Der Jutekönig von Braunschweig - Thomas Ostwald - E-Book

Der Jutekönig von Braunschweig E-Book

Thomas Ostwald

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Beschreibung

Julius Spiegelberg war der erste Unternehmer, der auf dem europäischen Festland eine Jutefabrik im Braunschweiger Land gründete. In diesem Roman wird ein Bild der damaligen Zeit lebendig, in dessen Mittelpunkt eine schillernde Persönlichkeit steht. Der Industrielle, den man bald in seiner Heimat nur noch den 'Jutekönig' nennt, trägt wenig dazu bei, dass seine Arbeiter in menschenwürdigen Unterkünften leben können. Außerdem fördert er die Kinderarbeit und wehrt sich erfolgreich gegen alle Proteste. Dabei steht er mit seiner Familie im Mittelpunkt der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Seine Söhne unterstützen ihn dabei, als eines Tages sich offener Widerstand regt. Die Zeichen stehen auf Sturm, aber im Haus Spiegelberg werden noch immer glanzvolle Empfänge gegeben, bei denen sich alle Größen aus Handel und Wirtschaft, aber auch Künstler, Musiker, Schriftsteller gern einstellen. Erst spät erkennt Spiegelberg die dunklen Schatten, die am Horizont aufziehen, und fasst einen schicksalshaften Entschluss...

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Seitenzahl: 247

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Thomas Ostwald

Der Jutekönig von Braunschweig

Jahre des Erfolges

Thomas Ostwald

Der Jutekönig von

Braunschweig

Edition Corsar

Dagmar und Thomas Ostwald

Impressum

Texte: © 2023 Copyright by Thomas Ostwald

Cover:Unter Verwendung eines Gemäldes von Isidor Kaufmann

Verantwortlich

für den Inhalt:Thomas Ostwald

Am Uhlenbusch 17

38108 Braunschweig

www.tatort-braunschweig.de

Mail: [email protected]

Vorwort

"Ein Buch ohne Vorwort ist wie ein Körper ohne Seele." (Jiddisches Sprichwort)

Nun denn – hier also mein erforderliches Vorwort.

Dieser Roman basiert sehr lose auf den biografischen Daten von Julius Spiegelberg, dem Mann, der in Europa die erste Jutefabrik gründete. Ich habe einen Roman geschrieben, keine Biografie, denn über seine Persönlichkeit sind nur wenige Fakten überliefert worden. Das bedeutet auch, dass sowohl die Figuren wie auch die Handlung frei erfunden sind, auch wenn ich dabei historische Persönlichkeiten in die Handlung eingebunden habe.

So war es mir möglich, biographische Details zu verändern, Familienmitglieder zwecks dramatischer Handlung zu erfinden und damit einen Roman vor dem Hintergrund der geschichtlichen Entwicklung im Braunschweiger Land zu schreiben.

Der vorliegende Teil spielt im 19. Jahrhundert in Vechelde und in Braunschweig

Thomas Ostwald

Juli 2023

Braunschweig im Jahr 1859. Im Haus der Familie Spiegelberg.

1. Kapitel

Aufbruch

Julius hörte die Schritte auf dem Gang zur Küche und reagierte blitzschnell.

Er trennte sich von der Küchenmagd, drehte sich zur Wand und knöpfte hastig seine Hose wieder zu. Als die Tür aufgerissen wurde, fuhr er sich mit beiden Händen durch das dichte Kopfhaar und hoffte, dass sein Gesicht keine verräterische Röte aufwies.

„Julius… ach hier steckst du also!“

Sein Vater Samuel Spiegelberg trat in die Küche und erkannte die Situation sofort. Seine Lippen bildeten einen dünnen, schmalen Strich, als er Anna, die Küchenmagd, mit einem verächtlichen Blick musterte. Sie hatte, als Julius von ihr abließ, sofort ihre Röcke wieder heruntergezogen und stand am Herd, als wäre sie noch mit ihrer Arbeit beschäftigt.

„Wann bist du zurückgekommen, Vater? Ich habe die Kutsche gar nicht gehört!“, erklärte Julius.

„Das glaube ich wohl, Julius!“, antwortete der alte Herr mit kaum verhaltener Wut. „Ich erwarte dich sofort im Comptoir, Julius. Wir müssen reden!“

Damit drehte sich Samuel Spiegelberg auf dem Absatz herum und warf die Küchentür krachend hinter sich ins Schloss. Julius wechselte einen raschen Blick mit Anna und flüsterte: „Schade, aber das holen wir heute Nacht in deiner Kammer nach, versprochen, Anna!“

„Ist gut, ich warte auf dich!“, flüsterte die Magd zurück, und Julius folgte seinem Vater in das Comptoir, in dem er bereits erwartet wurde. Zu seiner großen Überraschung war jedoch sein Vater nicht allein.

Der unbekannte Besucher wirkte ausgesprochen elegant, trug zu seinem Stadtfrack einen weißen, seidenen Schal und hatte seine schneeweißen Handschuhe zusammen mit dem Zylinder auf einem Stuhl abgestellt. Als Julius ohne anzuklopfen jetzt in das Comptoir platzte und den Fremden erstaunt musterte, zog der nur eine Augenbraue hoch und musterte ihn kurz.

