Der Kaiser von Portugalien - Selma Lagerlöf - E-Book

Der Kaiser von Portugalien E-Book

Selma Lagerlöf

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Beschreibung

Der Kaiser von Portugallien handelt von der enormen Liebe eines Vaters zu seiner Tochter, der - um die unerfreuliche Wirklichkeit zu verdrängen, dass seine erwachsene Tochter Klara eine Prostituierte ist – eine Scheinwelt erfindet, in der seine Tochter eine Kaiserin, und er selbst der "Kaiser von Portugallien" ist. Der Vater behält die Existenz dieser Scheinwelt so lange aufrecht bis seine Tochter nach 15 Jahren der Abwesenheit in ihr Heimatdorf zurückkehrt und sich mit der veränderten Wirklichkeit nicht abfinden kann. – Eine tiefsinnige und psychologisch meisterhaft erzählte Geschichte, lesenswert. -

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Selma Lagerlöf

Der Kaiser von Portugalien

Roman

Deutsch von Pauline Klaiber-Gottschau

Saga

Erster Teil

Das klopfende Herz

So alt Jan Andersson in Skrolycka auch immer wurde, nie wurde er müde, von dem Tag zu erzählen, an dem sein kleines Mädchen zur Welt kam.

In aller Frühe war er aufgebrochen, die Hebamme und noch andere Helferinnen zu holen; aber dann hatte er den ganzen Vormittag und noch eine gute Weile in den Nachmittag hinein auf dem Hauklotz im Holzschuppen gesessen und hatte gewartet, gewartet.

Draußen regnete es in Strömen, und auch Jan Andersson blieb nicht ganz verschont von dem Regenwetter, obgleich er sozusagen unter Dach saß. Es drang als Feuchtigkeit zwischen den undichten Wänden zu ihm herein und jetzt eben schleuderte der Wind auch noch eine ganze Sturzsee durch die türlose Schuppenöffnung.

»Ich frage mich eben, ob wohl irgend jemand meinen kann, ich freue mich über die Ankunft des Kindes?« murmelte er, und zugleich stieß er mit dem Fuß so heftig nach einem kleinen Holzscheit, daß es bis in den Hof hinausflog. »Das größte Unglück ist’s geradezu, das mir hätte widerfahren können. Als Katrine und ich heirateten, geschah’s nur, weil wir es überdrüssig geworden waren, noch länger als Knecht und Magd bei Erik in Falla aus und ein zu gehen. Wir taten’s, weil wir die Füße unter den eigenen Tisch setzen wollten, aber doch gewiß nicht, um Kinder zu bekommen.«

Er verbarg das Gesicht in den Händen und seufzte tief. Die Kälte und die Feuchtigkeit und das lange peinliche Warten hatte allerdings das ihre zu seiner schlechten Laune beigetragen, aber die eigentliche Ursache waren diese Unannehmlichkeiten keineswegs. Es war ihm vollkommen Ernst mit seiner Klage.

›Arbeiten‹, dachte er, ›arbeiten muß ich alle Tage vom Morgen bis zum Abend, aber bisher hatt’ ich dann wenigstens bei Nacht meine Ruhe. Nun wird das Kind wahrscheinlich recht viel schreien, und dann bekomme ich auch da keine Ruhe mehr.‹

Nach diesem Gedankengang überkam ihn noch größere Verzweiflung. Er nahm die Hände vom Gesicht und rang sie so heftig, daß die Gelenke krachten.

›Bis jetzt ist auch alles ganz gut gegangen, weil Katrine, gerade wie ich auch, auf Arbeit ausgehen konnte.

Aber jetzt muß sie ja daheimbleiben und das Kind warten.‹

Er starrte geradewegs in die zunehmende Dunkelheit hinein, mit einem Ausdruck, als käme schon die Hungersnot über den Hofplatz dahergeschlichen und wollte ins Haus eindringen.

»Ja, ja«, sagte er, und jetzt schlug er, wie um seine Worte zu bekräftigen, mit beiden Fäusten hart auf den Hauklotz. »Ja, ich sag’ nur soviel, wenn ich damals gewußt hätte, daß dies hier die Folge sein würde, als Erik in Falla zu mir kam und sagte, ich dürfe mir ein Haus auf seinem Grund und Boden bauen, und mir überdies auch noch alte Balken zum Bau überließ, wenn ich das damals gewußt hätte, so hätt’ ich alles miteinander ausgeschlagen und wär’ meiner Lebtage in der Stallkammer auf Falla geblieben.«

Das waren starke Worte, er fühlte es wohl; aber er hatte keine Lust, sie zurückzunehmen.

»Wenn es je geschehen sollte ...«, begann er wieder; denn er war nun soweit, sagen zu wollen, es wäre ihm gar nicht unlieb, wenn dem Kind auf irgendeine Weise etwas zustieße, ehe es das Licht der Welt erblickte. Aber er kam nicht dazu, diesen Gedanken auszusprechen; denn eben jetzt drang ein piepsendes Stimmchen durch die Wand an sein Ohr und da hielt er jäh inne.

Der Holzschuppen war mit dem Wohnhaus zusammengebaut, und als er hinhorchte, drangen die piepsenden Laute immer wieder zu ihm heraus. Jan Andersson wußte natürlich sofort, was das bedeutete, und nun blieb er lange ganz still sitzen, ohne ein Zeichen von Kummer oder Freude an den Tag zu legen.

Schließlich zuckte er leicht die Schultern und sagte: »Ja, jetzt ist’s also gekommen, und jetzt werd’ ich doch wohl in Gottes Namen ins Haus hinein dürfen und mich wärmen.«

Aber auch diese Erleichterung wurde ihm nicht so schnell zuteil, sondern er mußte abermals Stunde um Stunde warten.

Der Regen strömte noch immer mit gleicher Heftigkeit hernieder, der Wind nahm zu, und obgleich es erst gegen Ende August ging, war die Luft so rauh wie an einem Novembertag.

Und um das Maß vollzumachen, verfiel Jan Andersson nach einer Weile auf einen Gedanken, der ihn noch mehr bedrückte, als alles andere vorher.

