Die Sandwitwe - Derek Meister - E-Book
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Die Sandwitwe E-Book

Derek Meister

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Beschreibung

NORDSEE gleich MORDSEE

Kommissar Knut Jansen und Profilerin Helen Henning stehen vor einem Rätsel: In Valandsiel werden mehrere mit Sand gefüllte Leichen gefunden, die der Mörder zu grotesken Figuren drapiert hat. Seine Taten scheinen keinem Muster zu folgen, werden dabei aber immer brutaler und perfekter. Als er sich anonym bei der Polizei meldet, nimmt ein nervenzerreißendes Katz- und Maus-Spiel seinen Anfang, denn er hat eine junge Frau in seiner Gewalt – und die soll nun sein letztes Opfer werden, die Krönung seines perfiden Plans. Werden Knut und Helen die Wahrheit enthüllen, die seit fünfundzwanzig Jahren im Sand vergraben liegt?

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Seitenzahl: 419

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Buch

Kommissar Knut Jansen und Profilerin Helen Henning stehen vor einem Rätsel: In Valandsiel werden mehrere mit Sand gefüllte Leichen gefunden. Die bizarren Taten des Serienkillers scheinen einem verborgenen Muster zu folgen und werden dabei immer brutaler und perfekter. Valandsiels Ermittler-Duo findet sich in einem verwirrenden Todesspiel wieder, in dem der Mörder ausgerechnet Knut eine wichtige Rolle zugedacht hat.

Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt, denn der Täter hat bereits sein nächstes Opfer auserkoren. Und auch Helen schwebt in größter Gefahr …

Der zweite Teil der Thrillerserie um das Ermittlerteam Henning und Jansen.

Autor

Derek Meister wurde 1973 in Hannover geboren. Er studierte Film- und Fernsehdramaturgie an der Filmhochschule Potsdam-Babelsberg und schreibt erfolgreich Serien, abendfüllende Spielfilme fürs Fernsehen – und Romane. Er lebt mit seiner Familie in der Nähe des Steinhuder Meers.

Von Derek Meister bereits erschienen

Knut Jansen und Helen Henning ermitteln:

Der Jungfrauenmacher (0060)

Die Fälle des Patriziers Rungholt:

Rungholts Ehre

Rungholts Sünde

Knochenwald

Todfracht

Flutgrab

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DEREK MEISTER

DIESANDWITWE

THRILLER

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

1. Auflage

Copyright © 2016 by Derek Meister

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur

Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen

© 2016 by Blanvalet in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Angela Kuepper

Umschlaggestaltung: www.buerosued.de

Umschlagmotiv: Getty Images/Chris Clor und

www.buerosued.de

kw · Herstellung: kw

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-19528-1V001

www.blanvalet.de

Von allen Geschenken, die uns das Schicksal gewährt, gibt es kein größeres Gut als die Freundschaft.

Epikur

1

Die LED zeigte unbeeindruckt rot.

Anneke Goldmann ließ die Plastikkarte noch einmal durch das Lesegerät gleiten.

Nichts tat sich.

Der Zugang zu ihrem eigenen Büro blieb ihr versperrt.

»Darf doch wohl nicht wahr sein!« Verärgert zog sie die Karte abermals durch und ließ den Blick wartend über die Einfahrt und den modernen Glasbau streifen. Der streng designte Bungalow aus dunklem Schiefer mit Panoramafenstern lag ein wenig ab vom Schuss auf einer Anhöhe und war lediglich durch einen schmalen Waldweg zu erreichen.

Die Sonne hielt sich noch hinter den Kiefern verborgen, die hier an der Klippstraat im Norden Valandsiels vom Wind gedrückt dicht an dicht standen.

Mit der Zeit hatte sich die achtunddreißigjährige Architektin immer mehr in die Morgenkühle, diese unglaublich frische Luft und den goldweißen Glanz der Sonne verliebt. Wahrscheinlich hatte sie deswegen genau dieses Stückchen Land erstanden und ihr Architekturbüro hier oben gebaut. Und ziemlich wahrscheinlich begann sie deswegen ihren Arbeitstag auch gerne bereits um halb sechs in der Früh.

Hätte ihn gerne begonnen.

Die LED blieb störrisch.

Ungehalten warf sie ihre halb aufgerauchte Zigarette auf den Kies, zückte ihr Smartphone und hatte eine Minute später den Service für die verfluchte Türanlage dran.

»Wie? Was soll das heißen, ›erst morgen‹? Hören Sie, das akzeptiere ich nicht. Schluss! Sie schicken mir sofort einen Techniker.«

»Tut mir leid, aber zur Zeit ist niemand in Ihrem Einzugsbereich, hören Sie, Frau Gold…«

»Nein, jetzt hören Sie mal«, unterbrach sie den Mann barsch und zog frustriert die Karte gleich viermal durch, wobei ihr dunkelroter Nagellack in Mitleidenschaft gezogen wurde. »Ich verbaue seit sechs Jahren Ihre bescheuerten Schlösser in meinen Neubauten, und ich glaube nicht, dass Ihr Vorgesetzter es gern hätte, wenn ich den Anbieter …«

Klack. Mit einem Mal glitt die Glastür auf und gab den Weg frei. Erstaunt sah Anneke auf die LED. Grün.

»Ähm. Frau Goldmann? Vielleicht ist der Magnetstreifen Ihrer Karte …«

»Jaja. Wahrscheinlich die Karte«, brummelte sie. Entschuldigungen lagen ihr nicht.

»Ich sende Ihnen sofort eine neue. Und morgen schicke ich Ihnen selbstverständlich einen Monteur, der …«

»Tun Sie das.« Ohne ein weiteres Wort legte sie auf und warf einen kritischen Blick auf die Karte. Der Streifen wirkte ziemlich abgenutzt, die Karte war sicher schon tausendmal durchgezogen worden. Offenbar war das tatsächlich der Grund für das Versagen. Doch was, wenn sie nicht aus dem Büro kam, weil diese bescheuerte Sicherheitstür nicht wieder aufging?

Kurzerhand schnappte sie sich den Standascher und klemmte ihn zwischen die Flügel, bevor die Tür zugleiten konnte.

Wenn sie etwas hasste, dann eingesperrt zu sein.

Das betraf ihr Leben im Ganzen, weswegen sie sich weder an einen festen Partner gekettet noch mit Kindern belastet hatte. Und es betraf ihr Leben im Kleinen. Fahrstühle, Klokabinen, das Blockieren der Türen ihres BMW an der Ampel … all das bereitete ihr Panik. Seit einigen Wochen träumte sie immer öfter davon, eingeschlossen oder gefesselt zu sein und dann qualvoll zu ersticken. Vorgestern war eine handgroße Spinne auf ihr Gesicht gekrochen. Ihre haarigen Beine – über und über mit Sand verklebt – hatten sich im Traum direkt auf ihren Mund gesetzt. Dieses widerliche Vieh hatte ihr den Atem geraubt, und sie hatte sie nicht wegschlagen können, weil ihre Hände festgebunden …

Der Gedanke an den Traum ließ sie auch jetzt noch frösteln. Ihre Schreie hatten sogar ihren Nachbarn geweckt. In Boxershorts, das Haar vom Schlaf zerzaust, hatte er bei ihr geklopft und gefragt, ob er die Polizei rufen solle.

Der Ascher blockierte die Tür perfekt. Sie würde hier nicht eingesperrt werden.

Ihre High Heels klackten auf dem Marmor, als sie an einer Reihe übergroßer Schwarz-Weiß-Aufnahmen vorbeiging, die den Bau ihres Architekturbüros dokumentierten. Gestylte, kühle Aufnahmen der Bauabschnitte, die perfekt zum klaren Stil ihrer Arbeiten passten.

Sie schritt durch die noble Beratungsecke und steuerte ihren Schreibtisch an. Ihr Kompagnon war für eine Woche geschäftlich nach London geflogen, und sie freute sich auf den stillen Morgen allein im Büro. So konnte sie noch in aller Ruhe ihre Entwürfe für das Oceanum durchgehen, das Valandsiels Tourismus stärken sollte. Der Bau, der an der Promenade entstehen sollte, war eine echte Herzensangelegenheit für sie, und sie hatte sich ehrlich gefreut, als der Bürgermeister sie angesprochen hatte. Schließlich war sie hier in Valandsiel aufgewachsen und wollte dem kleinen Küstenort gerne etwas zurückgeben. Aus verschiedensten Gründen.