Dann sprach er mit einer näselnden Stimme und einem fremden Akzent:

„Das ist dann wohl der Herr Sohn, auf dem so große Hoffnungen lasten!“

Eine Feststellung, keine Frage.

Aber Julius fühlte sich sofort unbehaglich.

Dieser Mann schien einer der zahlreichen Geschäftspartner seines Vaters zu sein, aber weder sein Gesicht noch seine Art zu reden vermochte ihn Julius Spiegelberg sympathisch zu machen. Stumm verbeugte er sich und wartete darauf, dass sein Vater sie miteinander bekanntmachen würde.

„Mister Goldwyn, das ist mein Sohn Julius, der Älteste. Sein Bruder Isaak ist eben in meinem Auftrag unterwegs zur Messe in Frankfurt. Der Jüngste, Jonathan, wird ebenfalls in Kürze in das Comptoir eintreten. Er zeigt zum Beruf des Kaufmanns beste Anlagen.“

Samuel Spiegelberg schwieg kurz, nahm einen Schluck aus seiner Kaffeetasse und setzte sie behutsam zurück. ‚Das beste Geschirr, Mutter musste tatsächlich das Fürstenberg für den Besucher herausholen. Na, das wird ja interessant!‘, dachte Julius, als sein Vater fortfuhr:„In der Tat ruhen auf dem Ältesten meine Hoffnungen für eine glückliche Zukunft des Hauses Spiegelberg. Julius, Mister Goldwyn kommt direkt aus Dundee zu uns. Er hat einen interessanten Geschäftsvorschlag gemacht.“

‚Dundee? Wo um alles in der Welt liegt Dundee? Dem Namen nach wohl in England, aber…*, schoss es Julius durch den Kopf. „Sehr erfreut, Mister Goldwyn!“, rief er freundlich und verneigte sich tief.

„Nimm Platz und hör uns zu, Julius,“ forderte ihn sein Vater mit strenger Miene auf.

‚Er weiß Bescheid! Aber ich lasse mir den Umgang mit Anna nicht verbieten, das muss er doch längst wissen!‘, dachte Julius trotzig und schob seine Unterlippe etwas vor, als der fremde Besucher das Gespräch eröffnete.

„Well, Mr Spiegelberg, wir haben bereits große Erfolge in Dundee mit der Produktion von Jute und meine Reise hierher ist ein Beleg dafür. Ich bin nach Deutschland gereist, um bestimmte Dinge einzukaufen. Weil ich mit Wechselgeschäften zu tun habe, empfahl mir jemand das Haus Spiegelberg, und nachdem ich mich eine Weile mit Ihrem Herrn Vater unterhalten habe, kamen wir auf eine gute Idee, wie ich meine. Zumal Sie doch kürzlich Ihre Flachsbereitungsfabrik in der Nähe von Vechelde in Betrieb genommen haben, nicht wahr?“

Der durchdringende Blick, den ihm der Fremde während dieser Worte schenkte, ließ in Julius ein unangenehmes Gefühl aufkeimen. Waren es die dunklen Augen, die scharf geschnittene Nase oder die nach unten gezogenen Mundwinkel, die ihn abstießen? Er konnte es nicht sagen, aber dieser Fremde war ihm durch und durch unangenehm. Trotzdem zwang er sich zu einem verbindlichen Lächeln, als er antwortete:

„Eine gute Idee? Dafür sind wir immer zu haben, nicht wahr, Vater?“

Jetzt schenkte auch Samuel Spiegelberg seinem Sohn einen durchdringenden Blick, als wolle er sagen, dass er sich zurückhalten möge. Laut aber ergänzte er: „In der Tat, Mr Goldwyn, das haben wir bereits herausgefunden.“ Ein leichtes Hüsteln folgte diesem Ausspruch, dann blickten Vater und Sohn den Fremden gespannt an.

„Wir haben in Schottland längst erkannt, wie wichtig für die gesamte Welt die Jute sein kann. Mit Hilfe unserer Technik ist es möglich, in jeder Woche 3.000 Säcke herzustellen. Und die Nachfrage ist riesig, weltweit. Wir könnten das Zehnfache, ja, das Hundertfache dieser Menge herstellen und weltweit vertreiben.“

Etwas hilflos war nun der Blick, den Julius seinem Vater zuwarf.

Sie hatten mit Textilien bereits ein Vermögen verdient, lieferten in alle Nachbarländer Stoffe feinster Qualität und konnten es darin mit Belgien und England aufnehmen.

Aber Jute?

Ihre Flachsfabrik in Vechelde hatte ihren Betrieb vor zwei Jahren aufgenommen, und die Spiegelbergs dachten eher daran, zum Flachs auch noch Werg zu verarbeiten.