Er fühlte sich allmählich mißachtet und zurückgesetzt. »Drei verheiratete Frauen sind außer der Hebamme bei Katrine drinnen«, sagte er halblaut. »Die hätten sich doch wirklich die Mühe machen können, oder wenigstens eine von ihnen, herauszukommen und mir zu sagen, ob es ein Junge oder ein Mädchen ist.«

Er horchte nach der Hauswand hin und hörte, wie auf dem Herd Feuer gemacht wurde. Dann sah er die Frauen an der Quelle Wasser holen; aber keine schien ihn auch nur zu bemerken.

Da schlug er plötzlich die Hände vors Gesicht und wiegte den Oberkörper hin und her.

»Mein guter Jan Andersson«, begann er, »wo hapert’s denn eigentlich bei dir? Warum geht bei dir alles schief? Warum bist du immer so niedergedrückt? Ach, warum hast du denn nicht ein schönes junges Mädchen heiraten können, sondern nur die alte Stallmagd Katrine bei Erik auf Falla?«

Er war ganz aufgelöst vor Kummer. Zwischen den Fingern quollen ihm sogar ein paar Tränen hervor.

»Warum bist du im Dorf so wenig geachtet, mein guter Jan Andersson? Warum wirst du immer andern gegenüber zurückgesetzt? Du weißt, es gibt andere, die ebenso arm sind wie du und ebenso schwach bei der Arbeit, gerade wie du auch, aber keiner wird so übersehen wie du. Wo hapert’s denn nur bei dir, mein guter Jan Andersson?«

Das war eine Frage, die sich Jan Andersson schon oft gestellt hatte, aber immer vergeblich. Er hatte auch gar keine Hoffnung, daß er je die Antwort darauf finden würde, und wenn er alles in allem betrachtete, so haperte es vielleicht nirgends. Vielleicht war die richtige Erklärung, daß Gott und die Menschen ungerecht gegen ihn waren?

Als er bei diesem Gedanken angekommen war, nahm er die Hände vom Gesicht und versuchte, eine kecke Miene aufzusetzen.

»Wenn du je wieder in dein eigenes Haus hinein darfst, dann wirst du nicht einen Blick auf das Kind werfen, mein guter Jan Andersson«, sagte er. »Du wirst nur stillschweigend an den Herd gehen und dich wärmen.«

»Oder wie wär’s, wenn du jetzt auf und davon gingest — —«, fing er wieder an. »Du brauchst ja gar nicht länger hier sitzenzubleiben, jetzt, wo du weißt, daß alles überstanden ist. Wie, wenn du Katrine und den andern Weibern drinnen zeigen würdest, was du für ein Mann bist — — —«

Er wollte eben vom Hauklotz aufstehen, da erschien die Hofbäuerin von Falla unter dem Eingang des Schuppens. Sie verneigte sich gar zierlich und lud ihn ein, jetzt ins Haus zu kommen und sich das Kind anzusehen.

Wenn es nicht die Mutter in Falla selbst gewesen wäre, die diese Einladung vorbrachte, dann ist es nicht gewiß, ob Jan Andersson in seiner aufgebrachten Stimmung hineingegangen wäre. Aber mit ihr ging er natürlich, doch ohne irgendwelche Eile an den Tag zu legen. Er gab sich alle Mühe, die Miene und Haltung anzunehmen, die Erik in Falla hatte, wenn er auf dem Rathaus nach der Wahlurne ging, um seinen Wahlzettel hineinzulegen, und es gelang Jan Andersson jetzt auch ganz gut, ebenso feierlich und finster auszusehen wie jener.

»Bitte, Jan!« sagte die Mutter in Falla, und damit machte sie die Türe weit auf. Zugleich trat sie zur Seite und ließ Jan vorausgehen.

Jan sah auf den ersten Blick, wie fein und sauber alles in der Stube gemacht worden war. Die Kaffeekanne stand zum Abkühlen auf dem Rand der Herdplatte, und der Tisch am Fenster war mit Mutter in Fallas Kaffeetassen und einem schneeweißen Tuch gedeckt. Katrine lag im Bett, und zwei andere Frauen, die auch zur Hilfe da waren, drückten sich an die Wand, damit er einen freien Blick über alle Anordnungen haben könnte.

Dicht vor dem Kaffeetisch stand die Hebamme mit einem Bündel auf dem Arm.

Jan Andersson drängte sich unwillkürlich der Gedanke auf, daß es aussehe, als sei er hier bei dieser Sache einmal die Hauptperson. Katrine sah ihn mit einem freundlichen Blick an, wie wenn sie fragen wollte, ob er zufrieden mit ihr sei. Und alle die andern hielten auch ihre Augen auf ihn gerichtet, gleichsam Lob erheischend für alle die Mühe, die sie sich seinetwegen gemacht hatten.

Aber es ist nicht so leicht, frohen Herzens zu werden, wenn man einen ganzen Tag draußen gesessen und gefroren hat und schlechter Laune geworden ist. Jan konnte Erik in Fallas Miene nicht aus seinem Gesicht verbannen und blieb, ohne ein Wort zu sagen, mitten im Zimmer stehen.

Da machte die Hebamme einen Schritt auf ihn zu. Und die Stube war nur so groß, daß sie mit diesem einzigen Schritt ganz dicht zu ihm hinkam und ihm das Kind in die Arme legen konnte.

»Da kann Er ein kleines Mädchen sehen das überdies ein Prachtkind ist«, sagte sie.

Da stand nun der arme Jan und hielt zwischen seinen Händen etwas, das sich warm und weich anfühlte und in ein großes Tuch eingewickelt war. Das Tuch war so weit zurückgeschlagen, daß Jan das winzige, runzlige Gesichtchen und die verschrumpelten Händchen sehen konnte.

Er stand unsicher da und fragte sich, was denn die Frauenzimmer erwarteten, daß er mit diesem Ding, das ihm die Hebamme in die Arme gelegt hatte, anfangen werde, als er plötzlich einen Stoß erhielt, bei dem er und das Kind zusammenzuckten. Keines von den Anwesenden hatte ihm diesen Stoß versetzt, aber ob er von dem kleinen Mädchen zu ihm kam oder von ihm zu dem kleinen Mädchen, das konnte Jan nicht herausbringen.