Anneke fuhr im Stehen ihren Laptop hoch, als sie mit einem Mal einen Blick auf ihrer Schulter spürte. Jemand stand hinter ihr und starrte sie an. Er …

Jäh fuhr sie herum.

Ihr Blick hastete über den Besprechungstisch, die offenen Regale mit Fachbüchern … Niemand. Kein Schatten. Sie war allein im Büro.

Trotzdem fröstelte sie erneut. Das Gefühl, angestarrt zu werden, wollte nicht weichen.

»Hallo?«

Ihr Ruf blieb unbeantwortet. Reglos horchte sie, doch außer dem Wind in den Kiefern und dem Gesang der Amseln war es vollkommen still.

Sie sah sich zum Windfang um, aber auch dort war niemand.

Verfluchte Sicherheitsanlage.

Anneke trat zögernd vor und warf einen schnellen Blick hinter das Regal und in die zwei dunkelsten Ecken.

»Sei nicht kindisch«, ermahnte sie sich und ließ den Blick dennoch durch die Scheiben gleiten. Ihr BMW parkte in der goldweißen Morgensonne.

Auch dort war niemand zu sehen. Nicht mal ein Schatten.

Sie war allein. Und endlich verflog das Gefühl, beobachtet zu werden. Routiniert breitete sie die Blaupausen auf dem Konferenztisch aus, ging zur Küchenzeile und bestückte die Kaffeemaschine.

Sie wollte gerade Wasser holen, als sie es sah.

Die Kanne rutschte ihr vor Schreck aus der Hand und zersprang. Scherben spritzten über den Marmorboden der Küchenecke.

Anneke sackte das Blut weg, der Anblick ließ sie erschaudern.

Auf dem Regal mit den Blechdosen voller Tee stand ein Türmchen. Es war nicht höher als eine Zigarettenschachtel. Ein Türmchen aus Sand.

Piet hat recht, schoss es ihr durch den Kopf. Raus! Du musst hier raus!

Instinktiv wich sie zurück, hastete zur Tür, zückte ihr Handy. »Geh schon ran, geh schon …«

Jemand hob ab.

»Erik?«, sagte sie.

»Ja? W-Was? … Hallo?« Die verschlafene Stimme eines Mannes.

»Piet hat recht! Erik?«

»Was? A-Anneke? Bist du das? Was … was ist denn los?«

Anneke stieß den Ascher beiseite und eilte im Laufschritt, so schnell es mit ihren hohen Schuhen ging, über den Kies zum BMW. Sie spürte ihr Herz rasen, traute sich nicht, sich umzudrehen und einen Blick über die Schulter zu werfen. »Er hat sich das nicht eingebildet!«

»H-hast du wieder schlecht geträumt? Piet ist paranoid. Beruhig dich.«

Im Laufen checkte sie den Wagen … leer. Niemand drin. Sie sprang hinein und zog hastig die Tür zu. »Hier war auch jemand!« Mit einem satten Klacken schloss sich die Zentralverriegelung. Doch lieber eingesperrt als ungeschützt.

»Wo? Was meinst du?«, fragte Erik.

»Wir müssen uns treffen und das …« Sie brach ab, denn in diesem Moment bemerkte sie ihn.

Händeweise war er auf dem Beifahrersitz verteilt, im Fußraum, selbst auf dem Armaturenbrett. Gelblich, fein, glitzernd.

Sand.

»Anneke?«

Panik ergriff sie. Sie fingerte nach ihrem Schlüssel, wollte die Zentralverriegelung wieder aufheben, wollte ins Freie und …

Da legten sich sandverkrustete Finger auf ihren Mund.

Finger, eklig wie die Beine der Spinne aus ihrem Traum. Sie wollte schreien, wollte um sich schlagen, spürte einen Stich im Oberschenkel. Der Unbekannte hatte ihr eine Spritze ins Bein gerammt. Sofort begannen ihre Kräfte zu schwinden. Sie wollte um sich schlagen, aber ihre Muskeln gehorchten ihr nicht mehr.

»Anneke? A-alles okay?«, dröhnte es überlaut aus ihrem Smartphone. Selbst das leise Rauschen der Bäume drang zu ihr in den Wagen und toste in ihren Ohren. Einfach alles fühlte sich viel zu intensiv an, die Spucke in ihrem Mund schmeckte brutal nach Nikotin, die Morgenluft im Auto roch abgestanden, das Knistern der Ledersitze glich Fernsehrauschen.

Und dann hörte sie das Flüstern, so laut, so unangenehm laut. »Sag ›Blinder Alarm‹. Sag, dass du dich später meldest.«

Sie wehrte sich dagegen, doch es gelang ihr nicht, Erik zu warnen. »Ohkeh alles. Blinda Alahm. Blihnda…«, brachte sie nuschelnd heraus, weil Zunge und Mund taub wurden.

Dann hatte die Sandhand ihr das Telefon aus den Fingern gezogen und aufgelegt.

Zur Regungslosigkeit verdammt, starrte sie geradeaus auf ihr Büro. Sie konnte nicht einmal mehr den Kopf bewegen. Sie war in ihrem eigenen Körper gefangen, spürte den Atem des Fremden an ihrem Ohr: »Aller Welt Feind, Anneke. Aller Welt Feind.«

2

Der Sheriffstern zitterte.

Der Knall des Revolvers war so laut, dass sich das billige Plastikspielzeug am Rückspiegel von Knut Jansens rostigem Landrover zu drehen begann.

Charakter, Integrität, Wissen, Ehre, Höflichkeit, Loyalität und Gerechtigkeit.

Die Tugenden eines Sheriffs.

Jeder Zacken eine Tugend.

Knut Jansens Sheriffstern besaß bloß sechs Zacken.

Sieben Tugenden, sechs Zacken.

Ein zweiter Schuss zerriss die Stille, scheuchte drei Dutzend Möwen auf und hallte zwischen den Autowracks wider. Über Radovskis Schrottplatz trieben Schäfchenwolken. Die Sonne war vor zehn Minuten untergegangen und tauchte den Himmel über dem Flutlicht in ein beeindruckendes Spiel aus Lila und Rot. Hoch oben kreisten die Möwen. Als sie vor einer halben Stunde angefangen hatten, waren Hunderte von ihnen aufgestoben. Knut mochte die Viecher nicht.

Er war sich sicher, dass der Knall in ganz Valandsiel und bis weit hinaus auf die Nordsee zu hören war, aber sie schossen jetzt seit Anfang Juli hier draußen, und bisher hatte sich keiner beschwert. Es war zu einem netten Ritual geworden. Immer wenn Knut und Veith ihren ehemaligen Kollegen Magnussen in der Reha besuchten, fuhren sie anstatt nach Hause noch auf den Schrottplatz, tranken ein paar Bierchen und versuchten auf bessere Gedanken zu kommen.

Seinem Kollegen dabei zuzusehen, wie er gegen seine Schmerzen focht und versuchte, zurück ins Leben zu kommen, nahm Knut jedes Mal ziemlich mit. Das Schlimmste war, dass der einstige Bodybuilder und kraftstrotzende Polizist, der erfahrenste in Knuts Revier, noch immer davon faselte, in den Dienst zurückzukehren – obwohl sie alle wussten, dass er wahrscheinlich für immer an den Rollstuhl gefesselt war.

Mit seinen Sneakers suchte Knut einen besseren Stand und legte den Trommelrevolver erneut auf die Bierflaschen an, die er mit seinem Kollegen auf der Motorhaube des VW Passat aufgereiht hatte.

Der zweite Schuss saß. Das .357-Geschoss zerscherbelte eine der Flaschen und krachte durch den rechten Vordersitz, um irgendwo im Schrottwagen stecken zu bleiben.

»Perniziös … Jetzt ich.« Veith kratzte seine zeigefingerlange Narbe am Hals. Knut wusste, dass Veith noch immer Schmerzen hatte. Zweimal am Tag trug er eine Salbe auf, aber es war die letzten drei Monate kaum besser geworden. Jetzt nahm er den Colt von Knut entgegen und schob sich die John-Lennon-Brille auf die Nasenspitze.