Julius ließ sich nichts anmerken, aber er wusste so gut wie nichts über das Rohmaterial. Klar, irgendwann hatte er einmal gehört, dass es im Mittelmeerraum Pflanzen gab, aus denen sich starke Fasern gewinnen ließen. Aber als ihm ein süddeutscher Kaufmann darüber berichtete und erklärte, dass man die Pflanze zunächst rösten musste, dann die Fasern mühselig per Hand ausgelöst wurden und vor der Weiterverarbeitung noch geölt werden mussten, war sein Interesse an dieser Pflanze auch schon wieder erledigt.

Und jetzt wurden daraus in Schottland Säcke hergestellt, und offenbar in großer Menge!

Zu welchem Zweck brauchte man Jute-Säcke? Sicher nicht für Mehl, die wurden aus Leinen gefertigt. Gut, wahrscheinlich aber doch für Kaffee, aber in solchen Mengen?

Julius schreckte aus seinen Gedanken auf, als sein Vater ihn rief.

Seinem Gesichtsausdruck nach hatte der alte Kaufmann offenbar schon mehrmals seinen Namen gerufen.

„Schläfst du mit offenen Augen, Julius?“, donnerte ihn sein Vater an. „Das ist sehr unhöflich gegenüber unserem Gast, der uns die Vorteile eines Jute-Geschäftes erklären will!“

„Entschuldigung, ich war in Gedanken bei der Jute-Gewinnung!“, erklärte Julius rasch und spürte, wie ihm das Blut in die Wangen schoss. „Man gewinnt sie doch nach dem Rösten der Pflanzen, richtig?“

Der aus Schottland stammende Gast nickte bestätigend, aber als sein Blick den des jungen Kaufmanns kreuzte, zuckte der unwillkürlich zusammen. Dieser Mr Goldwyn hatte eine Art, ihn anzusehen, die ihm immer wieder durch und durch ging. Dabei überlegte er die ganze Zeit, an wen er ihn erinnerte, kam aber nicht darauf.

„Vollkommen richtig, und unsere Stadt hat inzwischen zahlreiche Betriebe, die Jutefasern gewinnen und verarbeiten. Es ist kein Geheimnis, dass wir mit den Jutefasern sehr viel Geld verdienen. Deshalb wird Dundee auch mittlerweile Juteopolis genannt.“

„Und wie kommen wir da ins Geschäft, Mr Goldwyn? Ich meine, Sie werden wissen, dass wir eine große Textilfabrik besitzen und unsere Stoffe in die ganze Welt liefern. Wir haben in Deutschland Flachs und Hanf, wir verarbeiten sie zu hochwertigen Stoffen und unsere Leinenprodukte sind berühmt!“, führte Julius eifrig aus, aber mit einer raschen Handbewegung schnitt ihm Samuel Spiegelberg das weitere Wort ab.

„Julius, Mr Goldwyn hat uns aufgesucht, weil wir diese Textilfabrik betreiben, und unsere Familie seit Generationen mit Tuchen handelt. Jute ist ein sehr interessanter Stoff, aus dem sich nicht nur Säcke herstellen lassen. Obwohl gegen ein Geschäft mit Säcken nichts spricht – Kaffee oder Baumwolle, Trockenfrüchte und vieles mehr müssen weltweit verpackt werden. Mr Goldwyn hat uns jedenfalls Zahlen vorgelegt, die überaus interessant sind und Zukunftsaussichten ungeahnter Größenordnung bieten.“

„In Dundee gibt es derzeit bereits 12 Fabriken, die Jute verarbeiten. Und wir gehen davon aus, dass weitere dazukommen werden“, bemerkte Goldwyn und griff zu der dargebotenen Dose mit Zigarren, die ihm Samuel auffordernd entgegen hielt. Staunend erkannte Julius, dass sein Vater die guten Kuba-Zigarren anbot, die er nur einmal im Jahr von einem befreundeten Kaufmann erhielt. Erst der teure Kaffee im Fürstenberg-Porzellan, das nur zu besonderen Feiertagen auf den Tisch kam. Jetzt die edlen Zigarren – sein Vater musste sich viel von dem neuen Geschäftspartner versprechen, sonst würde er nicht so dick auftragen. Das war noch nie die Art Samuel Spiegelbergs gewesen. Der alte Kaufmann gab sich vielmehr stets bescheiden und war zu jedermann freundlich, was ihm in Braunschweig viele Sympathien entgegen brachte. Auch die Ärmsten der Armen wussten, dass niemand von seiner Schwelle vertrieben wurde. Wer sich anständig um Arbeit bemühte, fand nahezu immer eine Anstellung in der Textilfabrik. Oder in der Flachsfabrik in Vechelde.

Erneut schweiften seine Gedanken ab.

Als er im Auftrag der Spiegelberg-Werke auf der Messe in Leipzig war, hatte er einen Mann kennengelernt, der ihn vom ersten Augenblick an fasziniert hatte. Das war der Weltreisende und inzwischen sehr bekannte Schriftsteller Friedrich Gerstäcker, der in Leipzig, in Auerbachs Keller, einen Vortrag über seine Reisen gehalten hatte. Gerstäcker konnte unglaublich lebendig von seinen Reisen berichten und war zum Zeitpunkt des Vortrages gerade mitten in den Vorbereitungen für eine neue Reise, die ihn für längere Zeit nach Südamerika führen sollte.