Unmittelbar darauf fing das Herz in seiner Brust so heftig an zu klopfen, wie es noch nie geklopft hatte, und im selben Augenblick fror Jan nicht mehr und er fühlte sich nicht mehr verdrießlich noch bekümmert noch ärgerlich, sondern alles war wieder gut. Nur eines beunruhigte ihn noch: er konnte nicht begreifen, warum es dermaßen in seiner Brust hämmerte und klopfte, da er doch den ganzen Tag nicht getanzt hatte und auch nicht schnell gelaufen oder einen steilen Berg hinaufgeklettert war.

»Legt einmal Eure Hand hierher und fühlt!« sagte er zu der Hebamme. »Mir ist, als schlüge mein Herz so sonderbar.«

»Ja, Ihr habt tüchtig Herzklopfen«, sagte die Hebamme. »Habt Ihr das öfters?«

»Nein, ich hab’s noch nie gehabt«, versicherte Jan. »Noch niemals auf diese Weise.«

»Ist es Euch schlecht? Habt Ihr irgendwo Schmerzen?« fragte die Hebamme besorgt.

Nein, nein, es sei sonst alles in Ordnung.

Da konnte die Hebamme nicht verstehen, was ihm fehlen könnte, und sie sagte:

»Ich will Euch jedenfalls das Kind abnehmen.«

Aber da überkam Jan ein neues Gefühl. Das Kind, nein, das wollte er nicht hergeben.

»Nein, laßt mir das Kind!« sagte er.

Und in diesem Augenblick mußten die Frauen in seinen Augen etwas gelesen und aus seiner Stimme etwas herausgehört haben, das sie froh machte, denn die Hebamme verzog den Mund, und die andern brachen in lautes Lachen aus.

»Ei Jan, habt Ihr noch nie jemand so liebgehabt, daß Ihr seinetwegen Herzklopfen bekommen habt?« sagte die Hebamme.

»Nei—n«, antwortete Jan.

Und nun begriff er plötzlich, was ihm das Herz jetzt eben in Gang gesetzt hatte und warum es so stark klopfte. Und damit nicht genug, begann er auch zu ahnen, wo es bei ihm zeit seines Lebens gehapert hatte: denn einen Menschen, der sein Herz weder in Leid noch in Freude schlagen fühlt, kann man gewiß nicht für einen richtigen Menschen halten.

Klara Fina Gulleborg

Am nächsten Tag stand Jan in Skrolycka mehrere Stunden lang unter seiner Haustür mit dem kleinen Mädchen auf dem Arm.

Auch das war eine lange Wartezeit; aber jetzt war alles ganz anders als gestern. Jetzt stand er hier in guter Gesellschaft und so wurde er weder müde noch verdrießlich.

Er konnte gar nicht beschreiben, welch ein wohliges Gefühl ihn überkam, während er unter der Tür stand und den warmen kleinen Körper an sich gedrückt hielt. Es kam ihm vor, als sei er bisher auch gegen sich selbst immer recht widerwärtig und bitter gewesen, denn jetzt auf einmal empfand er nur Glück und Wonne in seinem Herzen. Noch nie hatte er gefühlt, wie geradezu beseligt man sein kann, einzig und allein dadurch, daß man jemand so recht herzlich liebhat.

Jan hatte sich natürlich nicht ohne Absicht unter die Tür gestellt. Während er dastand, mußte eine gar wichtige Sache entschieden werden.

Schon seit dem frühen Morgen hatten die Eheleute versucht, für das Kind einen Namen zu finden. Sie hatten es aufs reiflichste hin und her überlegt, sich aber noch immer nicht für einen von all den vielen Namen entscheiden können.

Schließlich hatte Katrine gesagt:

»Jetzt weiß ich mir keinen andern Rat, als daß du dich mit dem Kinde auf die Türschwelle stellst und dann das erste Frauenzimmer, das vorüberkommt, nach ihrem Namen fragst. Den Namen, den sie dir angibt, müssen wir dann dem Mädchen geben, einerlei, ob er grob oder fein ist.«

Aber das Häuschen lag etwas abseits vom Wege, und es pflegte nicht oft jemand vorbeizukommen. Jan stand schon sehr lange unter der Tür, und noch immer war niemand vorübergegangen.

Auch an diesem Tag herrschte trübes Wetter; aber es regnete nicht, auch war es weder windig noch kalt, eher etwas schwül.

Wäre Jan nicht mit der Kleinen im Arm dagestanden, so hätte er sicherlich die Hoffnung auf einen Vorübergehenden schon längst aufgegeben und er hätte zu sich selbst gesagt:

»Mein guter Jan Andersson, vergißt du denn, daß du ganz entlegen am Duvsee in Askedalarna wohnst, wo es nur einen einzigen richtigen Bauernhof gibt und sonst nur noch einige kleine Kätnerhäuschen und Fischerhütten liegen? Wen gäbe es da wohl mit einem so vornehmen Namen, der dir für dein kleines Mädchen recht wäre?«

Da es sich aber jetzt um sein Töchterchen handelte, zweifelte Jan gar nicht an einem endlichen günstigen Ausgang. Er schaute nach dem Duvsee hinüber und wollte gar nicht sehen, wie verlassen und einsam dieser in seinem Bergkessel dalag. Es könnte doch sein, daß eine vornehme Dame mit einem schönen Namen von dem Duvnäser Hüttenwerk auf diese Seite des Sees herüberruderte. Jan war beinahe sicher, daß es nur um des kleinen Mädchens willen so gehen werde.

Das Kind schlief die ganze Zeit, er konnte also ganz ruhig unter der Tür stehenbleiben und warten, solange er Lust hatte. Schlimmer war es bei Katrine. Sie fragte ein ums andere Mal, ob denn niemand komme. Denn jetzt könne er wohl nicht länger mit der Kleinen draußen stehen.