»Warst du schon mal verliebt?« Knut ließ sich in einen ausrangierten Sessel fallen.

»Willst du mich ablenken?«

»Ich?« Knut fingerte nach dem Sixpack, das sie an der einzigen Tankstelle Valandsiels gekauft hatten, und riss eine Flasche aus der Pappe. »Nein, das war ’ne ernste Frage. Echt, Veith.« Mit einem Schraubenzieher öffnete er ein Bier, hielt es Veith hin und musste bei dessen Anblick schmunzeln. Sein Freund hatte noch immer seine Polizeiuniform an, die Mütze war in den Nacken geschoben, sodass seine krausen schwarzen Haare hervorlugten, und die Krawatte hing über der Schulter. Warum auch immer, aber er brauchte seine Zunge zum Zielen.

»Bist du bescheuert? Natürlich war ich schon mal verliebt«, entgegnete Veith. »Du meinst unglücklich verliebt, richtig?«

Weil Veith das Bier nicht entgegennahm, trank Knut einen Schluck. »Ja. Und nicht den Mumm gehabt, es zu sagen. Das mein ich eigentlich.«

Veith brach das Zielen ab, um sich mit der Krawatte die Stirn abzutupfen. »Du sprichst von Helen. Tja, Knut, da fehlt dir zwingend ein ganzheitlicher Ansatz.«

»Ganzheitlich?«

»Tut mir leid, dir das sagen zu müssen, aber das Fehlen eines ganzheitlichen Ansatzes durchzieht dein komplettes Leben.« Wie um die trockene Feststellung zu unterstreichen, drückte Veith ab. »Nur das Postulat eines Freundes«, fügte er im Widerhall des Schusses hinzu.

»Danke … Echt nett, Veith. Baust mich voll auf. Hast du für Freund auch ein Fremdwort?«

»Bitte?«

Knut winkte ab.

Veith lud den Revolver nach, indem er einzeln die Patronen in die Trommel schob, und sagte mit tragender Stimme: »›Ist es nicht die wärmste Liebe, jene, die im Geheimen uns verzehrt mit ihres Herzens Hitze Glut?‹«

»Herzens Hitze Glut?«

»Müsst ich in meinen Büchern nachschlagen, wer das gesagt hat. Hab ich vergessen.«

»Ganz ehrlich? Ich find’s scheiße. Also, dass die beste Liebe die is’, die wir im Geheimen ausleben. Ich lieg jede Nacht da, starre auf Hendrix und krieg sie nicht aus dem Kopf. Das ist doch was für Sadisten.«

»Wenn schon für Masochisten … Oder, nein, eher für Melancholiker. Vielleicht bist du ja auch einer.«

»Wieso auch? Bist du ’n Melancholiker?«

»Klar. Und zwar mit Stolz.« Um ein Haar wäre Veith eine der Patronen in den Dreck gefallen. »Verdammt, du musst dir mal ’n Ladering anschaffen … Wie der Tod ist die Liebe einfach Teil des Menschen. Wir können sie also nicht aufgeben. Wir müssen lernen, mit ihr umzugehen. Mit der erwiderten und der unerwiderten Liebe. Beide Zustände können schwer sein.«

»Zustände? … Hm, na, die krieg ich auch bald. Also Led Zeppelin wirkt nicht wirklich gegen die unerwiderten Zustände.«

»Weil du Liebe mit Angst verbindest. Du hast keine Angst vor Helen, du hast Angst, Birthe zu verlieren.«

»Was? Quatsch.«

»Was geschieht, wenn Helen dir einen Korb gibt und Birthe das Ganze beendet, weil du Helen schöne Augen gemacht hast? Das ist dein Problem. Furcht vor dem Alleinsein und der doppelten Zurückweisung.«

Knut schloss die Augen. Seit Wochen bestand ihre Polizeiarbeit im Verteilen von Knöllchen, dem Schlichten von lähmenden Streitereien und der Aufnahme von bescheuerten Blechschäden. »Sind Sie sicher, dass Sie das polizeilich aufnehmen wollen?«, war die Standardfrage der letzten Monate und eine entlaufene Kuh, die es bis in den Yachthafen geschafft hatte, das Spannendste seit dem Sommer. Auch wenn Knut selbst den Gedanken abartig fand, aber er musste zugeben, dass ihn die Aufklärung der brutalen Mordserie vor dreieinhalb Monaten zutiefst befriedigt hatte. So verstörend der Fall auch gewesen war – den Täter zu stellen, endlich Anerkennung als Revierleiter zu erhalten und vor allem mit Helen zusammenzuarbeiten hatten eine Sehnsucht in ihm gestillt. Und seinen faden Polizeialltag danach umso zermürbender erscheinen lassen.

»Und was ist nun die philosophische … äh, Dings?«, nahm Knut das Gespräch wieder auf.

»Die Quintessenz …« Der Rückstoß ließ Veith wanken, die Bierflasche zersprang in tausend Stücke. »Du bist viel zu zersplittert. Du musst zu deinen Gefühlen stehen und endlich dein Leben aufräumen. Tabula rasa. Alles raus, was fault und nervt. Ganzheitlicher Ansatz.«

Knut ließ den Kommentar seines Kollegen sacken. Vielleicht war es wirklich an der Zeit, reinen Tisch zu machen. In Helens Anwesenheit kam er sich seit Wochen wie ein hormongesteuerter Sechzehnjähriger vor …

Der Dorfsheriff mit dem Zacken zu wenig.

»Hm … Mit Birthe Schluss machen? Ich weiß nich’ …«

»So viel zu Tabula rasa.«

Knurrend zog Knut für Veith ein weiteres Bier aus dem Sixpack. »Auf die Ganzheitlichkeit.« Er warf es ihm zu, als sein Funkgerät knackte.

»Knut? … Schatz?«, hörte er Birthes aufgeregte Stimme.

»Nenn mich nich’ immer …«, er brach ab. »Wir hören.«

»Hört auf zu ballern! Ihr müsst sofort zum Hauke-Haien-Weg kommen. Sofort.«

3

Das Erste, was Knut auffiel, waren die grellen Lichter. Die schrillen Schatten ließen den Asphaltweg, der sich direkt hinter den Dünen zwischen den Ferienhäusern der Anlage entlangzog, merkwürdig zucken, so als sei der Weg lebendig in der dunkelnden Nacht. Blaue und gelbe Halbschatten tanzten über die weiß getünchten Bretter der Ferienhäuser und die Gesichter der Feriengäste, die zum Gaffen gekommen waren. Diehls Blaulicht und die gelben Absperrlampen bildeten mit den Warnleuchten der zwei Rettungswagen und dem Einsatzfahrzeug der Freiwilligen Feuerwehr Valandsiels einen bunten Reigen.

Eine schlanke blonde Frau, die Knut auf Anfang dreißig schätzte, wurde zum Krankenwagen gerollt. Ihre Wangen wirkten trotz ihres Make-ups eingefallen, die Haut blass. Die Sanitäter hatten sie auf eine Liege geschnallt, aber sie schien keine Schmerzen zu haben. Sie trug keine Schuhe, und unter der Decke, die die Sanis ihr übergeworfen hatten, lugte Spitzenunterwäsche hervor. Vielleicht stand sie unter Drogen, denn sie antwortete den Männern nicht. Obwohl alle auf sie einsprachen, starrte sie stumpfsinnig durch sie hindurch. Als Knut an ihr vorbeiging, konnte er ihr in die Augen blicken und erschrak.

Wenn die Augen das Tor zur Seele sind, dann war hinter diesen Augen bloß Ödnis.

Beunruhigt sah er der Frau nach und wandte sich erst ab, als die Türen des Krankenwagens hinter ihr zugezogen wurden.

Diehl, der diesen Abend Streife fuhr, hatte direkt am Häuschen neben einem Cabrio und einem in die Jahre gekommenen Kombi geparkt, es aber anscheinend nicht für nötig befunden, das Blaulicht auszuschalten. Der dickliche Beamte mit dem schütteren Haar saß auf dem Fahrersitz, die Beine aus dem Streifenwagen gestreckt, und wurde von einem Sanitäter versorgt. Der hatte Diehls Hawaiihemd, das er anstatt seiner Uniform trug, hochgeschoben und checkte seinen Herzschlag.