Julius Spiegelberg, der selbst sehr gern reiste, lauschte dem Vortrag des Weitgereisten mit offenem Mund und vergaß dabei fast das Atmen. Als Gerstäcker von seinen Abenteuern in Nordamerika berichtete, von den Indianern, die er getroffen hatte und mit ihnen auf die Jagd gegangen war, von den langen Nächten in den Hütten der Siedler und der Bärenjagd in Arkansas – da beneidete ihn Julius, und hätte viel darum gegeben, an der Seite eines solchen Mannes die Welt kennenzulernen. Man saß in launiger Runde noch lange beisammen, trank guten Wein und rauchte wohlschmeckenden Tabak, wie ihn der Reisende gern bei Fernhändlern bestellte.

„Ja, natürlich, Vater!“, beeilte sich Julius, der erneut in seinen Gedanken gefangen war und nicht verstanden hatte, was ihm der alte Kaufmann gerade gesagt hatte. Der aber schien das nicht weiter bemerkt zu haben, nickte nur mit dem Kopf und zog an seiner Zigarre.

„Dann ist das also abgemacht, Julius. Du wirst Mr Goldwyn nach Dundee begleiten. Die Abreise ist auf übermorgen festgesetzt. Du solltest nicht zu spät ins Bett gehen und dich ordentlich ausschlafen. Ich werde dem Hausknecht sagen, dass er dich mit dem ersten Morgengrauen weckt, damit du noch ein paar Vorbereitungen für diese Reise treffen kannst. Schließlich ist Schottland kein Nachmittagsausflug!“

„Jawohl, Vater!“, antwortete Julius verwirrt. Hatte er das richtig verstanden? Er sollte mit diesem unangenehmen Mr Goldwyn nach Schottland reisen? Aber – warum? Und vor allem: für wie lange? Ein seltsames Gefühl breitete sich in Julius aus, als er sich erhob und steif vor dem Schotten verneigte.

„Gute Nacht, Julius!“, sagte der zu seinem Erstaunen, ohne sich zu erheben oder ihm die Hand zu reichen. „Ich komme dann also übermorgen wieder ins Haus und hoffe, Sie reisefertig anzutreffen. Wir haben dann noch einiges vor, um das Schiff in Bremen zu erreichen.“

„Bremen, ja, natürlich, Mr Goldwyn. Auf übermorgen also!“, stammelte Julius verlegen, sah seinen Vater an, der ihm nur knapp zunickte, und verschwand aus dem Arbeitszimmer. Als er die Tür leise hinter sich schloss, rasten seine Gedanken wirr durch den Kopf.

Also nach Schottland sollte er, und in Gesellschaft dieses miesepetrigen Mannes. Das konnte ihm die Laune nur verderben, und mit verkniffenem Gesicht ging er zur Treppe, um seine Kammer aufzusuchen. Es war inzwischen dunkel geworden, auf dem Flur brannte kein Licht, und mit einem halblauten Fluch stieß er sich den Ellbogen am Treppengeländer.

Die Tür zu seiner Schlafkammer riss er nicht besonders rücksichtsvoll auf, dann dachte er jedoch an seinen Bruder Jonathan, der bestimmt schon nebenan schlief, und drückte sie leise ins Schloss, tappte durch das dunkle Zimmer und wollte eben seine Schuhe abstreifen, als er leise seinen Namen hörte.

„Julius?“

„Du, Anna?“, raunte er zurück. Er hatte die Küchenmagd schlicht vergessen und war jetzt auch nicht in der Stimmung für das dralle Frauenzimmer, aber als er nach dem Licht tastete und Feuer und Stahl fand, strich er ein paar Funken über den Zunder, blies ihn an und entzündete damit die Kerze.

Es raschelte in seinem Bett, als Anna die Decke zurückschlug.

Sie war splitternackt, und auf ihren schweren Brüsten spiegelte sich matt das Kerzenlicht. „Komm zu mir, Liebster!“, flüsterte die Küchenmagd, und das gab den Ausschlag. Julius spürte, wie ihn das Verlangen überkam, zog rasch Jacke, Weste und Hemd aus, streifte die Hose ab und war gleich darauf auf dem warmen, weichen Körper der Magd, die sich fest gegen ihn presste und ihren Unterleib gegen ihn hob.

Seine Hand tastete sich von den Brüsten abwärts zwischen ihre Beine, die sich bereitwillig spreizten, und noch ehe er weiter darüber nachdenken konnte, fuhr er in sie hinein, hob und senkte sich in einem geradezu mörderischen Tempo, und als er sich keuchend entleerte, lachte Anna fröhlich auf, spielte mit den Haaren in seinem Nacken und raunte in sein Ohr:

„Mein lieber, feuriger Julius – so will ich dich! Du bist ein wilder Hengst, und deshalb liebe ich dich! Heute Nacht will ich bei dir bleiben, Julius, damit du mich nicht vergisst!“

Diese Bemerkung ließ Julius aufhorchen.