Jan richtete seinen Blick auf den Storsnipa, der aus den Birkenwäldchen und Äckerchen in Askedalarna steil aufragte und wie ein Festungsturm Wache hielt, um alle Fremden fernzuhalten. Es hätte doch sein können, daß irgendeine vornehme Dame, die auf dem Berge gewesen war, um die schöne Aussicht zu betrachten, auf dem Rückwege die Richtung verfehlen und sich bis nach Skrolycka verirren würde.

Er beruhigte Katrine, so gut er konnte. Es fehle ihnen nichts, weder ihm noch dem Kinde. Da er nun so lange dagestanden habe, wolle er auch noch ein wenig länger warten.

Nirgends war ein Mensch zu sehen; aber Jan war fest überzeugt, daß ihm Hilfe zuteil werde, wenn er nur noch ein wenig wartete. Es konnte ja nicht anders sein. Er hätte sich auch gar nicht verwundert, wenn eine Königin in einer goldenen Kutsche durch Gebirge und Waldesdickicht dahergefahren gekommen wäre, um dem kleinen Mädchen in seinen Armen ihren Namen zu geben.

Wieder verging eine Weile; aber nun fühlte Jan den Abend herannahen, und da konnte er nicht länger draußen stehenbleiben.

Katrine konnte auf der Uhr im Zimmer sehen, wie spät es war, und sagte wieder, er solle jetzt hereinkommen.

»Hab nur noch einen Augenblick Geduld!« erwiderte Jan. »Ich glaube, ich kann dort drüben im Westen jemand herankommen sehen.«

Den ganzen Tag hindurch war das Wetter trüb gewesen, aber in diesem Augenblick brach die Sonne durch die Wolken und ließ ein paar goldene Strahlen auf das Kind fallen.

»Ich verwundere mich nicht, daß du dir die Kleine ansehen willst, ehe du dich zur Ruhe begibst«, sagte Jan zu der Sonne. »Sie ist es wert, daß man sie ansieht.«

Die Sonne brach immer heller hervor und warf einen roten Schein auf das Kind und das ganze Häuschen.

»Aha, du willst wohl überdies Patenstelle bei der Kleinen übernehmen?« sagte Jan in Skrolycka.

Darauf gab die Sonne nicht unmittelbar Antwort; in rotgoldener Pracht leuchtete sie noch einmal hell auf, zog dann aber den Wolkenschleier wieder vor und verschwand.

Nun erklang Katrines Stimme aufs neue.

»Ist jemand dagewesen?« fragte sie. »Es war mir, als hättest du mit jemand gesprochen. Du mußt jetzt hereinkommen.«

»Ja, jetzt komm’ ich«, sagte Jan und trat auch sogleich herein. »Eine furchtbar vornehme Dame ist eben vorbeigegangen. Aber sie hatte es sehr eilig; ich konnte ihr kaum guten Tag sagen, da war sie auch schon wieder verschwunden.«

»Ach je, das ist doch recht ärgerlich, nachdem wir nun so lange gewartet haben! Du hast sie wohl gar nicht nach ihrem Namen fragen können?«

»Doch, sie hieß Klara Fina Gulleborg1), soviel hab’ ich aus ihr herausgebracht.«

»Klara Fina Gulleborg! Das ist doch wohl ein zu vornehmer Name für das Kind«, sagte Katrine, erhob dann aber doch keinen weiteren Widerspruch.

Aber Jan in Skrolycka war ganz bestürzt über sich selbst, weil er auf etwas so Großes verfallen war, die Sonne als Patin für sein kleines Mädchen zu nehmen. Ja, in dem Augenblick, wo man ihm das Kind in die Arme gelegt hatte, war er ein neuer Mensch geworden.

Die Taufe

Als das kleine Mädchen aus Skrolycka zum Pfarrer gebracht werden sollte, um die heilige Taufe zu empfangen, benahm sich Jan, ihr Vater, sehr dumm; es fehlte nicht viel, so hätte er von seiner Frau und von den Gevatterleuten heftige Schelte bekommen.

Erik in Fallas Frau wollte das Kind über die Taufe halten. Sie fuhr mit der Kleinen im Arm nach dem Pfarrhaus, und Erik in Falla ging selbst neben dem Wagen her und führte die Zügel; die erste Wegstrecke bis zum Duvnäser Hüttenwerk war so schlecht, daß man sie kaum einen Weg nennen konnte, und Erik auf Falla wollte vorsichtig sein, wenn er ein ungetauftes Kind im Wagen fuhr.

Jan in Skrolycka hatte der Abfahrt aufmerksam zugesehen. Er hatte das Kind selbst aus dem Hause herausgeholt, und niemand wußte besser als er, was für prächtige Leute das waren, die jetzt das Kind übernahmen. Erik in Falla war beim Fahren ebenso zuverlässig wie in all seinem anderen Tun, das wußte Jan sehr wohl, und die Mutter in Falla hatte selbst sieben Kinder geboren und aufgezogen, das wußte Jan auch; deshalb hätte er sich also nicht im geringsten beunruhigt zu fühlen brauchen.

Aber als die kleine Gesellschaft seinen Augen entschwunden war und er sich wieder an seine Grabarbeit auf Erik in Fallas Brachfeld gemacht hatte, da überkam ihn plötzlich eine furchtbare Angst. Wie, wenn nun Erik in Fallas Pferd durchging? Oder wenn der Pfarrer das Kind in dem Augenblick, wo es ihm von der Patin übergeben wurde, fallen ließe? Oder wenn die Mutter in Falla das Kind in so viele Tücher und Decken gehüllt hätte, daß es erstickt war, wenn sie mit ihm am Pfarrhaus ankämen?

Jan sagte sich selbst, es sei sehr unrecht, wenn er sich solche Sorgen mache, da er ja Erik in Falla und dessen Frau als Gevatterleute habe. Aber die Angst ließ ihn nicht los. Und plötzlich hielt er es nicht mehr aus; er stellte den Spaten weg und machte sich, wie er ging und stand, auf den Weg nach dem Pfarrhaus.