»Alles klar bei dir? Diehl?«

Statt einer Antwort zeigte der Beamte mit einer fahrigen Geste zum Haus.

Während Veith ein paar Worte mit Diehl und dem Sanitäter wechselte, ging Knut hinüber.

Er spürte, wie er eine Gänsehaut bekam. Das Prickeln schlich seine Arme und den Rücken hinauf. Zu seiner Verwunderung war es nicht unangenehm, sondern fühlte sich irgendwie erfrischend an.

Es geht wieder los, dachte er, während er sich durch die erste Reihe junger Feuerwehrmänner schob. Sie versperrten die Treppe zur Veranda, rauchten und unterhielten sich über Belanglosigkeiten. Ihre Mienen verhießen jedoch nichts Gutes.

»Gibt’s hier was umsonst? Darf ich mal?« Knut zog seine speckige Basecap zurecht und bahnte sich einen Weg zum Eingang des Ferienhauses.

Es war hell erleuchtet. Hinter den zugezogenen Jalousien konnte er mindestens sechs Schatten ausmachen. Einen Augenblick lang musste er an eine Stehparty denken, nur dass die Männer in dem kleinen Holzhäuschen keine Biere in der Hand hielten.

Knut trat ein. Jäh spürte er die Hitze, die sich in der Bretterhütte gesammelt hatte. Es war kaum Platz, bloß ein Zimmer zum Wohnen, Schlafen und Essen. Schon nach zwei Atemzügen klebte ihm das Holzfällerhemd am Rücken.

»Hast du dich verfahren, Knut?«, knurrte sein Vater.

»Sehr witzig! Was machst du hier? Hör endlich auf, den Polizeifunk abzuhören, Thor.«

»Komm schon, ich kann dir helfen.« Auf Thor Jansens wettergegerbtem Gesicht zeichnete sich ein verschmitztes Lächeln ab. »Du warst ja mit Veith unterwegs. Ich war schneller hier.«

»Wir waren bei Magnussen im Krankenhaus und haben ein bisschen Frust auf dem Schrottplatz …« Knut brach ab. Wieso rechtfertigte er sich vor seinem Vater? Er spürte schlechte Laune in sich hochsteigen wie brackige Flut im Hafenbecken. »Wie oft soll ich dir noch sagen, du kannst nicht einfach bei unseren Einsätzen auftauchen? Verlass bitte den Tatort«, ermahnte er seinen Vater und nickte zur Tür.

Thor zupfte das Haarband zurecht, das seinen Pferdeschwanz hielt, rührte sich aber nicht von der Stelle. »Schau dir das erst mal an«, brummte er mit seiner sonoren Stimme und gab den Blick auf das Bett frei. Zumindest wollte er das, doch Knut sah bloß die Rücken der Feuerwehrleute und Sanitäter.

»Michael, Karl, Carsten … Geht mal bitte zur Seite«, forderte Knut alle auf. Ihre Stiefel ließen den Holzboden knarzen, als die Männer abzogen. Bloß sein Vater blieb stur, trat noch vor Knut ans Bett vor.

»Robert Jäger. Von den Docks«, erklärte er. »Verheiratet, eine Tochter. Tja, und ein amouröses Abenteuer.«

Unter der schwarzen Satinbettwäsche zeichnete sich ein stämmiger Körper ab.

Knut zog sich Handschuhe über. Draußen bellten zwei Hunde, und er meinte, die Brandung rauschen zu hören. Dann wurde ihm bewusst, dass es der Dünensand war, der gegen die Hütte wehte und dabei wie fernes Meeresrauschen klang.

»Die Frau ist nicht vernehmungsfähig. Hockte hier und starrte vor sich hin. Melanie Roth. Ich hab ihr Portemonnaie zu den Asservaten gelegt. Die fahren sie nach Husum in die Klinik. Sie wohnt in Goldelund.«

»Hab die Frau gesehen. Danke für die Amtsunterstützung, Herr Exrevierleiter«, ätzte Knut.

»Bitte sehr. Einmal Bulle, immer Bulle.«

Knut bedachte seinen fünfundsechzigjährigen Vater mit einem strafenden Blick. Zu Neujahr hatte Thor die Leitung von Valandsiels winzigem Polizeirevier seinem Sohn vermacht. Er hatte noch immer nicht genau durchschaut, wie es Thor gelungen war, ihn in den Chefstuhl zu hieven. Wahrscheinlich hatte der alte Knochen ein wenig Druck beim Bürgermeister ausgeübt, bei der Polizeidirektion gut Wetter gemacht … und schließlich war Knut mit 28 Jahren neuer Revierleiter geworden.

Er seufzte. »Das seh ich wirklich anders, Papa. Würdest du jetzt bitte … bitte …«, er suchte nach Worten, »surfen gehen oder zu deiner Freundin fahrn!«

Thor ließ die Aufforderung unkommentiert. »Die haben sich hier zum Vögeln getroffen, schönes Nümmerchen nach Feierabend. Das ging schon Monate, immer hier in dieser Hütte, die sie von Claas gemietet haben.«

»Und du hast natürlich den Belegungsplan für die Ferienhäuser bei Claas geholt und ihn befragt.«

»Nur kurz gesprochen. Glaubst du, der bleibt als Vermieter vor der Glotze sitzen, wenn die Feuerwehr und alle Sanis aus Valandsiel auf seinen Hof reiten?«

Knut spürte, wie er langsam wütend wurde. »Wer hat ihn zugedeckt?«

»Einer der Sanitäter, nehme ich an. Glaub ich. Kein schöner Anblick, Knut.«

»Scheiße noch mal! Wie viel habt ihr hier verändert?«

Nachdem er einmal Luft geholt hatte, schlug Knut die Decke beiseite.

Und bereute es sofort.

Zwar hatte Jäger die Augen geschlossen, doch sein Mund war grotesk verrenkt und zu einem stummen Schrei aufgerissen. Blut war ihm aus dem Mundwinkel gelaufen, hatte sein Kinn verschmiert und seine nackte Brust besudelt. Es glitzerte merkwürdig.

»Scheiße«, keuchte Knut und spürte die Hand seines Vaters auf seiner Schulter.

»Ich hätt auch fast gekotzt. Deck ihn wieder zu. Das macht das LKA.«

Knut nickte und deckte die Leiche zu. Dann zückte er sein Funkgerät. »Birthe?«

»Ja, Schatz.«

Knut hatte nicht gedacht, dass er so bald schon wieder das Landeskriminalamt zu Hilfe holen müsste. Er hätte bis zum Ende seiner Dienstzeit locker drauf verzichten können, Johann Maas noch einmal in seinem Revier begrüßen zu müssen. Aber was blieb ihm angesichts dieser Schweinerei übrig?

»Sag Maas Bescheid«, befahl er Birthe. »Der soll sich um die Kripo kümmern. Mir egal, wen der schickt.«

»Du klingst aber geladen, Schatz.«

»Lass es, okay? Ruf einfach Maas an.«

»Hab ich schon gemacht.«

»Ach?« Knut war überrascht.

»Dein Vater hat vorhin gesagt, dass es sich wohl um Mord …«

»Mein Vater?« Er erdolchte Thor mit einem Blick, doch der zuckte nur die Schultern. Knut wandte sich wieder an Birthe. »Gut … und noch was.«

»Ja?«

»Helen. Ich will Helen hier haben.«

»Helen …« Ihre Ablehnung war nicht zu überhören. »Komm schon. Warum willst du …?«

»Ruf sie an«, unterbrach er sie barsch. »Sofort. Tut mir leid, aber ich brauch sie hier.«

Einen Moment war es still. »Is’ gut«, hörte er Birthe sagen, und weil sie die Sprechtaste nicht schnell genug losließ, rauschte ihm ein »Kann ich mir denken« entgegen.

Wenn es tatsächlich einen weiteren Mord in Valandsiel gab und er Maas ertragen musste, wollte er auf jeden Fall wieder Helen an seiner Seite wissen.

Knut griff noch einmal nach der Decke, und obwohl sein Vater ihn warnte, schlug er sie ein zweites Mal beiseite. Diesmal hielt er dem Anblick länger stand. »Was ist das da in seinem Mund?«

Irgendetwas schimmerte auf der Zunge des Toten, füllte seinen Mund aus. Knut rückte ein wenig vor und beugte sich tief über Jägers Leiche.

