst hast?«
Feuer war um ihn, die Flammen loderten bis zum Sternenhimmel, denn alles andere hatte Rungholt vergessen. Er spürte ihre Siedehitze als Kribbeln im Gesicht, auf den Armen, im Nacken. Und er meinte, der Brodem verbrenne seine Haut. Sein Herz raste mittlerweile, und er fixierte Marek, der ihn unverhohlen angrinste und mit seinem Holz herumfuchtelte, wie ein Bader mit rauchenden Kräutern. Ich zeig dir gleich, wer Angst hat, dachte er, ich zeig dir, was passiert, wenn man mich beleidigt. Ich... Rungholt wollte zupacken, aber Marek wich zurück. Vor Wut schnaubend setzte Rungholt ihm nach.
»Du bescheuerter Däne«, schrie er, und es gelang ihm, seinen Freund an der Schecke zu greifen und ihm geradewegs die Schnürung abzureißen. »Du bist entlassen. Du räudiger, verkackter Däne von einem Kapitän.«
»Schön, dann fahr deine Drecksware allein nach Novgorod!«
»Komm her, du! Ich zeig dir, wer hier Drecksware hat, du dummer Knecht. Du blöder Schone, ich reiß dir dein Scheißherz raus und...«
»Und frisst es auf«, meinte Marek und wich lächelnd noch einen Schritt zurück. »Schön, dass du jedenfalls in Rage an Bord kommst.« Er wich noch ein Stück nach hinten und wollte mit der Holzlatte Rungholt zeigen, dass er es tatsächlich über die Planke und bis aufs Schiff geschafft hatte, doch Rungholt war vor Zorn zu blind.
2
»Lass mich.« Rungholt schlug Mareks Hand beiseite. Er war gut einen Klafter tief in den Laderaum gestürzt und hatte sich den Tappert an der Leiter aufgerissen. Sein rechtes Knie war aufgeschlagen und der Beinling aufgeschlitzt. Immerhin war durch den Sturz seine Wut verflogen, und endlich schien er auch zu realisieren, dass Marek ihn auf eine Kogge gelockt hatte. Seine blutende Stirn reibend funkelte er Marek an.
»Alles in Ordnung?« Marek lächelte unschuldig.
»Darüber sprechen wir noch.« Knurrend riss Rungholt sich den Beinling weg. Während Marek in die Dunkelheit des Lagerraums spähte, kam der dicke Rungholt, weil er sich wegen der Verletzung nicht hinknien konnte und Mareks Hilfe nicht wollte, umständlich auf die Beine. Fluchend fingerte er die Gnippe vom Boden auf, die hinter die Leiter geschlittert war.
Im Heck des Laderaums brannte eine Fackel. Sie lag über dem Rand eines der zahlreichen Fässer, aber es war niemand zu sehen. Die beiden horchten, während das schummrige goldene Licht mit den Schatten spielte. Der Laderaum war knapp zehn Klafter lang, weniger als vier breit und kaum höher als Rungholt mit ausgestreckten Armen. Ein paar Mäuse schreckten auf und verschwanden hinter Säcken voll Getreide. Rechts und links stapelten sich vor allem Fässer, aber Rungholt konnte im Fackelschein auch mehrere Gestelle mit Henkelkrügen, Kannen und Tellern aus Zinn erkennen, die halb ausgepackt im Stroh steckten.
Immerhin war keines der Fässer und keine der Kisten, die er im Durcheinander sehen konnte, gewaltsam geöffnet worden.
»Wir sind bewaffnet«, rief er und meinte daraufhin aufgeregtes Tuscheln zu hören. Männer raunten sich Worte zu, die Rungholt nicht verstand. Sprachen sie zu leise? Nein. Er erkannte, dass die Männer in einer fremden Sprache flüsterten.
»Wo sind die?«, flüsterte Marek. Rücken an Rücken begann Rungholt sich mit seinem Kapitän zu drehen. Sie spähten in die unübersichtlichen Berge aus Ladung.
»Wahrscheinlich bei der Fackel«, flüsterte Rungholt und drückte Marek zu zwei mannshohen Kisten aus groben Holzbohlen hinüber. »Kommt raus«, rief er. »Die Wachen sind alarmiert! Sie warten im Hafen auf euch. Kommt raus.«
Keine Reaktion. Lediglich erneutes Tuscheln war zu hören, ein unheimliches Wispern, als sprächen körperlose Wesen miteinander. Ein helles Fispeln, das sich zwischen den Warenbergen verfing, nachdem es mit dem Knarzen des Schiffsrumpfs gespielt hatte.
Rungholt gab Marek stumm Weisung, den Mittelgang zu verlassen und auf eine Kiste zu klettern. Er selbst wollte unten bleiben und Richtung Fackel vorausgehen. Für Marek, dem Kapitän von Rungholts Möwe, war der Laderaum einer Kogge wie ein Zuhause. In einem solchen Schiff kannte er jede Ecke und jeden Winkel. Ohne zu zögern begann er, das Holzscheit bereit zum Schlag, zwischen Schiffsdeck und Ladung voranzukriechen.
Bedächtig klappte Rungholt seine Gnippe auf und schlich weiter. Das Tuscheln hatte mittlerweile aufgehört, doch er meinte ein Keuchen zu vernehmen, ein unterdrücktes Schlucken und Wimmern.
Nicht sicher, ob die Fackel Köder einer Falle war, drückte er seinen Rücken an die Fässer und schob sich seitlich weiter auf sie zu. Per Blick bestätigte Marek, dass von oben nichts zu befürchten war, er jedoch auch niemanden im Laderaum unter sich erspähen konnte.
Abermals ließ Rungholt seinen Blick wandern und starrte die tanzenden Schatten an, die sich vor dem Licht verkrochen und ein bizarres Spiel in jeder Ecke, in jeder Ritze und auf jeder Kante aufführten. Mit einem Mal wurde ihm bewusst, dass er wahrscheinlich von Wasser umgeben war und unter der Oberfläche der Trave stand. Mit Gänsehaut schob er sich weiter. Das Röcheln und Wimmern verstummte, dafür konnte er ein Tropfen hören.
DRIIIIBBB-DRIIIIBBB-DRIIIIBBB-DRIIIIBBB-DRIIIIBBB-DRIIIIBBB …
Nun schwebte wieder das Wispern zu ihm, und unwillkürlich musste Rungholt an die Wandbilder in St. Marien denken, an die Engel, die sich Geheimnisse zuraunten. Viel zu hell und hoch erschien ihm das Getuschel der merkwürdigen Worte. Im Augenwinkel konnte er Marek erkennen, der bereits ein Klafter weiter vorgekrochen war und sich lautlos auf ein paar Fässer herabließ. Rungholt passierte die im Heu steckenden Zinnteller und sah mit einem Mal eine schwarze Pfütze auf dem Boden.