Er nahm den Richtweg über die Hügel und lief aus Leibeskräften. Und richtig, als Erik von Falla in den Wirtschaftshof der Pfarrei hineinfuhr, war Jan Andersson von Skrolycka der erste Mensch, den er erblickte.

Nun ist es ganz und gar nicht schicklich, daß Vater oder Mutter dabei sind, wenn die Kinder getauft werden, und Jan sah auch gleich die Unzufriedenheit der Gevatterleute, weil er nach dem Pfarrhof gelaufen war. Erik winkte ihn nicht zur Hilfe beim Pferd herbei, sondern spannte selbst aus, und die Mutter von Falla nahm das Kind hoch auf und ging, ohne ein Wort zu Jan zu sagen, die Anhöhe hinauf und in die Pfarrküche hinein.

Da die Gevatterleute Jan offenbar nicht sehen wollten, wagte er es nicht, näher herbeizukommen. Aber als die Nachbarsfrau an ihm vorbeiging, klang ein leises Piepsen aus dem Bündel heraus an Jans Ohr, und nun wußte er wenigstens eins: das Kind war unterwegs nicht erstickt.

Er fühlte wohl, wie töricht er sich benahm, weil er nun nicht schnurstracks wieder heimging; aber jetzt war er ganz fest überzeugt, daß der Pfarrer das Kind fallen lassen werde, und so konnte er nicht anders, er mußte dableiben.

Eine Weile wartete er auf dem Wirtschaftshof, dann ging er nach dem Wohnhaus und trat in den Flur.

Es ist so unpassend wie nur möglich, wenn der Vater des Kindes bei der Taufe mit zum Pfarrer kommt, namentlich, wenn er solche Gevatterleute für sein Kind hat, wie Erik von Falla und Erik von Fallas Frau. Als nun die Tür zu der Amtsstube des Pfarrers aufging, nachdem eben die heilige Handlung begonnen hatte, und Jan Andersson von Skrolycka sich in seinem schlechten Arbeitsanzug vorsichtig ins Zimmer hereinschob und also keine Möglichkeit mehr war, ihn wieder hinauszuschicken, da gelobten sich die beiden Gevatterleute in ihrem Herzen, sobald sie nach Hause kämen, Jan wegen seines unpassenden Benehmens ordentlich die Leviten zu lesen.

Alles ging bei der Taufe, wie es sich gehörte, ohne den kleinsten Zwischenfall, und Jan Andersson hatte durchaus keine Entschuldigung für sein Eindringen. Gerade vor Schluß der Handlung öffnete er die Tür wieder und schob sich sachte in den Flur hinaus. Er sah ja, daß alles ohne ihn wohl und gut ablief.

Nach einer kleinen Weile kam Erik in Falla mit seiner Frau auch auf den Flur heraus. Sie wollten wieder in die Küche gehen, wo die Mutter in Falla das Kind aus allen überflüssigen Tüchern herausgeschält hatte.

Erik in Falla ging voraus und machte seiner Frau die Küchentür auf; aber als er dies tat, stürmten zwei junge Katzen in den Flur herein, und gerade vor den Füßen der Mutter in Falla kugelten sie übereinander; dadurch stolperte die Mutter in Falla und war auf dem Punkt, zu Boden zu stürzen.

Sie kam in ihren Gedanken gerade noch so weit: ›Jetzt stürz’ ich mit dem Kinde hin, und es fällt sich zu Tode, und ich werd’ unglücklich zeit meines Lebens‹, als sie von einer kräftigen Hand erfaßt und aufrecht gehalten wurde.

Und als sie sich umsah, so war der Helfer in der Not niemand anders als Jan in Skrolycka, der im Flur geblieben war, ganz wie wenn er gewußt hätte, daß man ihn hier brauchen würde.

Aber ehe sich die Mutter in Falla wieder von ihrem Schrecken erholt hatte und etwas zu Jan sagen konnte, war er verschwunden. Und als sie mit ihrem Mann nach Hause gefahren kam, stand er wieder draußen bei seiner Grabarbeit.

Nachdem das drohende Unglück verhindert worden war, hatte er gefühlt, daß er nun ruhig nach Hause gehen konnte.

Aber weder Erik noch seine Frau sagten etwas zu ihm wegen seines unpassenden Benehmens. Statt dessen lud ihn die Mutter in Falla zum Kaffee herein, in dem erdigen, lehmbespritzten Anzug, in dem er da draußen auf dem herbstlich feuchten Brachfeld seine Arbeit verrichtete.

Das Impfen

Als das kleine Mädchen von Skrolycka geimpft werden sollte, hatte niemand etwas einzuwenden, daß ihr Vater Jan mitging, als er selbst die Absicht kundtat. Das Impfen sollte eines Abends Ende August vorgenommen werden, und als Katrine von Hause wegging, war es schon ganz dunkel. Sie war deshalb sehr froh, jemand bei sich zu haben, der ihr über die Zäune und Gräben und alle anderen Schwierigkeiten auf dem elenden Weg hinüberhalf.

Die Kinder sollten in Erik in Fallas Haus geimpft werden, und die Mutter in Falla hatte auf der Feuerstelle ein Riesenfeuer angezündet, das ihrer Meinung nach neben einem dünnen Talglicht auf einem Tischchen, wo der Küster seine Arbeit verrichten sollte, zur Beleuchtung vollständig ausreichte.

Die Leute von Skrolycka fanden es, wie alle die andern Anwesenden, ungewöhnlich hell im Zimmer, obwohl die Dunkelheit wie eine grauschwarze Mauer vor den Wänden stand und das Zimmer kleiner erscheinen ließ, als es in Wirklichkeit war. Und in dieser Dunkelheit konnte man einen Haufen Weiber unterscheiden mit Kindern, die nicht älter als ein Jahr waren und die noch auf dem Arm getragen, geschweigt und auf jede Weise versorgt werden mußten.

Die meisten waren dabei, ihre Kleinen aus den Tüchern und Umhüllungen herauszuschälen. Dann zogen sie ihnen die bunten Kattunkittelchen aus und lösten die Bänder, mit denen die Hemdchen zusammengebunden waren, damit nachher, wenn der Küster zum Impftisch rief, der Oberkörper des Kindes leicht entblößt werden konnte.