„Warum sollte ich dich vergessen, Anna? Du bist das Beste, was mir begegnen konnte!“

Er spürte, wie Anna begann, ihn zu streicheln und erneut seine Lust zu wecken.

„Ich habe an der Tür gelauscht, Julius, und gehört, dass du mit dem Fremden gehen sollst. Wer weiß, wie lange du fort sein wirst, und was du in diesem Ort erlebst, dessen Namen ich nicht aussprechen kann. Aber eines schwöre ich dir – diese Nacht soll nur dir gehören!“

Julius war wie im Rausch.

Es ging schon einige Zeit mit Anna in dieser Weise, aber in der heutigen Nacht entfachte sie in ihm eine Glut, die er vorher noch nicht gekannt hatte. Irgendwann schliefen die beiden, eng aneinander gedrückt, ein. Als Julius hochschreckte, war er allein. Nach nochmaligem Klopfen trat der alte Robert ein, Hausknecht in der Familie seit undenklichen Zeiten.

„Es ist Zeit, junger Herr, Ihr wollt doch noch Reisevorbereitungen treffen!“, bemerkte er mit seiner seltsamen, brüchigen Stimme, schlurfte durch das Zimmer und öffnete den Fensterladen. Ein erster, grauer Lichtschimmer fiel auf das Gesicht des jungen Kaufmanns. Er presste seine Augen noch einmal fest zusammen, ließ die vergangene Nacht rasch Revue passieren und sprang dann mit beiden Beinen zugleich aus dem Bett.

„Wie spät ist es, Robert?“

„Es hat gerade vier Uhr geschlagen, Herr!“, erwiderte der Alte und schlurfte hinüber zu dem Stuhl, über den Julius achtlos seine Sachen geworfen hatte, als er Anna in seinem Bett bemerkte.

„Danke, lass die Sachen dort liegen, Robert, ich ziehe mich sofort an und komme herunter. Ist mein Vater auch bereits auf den Beinen?“ - „Ja, er ist bereits vollständig angekleidet!“, bemerkte der Hausknecht und bewegte sich langsam wieder zur Tür. „Ich werde die Stiefel putzen und der Anna sagen, dass sie den Kaffee für Euch bereiten soll, Herr!“

„Ja, schon recht!“, brummte Julius abwesend. Annas Name hatte ihn wieder an die vergangenen Stunden erinnert, und als er zum kleinen Tischchen mit der Waschschüssel ging, spürte er erneut, wie ihn schon der Gedanke an die dralle Magd erregte. Er streifte das Nachthemd über den Kopf und wusch sich hastig von Kopf bis Fuß und überlegte dabei, was wohl sein Vater dazu sagen würde, wenn er in diesem Zustand hinunter in den Hof lief, um sich unter dem Wasserstrahl der alten Pumpe zu säubern.

In bester Stimmung eilte er, nur mit Hemd und Hose bekleidet, die Treppe hinunter und begrüßte seinen Vater mit einem freundlichen „Guten Morgen, Herr Vater!“

Samuel Spiegelberg sah nur kurz zu ihm auf und mit versteinerter Miene erwiderte er den Gruß seines Ältesten mit der Frage: „Bist du eigentlich meschugge, Julius?“ Der so Angesprochene zuckte zusammen.

„Vater?“

„Ja, Vater! Tu nicht so unschuldig, du weißt, was ich meine! Wenn du schon eine der Mägde bespringst wie ein läufiger Köter, dann tue das, verdammt noch mal, nicht ausgerechnet in unserer Küche!“

Julius spürte, wie ihm die Schamröte ins Gesicht stieg und beeilte sich mit seiner Rechtfertigung.

„Aber Vater, das ist doch…“

„Schweig, ich will davon nichts mehr hören. Es ist gut, dass du die nächste Zeit aus dem Haus bist. Es pfeifen ja schon die Spatzen von den Dächern am Meinhardshof, dass du und diese … diese Anna es überall treiben, wo sich nur eine Gelegenheit dazu bietet. Aber damit ist jetzt Schluss, und dafür bin ich auch sehr dankbar!“

„Vater, ich…“

„Kein Wort mehr, Julius, verstanden?“, donnerte der Vater. Trotzdem wollte Julius noch etwas zu seiner Rechtfertigung stammeln, als sich die Tür erneut öffnete und seine Mutter eintrat. Sofort erhoben sich beide Männer, und während Samuel Spiegelberg seine Betty mit einem Kuss auf die Wange begrüßte, nahmen alle wieder Platz, und gleich darauf wurde der Kaffee aufgetragen. Allerdings nicht von Anna, sondern von der Zofe Katrin, deren Aufgabe es war, die Herrschaften zu bedienen und Betty Spiegelberg beim morgendlichen Ankleiden behilflich zu sein. Julius half seiner Mutter mit dem Stuhl, damit sie ihr Tournürenkleid ordnen konnte und dicht am Tisch saß.