»Lass das die Jungs von der Soko machen«, sagte Thor, aber Knut hörte nicht hin. Er spürte das Adrenalin durch seinen Körper schießen. Es spülte all die belanglosen Einsätze der letzten Wochen hinweg. Auch wenn er es sich niemals eingestehen würde, aber das Gefühl tat gut. Er hatte das Kribbeln vermisst, und außerdem war er einfach zu neugierig.

»Gleich …« Er zupfte den Kugelschreiber von seinem Notizbüchlein. Sein Magen verkrampfte sich, und aus dem wohligen Kribbeln wurde ein Ziehen. Er musste sich anstrengen, sich nicht zu übergeben, als er mit dem Kugelschreiber ganz vorsichtig in Jägers Mund fuhr.

Am Kuli blieb kein Blut haften, sondern etwas Funkelndes. Winzige Körnchen.

In dem Moment sackte Jägers Kopf zur Seite. Es sah aus, als erbreche er sich in Zeitlupe. Mehr und mehr von dem Zeug rieselte dem Toten zwischen den Lippen hervor. Es floss Jäger staubtrocken aus dem Mund und über seinen Bauch auf die schwarze Bettdecke.

Sand.

4

Helen Henning erwachte. Wie jeden Morgen ließ sie ihre Hand auf die andere Bettseite wandern, um ihn zu spüren. Doch sie strich bloß über kühlen Satin. Sie rollte sich herum und stellte verwundert fest, dass er schon unterwegs war. Das war nicht ungewöhnlich, aber er hatte ihr davon nichts gesagt. Wahrscheinlich wieder irgendein panischer Villenverkäufer im Rainier Valley, am Spring Beach oder in Bellevue.

Gähnend stand sie auf und streckte sich. Ihre Zehen gruben sich in den flauschigen, mollig warmen Teppich. Ein Loblied auf die Fußbodenheizung. Der Digitalwecker zeigte 4:30. Die Sonne würde erst in einigen Stunden aufgehen, dennoch war der Ausblick aus dem 26. Stock des luxuriösen Hochhauses atemberaubend.

Sie hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, sich bei einem Kaffee vor eine der Panoramascheiben zu stellen und auf Seattle hinabzublicken, auf den Pike Place Fish Market und dann hinaus auf die Elliot Bay, wo die Fähren ein und aus fuhren. Es war faszinierend, dem Treiben dort unten zuzusehen.

Heute war sie jedoch zu angespannt für einen Kaffee und ein wenig Besinnlichkeit. Sie duschte kurz, zog dann ihre Arbeitsjeans und die dünne beigefarbene Bluse an. Eigentlich mochte sie die Farbe nicht, aber wie sie durch zig Einsätze herausgefunden hatte, scheuerte die Kevlarweste bei ihr am wenigsten.

Das Frühstück ließ sie ausfallen, zerlegte am Küchentisch fachmännisch ihre Dienstwaffe, sah zu, dass alles gereinigt und intakt war, und baute die Pistole routiniert wieder zusammen. Als Profilerin des FBI hatte sie zwar wenig Schusserfahrung, aber dennoch etliche Tage auf Übungsplätzen verbracht. Erst als sie den Autoschlüssel nahm, bemerkte sie seine Notiz auf dem Marmor des Küchenblocks.

Kurioserweise hatte er ihr ein paar Worte auf einem Rezeptblock hinterlassen. Überrascht stellte sie fest, dass es ein Block war, wie ihn deutsche Ärzte verwendeten.

Verwundert hob sie ihn hoch und musterte die Schrift. Es sah aus, als habe er die Worte mit dem Finger hingekritzelt.

Die Zeile war mit Blut geschrieben.

Some say the world will end in fire.

Schlagartig überkam sie Angst. Das Gefühl war augenblicklich da, ohne Vorwarnung. Ihr Herz trommelte urplötzlich los, sie begann zu schwitzen, spürte, wie ihre Augen ihr nicht mehr gehorchen wollten, ständig zur Seite wanderten, prüfend, abcheckend, lauernd, obwohl sie sich konzentrieren wollte.

Wieso hatte er mit Blut …?

Sie zwang sich zur Ruhe. Ihr Hals wurde so trocken, dass ihr das Schlucken schwerfiel. Endlich zog sie ihre Pistole aus dem Halfter, brachte ihren Atem unter Kontrolle und sah sich im Apartment um. Alles schien wie immer, bloß das Licht aus einem der Deckenfluter flackerte. Aus der offenen Küche hatte sie einen guten Blick ins Wohnzimmer und durch die Schiebetür auf ihr Bett. Alles ruhig. Niemand war hier. Warum hatte er …

Als sie sich seine Nachricht ein zweites Mal ansehen wollte, fiel ihr Blick auf ihre Füße. Sie hätte schwören können, bereits die schwarzen Polizeistiefel übergestreift zu haben, doch ihre Füße steckten in Biene-Maja-Socken. Kindersocken, die sie das letzte Mal in Valandsiel getragen hatte. Kaum starrte sie hinab auf ihre Füße, wurde der Teppich wärmer. Die Fußbodenheizung musste einen Defekt haben … Die Wärme wurde zu Hitze.

Mit einem Mal fielen alle Deckenfluter gleichzeitig aus. Überrascht schrie sie auf, als Dunkelheit sie umfing. Bloß der Teppich glomm eigentümlich unter ihren Füßen, die vor Hitze zu schmerzen begannen. Und mit einem Mal, mit einem Mal begann der Teppich zu brennen.

Flammen züngelten zwischen den Fasern hervor, das Ding wurde lavarot, und sie spürte das Feuer, spürte, wie es ihre Füße fraß, wie es ihre Zehen zu Asche werden ließ und im Bruchteil einer Sekunde ihren rechten Fuß verschlang, gierig hochzüngelte, bis zum Unterschenkel, und sie schrie und stürzte dem Feuer entgegen, lag auf dem Rücken und schrie.

Bitch.

Some say the world will end in fire.

Und das Feuer reißt ihren schwarzen Unterschenkel fort, er fliegt in einem Aschregen davon. Und sie zieht sich schreiend über den Lavaboden und zwischen glänzenden Schneekugeln hindurch, die wie Murmeln eines wahnsinnigen Riesen in dieser Luxussuite verteilt …

Helen erwachte vom Klirren der Kugeln und bemerkte, dass sie in ihrem Jugendbett unter den Starschnitten von Whitney Houston lag. Ihre Glock 22 war ihr vom Bauch gerutscht und zwischen die Glaskugeln gefallen, die sie heute Morgen zusammengerafft hatte, um sie einzupacken.

Unten klingelte jemand Sturm.

Fluchend kam sie hoch, schwang erst ihr linkes, dann ihr rechtes Bein über die Kante. Ihr rechtes Bein fehlte ab Mitte des Unterschenkels.

Nimm’s mit Humor, Helen. Du stehst jeden Tag mit dem linken Fuß auf. Haha.

Sie klaubte ihre Glock vom Fußboden und warf einen Blick auf ihr Smartphone. Es kam ihr vor, als sei es mitten in der Nacht, aber es war erst kurz vor neun Uhr abends.

»Wer ist da?«, rief sie. »Was wollen Sie?«

»Hallo?«, hörte sie die gedämpfte Stimme eines Mannes. »Frau Henning, Helen Henning? Ich habe einen Gerichtsbeschluss zur persönlichen Zustellung!«

Fluchend hüpfte sie mit einem geübten Sprung zum Schreibtisch, auf dem im Mondlicht ihre Unterbeinprothese lag. »Ich komme. Moment!« Sie zog sich den Liner über den Stumpf und setzte routiniert die Prothese an. Dann schlüpfte sie in ihre Hose. Ohne etwas drunterzuziehen, streifte sie sich ihren Kapuzenpulli schnell über den nackten Oberkörper.

Seit sie vor drei Monaten in das Haus ihres Vaters eingezogen war, hatte sie nicht den Mut gefasst, etwas zu verändern. Ihr Jugendzimmer sah noch immer so aus, wie sie es im Juni vorgefunden hatte. Eigentlich so, wie sie es vor zwanzig Jahren verlassen hatte. Ihr Vater hatte lediglich einen PC hineingestellt.