Es war merkwürdig still im Zimmer, obgleich so viele kleine Schreihälse hier beieinander waren. Das gegenseitige Anstarren schien ihnen offenbar Vergnügen zu machen und so vergaßen sie alles Lärmen und Schreien. Und die Mütter verhielten sich auch still, um besser hören zu können, was der Küster sagte, der die ganze Zeit über mit ihnen redete.

»Es gibt für mich wirklich nichts Angenehmeres, als wenn ich so zum Impfen umherziehe und mir dabei alle die hübschen Kinder betrachten kann«, sagte der Küster. »Nun wollen wir sehen, ob das ein feiner Jahrgang ist, den ihr hier bieten könnt.«

Der Mann war nicht nur der Küster, sondern auch der Schullehrer, und er hatte zeit seines Lebens in diesem Kirchspiel gewohnt. Er hatte schon die Mütter geimpft und unterrichtet, war Zeuge ihrer Konfirmation und ihrer Hochzeiten gewesen, und nun sollte er ihre Kinder impfen. Das war das erste, was die kleinen Weltbürger mit dem Manne zu tun bekamen, der später eine große Rolle in ihrem Leben spielen würde.

Der Anfang ließ sich günstig an. Eine Mutter nach der andern kam herbei, setzte sich auf den Stuhl neben dem Tisch und hielt ihr Kind so, daß der Lichtschein auf dessen nacktes linkes Ärmchen fiel. Und während der Küster immer weiter redete, setzte er die drei Schnitte in die glänzende weiße Haut, ohne daß das Kind einen Laut von sich gab.

Dann ging die Mutter mit dem Kind zum Feuer hin und hielt sich eine Weile in der Nähe der Flammen auf, um den Impfstoff eintrocknen zu lassen. Inzwischen dachte sie an das, was der Küster zu ihr und ihrem Kind gesagt hatte, nämlich, daß es groß und schön sei und dem Hofe zur Ehre gereichen und ebenso tüchtig werden solle, wie sein Vater und Großvater, ja vielleicht noch tüchtiger.

So ging es still und ruhig weiter, bis die Reihe an Katrine von Skrolycka war. Als sie mit dem Kinde herbeikam, schrie und wehrte sich die kleine Klara und schlug um sich. Katrine versuchte sie zu beruhigen, und der Küster sprach sanft und freundlich mit ihr, aber sie war und blieb von wilder Angst beherrscht.

Katrine mußte sie wieder wegtragen und versuchen, sie zu beschwichtigen. Darauf wurde ein großer starker Junge geimpft, der nicht einen einzigen Schrei hören ließ; aber als Katrine dann mit der Kleinen wieder herbeikam, erneute sich der vorherige Auftritt. Sie konnte das Kind nicht dazu bringen, so lange stillzuhalten, daß der Küster auch nur einen einzigen Schnitt machen konnte.

Außer der kleinen Klara war kein Kind mehr zum Impfen da, und Katrine war ganz außer sich, weil sich ihr Kind so schlecht aufführte. Sie wußte nicht, was sie tun sollte, als plötzlich Jan ganz rasch aus der Dunkelheit bei der Tür hervortrat.

Er nahm das Kind auf den Arm, und Katrine stand von dem Stuhl auf, um ihm Platz zu machen.

»Ja, versuch du, ob’s dir besser geht!« sagte sie mit leicht verächtlichem Ton in der Stimme, denn sie hielt den kleinen abgearbeiteten Knecht Erik in Falla, den sie geheiratet hatte, in gar keiner Hinsicht für besser als sich selbst.

Aber ehe Jan sich setzte, warf er die Jacke zurück, und nun zeigte es sich, daß er drüben in der Dunkelheit seinen Hemdärmel weit hinaufgekrempelt hatte. Er streckte den nackten Arm vor und sagte, er möchte selbst gern geimpft werden. In seinem ganzen Leben sei er erst einmal geimpft worden und er fürchte sich vor nichts so sehr wie vor den Pocken.

Als die kleine Klara den nackten Arm sah, wurde sie plötzlich ganz still und sah ihren Vater mit großen klugen Augen gespannt an.

Sie sah auch aufmerksam zu, wie der Küster die drei roten Striche in den Arm machte. Dann sah sie von dem einen zum andern und merkte da recht wohl, daß es dem Vater gar nicht schlecht erging.

Als Jan Andersson fertig war, wendete er sich an den Küster und sagte:

»Jetzt ist die Kleine ganz ruhig, nun könnt Ihr’s vielleicht noch einmal versuchen, Küster.«

Ja, der Küster versuchte es noch einmal, und diesmal ging es ausgezeichnet. Die kleine Klara saß die ganze Zeit mit derselben altklugen Miene da und stieß nicht einen einzigen Schrei aus.

Auch der Küster schwieg, bis er mit seiner Arbeit fertig war, dann sagte er:

»Wenn Ihr das nur getan habt, um das Kind zu beruhigen, Jan, dann hätten wir ja nur so tun können, als wollten wir — — —«

Aber da fiel Jan ein: »Nein, nein, Küster, das wär’ nicht gegangen. So ein Kind wie dieses gibt es gar nicht mehr. Dieser Kleinen kann man unmöglich etwas weismachen, was nicht wirklich so ist.«

Der Geburtstag

An dem Tag, da das kleine Mädchen ein Jahr alt wurde, war ihr Vater auf Erik in Fallas Brachfeld beim Umgraben.

Er versuchte sich klarzumachen, wie es früher gewesen war, als noch niemand da war, an den er bei seiner Arbeit auf dem Felde denken konnte, damals, als ihm auch noch nicht das Herz in der Brust klopfte, als er noch keine Sehnsucht verspürt hatte und nie beunruhigt gewesen war.