Etwas war an der Kiste entlang in den Mittelgang gelaufen. Im Fackelschein sah es wie Öl aus, doch Rungholt musste sich nicht hinknien, um zu wissen, was es wirklich war.
Blut.
»Stellt euch«, rief er und spürte seinen rauen Handrücken, den vor Jahren ein Feuer verbrannt hatte und der noch immer juckte, wenn er sich aufregte. Seine Zunge klebte ihm am Gaumen, und es gelüstete ihn nach einem Bier. Er wollte Marek auf das Blut aufmerksam machen, aber der Kapitän war bereits weitergeklettert, hielt zwei Finger hoch und wies links von der Fackel auf mehrere große Weinfässer, die mit dicken Tauen gesichert waren.
Rungholt nickte seinem Freund zu und schob sich langsam an der Blutlache vorbei. Sein Blick fiel in einen Spalt zwischen zwei Kisten, und für einen Herzschlag stockte ihm der Atem. Aus dem Schatten zwischen Kisten und weiterem Krimskrams starrte ihn ein bärtiger Mann an.
Erst als Rungholt sich etwas zur Seite gebeugt hatte, bemerkte er den leblosen Blick. Der Tote trug eine gezaddelte Schecke. Sie war an der Brust besudelt, und auch das Gesicht des Mannes war blutig. Wahrscheinlich hatte man ihm im Kampf die Nase gebrochen, mutmaßte Rungholt, der jedoch wegen des schlechten Lichts nichts Genaues erkennen konnte. Noch immer tropfte Blut von der Schecke des Toten und seiner Hand auf die Planken.
DRIIIIBBB-DRIIIIBBB-DRIIIIBBB-DRIIIIBBB …
Rungholt knurrte einen Fluch und fasste die Gnippe fester, dann schob er sich an der Leiche vorbei und fixierte die Weinfässer, auf die Marek gewiesen hatte. Niemand war zu sehen, und auch das Tuscheln war längst wieder verstummt. Abermals blickte sich Rungholt nach Marek um, aber auch der Kapitän war verschwunden.
»Marek«, zischte er. »Wo...«
Keine Antwort. Er meinte, seinen Freund zu hören, das Rascheln seiner Schecke, war sich jedoch nicht sicher, ob es wirklich Marek war, der sich im Dunkeln zwischen den Waren bewegte.
Mittlerweile war Rungholt im Mittelgang bis auf zwei Klafter an die Fackel herangekommen. Links von ihm ragten die Weinfässer bis zu den Planken des Decks empor. Angestrengt spähte er in jeden Schatten, hielt sich seine linke Hand vor die Augen, um das Licht der Fackel abzuschirmen, und tat einen weiteren Schritt -
Ein heftiger Schlag. In seinem Schädel hörte er ein Knacken. Meine Nase, schoss es ihm durch den Kopf, du Scheißkerl. Zurücktaumelnd schrie er auf. Der Schmerz sollte erst Augenblicke später kommen. Alles geschah gleichzeitig. Er sah Stoff wirbeln, einen blauen Tappert, meinte eine Klinge zu sehen und riss seine Gnippe hoch. Jemand brüllte vor Schmerz, ließ sich gegen ihn prallen und warf ihn nach hinten. Eine Narbe am Kinn, geflochtene, blonde Haare. Blitzschnell lief ein Schatten an ihm vorbei, und Rungholt krachte gegen eine der vielen Kisten. Dann erschien ein zweiter Tappert, und noch bevor Rungholt abermals die Klinge heben konnte, hatte sich auch der zweite Mann in den Mittelgang gedrückt. Gebückt lief er zwischen den Waren hindurch. Mit einem Schrei setzte Rungholt den Männern nach, ließ die Gnippe vorschnellen und spürte, wie die Klinge den Tappert des zweiten Flüchtigen traf. Der Mann rannte weiter, Rungholt indes blieb schnaufend stehen. Schmerz vernebelte seine Sinne. Da riss Marek ihn beinahe um, der schreiend den Männern hinterherstürmte.
Er meinte Marek an der Leiter zum Laderaum rufen zu hören, war sich jedoch nicht sicher, denn in seinem Kopf hämmerte es. Sein rasender Puls schlug wild gegen seine Schläfen, und das Blut troff ihm von der Nase, rann warm sein Kinn hinab. »Verfluchte Bande«, keuchte er und wischte sich angeekelt das Blut weg. Nachdem er an einem Netz Halt gefunden hatte, atmete er durch.
»Sind über die Leiter weg. Ich...« Marek musste abbrechen, um Atem zu schöpfen. Kopfschüttelnd kam er zu ihm zurück. Er hatte die Spuren eines Fußtritts im Gesicht, seine rechte Wange war bereits rot angelaufen.
»Es... Es ging zu schnell.« Rungholt zog die Nase hoch und schmeckte das Blut im Mund. »Sie waren im Schatten und...«
Marek klopfte ihm auf die Schulter. »Immerhin hast du einen von ihnen erwischt«.
Er hob etwas von den Planken auf. Rungholt musste es dem ersten Angreifer abgeschlagen haben, als der an ihm vorbeigesprungen war.
»Was ist das?«, fragte Rungholt und streckte Marek die Hand hin. Ohne Kommentar packte der Kapitän Rungholt etwas Warmes in die Pranke.
Es war ein Ohr. Das rechte Ohr, des Angreifers. Rungholt hatte es dem Mann geradewegs vom Schädel geschnitten. Angewidert hielt Rungholt es ins Licht der Fackel, nicht sicher, was er damit tun sollte.
»Ekelhaft, würde ich meinen.«
Rungholt nickte, steckte das Ohr aber nach kurzem Überlegen ein. Dann hob er die Hand. »Leise«, zischte er und Marek, der vor lauter Anspannung begonnen hatte, ein Witzchen zu erzählen, hörte mit seinem Gewäsch auf. Durch das Knarzen des Schiffes war ein leises Schluchzen zu hören.
»Es ist noch jemand hier.« Rungholt bedeutete seinem Freund, still zu sein.
Mit der Fackel schlichen die beiden den Gang abermals hinunter. Immer wieder ließ Rungholt die Fackel in die Schatten zwischen den Kisten und Fässern fahren, schreckte aber lediglich ein paar Mäuse auf.
Marek zog sich an einem Netz hoch und spähte hinter die Warenstapel. Nichts.