Schnell steckte sie die Glock in ihren Jeansbund und hetzte, ohne Licht anzumachen, die Treppe hinab ins Erdgeschoss.

Statt zur Haustür zu gehen, trat sie erst einmal in die Küche.

Der Traum hatte sie aufgewühlt und ermahnt, wachsam zu bleiben.

Immerhin war es ihr Job, Fremde abzuschätzen, und vom Küchenfenster konnte man, wenn auch schlecht, die Haustür einsehen. Ein hagerer Mann wartete vor ihrer Tür, Aktenkoffer, Hemd, abgetretene Halbschuhe. Im spärlichen Licht war sein Alter schwer zu schätzen. Irgendwas zwischen 50 und 60 Jahren. Helen suchte nach Tells, nach Anzeichen seiner Körpersprache, die die wirklichen Beweggründe des Fremden verrieten.

Seine Haare schimmerten, aber ob es Pomade oder Schweiß war, konnte sie nicht sagen. Seine Krawatte war dezent, eine Spur zu breit und unmodern, was darauf schließen ließ, dass er entweder Single war – niemand beriet ihn – oder aber gewöhnlich keine Krawatten trug.

Er wischte sich mit einem gewöhnlichen Taschentuch den Nacken, hielt die Schultern gesenkt und ließ den Blick mit einem extremen Gähnen über die Anker schweifen, die Helens Vater zur Verschönerung in den Vorgarten gelegt hatte.

Schwer zu sagen, ob der Mann wirklich vom Gericht geschickt worden war. So schräg durch das Fenster, im Mondlicht, konnte sie ihn kaum einschätzen. Außerdem kannte sie sein Normalverhalten nicht und wusste außerdem nicht, ob er vom Sport, vom Sex oder einer schweren Entscheidung im Büro kam. Wie emotional vorbelastet war er hergefahren? Allerdings wirkte das Gähnen nicht so, als sei er müde. Beim Gähnen holt man nicht nur Luft, wusste Helen, sondern es bildet sich auch Speichel, und der Mund wird befeuchtet.

»Du gähnst aus Stress«, stellte sie fest. »Nicht gut.« Der Stand seiner Füße war ihr eine Spur zu breitbeinig. Das drückte territoriale Ansprüche aus und wirkte irgendwie unpassend. Er rieb sich ziemlich nervös mit dem Handrücken über die Wange, hielt die Hand dabei zur Faust, was als Beruhigungsgeste gemeint sein konnte, aber gleichzeitig von unterschwelliger Aggressivität zeugte. Kam es von der Warterei? War er deswegen gestresst und dabei, wütend zu werden – oder bereitete er sich auf das vor, was er mit ihr vorhatte?

Schätzchen! Helen!

»Frau Henning!«, rief er und klingelte erneut. »Machen Sie schon auf.«

Helen sah kurz zur Straße. Hinter ihrem zehn Jahre alten Mercedes, den sie sich beim örtlichen Gebrauchtwagenhändler gekauft hatte, parkte ein blauer Japaner, dessen Seite zerschrammt war und der so gar nicht zu einem Gerichtsbeamten passen wollte.

Helen versuchte, jemanden im Wageninnern zu erkennen, einen zweiten oder dritten Mann, doch das Auto schien in Ordnung.

Kunststück, Helen. Da drin ist es stockfinster. Er kann vier Schläger mitgebracht haben, die sich schmutzige Witze erzählen und dich anstarren – du würdest von hier aus niemanden erkennen.

Schätzchen, du wirst langsam echt paranoid.

Sie legte die Pistole griffbereit vor sich auf die Küchenanrichte. »Zeigen Sie mir Ihren Ausweis«, rief sie nach draußen. Ihre laute und befehlende Stimme ließ ihn zusammenzucken. Endlich sah er zu ihr.

»Ach! Da sind Sie. Haben Sie mich erschreckt.« Ohne zu zögern, kam er ihrer Aufforderung nach. Der Ausweis wirkte echt.

»Zeigen Sie mir Ihre Arme.«

»Wie bitte?«

»Arme. Krempeln Sie Ihr Hemd hoch.«

Obwohl er nicht verstand, was sie damit bezweckte, tat er es.

»Die Schulter bitte. Rechts … Gut. Links auch.«

»Hören Sie …«

»Tut mir leid«, meinte sie. »Bitte tun Sie’s einfach.«

Er öffnete zwei Knöpfe seines Hemds und lüpfte seinen Kragen, sodass sie seine Haut sehen konnte.

Immerhin trug er keine Tattoos. Helen steckte die Pistole wieder ein.

»Finden Sie das irgendwie … lustig?«, beschwerte er sich brummelnd und richtete sein Hemd. »Tut mir leid, dass ich Sie so spät störe, Frau Henning. Ich komme vom Gericht aus Niebüll. Wenn Sie jetzt so nett wären?« Er nickte zur Tür. »Sie müssen etwas unterschreiben. Sonst muss ich die Polizei hinzuziehen.«

»Sekunde.« Helen ahnte, weswegen der Mann gekommen war. Sie prüfte noch den Sitz der Glock im Jeansbund, dann schritt sie durch das dunkle Wohnzimmer und den Flur zur Haustür.

»Kommen Sie rein«, sagte sie, nachdem sie geöffnet hatte.

»Danke.« Noch einmal wischte er sich den Schweiß von der Stirn, dann trat er ein.

Sie wollte die Tür schließen, als sie unweit ihres Wagens ein Motorrad sah. Ein bulliger Mann hatte seine Maschine aufgebockt und rauchte. Sie konnte sein Gesicht nicht erkennen, weil er einen Helm trug und den Blick auf ein Handy gesenkt hatte.

Helen fröstelte.

»Können wir anfangen, Frau Henning? … Alles in Ordnung?«, riss sie der Mann aus den Gedanken.

»Was? Natürlich«, entgegnete sie. In diesem Moment trat eine Frau aus den Schatten, umarmte den Motorradfahrer, und beide stiegen auf.

Fehlalarm.

Fehlalarm? Schätzchen, ich nehm das zurück. Du wirst nicht paranoid, du bist es schon.

Some say the world will end in fire.

Helen schüttelte ihren Traum ab und setzte ein Lächeln auf. »Wo ist der Stift? Wo muss ich unterschreiben, dass ich wieder ausziehe?«

5

Stille hatte sich über den Hauke-Haien-Weg gelegt. Die grellen Schatten hatten sich mit den Fahrzeugen verkrochen, und nun legte sich vom Land her die Nacht über die Ferienanlage. Sie brach nicht herein, sondern stieg zwischen den Ferienhäusern und Zeltplätzen an, so wie Wasser aus dem Watt steigt.

Das letzte Sonnenlicht war mittlerweile versiegt, und der Wind blies in steifen Böen Dünensand über den Weg. Im Mondlicht sah es aus wie seltsame Schlangen, die sich über den brüchigen Asphalt wanden.

Es hatte lange gedauert, bis alle Feuerwehrleute abgezogen, die Sanitäter eingepackt und Knut auch seinen Vater hatte überzeugen können, endlich nach Hause zu fahren. Er hatte seinem alten Herrn tatsächlich mit einer Anzeige gedroht, bevor Thor eingeschnappt gegangen war.

Jägers Geliebte, Melanie Roth, war nicht nach Husum, sondern in die Teleportalklinik vor Ort gekommen, und Knut hatte den Seelsorger Christian Jørgensen angerufen, der das Jugendzentrum am Hafen betrieb und gewöhnlich Opfer von häuslicher Gewalt betreute. Er hatte ihn gebeten, sich vorerst um die junge Frau zu kümmern, zumindest bis die Kriminalpolizei einen erfahrenen Psychologen stellen konnte. Melanie Roth war bisher nicht vernehmungsfähig, wie Knut von der Klinikleitung erfahren hatte, aber er hoffte, ihr morgen ein paar Antworten entlocken zu können.

»Alles gut bei dir, Diehl?«, wollte Knut wissen und reichte Veith das Flatterband, dessen lautes Knattern das Rauschen des Windes übertönte.