Betty Spiegelberg trug ein schlichtes, dunkelgrünes Seidenkleid ohne Verzierungen und saß jetzt mit durchgedrücktem Rücken aufrecht zwischen ihren beiden Männern. Ein Blick auf ihren Mann, ein zweiter auf Julius, und Betty erkundigte sich leise: „Was hat es nun wieder zwischen euch gegeben?“

„Nichts, Mama, gar nichts. Wir haben uns nur kurz ausgetauscht. Wie hast du den gestrigen Gast erlebt?“, rief Julius eifrig. Seine Mutter setzte gerade zu einer Antwort an, als die Tür stürmisch aufgerissen wurde und ihr jüngster Sohn, Jonathan, wie ein Wirbelwind hereinkam, seine Mutter stürmisch begrüßte und dann neben Julius Platz nahm.

„Guten Morgen, junger Herr!“, sagte sein Vater mit strenger Miene, und Jonathan ging sofort darauf ein, sprang von seinem Stuhl wieder auf, verbeugte sich tief und grinste dabei so unverschämt, dass sein Bruder befürchtete, dass der Vater dazu etwas bemerken würde. Aber der alte Herr schüttelte nur kurz den Kopf und wartete darauf, dass ihm Katrin die Tasse füllte.

Dann, völlig unvermittelt, sprach er seinen Ältesten an.

„Du wirst so lange in Schottland bleiben, wie es Herr Geoffrey für nötig hält. Ich möchte, dass du das Geschäft mit der Jute von Grund auf verstehst und wir nach deiner Rückkehr entscheiden können, wie wir uns einbringen werden. Nach Flachs und Werg könnte die Jute der dritte Stoff sein, mit dem sich gutes Geld verdienen lässt!“

„Ja, Vater. Aber gestatte mir die Frage – was macht dich denn so sicher, dass man mit der Jute Geld verdienen kann? Ich meine, benötigt die Welt wirklich so viele Säcke? Werden die herkömmlichen Säcke für Mehl nicht ausreichen?“

Samuel Spiegelberg antwortete seinem Sohn nicht, griff stattdessen nach der Tischklingel und sagte der rasch eintretenden Zofe: „Robert soll mir die Braunschweiger Anzeigen dieser Woche bringen!“

Der alte Hausknecht kam gleich darauf mit den letzten Ausgaben in der Hand herein und legte sie neben den Teller des Hausherrn. Samuel bedankte sich und bemerkte dazu: „Robert, du musst die Blätter nicht bügeln. Das mag Sitte in den Londoner Clubs sein, aber ich schaue ja nur noch selten in die abgelegten Ausgaben.“

„Ist mir ein Vergnügen, Herr!“, antwortete Robert, verbeugte sich und eilte in würdevoller Haltung, ganz wie ein englischer Butler, aus dem Zimmer.

Julius schmunzelte.

Er hatte seinen Vater mehrfach bei den Geschäftsreisen nach London begleitet und später davon der Mutter und den Brüdern berichtet. Als er sich darüber lustig machte, dass die Butler in den Clubs die Times nach dem ersten Lesen bügelten, damit auch der nächste ein frisches, glattes Blatt in die Hand bekam, hatte sich das Robert gemerkt und verfuhr nun auf ähnliche Weise. Dabei beherrschte er die heißen Bügeleisen bald so perfekt, dass auch nicht eines der kleinformatigen Blätter angesengt wurde.

Die „Braunschweigischen Anzeigen“ gehörten neben der „Deutschen Reichs-Zeitung“ aus dem Vieweg-Verlag zur Lektüre im Haus Spiegelberg, wobei der alte Herr den Anzeigen den Vorzug gab, da sie stets aktuelle wirtschaftliche Nachrichten und dazu Übersichten der wichtigsten Preise enthielten. So konnte man zum Beispiel die Preise für frisches Rinderfleisch in Helmstedt, Königslutter und Braunschweig ebenso vergleichen wie zum Beispiel die für Zucker oder – Stoffe. Samuel Spiegelberg musste nicht lange suchen, dann schob er eine Ausgabe seinem Sohn zu und bemerkte, ihn dabei aufmerksam beobachtend:

„Du weißt doch, dass der Haßlicht die Braunschweiger Mühlen für dreißig Jahre gepachtet hat, oder nicht?“

Verwundert sah ihn Julius an.

„Ja, natürlich weiß ich das. Und drei hat er schon abreißen lassen, um an der Stelle seine Tuchfabrik zu bauen. Das hat dich damals sehr geärgert, aber der Rat der Stadt hat anders entschieden und deine Bewerbung verworfen.“

Der alte Spiegelberg knirschte hörbar mit den Zähnen. Haßlicht war ein direkter Konkurrent, und der hatte bei diesem Geschäft die Nase vorn gehabt, sehr zum Ärger des alten Herrn. Vor fünf Jahren, 1854, hatte es einen Prozess gegen Ferdinand Haßlicht gegeben, weil der seine Waren bereits vor Messebeginn auspacken wollte – was Samuel Spiegelberg verhindert hatte.

„So, und dieser Vertrag ist nun ausgelaufen!“ Samuel Spiegelberg schob die Zeitung mit der entsprechenden Mitteilung seinem Sohn zu, während Betty und Jonathan schweigend zuhörten. Julius warf einen raschen Blick auf seinen Vater, nachdem er die Zeilen überflogen hatte.