Mittlerweile waren sie unterhalb des Achterkastells, und Rungholt konnte den steilen Steven erkennen. Der dickbäuchige Rumpf der Kogge verjüngte sich bereits. Der Laderaum bot nicht mehr viel Platz zum Verstecken. Rungholt trat am Netz vorbei und blieb bei einem Gestell voller kleiner Gewürzfässer stehen. Wie zuvor ließ er die Fackel in Richtung Dunkelheit wandern und sah nun tatsächlich jemanden hinter den aufgereihten Fässern sitzen.
Es war eine Frau. Sie zitterte am ganzen Leib, hatte sich an die Außenplanken gekauert und so weit es ging in die Dunkelheit zurückgezogen. Für einen Moment erschrak Rungholt, weil sie in einer großen Lache aus Blut hockte. Die Beine angezogen, die hübschen bleichen Finger auf die Knie gelegt, den Kopf eingezogen. Er versuchte vergeblich zu erkennen, woher das ganze Blut kam. Erst einen Atemzug später wurde ihm bewusst, dass es lediglich ihre weite Houppelande war, die sie wie ein roter See umfloss. Die unbekannte Frau wimmerte, er glaubte sie weinen zu hören, aber er konnte keine Tränen sehen, weil sie ihren Kopf vor ihnen verbarg.
»Sssssssscht...«, flüsterte er und versuchte sie zu beruhigen. »Ist gut. Wir sind hier, um Euch zu helfen. Ist gut...« Rungholt trat einen Schritt auf die Unbekannte zu, doch die Frau wich sofort weiter in den Schatten zurück. Dafür erkannte er, dass sie tatsächlich blutete. Zumindest war ein wenig Blut in ihr Gesicht gespritzt und hatte ihr Kleid besudelt. Ihre dunklen, beinahe schwarzen Haare hatte sie unter einem Hennin verborgen, dessen bunter, zerrissener Schleier auf
Schulter und Dekolleté gefallen war. Der Haarkegel aus Fischbein und feiner Seide war ihr beinahe vom Kopf gerutscht.
»Was ist geschehen? Beruhigt Euch.«
Sie war auffallend schön. Ihre Wangen waren eben, nur ihr Kinn wirkte ungewöhnlich massig. Es verlieh ihr aber keinen strengen Ausdruck, sondern schien Rungholt eher von Durchsetzungskraft zu zeugen. Als habe sie zu oft tobende Kinder oder einen aufsässigen Ehemann gemaßregelt und dabei zu oft und stark die Zähne zusammengebissen. Ihr Teint war von vornehmem Weiß und so samtweich, wie es Rungholt noch nie gesehen hatte. Ihr Gesicht war vor Aufregung kaum gerötet, weshalb Rungholt vermutete, dass sich die Fremde mit hellem Puder geschminkt hatte. Ihre Lippen waren voller Leben und bebten.
3
»Was machen wir mit ihr?«
Rungholt, der sich unter dem Ausläufer des Krans auf ein umgekipptes Heringsfass gesetzt hatte, zuckte mit den Schultern. »Was sollen wir mit ihr machen? Man kann von Glück sagen, dass sie noch lebt.«
Er sah sich zur Kogge um. Der Ladeplatz und die Fronica waren erleuchtet. Sechs Fackelträger spendeten an der Mole dem Rychtevoghede Plönnies, den beiden Bürgermeistern Dartzow und Methaler sowie dem Fiskal Licht. Während Plönnies sprach und der Fiskal als Fürsprecher der Stadt seine Worte notierte, mussten zwei Büttel die unbekannte Frau zurückhalten. Unaufhörlich hallten ihre Klagerufe über den Hafen, und Rungholt kam es vor, als stünde die Frau in Flammen. Das satte Rot ihrer überlangen, mit Mustern bestickten Houppelande nahm den Fackelschein auf und schien von innen heraus zu glühen, während ihr die zerzausten Haare wie lange Flammen über Schulter und Brust fielen. Ihr Hennin war abgefallen und lag zerbeult auf dem Ochsenkarren, auf den sie den Toten gebettet hatten. Erst jetzt, so schien es Rungholt, hatte sie begriffen, was geschehen war.
Er hatte von Deck aus zugesehen, wie Marek und drei Büttel den Leichnam aus dem Bauch des Schiffes gehievt und an Land gebracht hatten. Es hatte mehr als eine halbe Stunde und viel gutes Zureden von Marek gebraucht, bis sich auch Rungholt zurück an Land getraut hatte. Weil Marek ihm die Hand reichen und einem verzogenen Weibsstück gleich über die Planke helfen musste, hatte sich Rungholt wütend über sich selbst einen Platz beim Kran gesucht.
Der Anblick des verzweifelten Weibs stellte Rungholts Nackenhaare auf. Die Unbekannte war dem Zusammenbruch nahe, aber Rungholt weigerte sich, seiner Fürsorge nachzugeben und ihr beizustehen, während der Richter Egidius Plönnies das Varrecht über den Toten verhängte.
»Woher kommt die denn, sag mal?«, fragte Marek. »Und was hatte die hier so spät noch im Hafen zu suchen?«
Rungholt zuckte mit den Achseln. »Mir gleich. Aber dass du mich die Luke runtergestoßen hast, darüber sollten wir mal ein ernstes Wörtchen reden.«
»Ich? Gestoßen? Rungholt! Ich hab dich doch nicht gestoßen. Du bist gefallen.«
»Ja. Nachdem du mich beleidigt und arglistig auf... auf... auf diesen schwimmenden Sarg gelockt hast.«
»Du bist freiwillig gegangen. Das sag ich dir aber, auch wenn dein Wille wohl eher war, mir den Schädel einzuschlagen.«
»Was heißt hier mein Wille war?«, knurrte Rungholt und wollte sein verletztes Knie begutachten. Er war jedoch zu dick und ungelenk, als dass er sein Bein weit genug hätte anwinkeln und an seinem Wanst vorbeisehen können. »Ich hätte mir fast den Hals gebrochen, Marek«, maulte er und rieb sich den vernarbten Handrücken.
Mittlerweile war es kurz vor Matutin, der Mond stand längst hoch am Himmel, und Richter Plönnies fand noch immer kein Ende. Nachdem die Ratsherren noch einmal bezeugt hatten, dass es sich hier um ein Kapitalverbrechen handelte, sprach Plönnies die ewig gleichen, ritualisierten Worte, damit die Anklage gegen unbekannt ins Gerichtsbuch aufgenommen werden konnte. »Im Namen des Hochedlen und Hochweisen Rats werde ich, Plönnies, die erste Hand an diesen Entleibten legen«, drangen die Worte des Richters über den Hafenplatz, und Rungholt sprach sie gebetsmühlenartig mit: »Damit Gerechtigkeit gehandhabt und die Bosheit bestraft werde. Damit denn auch keine Blutschuldenlast auf Lübeck geladen werden möge.«
Äußerst gründlich hielt Plönnies das Varrecht ab, kratzte sich dabei unablässig die Bartstoppeln und strich sich immerzu die langen, köterblonden Haare aus dem ausgemergelten Gesicht. Der Rychtevoghede, den der Rat seit letztem Ostern eingesetzt hatte, nachdem der greise Richter Winfried verstorben und Kerkring, der zweite Richteherr Lübecks, wider den Rat gehandelt hatte, galt unter den Kaufleuten als gründlich und gerecht. Leider wog Plönnies das Für und Wider jedes Falles derart gründlich und derart gerecht ab, dass sich auf seinem Tisch die Akten stapelten und er inzwischen auch als überaus schwerfällig galt.