»Alles bestens«, erwiderte der Beamte. Sich die Bauchhaare durchs Hemd kratzend, lehnte er am Kotflügel des Polizeiwagens und sah Veith und Knut dabei zu, wie sie das Plastikband rund ums Haus spannten. Er griff nach einer Wasserflasche und spülte sich den Mund aus, spuckte alles auf die Straße. »Das is’ ’ne verdammte Scheiße, is’ das. Ihm Sand in den Mund zu stopfen.«

»Wem sagst du das.« Knut wickelte das Ende des Flatterbands um ein Straßenschild und betrachtete ihr Werk. Sie hatten alles zum Festknoten benutzt, was sie finden konnten. Straßenschild, Hecke, Briefkasten und die Verandapfeiler. Irgendwie wirkte die Hütte nun, als sei sie verletzt, und eine Horde Stümperärzte hätten versucht, ihr einen Verband anzulegen.

»Deine Beraterin kommt.« Diehl zeigte mit der Wasserflasche den Weg hinunter, auf dem sich ein in die Jahre gekommener Mercedes näherte.

Helen hielt neben Knuts Landrover. Er registrierte sofort die Sporttasche auf dem Beifahrersitz, und auf der Rückbank lag neben Aktenordnern und zwei Paar Schuhen ein Reisekoffer.

Knut wollte sie begrüßen, ihr die Tür öffnen, aber sie fluchte derart laut, dass er lieber wartete, bis sie ausgestiegen war.

»No! That’s your problem! Send my fucking container. Now! Yes! … Bye!« Sie riss sich ihr Headset ab, warf es aufs Armaturenbrett und öffnete.

»Hi«, grüßte sie stinklaunig in die Runde und knallte die Tür zu.

»’n Abend, Frau Henning«, setzte Knut an. »Tut mir leid, wenn ich Sie … ähm … gestört habe …«

Helen winkte ab. Sie atmete ein paarmal hörbar durch, um runterzukommen.

In den letzten Monaten hatten sich Knut und Helen öfter auf einen Wein und ein zimmerwarmes Bier getroffen. Nicht privat, aber sie war immerhin zu fast allen seinen Auftritten ins Dock-5 gekommen. Vor allem aber hatte sie ihm Halt bei den Krankenhausbesuchen gegeben, wenn er mal wieder zu Magnussen in die Reha fuhr. Der Zustand von Knuts Kollegen besserte sich stetig, auch wenn Magnussen wahrscheinlich nie wieder würde laufen können und über 30 Prozent seiner Haut verbrannt waren.

»Jedenfalls schön, dass Sie kommen konnten.« Knut ging vor zum Haus. »Probleme? Immer noch die Erbschaft?«

»Das Amtsgericht hat mich vor ’ner Stunde vor die Tür gesetzt. Und diese bescheuerte Reederei hat meinen Container noch immer nicht verschifft.« Auf Knuts fragenden Blick hin fügte sie an: »In Seattle. Meine Sachen. Irgendwas ist mit den Zollpapieren. Irgendwas ist seit drei Monaten mit meinen Papieren.«

Er hielt ihr das Absperrband hoch. »Hm. Also, ich kenn da wen beim Zoll, bestimmt kann der …«

»Danke. Ich habe bereits einen Anwalt hinzugezogen.« Sie wischte sein Angebot beiseite und streifte sich die Kapuze ihres Pullis vom Kopf. Es war bloß eine kleine Geste, und wahrscheinlich hätte die FBI-Expertin für Kinesik viel besser beschreiben können, was passierte, aber für Knut blieb einen Moment lang die Zeit stehen. Als sie die Kapuze nach hinten strich, kam ihr blondes Haar zum Vorschein, umrahmte ihr strenges Gesicht und schimmerte im Mondlicht. Und er musste an Veith und seinen philosophischen Tinnef denken und stellte exakt in diesem Augenblick, das Flatterband in der Hand und Helen vor Augen, eines fest: Ich bin ein masochistischer Melancholiker.

Mit ihrem typischen wiegenden Schritt nahm sie die Stufen zur Ferienhütte. »Verdammter Container. Vielleicht sollte er da drüben einfach für immer versauern.«

Er verkniff sich einen Kommentar.

»Lassen Sie uns reingehen.«

»Ich hatte schon so ’n ungutes Gefühl, als ich hergefahren bin.« Er öffnete ihr. »Aber als ich dann das gesehen habe … Das ist so strange, das ist was für Sie. Hab ich gedacht.«

»Strange?«

»Ja, ziemlich seltsam. Also, ein bisschen Fachberatung könnte nicht schaden.«

»Maas?«

Knapper hätte sie nicht fragen können. »Der ist eingeschaltet. Hab’s ihm überlassen, ob er selbst kommt oder die Kripo aus Husum schickt. So oder so find ich’s besser, selbst ’n paar Infos zu kriegen. Also so außerbehördlich, mein ich. Das wär jedenfalls sehr nett.«

»Schon gut. Sagten Sie ja bereits.« Sie schenkte ihm ein Lächeln. »Ich helfe gern. Dann komme ich auf andere Gedanken.«

Mittlerweile war die Schwüle aus der Ferienhütte gewichen. Er wollte ihr sofort die Leiche zeigen, aber Helen bestand darauf, sich erst ein Bild vom Tatort zu machen, und fragte, was er und seine Kollegen in der Zwischenzeit herausbekommen hätten.

Leider war das so gut wie gar nichts. »Wir wissen nicht mal, wie er reingekommen ist.«

Gemeinsam sahen sie sich die Fenster an, konnten aber keine Hebelspuren finden.

»Und die Tür?«, fragte Helen.

»Da haben wir auch keine Spuren eines gewaltsamen Eindringens gefunden. Entweder war sie offen, oder …«

»… oder er hatte einen Schlüssel?« Grübelnd sah sich Helen zu den Fenstern und der Tür um, dann zum Bett, maß mit dem Blick die Strecke ab. »Das sind doch höchsten fünfzehn Fuß.«

»Was? Ach so. Vier Meter, so ungefähr.«

»Und er lag im Bett? Ist nicht aufgesprungen, keine Kampfspuren?«

Knut bejahte.

»Auf die kurze Distanz muss er den Mörder doch reinkommen gehört haben. Man sieht die Tür sogar vom Bett aus.«

»Ja.«

Stirnrunzelnd verfolgte Helen den Weg von der Tür zum Bett, schien im Kopf alles genau durchzugehen und nachzuzeichnen. Schließlich meinte sie: »Er hat sich hier versteckt. Er ist reingekommen, vielleicht schon Stunden vorher, und hat sich hier irgendwo versteckt. Er muss mit wenigen Schritten und ganz plötzlich bei seinem Opfer gewesen sein.« Sie begann den Raum abzusuchen, während sich Knut sofort hinkniete und mit seiner Taschenlampe unters Bett leuchtete.

»Und?«, wollte sie wissen.

»Sieht nicht so aus. Hier ist nur Staub. Keine Spuren.«

Nachdem sie sich ein paar Taschentücher genommen hatte, griff Helen nach dem Knauf des Kleiderschranks und zog ihn auf. Er war leer. Drei Kleiderbügel baumelten trostlos vor sich hin. »Taschenlampe«, forderte sie Knut auf.

Die beiden streckten ihren Kopf in den Schrank, und Helen ließ den Lichtkegel über das Holz und den Boden gleiten.

»Könnten Sie mal?« Sie streckte ihm die Hand hin, damit er ihr half, sich auf die Knie hinunterzulassen. Im Schein der Lampe konnte sie eindeutig Sand erkennen, der auf die Bodenplatte gerieselt war. In ihm zeichneten sich Spuren ab. Sicher von Schuhen, wenngleich kein Profilabdruck zu erkennen war. Wahrscheinlich würde die Forensik den kompletten Schrank ins Labor bringen.

»Das war lange geplant«, stellte Helen fest.