„Und – wirst du dich nun um die Walkmühle bewerben?“

Sein Vater lachte verächtlich auf und machte eine abwehrende Handbewegung.

„Nein, mein Sohn. Die Oker hat nicht mehr genügend Wasserkraft, um einen wirtschaftlichen Betrieb zu ermöglichen. Aber wie ist mir denn? Kann es sein, dass du überhaupt keine Zeitung liest?“

Erschrocken blickte Julius den Vater an.

Eine derartige Blöße wollte er sich nun nicht geben!

„Aber natürlich lese ich die Anzeigen wie auch die Reichs-Zeitung, Vater! Was ist mir da entgangen?“

Jetzt war es an dem alten Herrn, schmunzelnd in die Rocktasche zu greifen und seinem Sohn ein amtliches Schreiben auszuhändigen. Julius zog den Brief aus dem Kuvert, überflog rasch die Zeilen und sprang dann freudig erregt auf.

„Aber das … das ist ja wunderbar! Mutter, Jonathan – habt ihr das schon gehört?“

„Nein, der Vater hat dir den Vortritt gelassen!“, erwiderte seine Mutter lächelnd.

„Wir… wir haben den Auftrag für die Anfertigung der Monturen, Mutter!“

Er hatte so laut gerufen, dass die verstörte Zofe eintrat und sich erkundigen wollte, ob sie etwas bringen sollte. Im gleichen Augenblick packte sie Julius um die Hüfte, griff eine Hand auf und wirbelte mit schnellen Tanzschritten einmal um den Tisch.

„Zu Hilfe! Junger Herr, Ihr macht mich ganz schwindelig!“, rief Katrin dabei aus, als Julius schließlich innehielt.

„Entschuldige bitte, Katrin, aber das musste eben sein! Der Vater hat … wir haben … ja, der Auftrag für eintausend Monturen … eintausend!“

Katrin verstand nichts, ordnete rasch ihre Haarsträhnen, die sich bei dem unerwarteten Tanz um die Frühstückstafel gelöst hatten, knickste verlegen und verschwand wieder. Julius setzte sich, noch immer lachend, wieder auf seinen Platz und schlug seinem Bruder fröhlich auf die Schulter. Jonathan hatte nichts verstanden, und nun beugte sich sein Bruder zu ihm herüber und erklärte: „Es ist Krieg zwischen Österreich und Frankreich, die Braunschweiger Truppen haben mobil gemacht, und das Haus Spiegelberg erhielt den Auftrag zur Anfertigung von eintausend Monturen!“

„Eintausend?“, wiederholte Jonathan staunend und riss dabei die Augen weit auf.

„Das … das ist viel Arbeit, nicht wahr, Vater?“

„Nebbich, Jonathan, viel Arbeit bedeutet auch viel Gewinn. Und wir können weitere Arbeiter einstellen, das wird viele Familien freuen und ihnen das tägliche Brot bescheren!“

„Aber wenn Krieg ist, Vater, müssen wir da auch zu den Soldaten?“

„Darum mache dir aber keine Gedanken, Jonathan. Weder du noch ich müssen unter die Soldaten. Du bist mit deinen sechzehn Jahren noch viel zu jung, und ich bin für die Textilfirma Spiegelberg unterwegs im Ausland und habe gar keine Zeit, Soldat zu spielen!“, beschied ihm Julius, und Jonathan nickte beruhigt dazu.

„Und jetzt lasst uns endlich frühstücken. Wir sind doch nicht in dieser Herrgottsfrühe zusammengekommen, um über die Ereignisse zu sprechen. Julius, wenn du nachher noch einmal die Preise in den Blättern vergleichst, wirst du verstehen, weshalb ich mich für die Jute interessiere. Du kannst nämlich unschwer feststellen, dass die Preise für Wolle geradezu täglich nach oben klettern!“

Julius nickte verstehend.

„Das kann ich begreifen, Vater, aber ich kann nicht begreifen, wie die Jute ein Ersatz für die gute Wolle sein kann.“

Samuel Spiegelberg schüttelte den Kopf.

„Das wird auch nie der Fall sein, Julius. Wolle ist durch nichts zu ersetzen, auch nicht durch Baumwolle. Das ist ein gutes Produkt, aus dem sich vieles fertigen lässt. Aber ich möchte nicht im kalten Winter mit einem Baumwollhemd nach draußen gehen. Nein, ich sehe in der Jute ein gutes Produkt, das uns gerade in diesen Zeiten sehr gelegen kommt. Du wirst sehen, dass Mister Geoffrey den richtigen Riecher dafür hat. Du hast meine volle Zustimmung für Entscheidungen, die du vor Ort treffen musst. Entsprechende Kreditbriefe werde ich dir ausfertigen. So, und nun lass uns hinüber ins Comptoir gehen, um alle notwendigen Dinge zu besprechen.“

Es war keineswegs üblich, dass sich die Familie zu so früher Stunde zum Frühstück versammelte. Samuel Spiegelberg war stets der erste, der aufstand, weil er einfach nicht lange schlafen konnte und stets unruhig war. Gegen sechs Uhr war er zumeist angezogen und ging ins Comptoir, wo er rauchend die neuesten Listen durchsah, Bestellungen notierte oder Aufträge überprüfte.