Plönnies stolpert über sein Gerichtsbuch. Er strauchelt in seinen Klauseln und Paragrafen, dachte Rungholt kopfschüttelnd, weil er alles fehlerfrei abwickeln möchte. Der Gedanke an einen Richter, der inmitten seiner Pergamentrollen und Kodizes versank, versetzte ihm einen Stich. Unwillkürlich musste er an seinen alten, greisen Freund Winfried denken. Schlechtes Gewissen machte sich in Rungholt breit, weil er ihn kurz vor dessen Tod beleidigt und ihm in der Todesstunde nicht beigestanden hatte. Rungholt hatte sich nicht verabschieden können, und nun lag der alte, weise Rychtevoghede Lübecks auf dem Armenacker beim Heiligen-Geist-Hospital. Verscharrt im Staub, weil er es selbst so gewünscht hatte.
»Du solltest mit ihr reden, Rungholt.«
»Ich?« Rungholt sah seinen Kapitän an. »Warum ich?«
»Weil du die Räuber vertrieben hast.«
Endlich hatte Plönnies die Anklage gegen unbekannt verhängt und das Ritual beendet. Selbst wenn die hübsche Unbekannte die Stadt verklagt und Blutgeld verlangt hätte, so war Lübeck nun von jeglicher Zahlung befreit, und die Suche nach den beiden Tätern, die Rungholt und Marek gesehen hatten, war offiziell eröffnet.
»Aha. Und warum redest du nicht mit ihr?«
»Weil ich das... das nicht so gut kann«, gab Marek zu. »Das weißt du doch.«
Eine Peitsche schnalzte, und der Ochsenkarren mit dem Toten setzte sich langsam in Bewegung, die schweren Scheibenräder ließen die Bohlen des Platzes knirschen und übertönten für einen kurzen Moment das Wehklagen der Frau. Sie hatte ihr Kleid hochgerafft und rannte dem Wagen nach, bis zwei Büttel sie beruhigt hatten. Der Karren rollte an Rungholt vorüber, und ein letztes Mal sah er in das bärtige Gesicht des Getöteten. Seine Züge glichen denen eines Schlafenden. Schmale Lippen, schmale Augenbrauen und eine schmale Nase. Bevor Rungholt einen weiteren Blick auf den Toten erhaschen konnte, hatte der Fahrer des Karrens bereits ein Tuch über den Toten gedeckt und trieb sein stämmiges Tier an, schneller zu gehen.
Rungholt sah dem Karren nach, wie er im Mondlicht zwischen den Warenstapeln hindurchfuhr und langsam in Richtung eines der großen Tore in der Stadtmauer rumpelte. Dann fiel sein Blick wieder auf die fremde Frau, die vergeblich versuchte, sich aus dem Griff der Büttel zu befreien. Erst als Plönnies die Männer zurechtwies, ließen sie sie los. Verloren stand sie da.
Rungholt stand brummend auf und humpelte zu ihr hinüber. Marek folgte ihm. Als Rungholt sich zu ihr stellte, bemerkte er, wie schlank ihr Körper war. Im Gegensatz dazu erschien ihm seine eigene Leibesfülle geradezu grotesk. Wie eine aufgeblähte Schweinsblase kam er sich neben dieser schlanken Schönheit vor. Eine gemästete Gans in zerrissenem Federkleid neben einer grazilen Dame, deren blutbesudelte Houppelande Funken sprühte. Vergeblich bemühte er sich, das halbnackte und zerschundene Bein zu verbergen.
»Mein Mann«, begann die Frau leise. Sie musste schlucken und senkte ihren Blick. »Ich...«, versuchte sie auszuholen, scheiterte aber.
Als sie aufsah, verstellte Rungholt ihr absichtlich den Blick auf den Ochsenkarren, der durch das Tor fuhr und in eine von Lübecks Gassen abbog. »Es tut uns leid, Frau...« Er versuchte sich zu erinnern, ob sie schon ihren Namen genannt hatte.
»Cyrielle...« Abermals drohten ihr die Tränen zu kommen. »Einfach Cyrielle.«
»Rungholt«, stellte sich Rungholt knapp vor. Er nahm ihre Hand. Sie war eiskalt und nur so schmal wie drei seiner Finger. Er traute sich kaum zuzufassen. Ihr Händedruck war angenehm, und er bemerkte, dass ihre Haut weich und sanft war. Sie hatte die Finger eines überaus reichen Weibes, das nicht selbst waschen oder kochen musste. Weil sie so sehr zitterte, hätte er ihre Hand am liebsten länger gehalten, doch er riss sich los und deutete zu seinem Freund, der sich schüchtern zu den beiden stellte. »Und das ist mein Kapitän, Marek Bølge.«
»Ich wollte Ihnen beiden danken«, sagte sie. »Sie haben mir wirklich...« Bevor sie es aussprechen konnte, hatte Rungholt schon großherzig abgewinkt. Dennoch konnte er es nicht unterlassen nachzuhaken: »Was habt Ihr zu so später Stunde am Hafen gemacht?«
Die Frau musterte Rungholt stumm. Ihre Augen waren rot vom Weinen. Es dauerte ein, zwei Atemzüge bevor sie mit leiser Stimme begann: »Mein treuer Mann, er... er... Edward hatte eine Überfahrt gekauft und... und... Er wollte mir das Schiff zeigen, weil... Ich kann Schiffe nicht ausstehen, wisst Ihr?«
Rungholt musste lächeln. Er brummte. »Kann ich verstehen.« Beinahe wäre ihm herausgerutscht, dass es ihm genauso ging. »Die Enge oder das Wasser?«, fragte er stattdessen.
»Letzteres«, antwortete sie, aber als sie mehr erklären wollte, gingen ihre Worte in Tränen unter.
»Wohin wolltet Ihr denn fahren?«, warf Marek ein.