»Wie merkwürdig, daß ein Mensch auf diese Weise leben kann!« sagte er und verachtete sich dabei selbst. »Ja«, fuhr er fort, »das ist das einzige, worauf’s ankommt. Wenn ich so reich wär’ wie Erik in Falla, oder so stark wie Börje, der dort drüben seinen Acker umgräbt, so wär’ das gar nichts im Vergleich zu dem klopfenden Herzen in meiner Brust.«

Er sah zu Börje hinüber, der ein ungeheuer starker Mann war und ungefähr doppelt so viel Arbeit bewältigen konnte als er. Während nun Jan zu Börje hinübersah, fiel ihm auf, daß dieser heute lange nicht so weit gekommen war wie sonst.

Sie bekamen von Erik Stücklohn, und Börje übernahm immer mehr als Jan; aber beide wurden trotzdem immer ungefähr zur selben Zeit fertig. An diesem Tag aber war Börje merkwürdig langsam vorwärts gekommen, ja er hielt nicht einmal gleichen Schritt mit Jan, sondern war weit zurückgeblieben.

Aber Jan hatte auch seine ganze Kraft eingesetzt, um möglichst rasch zu seinem kleinen Mädchen heimzukommen. An diesem Tage sehnte er sich noch viel mehr nach ihr als sonst. Sie war abends meist schläfrig, und wenn er sich nicht beeilte, konnte sie möglicherweise schon fest eingeschlafen sein.

Als Jan fertig war, sah er, daß Börje sein Stück kaum halb fertig hatte. Das war in all den Jahren, die sie nun zusammen arbeiteten, noch nie vorgekommen, und Jan verwunderte sich auch so darüber, daß er zu Börje hinging.

Börje stand in dem Graben und plagte sich eben, eine hartnäckige Erdscholle herauszuheben. Er war auf einen Glasscherben getreten und hatte dabei eine tiefe Wunde im Fuß davongetragen. Es war ihm nicht möglich, den Stiefel anzubehalten, und man kann sich wohl denken, wie schrecklich es sein muß, wenn man mit einem verwundeten Fuß den Spaten in die Erde hineinzwingen soll.

»Solltest du nicht lieber aufhören?« fragte Jan in Skrolycka.

»Nein, ich muß durchaus heut fertig werden«, erwiderte Börje, »denn ich bekomm’ ja kein Korn von Erik in Falla, ehe das ausbedungene Stück fertig ist. Und wir haben daheim kein Roggenmehl mehr.«

»Na, gut’ Nacht also!« sagte Jan.

Börje gab keine Antwort. Er war so müde und abgemattet, daß er nicht mehr den gewohnten Abendgruß herausbrachte.

Jan von Skrolycka ging bis zum Rand des Ackers, aber dort hielt er an.

»Was macht’s dem kleinen Mädchen aus, ob du zu ihrem Geburtstag heimkommst«, sagte er zu sich. »Sie hat’s ebenso gut ohne dich; Börje aber hat sieben Kinder daheim und kein Essen für sie. Willst du sie hungern lassen, nur um heimzukommen und mit Klara Gulla zu spielen?«

Er ging zu Börje zurück, stellte sich neben ihn und arbeitete mit ihm weiter; aber da er schon vorher recht müde gewesen war, ging es nicht besonders schnell vorwärts, und es war schon beinahe dunkel, als die beiden endlich fertig waren.

›Jetzt schläft Klara Gulla schon lange‹, dachte Jan, als er endlich den letzten Spatenstich tat.

»Nun gut’ Nacht!« rief er zum zweiten Male Börje zu.

»Gut’ Nacht und Dank für die Hilfe!« erwiderte Börje. »Jetzt geh ich und hol’ mir gleich meinen Roggen. Ich werd’s dir schon ein andermal wettmachen, du kannst dich darauf verlassen.«

»Ich will keine Bezahlung dafür. Gut’ Nacht!«

»Willst du nichts für deine Hilfe haben? Was ist denn los, daß du so großartig bist?«

»Ach, ’s ist ... ’s ist heute der Kleinen ihr Geburtstag.«

»Was, und deshalb hast du mir hier beim Umschoren geholfen?«

»Ja, deshalb und auch noch aus einem anderen Grund. Na also, gute Nacht!«

Jan ging hastig fort, um nicht zu einer Erklärung über das »andere« verlockt zu werden; aber es brannte ihm auf der Zunge zu sagen: Heute ist nicht nur Klara Gullas Geburtstag, sondern es ist auch der meines Herzens.

Aber es war gut, daß er nicht dazu kam, dies zu sagen, denn Börje hätte sicher geglaubt, er sei verrückt geworden.

Der Weihnachtsmorgen

Als das kleine Mädchen ein Jahr alt war, nahm sie Jan Andersson am Weihnachtsmorgen mit in die Kirche zur Christmette.

Seine Frau meinte freilich, das Kind sei doch noch zu klein, als daß man es schon in die Kirche mitnehmen könnte, auch fürchtete sie, es könnte sich wieder so ungebärdig anstellen wie damals beim Impfen.

Aber Jan setzte seinen Willen durch, weil es ja nicht gegen die Sitte verstieß, wenn kleine Kinder mit zur Weihnachtsmette genommen wurden.

So machten sich die Leute von Skrolycka mit Klara Gulla am Weihnachtsmorgen schon früh um fünf Uhr auf den Weg. Es war bedeckter Himmel und so finster wie in einem Sack, aber die Luft war nicht kalt, sondern fast mild und dazu vollkommen still, so wie es dort in der Gegend Ende Dezember zu sein pflegt. Gleich zu Anfang ging es einen engen Pfad zwischen den Äckern und Gehölzen in Askedalarna entlang. Dann mußten die Wanderer dem steilen verschneiten Weg über den Snipahügel folgen, und erst dann kamen sie auf ordentliche Wege.

Das große zweistöckige Wohnhaus auf Falla hatte in allen Fenstern brennende Kerzen; es winkte den Leuten von Skrolycka zu wie ein Leuchtturm, und so konnten sie sich bis zu Börjes Haus hindurchfinden. Dort trafen sie mit ein paar Nachbarn zusammen, die sich am Abend vorher Fackeln zurecht gemacht hatten, mit denen sie sich nun den Weg erhellten; an diese schlossen sich die Leute von Skrolycka an. Jeder Fackelträger ging an der Spitze einer kleinen Schar. Die meisten schwiegen, aber alle waren frohen Mutes. Sie kamen sich vor wie die Weisen aus dem Morgenlande, die beim Scheine des Wundersterns dahinwanderten, um den neugeborenen König der Juden zu suchen.