»Versteh ich nicht. Er versteckt sich im Schrank?«

»Was kann man daran nicht verstehen? Er ist hier rein, hat sich versteckt, und dann hat er zugeschlagen. Gezielt. Er hat sich das ganz genau überlegt und sicher tagelang vorbereitet.«

»Nee. Kapier ich immer noch nich’.« Knut kratzte sich unter der Basecap. »Wenn es lang geplant war, warum hat er den Mann nicht gleich umgebracht, ich meine, als Robert Jäger noch allein war? Frau Roth wird kaum nur im Negligé hergefahren sein.«

Helen stutzte. »Was soll das heißen? Sie ist nicht in die Ferienwohnung gekommen und hat ihn tot aufgefunden? Sie war hier, als es passierte?«

»Denke ich doch. Sie hat sich hübsch gemacht für ihn. Er liegt im Bett, sie ist im Bad. Wir haben ihren Schmuck gefunden. Kondome. Sie zieht sich um, redet vielleicht noch mit ihm, dann kommt sie ins Zimmer. Und zack. Er ist tot. Der Mörder muss währenddessen …« Knut hielt inne, denn er konnte förmlich spüren, wie sich alles in Helen verkrampfte. Sie blickte ihn an, als habe er seinen Revolver auf sie gerichtet.

»Was?«, fragte er, aber sie stoppte ihn sofort mit einer Geste.

Mit einem Mal war alles ruhig. Da waren weder die Stimmen von Veith und Diehl noch das Knarzen ihrer Schritte auf dem Dielenboden zu hören. Bloß das Knattern des Flatterbands zerhackte die Stille. »Aha. Das ist interessant«, sagte Helen plötzlich extra laut. »Wenn eine zweite Person vor Ort war, war die Tat vielleicht doch spontan und nicht geplant.«

Er hatte noch immer nicht begriffen, was los war. Sie bedeutete ihm, absolut still zu sein. Ihre Lippen formten einen Satz: »Er ist hier!«

Endlich fiel auch bei Knut der Groschen.

»Nicht geplant? Aha. Na, dass Sie sich mal nicht irren«, spielte er ihr Spielchen mit. »Obwohl … wenn’s geplant gewesen wäre, hätte er gewusst, dass Jägers Geliebte jeden Moment kommt …«

»Meine Waffe ist im Wagen. Haben Sie Ihre?«, flüsterte sie, wobei sie so nah stand, dass er ihr Parfüm riechen konnte.

»Was ist mit der Leiche, Frau Henning?«, fragte er laut. »Wollen Sie die jetzt sehen?« Leise zog Knut seinen Revolver. »Sofort«, hauchte er und fingerte ein paar Patronen aus seiner Jeans. Behände lud er nach, während sie zum Schrank nickte.

»Ja. Gute Idee«, sagte sie, trat aber statt zum Toten möglichst leise erneut zum Schrank. Die Bodenplatte mit den Sandspuren maß 60 mal 80 Zentimeter. Knut ahnte, was kommen würde. Er spürte seinen Herzschlag in den Ohren, hörte das Knarzen der Bretter, das Knallen des Flatterbandes und das Rauschen des Sandes. Behutsam kniete er sich hin.

»Ich war nicht sofort am Tatort. Mein Vater war schneller«, sagte er laut, nur um irgendwas zu sagen. Langsam griff er nach der Bodenplatte. Als er sich umblickte, bemerkte er, dass Helen drauf und dran war, aus der Hütte zu schleichen. Sie hatten nur eine Waffe, und die hielt er.

»Ihr Vater?«, polterte sie.

»Bleiben Sie hier«, zischte er leise. »Sie sind unbewaffnet. Der sieht’s doch sofort, wenn Sie die Treppe runtergehen …«

Sie hielt inne, nickte und stellte sich ans Fenster. Er sah, wie sie mit der Taschenlampe nach draußen blinkte, um Diehl und Veith auf sich aufmerksam zu machen. Gute Idee, dachte Knut. Sehr gute Idee.

»Ich habe nichts berührt, nur mit einem Kuli«, fuhr er laut fort. »… Also, da hab ich was von dem Blut hochgenommen.«

Das Überraschungsmoment ist auf unserer Seite, dachte Knut. Er hielt es nicht mehr aus, untätig zu bleiben. Je länger sie dieses Theater aufführten, desto wahrscheinlicher würde der Täter es durchschauen und fliehen. Er bedachte sie mit einem fragenden Blick.

»Die beiden kommen«, hauchte sie leise.

»Okay«, flüsterte er. »Auf drei.«

»Nein. Noch nicht.«

Aber er zählte schon. »Eins …« Die Platte gab nach. Er hob sie Millimeter für Millimeter an, darunter war Sand zu sehen. Der Sand unter der Hütte. Die Bodenbretter der Hütte waren durchsägt worden und …

»Zwei …« Noch einen Zentimeter, nachfassen, die Platte ganz wegreißen …

»Drei!«

Ein Schatten. Etwas raschelte, es ging blitzschnell. Eine Gestalt. Unter dem Haus!

»Polizei Valandsiel!« Knut versuchte zu zielen, aber der Schatten war bereits irgendwo unter ihnen, wenn nicht schon ein ganzes Stück weiter. Der Typ zwängte sich unter dem halben Meter durch, der unter der Hütte Platz war.

»Scheiße!« Fluchend schätzte Knut ab: Da runter? Dem Schatten nach? Oder außen rum? Er sprang auf, sah, dass Helen bereits die Haustür aufgerissen und die vier Verandastufen hinabgesprungen war. Veith und Diehl, die fragend aufs Haus zugekommen waren, starrten ihr hinterher.

Knut lief ihr nach draußen nach. »Ums Haus!«, rief er seinen Kollegen zu. »Flieht! Hinten!«

Bevor Veith und Diehl sich aus ihrer Starre lösten, war er bereits an den beiden vorbei, sah den tanzenden Kegel von Helens Taschenlampe vor sich, auf und ab. Sie hatte die Hinterseite erreicht.

»Stop! Lie down«, hörte er sie rufen. »OC PAC! LIE DOWN!«

Verdammte Scheiße, schoss es ihm durch den Kopf, als er die erste Düne erreichte. Sie hatte keine Waffe. »Helen!«, rief er ihr nach. »Heeeelen!«

Aber sie war bereits hinter dem ersten Dünenkamm verschwunden. Das Licht aus der Taschenlampe zerschnitt die Finsternis. Es sah nicht danach aus, als habe sie die Verfolgung abgebrochen. Sand stob ihm entgegen, stach in seine Wangen und Augen.

Hinter sich hörte er Veith und ein Stück weiter zurück Diehl. Sie riefen irgendwas, er erreichte die Kuppe und lief und stürzte und taumelte den Sand hinab. Beinahe wäre er gefallen.

Er wusste, dass hier, nördlich der Werften von Valandsiel, die Dünenreihen nicht sehr breit waren, drei, vier Sandberge, dann kam der Strand. Das Meer. Keine Fluchtmöglichkeit.

Endlich. Ein Trampelpfad. Dünengras. Besserer Halt. Mit einem Sprung war er drauf, rannte hinauf.

»Knut, was ist denn?« Veith war zwei Schritte hinter ihm. Diehl hatten sie wahrscheinlich verloren. Veith, der eher wie ein Hering aussah, war sehr viel sportlicher. Er hatte seine Sig P6 gezogen.

»Flieht«, brachte Knut hervor. »Helen – Verfolgung.« Dann hatte er die nächste Dünenkuppe erreicht.

Abrupt blieb er stehen.

Vor ihm, keine zehn Meter den Sandhang hinab, lag Helen. Sie fluchte, leuchtete rechts und links mit der Taschenlampe. Das Dünengras und der aufgewirbelte Sand sahen gespenstisch aus.

Sofort stürzte Knut zu ihr, versuchte einzuschätzen, ob sie verletzt, ob sie angegriffen worden war. »Alles okay?«

»Da lang … Da!«, rief sie, anstatt zu antworten, und zeigte hektisch mit der Lampe in die Nacht.

Ihr rechtes Unterbein lag neben ihr im Sand. Knut lief dran vorbei, wissend, dass ihr nichts geschehen war. Es war bloß die Prothese, die ihr anscheinend vom Stumpf gerissen war.

Er erreichte gleichzeitig mit Veith die nächste Dünenkuppe. Mit einem Mal standen sie im absolut Freien. Ein ganzes Stück unter ihnen erstreckte sich der Strand, 50 Meter bis zum Meer, das im Sternenlicht glitzernd vor ihnen lag.

Nach Luft hechelnd blieben die beiden stehen und sahen sich um.