»Nach England. Zu seiner Familie.«
»England? Ihr wisst, dass der Sund von den Vitalienbrüdern besetzt ist? Mittlerweile haben diese Mörder alle Häfen blockiert, sag ich euch. Wir kommen nicht mehr raus, können nur noch in Konvois fahren, und selbst dann... Da draußen ist die Hölle los. Kein Schiff kommt mehr an, die Besatzungen werden abgeschlachtet. Seemänner an ihren Beinen aufgehängt und...«
»Marek«, unterbrach Rungholt seinen Kapitän sanft und bedeutete ihm, still zu sein.
»Es ist überaus wichtig, dass wir fahren.« Indem Cyrielle sich die Augen rieb, verwischte sie den nassen Puder auf ihren Wangen. Ihr Versuch zu lächeln scheiterte. »War wichtig«, verbesserte sie sich. »Jetzt ist nichts mehr wichtig... Wie kann ich Euch jemals für Eure Hilfe danken?«
»Dankt nicht uns, dankt dem gnädigen Gott.« Rungholt bemerkte, dass trotz der vielen Tränen ihre Iris wundervoll blau im Mondlicht schimmerten. Tiefblaue, glitzernde Brunnen als Quellen der verlaufenden Puderspuren. Der wunderschöne Anblick inmitten des gequälten Gesichts ließ Rungholt befangen wegsehen. Er rieb sich den Handrücken. »Ich denke, Ihr hättet gleichfalls Hilfe geholt, wenn wir bedroht worden wären.«
»Sie haben Euch beraubt«, mischte sich Marek ein.
»Ja. Bestohlen«, meinte Cyrielle schwach. »Mein Beutelchen mit Münzen, meinen Schmuck... Sie müssen uns aufgelauert haben.« Rungholt nickte. Erst jetzt fiel ihm auf, dass Cyrielle lediglich einen Ring mit einem Edelstein am Mittelfinger der rechten Hand trug und ansonsten schmucklos war.
»Er ist mir noch geblieben. Sie haben Euch gehört und... Ich kann ihn Euch geben, als Anerkennung Eurer Tat...« Sie begann fahrig an dem Ring zu zupfen. Rungholt lehnte jedoch ab und beruhigte sie. Da ließ Plönnies’ Stimme sie alle drei herumfahren.
»Ich hörte, dass Ihr gewöhnlich für den Lübecker Rat solcherlei Abscheulichkeiten aufklärt«, meinte der Richter gestelzt. Rungholt antwortete ihm nicht, sondern gab lediglich ein Knurren von sich. »Ich habe es von Winfried erfahren, als ich für ihn noch Protokoll führte«, erklärte Plönnies und trat näher an die drei heran.
»Von Winfried, hm.« Rungholt musterte den hageren Mann, weil er in dem unrasierten Gesicht eine Spur des Misstrauens zu erkennen versuchte. Er suchte nach einer Kleinigkeit, die ihm verriet, dass Plönnies ein Spiel mit ihm trieb. Es war nicht gut, zu viel über Verbrechen zu wissen – oder gar, etwas über Mörder oder das Töten selbst.
»Nun. Winfried ist tot. Er war alt«, sagte Rungholt.
Weil Rungholt ihn noch immer streng musterte, wich Plönnies lieber einen Schritt zurück. »Ich... ich wollte Euch nicht beleidigen. Aber Ihr wisst, was man in Lübeck über Eure Fähigkeiten munkelt... Ich meine, ich...«
Mit einem grimmigen Blick stoppte Rungholt den Richteherr. Er steckte seine Hände in seine Dupsing und trat einen Schritt vor, damit sein Bauch dem neuen Richter bedrohlich nahe kam. »Was munkelt man denn?«
»Nun, man sagt, Ihr könntet Mörder ausfindig machen. Ihr könntet denken wie sie. Ihr könntet Euch in sie hineinversetzen und dann... dann aufspüren. Man... Man redet nicht von Hexerei, Rungholt, versteht mich nicht falsch. Ich meine...«
»Ihr meint, ich solle für den Hohen Rat diese beiden Mörder schnappen? Ist es das, was Ihr mit so vielen Worten wirklich fragen möchtet?«
Plönnies ließ seinen Blick zwischen den dreien hin und her springen, dann trat er vertraulich abermals einen Schritt vor und berührte beinahe Rungholts Wanst. »Nun ja... Ihr habt sie immerhin schon zu Gesicht bekommen. Also die Täter. Und weil Ihr für Winfried das eine oder andere Verbrechen aufgeklärt...«
»Winfried der Kahle war ein Freund, guter Mann«, entgegnete Rungholt streng und beendete lächelnd das Thema. »Eine gute Nacht, Rychtevoghede.«
Einen Moment lang blieb Egidius Plönnies unentschlossen stehen, dann nickte er eher sich selbst als den drei anderen zu und wendete sich ab.
Während Marek seine Schecke nahm und sie Cyrielle um die Schulter legte, wartete Rungholt, bis Plönnies zu den anderen Ratsherren an der Mole zurückgekehrt war.
4
Rungholt leuchtete Cyrielle, damit sie mit ihren Trippen nicht neben die Steine in den Matsch trat, und führte sie die Engelsgrube hinauf. Der Mond stand mittlerweile über der Trave, und als Rungholt sich umdrehte, um der Fremden die Hand zu reichen, sah er, wie das bleiche Mondlicht den Fluss glitzern ließ. Ein schmales Band aus abertausenden von Sternen, so kam es Rungholt vor, lag dort hinter der Stadtmauer. Das verhasste Nass war zu einem diamantglitzernden Streifen geworden. Funkelnd und mysteriös. Er hätte nicht sagen können, weswegen er in diesem Moment nicht wie sonst an den Tod denken musste, aber während er der Unbekannten über die Steine half, war er für einen Lidschlag lang das erste Mal seit Jahrzehnten vom Anblick des Wassers fasziniert.
Vielleicht, dachte er, werde ich wirklich einmal meine Angst überwinden. Vielleicht werde ich am eigenen Leib erfahren, was Marek, was alle Händler Lübecks stets im Meer sehen. Vielleicht werden mir irgendwann die Nymphen beistehen, wenn ich noch einmal ins Wasser steige. Vielleicht werde ich dann nicht mehr an den schwarzen Schlund denken müssen, der das Leben in seine Tiefe zieht. Ich werde von den Wassernymphen über die Wellen getragen und spüre nur noch Trost und Seelenheil. Vielleicht. Immerhin bin ich zu alt und habe ein paar Enten zu viel verschlungen, dachte er, als dass mich die Nymphen wie einen hübschen Jüngling unter Wasser ziehen.
Ihre ängstliche Stimme riss ihn aus den Gedanken. »Ist da wer?«, flüsterte sie und versuchte zu erkennen, was er in der Dunkelheit anstarrte.