Als die ganze Schar die Waldhöhe erreicht hatte, mußte sie an einem großen Steinblock vorbei, den einstmals ein Riese drunten in Frykerud an einem Weihnachtsmorgen nach der Svartsjöer Kirche geschleudert hatte, der aber zum guten Glück über den Kirchturm weggeflogen und hier auf dem Snipahügel liegengeblieben war.

Als die Kirchgänger sich jetzt dem Stein näherten, lag er wie gewöhnlich auf der Erde; aber alle wußten, daß er während der Nacht auf zwölf goldene Pfeiler gehoben worden war und daß der Troll darunter gesessen und getrunken und getanzt hatte.

Es war wirklich kein Vergnügen am Weihnachtsmorgen, an einem solchen Steinblock vorbeigehen zu müssen, und Jan sah eifrig zu Katrine hinüber, ob sie auch das Kind fest an sich gedrückt hielte. Katrine schritt sicher und ruhig fürbaß ganz wie gewöhnlich und unterhielt sich halblaut mit einer Nachbarin. Sie schien gar nicht daran zu denken, was das für ein gefährlicher Platz war.

Hier auf der Höhe standen uralte wetterfeste Tannen. Wenn man diese so im Fackelschein mit den großen Schneeklumpen auf den Zweigen wahrnehmen konnte, drängte sich einem unwillkürlich der Gedanke auf, daß mehrere von ihnen, die man vorher für Bäume gehalten hatte, nichts anderes waren als Trolle mit stechenden Augen unter den weißen Schneemützen und mit langen, scharfen Krallen, die aus den dicken Schneefäustlingen hervorstachen.

Das konnte man ja ertragen, solange sie sich ruhig verhielten, aber wie, wenn einer von ihnen den Arm ausstrecken und eines der Vorübergehenden an sich reißen würde? Für die Erwachsenen und alten Leute war es wohl nicht so gefährlich, aber eines hatte Jan doch immer gehört: die Trolle hatten eine besondere Liebe für winzig kleine Menschenkinder, je kleiner, desto besser!

Es kam ihm vor, als halte Katrine die kleine Klara gar zu sorglos. Ach, für die großen krallenbewaffneten Trollhände war es keine Kunst, ihr das Kind zu entreißen! Hier mitten auf dem gefährlichen Platz wagte es Jan indes nicht, Katrine das Kind aus den Armen zu nehmen. Gerade dadurch hätte sich das Trollpack am Ende zu rühren angefangen.

Schon fing es von dem einen Trollbaum zum andern an zu raunen und zu rauschen. Es knarrte droben in den Zweigen, wie wenn sie versuchen wollten, sich in Bewegung zu setzen.

Jan wagte die andern nicht zu fragen, ob sie das auch sähen und hörten, was er sah und hörte. Denn das hätte ja gerade die Frage sein können, die das Trollpack zum Leben erweckte.

In dieser Erwartung wußte er nur eins, was er tun könnte: er stimmte mitten im Walde ein Lied an.

Jan hatte eine schlechte Singstimme und er hatte auch im Beisein anderer noch nie gesungen. Es fiel ihm sehr schwer, den Ton richtig zu treffen, und er wagte deshalb nicht einmal in der Kirche mitzusingen; aber jetzt mußte er singen, mochte es gehen, wie es wollte. Er sah, daß die Nachbarn sich über ihn wunderten. Die vor ihm gingen, stießen einander an und schauten sich nach ihm um; doch das durfte ihn nicht hindern; er mußte weitersingen.

Gleich darauf flüsterte ihm indes eine der Frauen zu: »Wartet ein wenig, Jan, ich werd’ Euch helfen!«

Und dann stimmte sie mit der richtigen Melodie und dem richtigen Ton in das Weihnachtslied ein.

Es klang schön durch die Nacht zwischen den Bäumen. Die andern konnten nun auch nicht zurückbleiben, sondern stimmten ebenfalls mit ein.

»Gruß dir, du schöne Morgenstund’, durch der Propheten heil’gen Mund ist sie verkündet worden!«

Da ging es wie ein ängstliches Sausen durch die Trollbäume. Sie zogen die Schneemützen so tief herein, daß man nichts mehr von ihren bösen Trollaugen sah, und auch die ausgestreckten Krallen zogen sie unter Tannennadeln und Schnee zurück. Als der erste Liedervers verklungen war, konnte niemand mehr sehen, daß da oben auf der Waldhöhe etwas anderes zu sehen war, als gewöhnliche, ungefährliche alte Tannenbäume.

Die Fackeln, die den Leuten aus Askedalarna durch den Wald geleuchtet hatten, waren abgebrannt, als die Schar die Landstraße erreichte. Aber von da an ging es dank der erleuchteten Bauernhäuser weiter. Wenn ein Haus aus dem Gesichtskreis entschwand, gleich schimmerte ein anderes in geringer Entfernung auf. Die Leute hatten in alle Fenster Lichter gestellt, um den armen Wanderern den rechten Weg nach der Kirche zu zeigen.

Schließlich erreichten die Leute einen Hügel, von dem man die Kirche sehen konnte. Da stand sie vor ihnen: aus allen Fenstern strömte heller Lichterschein heraus, und sie sah aus wie eine riesengroße Laterne.

Als die Wanderer die Kirche sahen, blieben sie unwillkürlich stehen, der Anblick raubte ihnen den Atem. Nach allen den kleinen Häusern und niederen Fenstern, an denen sie vorbeigepilgert waren, kam ihnen die Kirche überwältigend groß und überirdisch hell vor.

Als Jan die Kirche erblickte, mußte er unwillkürlich an ein paar arme Leute in Palästina denken, die eine ganze Nacht unterwegs gewesen waren und ein kleines Kind bei sich hatten, ihren einzigen Trost und ihre einzige Freude. Sie kamen von Bethlehem und