In dem großen, zwölf Spann messenden Fachwerkhaus an der Ecke Meinhardshof und Jöddenstraße befand sich zudem seit langer Zeit ein kleines Geschäft, in dem die Braunschweiger Kundschaft eine Auswahl an Stoffen ansehen konnte. Julius Spiegelberg hatte die Idee, dort auch immer ein oder sogar zwei neue Kleider auszustellen, und die Damenwelt war davon entzückt. Machte doch ein auf diese Weise ausgestelltes Modell mehr her als jede Zeichnung. Das wirkte sich wiederum positiv auf das Geschäft aus, und die Spiegelbergs beschäftigten inzwischen in einem eigens dafür erworbenen Haus am Wollmarkt zahlreiche Schneider, die nur für diese Bestellungen arbeiteten.

Der Vorteil der Lage war, dass ein herbeigerufener Schneider die kurze Strecke rasch zurücklegen konnte, und wiederum war es Julius Idee, dass man die wartenden Dame mit einer Tasse Kaffee erfreute und dazu ein wenig Konfekt anbot.

Dadurch lernte er Wilhelm Eichhorn aus Hannover kennen, der zunächst eine Kolonial- und Materialwarenhandlung betrieb, dann aber seinen Kaffee im gesamten Land verkaufte. Julius Spiegelberg liebte sein Markenzeichen, das Eichhörnchen, das eine Tasse Kaffee in den Pfoten hielt, und war rasch überzeugt von der Qualität seines Kaffees.

„Wenn das so weiter geht mit dem Kaffeeverkauf in Braunschweig, werde ich wohl oder übel nicht um eine Filiale herumkommen“, scherzte Wilhelm Eichhorn einmal, als er mehrere Säcke geliefert hatte und sich den Schweiß von der Stirn mit einem großen Schnupftuch wischte.

„Der Erfolg bleibt nicht aus, Herr Eichhorn!“, erwiderte Julius Spiegelberg. „Aber mehr Arbeit bedeutet auch mehr Personal und damit steigende Kosten!“

„Schon recht, Herr Spiegelberg, aber ich setze da auf meine Familie. Ich könnte mir denken, dass mein Neffe Ferdinand das gern machen würde. Der Junge ist schon jetzt gar nicht mehr aus meinem Betrieb in der Steintorstraße fortzubringen.“

„Der Junge? Wie alt ist denn der Herr Neffe?“

„Sechs Jahre genau!“, lachte Wilhelm Eichhorn, und der verblüffte Julius stimmte schließlich in sein Lachen ein.

„Na, das sind doch mal gute Aussichten für Braunschweig!“, erwiderte er schließlich, noch immer lachend. „Vielleicht heiratet der Junge dann mal eine meiner Töchter, und wir machen neben dem Handel mit Textilien noch ein Café nach Wiener Art in Braunschweig auf!“

Jetzt stutzte der Kaffeelieferant.

„Mit einer Ihrer Töchter, Herr Spiegelberg? Ich wusste ja gar nicht, dass Sie…“

„Nein, nein!“, lachte nun der junge Spiegelberg laut heraus. „Ich bin ja noch nicht einmal verheiratet!“

Aus diesen Gedanken riss ihn nun sein Vater, denn eine Reihe von Schriftstücken musste noch ausgefertigt werden, bevor um zehn Uhr an diesem Vormittag der Notar Püster vom Hagenmarkt herüberkommen würde, um alles zu beglaubigen. Tatsächlich verging den beiden Männern im Comptoir die Zeit so rasch, dass sie erstaunt aufsahen, als ihnen Zofe Katrin den Besuch eines Herren ankündigte.

„Notar Püster! So eine Überraschung!“, rief der alte Spiegelberg aus, und der kleine, gewandte Herr im Stadtrock setzte eine verdutzte Miene auf.

„Ja, hatten wir denn nicht zehn Uhr gesagt?“

„Alles in Ordnung, Herr Notar – nur die Zeit ist uns so rasch vergangen! Bitte, nehmen Sie doch Platz, hier sind die Papiere!“

An diesem Abend kroch Julius Spiegelberg hundemüde in sein Bett.

Ein wenig überrascht war er, dass Anna nicht die letzte Nacht vor seiner Abreise mit ihm verbringen wollte. Aber dann war es ihm auch wiederum recht, denn sehr viel Schlaf hatte er schon in der vorigen Nacht nicht erhalten.

2. Kapitel

Eine bedeutungsvolle Reise

„Der Zug wird langsamer, wir sind gleich in Vechelde, Herr Geoffrey!“, bemerkte Julius Spiegelberg, erhob sich und griff zu seinem Zylinder und der kleinen Reisetasche.

„So rasch schon!“, bemerkte der Schotte und folgte dem Beispiel seines Reisegefährten.