»Nein. Zu so später Nacht? Nein, nein«, wiegelte er ab und leuchtete ihr schnell erneut den Weg. »Ich dachte bloß, da wäre ein Schiff.«
Vom Hafen bis in die schmale Gasse, in der Rungholt sein Haus hatte, waren es nur wenige Minuten zu Fuß, doch an diesem Abend hatte er über eine halbe Stunde für den kurzen Weg benötigt. Immerzu war Cyrielle in den engen Gassen vor Angst stehen geblieben, und mehrmals hatte sie aufgeschrien, nur weil eine Ratte über die Bohlen gelaufen war oder einer der wenigen Bäume, die auf der Lübecker Halbinsel noch standen, im Wind geraschelt hatte. An der Ecke Clementsund Böttchergasse hatte sie sich sogar geweigert weiterzugehen, nur weil sie jemanden hinter der Mauer der kleinen St.-Clement-Kirche vermutete. Rungholt hatte erst leuchten und auf die verängstige Frau einreden müssen. Sein Durst auf ein gutes Bier war größer und größer geworden.
Eigentlich hatte er vorgehabt, erst ihre Habe aus dem Wirtshaus zu holen. Wie sie ihm mitgeteilt hatte, war sie in der Gasse bei der Burg untergekommen, konnte sich aber nicht vorstellen ohne ihren Mann eine weitere Nacht dort zu verbringen. Angesichts ihrer Angst war Rungholt dankbar, dass er den Besuch im Wirtshaus auf morgen verschoben und sich eine Tranlampe von Plönnies’ Männern ausgeliehen hatte.
»Wir sind schon da«, meinte er und leuchtete die rote Backsteinmauer hinauf, damit sie das schmale Haus mit seinem imposanten Staffelgiebel und dem mahnenden Spruch über der Tür besser sehen konnte. Dat bose vemeide unde acht de ryt – Das Böse vermeide und achte das Recht, stand dort eingemeißelt. Er drückte die Tür zu seinem Haus derart schwungvoll auf, dass der Türklopfer gegen das Türblatt krachte. Der eiserne Sperling schlug so laut an, dass Rungholt Angst bekam, sein Schnabel breche ab. Er hielt Cyrielle die Tür auf,
wurde dann aber seines Bauches gewahr. Der war so dick, dass Cyrielle sich kaum an ihm vorbeidrücken und die Diele betreten konnte. Sie versuchte es dennoch, und er konnte ihre Brüste durch seinen Tappert spüren, als sie sich an ihm vorbeischob. Die Röte schoss ihm wie einem dummen Jüngling ins Gesicht, und er machte ihr umständlich Platz, weil er die Tranlampe hochhalten musste.
In der Wohndiele standen zwei Handkarren. Sie waren noch mit Bierfässern aus Rungholts Brauerei beladen. Er hatte sie für seinen eigenen Bedarf hergeschafft und um Händler in London von der Güte seines Biers zu überzeugen. Zufrieden trat er um die Wagen und klopfte auf die Fässer, die ihm die letzten Monate reichlich Geld in die Kassen gespült hatten. Er bat Cyrielle, kurz bei den Karren zu warten, und ging weiter in Richtung Kochstelle, die von einem großen offenen Herd beherrscht wurde.
Zu seiner Überraschung waren Alheyd und seine Magd Hilde noch wach. Die beiden Frauen hatten sich in schwere Decken gehüllt und saßen vor der letzten Glut, die in der Feuerstelle glomm. Hatten sie auf ihn gewartet?
»Noch nicht im Bett?«, fragte Rungholt. »Ich habe Besuch mitgebracht.«
»Wo warst du so lange?« Rungholts Frau Alheyd fing ihn auf halber Strecke ab. Ihr entsetzter Blick, als sie seine zerschundenen Kleider, den durchnässten und abgerissenen Beinling und sein blutiges Knie sah, sprachen Bände. »Du wolltest mit Marek Salz im Hafen kaufen und schlägst dich« – sie reckte den Kopf, um zu sehen, wer in der Diele wartete – »mit einer Frau?«
Rungholt schenkte Alheyd seufzend ein entschuldigendes Lächeln und machte es dadurch noch schlimmer, denn Alheyd verstand augenblicklich: »Oh nein«, meinte sie. »Diese Frau ist nicht zufällig mit dir gekommen, weil jemand ermordet wurde?«
»Was?... Wie... Nein, wie kommst du denn darauf? Hilde«, rief er seiner Magd zu. »Mach uns etwas zu essen, und schmeiß den Gesellen aus dem Alkoven. Er soll schnell aufräumen und zum Knecht ziehen. Sie soll in seinem Zimmer schlafen.« Er ging nicht weiter auf die Fragen seiner Frau ein, sondern reichte Hilde die Lampe.
»Ist gut.« Die alte Magd eilte durch die Diele und die Wendeltreppe hinauf. Er hörte, wie sie zur kleinen Kammer des Gesellen ging und klopfte.
»Wenn du mich schon anlügst, Rungholt, kannst du mich wenigstens vorstellen.« Alheyd stand auf und musterte die Fremde im goldenen Schein von Feuer und Tranlampe. Er bemerkte, dass etwas in ihrer Stimme mitgeschwungen hatte. Etwas, das ihm ganz und gar nicht gefiel. Es war nicht nur die Überraschung, zu so später Stunde noch einen Übernachtungsgast zu bewirten, oder die Tatsache, dass er wieder mit einem Mord in Berührung gekommen war, nein, vielmehr war es ein schnippischer Unterton, den Rungholt bei ihr seit langem nicht mehr gehört hatte.
Er stellte die beiden Frauen einander vor und machte sich auf eine lange Nacht mit Vorwürfen und dummen Erklärungen gefasst, denn obzwar Alheyd der Fremden sofort einen Platz am Feuer anbot und sogar Hilde nach oben folgte, um Cyrielle ein frisches Kleid zu holen, spürte Rungholt ihr Widerstreben.
Er holte seinen Lieblingsstuhl aus der Diele, aber als Rungholt damit zum Feuer zurückkehrte, war Cyrielle bereits eingeschlafen.
5
»Es ist die Pflicht eines jeden Christen zu helfen, Alheyd. Was hast du dagegen, dass ich mal nachsehe, wie ihr Mann umgekommen ist?« Seufzend streckte sich Rungholt unter der Decke, die er mit in den Hof genommen hatte. Trotz der kühlen Nacht hatte er sich entschieden, noch ein Bier auf seiner Bank zu trinken und dem Mond beim Wandern zuzusehen. Er stand hinter den schiefen Holzbuden, die er für seine Bediensteten im Hof errichtet hatte.
Alheyd setzte sich zu ihm und reichte ihm eine Daube voll Stutenmilch. »Ich habe auch nichts anderes behauptet. Aber dir geht’s doch gar nicht ums Helfen.«
»Sondern? Was soll das heißen? Bist du etwa eifersüchtig?«
Alheyd lachte. Für einen Augenblick war sich Rungholt nicht sicher, ob sie sich über ihn lustig machte. Lachte sie, weil allein die Vorstellung abstrus war, dass sich eine andere Frau für ihn interessieren könnte? Für ihn, einen alten Pfeffersack, der anderthalb Liespfund auf die Waage brachte, an Kurzatmigkeit litt und seine Mitmenschen mit seinen Zornausbrüchen quälte? Er blickte seine Frau von der Seite an und musste feststellen, wie alt Alheyd geworden war. Im silbernen Schein des Mondes wirkten ihre Züge härter als gewöhnlich, die Lippen rissig und die Wangen kalt.
Er legte ihr die Decke über die Knie und sah zu seinem Dornenbusch, der das Beet der Magd begrenzte. Hier wohnte sein Rotrückchen. Ein kleiner Sperlingsvogel, den er gern beobachtete. Der Vogel galt bei den Lübeckern als schlechtes Omen, weil er seine Beute angeblich aus Narretei auf Dornen spießte. Sei’s drum. Rungholt sah ihm gerne beim Nestbau zu und verteidigte ihn gegen die Krähen. Seitdem er das Haus in der Engelsgrube gekauft hatte, war es ihm vorgekommen, als seien die Krähen zahlreicher geworden, als sammelten sie sich absichtlich in seinem Hof, setzten sich auf die Dachschindeln und Firste der Buden und starrten ihn, einem geheimen Plan folgend, an. Während die großen schwarzen Vögel ihn frösteln ließen, war der Sperling Rungholt ein treuer Begleiter geworden, auch wenn mittlerweile sicherlich einige Generationen gekommen und gegangen waren.
Rungholt nahm noch einen Schluck von seinem Bier und unterdrückte den Drang, Alheyd anzufahren. Die Schale mit Stutenmilch hatte er neben sich gestellt und suchte vergeblich nach seinem Quendelkraut. Wie gewohnt wollte er sich seine Pfeife anstecken, aber er hatte vergessen, sie mit herauszunehmen, nachdem sie die Witwe auf die Schnelle im winzigen Zimmer eines ihrer Knechte untergebracht hatten. Die Schweine grunzten, und er sah sich nach ihrem Gatter um, konnte wegen der Dunkelheit aber nichts erkennen.
»Warum lachst du?«, fragte er schließlich.
»Weil ich weiß, dass du mich liebst. Du würdest keiner anderen Frau hinterhersteigen. Dazu bist du zu... zu... zu...«
»Zu was?«
»Zu gemütlich«, meinte sie und schmiegte sich an ihn. Er quittierte ihren Kommentar mit einem Brummeln, legte den Arm um ihre zierliche Schulter und trank noch einen Schluck. »Zu gemütlich«, meinte er. »So so.« Rungholt blickte sich zum Haus um und sah hinauf zu dem Stückchen Wand hinter dem Cyrielle schlief.
Prompt kassierte er einen Seitenhieb von Alheyd. Er lachte, fragte dann aber noch einmal nach, was sie damit gemeint habe, es würde ihm nicht ums Helfen gehen.
»Du willst der Frau nicht helfen, Rungholt. Du willst nur deine Jagdlust befriedigen. Das ist es doch.«
»Jagdlust? Nach Frauen?«
Alheyd seufzte. »Deine Leidenschaft, Verbrecher sühnen zu lassen.«
»Die Verbrecherjagd macht mir doch kein Vergnügen, Alheyd.«
Woher wusste sie, dass er sich die letzten Monate in der Tat nach einer Abwechslung sehnte? Er hatte ihr nie gesagt, dass der Ausbau der Brauerei eine Leere hinterlassen hatte, die er bis heute nicht hatte füllen können. Nachdem ihn die Brauerei beinahe ruiniert hatte, war er ein großes Risiko eingegangen. Noch im Oktober letzten Jahres hatte er sich heimlich Geld bei Alighieri, einem verschrienen Florentiner aus dem Pergamentmacher-Gang geliehen. Er war zu dem unliebsamen Mann geschlichen und hatte sich für einen Kredit erniedrigen lassen. Aber immerhin hatten dieser Besuch und sein Wagemut, noch mehr Geld in die marode Brauerei zu stecken, sich ausgezahlt. Nachdem er den Herbst und den Winter Baukolonnen durch das abrissreife Doppelhaus gejagt und mit strenger Hand die Arbeiten kontrolliert hatte, lief die Brauerei nun bestens. Weil die Lübecker nichts zu beißen hatten, tranken sie umso mehr sein Dünnbier. Alles lief für Rungholt perfekt, und dennoch hatte sich die letzten Monate eine eigentümliche Leere in ihm ausgebreitet.
Sie hat Recht, dachte Rungholt. Ich weiß nicht, woher sie weiß, dass ich die Verbrecherjagd vermisse, aber sie hat Recht. Die letzten Wochen bin ich vollgefressen und vom Geldzählen ganz taub aus meiner Brauerei gekommen, hatte die Bücher voll Aufträge, die Lager voll Waren und dennoch habe ich mich seltsam nichtig gefühlt. Ohne Leben. Ohne Bestimmung.
»Sie hat Geld, Alheyd. Wenn es das ist, was dich stört«, versuchte er, Alheyd zu beschwichtigen. »Sie wird uns sicher fürstlich entlohnen, wenn ich nachforsche, wer ihren Mann...«
»Geld! Geld... Du glaubst immer, es ginge mir nur ums Geld.« Kopfschüttelnd nahm sie ihm den Bierkrug ab und trank ebenfalls einen Schluck. Sie setzte an, etwas zu sagen, blickte dann jedoch lediglich stumm ins Dunkel des Hofes. »Du bist schon einmal beinahe gestorben, Rungholt. Du hast dagelegen, ganz kalt und blau. Ich weiß, dass ich dich nicht aufhalten kann, es zu tun, aber wenn dir etwas zustößt...«
»Was sollte geschehen? Marek passt doch auf.«
»Marek«, stieß sie aus. »Was soll der hübsche Schone schon machen, wenn du wieder umfällst, weil du dich zu sehr aufregst? Was soll er dann tun? Dir ein Bier holen?«
Brummelnd nahm Rungholt seinen Arm von ihr. Er hatte keine Lust auf eine solche Unterhaltung. Er würde nicht umfallen. Es ging ihm besser als jemals zu vor. Er war im Begriff, mit etwas Übung seine Wasserangst zu verlieren, seine Lager platzten aus allen Nähten, und die Kassen waren gefüllt. Sicher würde auch sein Schwiegersohn in ein, zwei Monaten erfolgreich aus dem Londoner Stalhof zurückkehren. Die letzten Wochen hatte Rungholt wach gelegen und sich neue Handelsrouten ausgemalt und kalkuliert, ob er sich nicht an einer zweiten Kogge beteiligen sollte. Handelswege, weitere Kompaneien, weitere Märkte... Er rieb sich die vernarbte rechte Hand mit der Stutenmilch ein. Ersann er all diese Pläne und Strategien nur, weil er die Leere füllen wollte?
»Hast du Hering mitgebracht?«, fragte er, um das Thema zu wechseln. Er freute sich auf ein kleines Nachtmahl im Alkoven, doch daraus wurde nichts, denn Alheyd verneinte.
»Warum nicht?«, fuhr Rungholt sie enttäuscht an.
»Der Fisch war zu teuer.«
»Zu teuer? Verflucht noch eins, wohn ich im Armenhaus?« Er stand auf.
»Rungholt, der Hering kostet eine Unsumme. Ein Fisch soviel, wie letztes Jahr zwei Bündel! Selbst Stockfisch ist unerschwinglich.«
»Na und? Wir haben Geld. Die Brauerei läuft. Ich verkaufe mehr Bier als der Harkenpeter und der olle Willenbruch zusammen. Wir sind eine der wenigen verfluchten Familien in Lübeck, die aus der ganzen Seeblockade dieser vermaledeiten Vitalienbrüder auch noch Profit schlagen.« Er bekreuzigte sich flüchtig. »Gott möge uns verzeihen.« Er hasste es, wenn sein Weib so knickrig war. Dieses ewige Geizen würde sich eines Tages auf seinen Ruf niederschlagen. Eines Tages würden die Lübecker Ratsherrn auf ihn zeigen und ihn einen Knauser nennen. Er hasste es, das Gesicht zu verlieren, und er hasste es, wenn seine Wünsche nicht erfüllt wurden.
»Kein Hering... Weil er zu teuer ist.« Maulend ging er ins Haus.
Er schlurfte über die hübschen Gotlandfliesen zu seiner Dornse. Die kleine Kammer, in die gerade sein Schreibpult, ein Tischchen samt Stuhl und ein paar wenige Säcke Gewürze passten, war mit den Jahren ein Teil von ihm geworden. Der Geruch der Kodizes und Pergamentrollen, vermischte sich – je nach Jahreszeit – stets aufs Neue mit dem Geschmack von Münzen und den Waren, die er hier abwog. Obwohl der Raum mit seiner teuren Nussholzverkleidung und dem kleinen Fenster zur Engelsgrube stets sehr dunkel war, saß Rungholt gerne hier. Vieles erinnerte ihn an seine Vergangenheit, an seinen Lehrmeister Nyebur und seine Geschäfte mit Novgorod. Der geschnitzte Elfenbeinhalter für den Kienspan, die Regale, die er gleich nach dem Kauf des Hauses hatte anfertigen lassen und von denen ihm zwei im Laufe der Jahre unter der Last seiner Handelsbücher zusammengebrochen waren, die kleine Öllampe, die Mirke ihm nach ihrer Hochzeit mit Daniel getöpfert hatte. Beim Anblick der Erinnerungsstücke war es ihm, als ordne sich sein Leben und als sei diese kleine Kammer nicht die Dornse in seinem Haus, sondern ein ausgelagertes Stück seines Körpers. Ein Stück Kopf, in das er Dinge tun und vor der Außenwelt schützen konnte. Ein Stück Kopf, in das man sich zurückziehen und genießen konnte.
Rungholt holte seine Hornpfeife, stopfte sie mit Quendelkraut und setzte sich. Bevor er gestern zu Marek gegangen war, hatte er den Raum nur betreten, um seine Ledertasche und seine Brille zu holen. Auf seinem Tisch lagen noch immer das Tuch mit den Linien, auf denen er für gewöhnlich rechnete, und zwei seiner Warenbücher. Ein Scheffel, mit dem er Salz geprüft hatte, lag unabgeputzt auf einem Krug mit einem Rest Bier. Er entzündete eine Öllampe, ordnete die Bücher in ein Regal, packte den Krug beiseite und stellte die Lampe auf den Tisch. Ihn fror. Der April war bisher vor allem regnerisch gewesen. Schwere Wolken waren tagelang von der Ostsee über die Trave gekommen und hatten zugige Luft mitgebracht. Rungholt stellte sich mit dem Rücken an die Wand zur Diele und ließ sich von den heißen Wandsteinen der gegenüberliegenden Kochstelle wärmen.
Kraut schmauchend wandte er sich einem losen Wandpaneel aus Nussholz zu, hinter dem er seine Weine und Schnäpse versteckte. Er zog einen frischen Krug aus dem kleinen Geheimfach und schenkte sich ordentlich ein. Dann nahm er das abgeschlagene Ohr heraus, das er vorhin in ein Tuch eingewickelt und hier versteckt hatte. Er legte das Bündel auf seinen Tisch und packte es aus. Das Ohr war schlank, das Läppchen von seinem Hieb halb zerschnitten. Rungholt begutachtete es eine Weile, bevor er den ersten Schluck trank. Der Schnaps schmeckte nach Wacholder und ließ ihn aufatmen. Eine Wohltat. Neuerlich begannen seine Wangen zu brennen, und die Kräfte kehrten in ihn zurück.
Bevor Rungholt überlegt hatte, was seine Frau wohl sagen würde, wenn er angetrunken ins Bett fiel, hatte er sich einen weiteren Krug halb eingegossen und ihn geleert. Er ermahnte sich, dass er morgen unbedingt in seiner Brauerei vorbeisehen und Mirke nach den Einkaufslisten für Daniel fragen musste. Nach kurzem Zögern schenkte er sich einen dritten Schluck ein und hob das Ohr vom Tisch auf. Es war eiskalt und fühlte sich wie Wachs an.
Jagdlust, fragte er sich selbst und ließ Alheyds Worte noch einmal in sich nachklingen. Ligawyj, dachte er. Bluthund. Er hatte den Namen einst in Novgorod bekommen, weil er wie ein Bluthund seinen ersten Mörder zur Strecke gebracht hatte. Damals. Als die Diebe und Mörder letztlich ihn selbst verfolgt hatten. Bis in den Schneewald hatten sie ihn gehetzt. Sie hatten den Bluthund gejagt, nachdem er ihre Fährte aufgenommen hatte – und der Bluthund hatte sie alle totgebissen.
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