Der Kaufhauskönig - Peter Hoeres - E-Book

Der Kaufhauskönig E-Book

Peter Hoeres

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Beschreibung

Der »Kaufhauskönig« Helmut Horten (1909–1987) gilt als herausragender Akteur des bundesdeutschen Wirtschaftswunders. Er schuf in rasantem Tempo den viertgrößten deutschen Kaufhauskonzern. Seine Warenhäuser galten als "Paradies der Damen". Hortens Unternehmen bescherte ihm großen Reichtum und machte ihn zu einem der wenigen Milliardäre der alten Bundesrepublik. Bis heute ist allerdings kaum etwas bekannt über die Hintergründe seines Aufstiegs, seine Tätigkeit während der NS-Zeit, seine weitreichenden Verbindungen in die Politik und die privaten Seiten seiner Persönlichkeit. Zum ersten Mal wird auf Grundlage neu gehobener Quellen seine Biografie erzählt und ein eindrucksvolles Porträt eines prominenten Gesichts der »Generation Boom« gezeichnet.

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Seitenzahl: 578

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Peter Hoeres / Maximilian Kutzner

Der Kaufhauskönig

Helmut HortenBiografie

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2024Alle Rechte vorbehaltenwww.herder.deCovergestaltung: © Verlag Herder GmbHCovermotiv: Liselotte Strelow, Porträt Helmut Horten, 1977, © VG Bild-Kunst, Bonn 2023E-Book-Konvertierung: SatzWeise, Bad WünnenbergISBN Print: 978-3-451-39544-4ISBN E-Book (EPUB): 978-3-451-83085-3ISBN E-Book (PDF): 978-3-451-83086-0

Inhalt

Einleitung

Kapitel 1 Ausbruch aus der Juristenfamilie (1909–1936)

Die Sippe: Die Hortens als Kaufleute am Niederrhein

Rheinisches Bürgertum: Die Hortens als Juristenfamilie

Nicht in Köln! Anfänge im Warenhaus

Kapitel 2 Aufstieg in der Diktatur (1936–1939)

Die Übernahme: Das Kaufhaus Alsberg und die Gründung der Helmut Horten KG

Auf eigene Rechnung: Die Helmut Horten GmbH in Wattenscheid und kleinere Beteiligungen

Fernab der Heimat: Reinold & Co KG und Reinold & Horten KG in Ostpreußen

Kapitel 3 Unternehmer im Krieg (1939–1945)

Keine leeren Regale und ein riskantes Spiel: Reichsverteiler für Textilien im Rheinland

(Un-)Günstige Gelegenheiten: Gescheiterte Übernahmen in den besetzten Gebieten

Auf fremdem Terrain: Die Flugzeugwerk Johannisthal GmbH

Kapitel 4 Blick zurück, Augen nach vorne (1945–1950)

Grundlose Verdächtigungen oder „Schurke der übelsten Sorte“? Inhaftierung und Entnazifizierung

Verantwortung übernehmen, wo es nötig ist: Wiedergutmachung

Nicht ganz uneigennützig: Lastenausgleichsverhandlungen

Wiederaufstieg: Der „Bau der 100 Tage“

Kapitel 5 Der Herr im „Paradies der Damen“ (1951–1968)

Der erste Zukauf: Die Übernahme der Merkur-Kaufhäuser

Wachsen um jeden Preis: Die Übernahme der Emil Köster AG

Das Meisterstück: Die Helmut Horten GmbH

Der Streit um die Kachel: Die Architektur der Horten-Kaufhäuser

Patriarch im Garten der Hortensien: Unternehmens- und Mitarbeiterführung

Wunschkoalitionen, Parteispenden und eine Kegelbahn: Horten und die Politik

Kapitel 6 Absprung ins Privatleben (1968–1987)

Geld machen: Gründung der AG und Börsengang

Lex Horten: „Steuerflucht“ ins Tessin

An seiner Seite: Heidi Horten und Freunde

Hortens Welt: Arbeitsaskese und Leben im Luxus

Zwischen Abschottung und Homestory: Hortens Verhältnis zur Öffentlichkeit

Krankheiten und Ängste: Späte Jahre

Fazit: Helmut Horten – ein Repräsentant der „Generation Boom“

Anhang

Dank

Hortens Warenhäuser

Anmerkungen

Quellen- und Literaturverzeichnis

Archivalische Quellen

Zeitungen und Zeitschriften

Publizierte Quellen und Literatur

Abbildungsnachweis

Personenregister

Über die Autoren

Einleitung

Das Warenhaus Horten war ein Ort der Sehnsüchte. Wer über die Schwelle der mehrgeschossigen Bauten mit der auffälligen Wabenfassade trat, hatte meist mehr im Sinn als nur ein paar schnelle Besorgungen. Das Bummeln und Schlendern durch die Gänge gehörte zum Einkauf dazu. Man konnte sich ziellos treiben lassen. Um ins nächste Stockwerk zu gelangen, musste man nicht einmal Stufen steigen. Aufzüge und Rolltreppen beförderten die Kundschaft und schoben sie von Angebot zu Angebot. Im Sommer strömte aus den Klimaschächten angenehme Kühle, im Winter wurde den Kunden bereits am Eingang wohlige Wärme entgegengeblasen. Im Hintergrund spielte leise, fast nicht wahrnehmbare Musik, unterbrochen von kurzen Werbedurchsagen und Hinweisen auf die Angebote der Woche. Die Kulisse variierte zwischen heller Beleuchtung, die sich in makellos weißen Porzellantellern widerspiegelte, und gedimmten Scheinwerfern in den Separees der Abteilung für Damenoberbekleidung, in der nicht jede Kundin wünschte, dass sie voll ausgeleuchtet wurde. Von außen drang kaum Tageslicht herein; das ließ die Menschen im Inneren die Zeit vergessen. Die Luft war trocken und roch leicht chemisch nach neuer Kleidung. Über die Flure waberte der Duft der Parfumabteilung.

Die Haushaltsabteilung im Duisburger Kaufhaus Horten, 1950

So erlebten die Besucher Horten und die Welt des Warenhauses. In den Wirtschaftswunderjahren der Bundesrepublik weckten sie Sehnsüchte nach einem neuen Sommerkleid, einem Rundfunkgerät oder einer bunten Spielzeugeisenbahn. Es ging nicht allein um Konsumbefriedigung. Die Schaufenster von Horten und den anderen Warenhäusern ermöglichten einen Blick in die Zukunft. Eines Tages würde man sich schon leisten können, was man hier angeboten sah. Dies war ein Ansporn. So ist das Warenhaus bis heute bei vielen Menschen positiv besetzt. Meist sind es Kindheitserinnerungen, die damit verbunden sind. Bei Horten konnten Wünsche wahr werden – früher oder später.

Die Verlockungen begannen im Untergeschoss mit der Lebensmittelabteilung. Wer wollte, der konnte hier auch einen Wocheneinkauf tätigen. Aber im Fokus standen jene Kunden, die auf dem Heimweg aus dem Büro nur ein paar Kleinigkeiten für das Abendessen und eine Flasche Wein kauften. Frisches Fleisch und Fisch wurden anders als auf dem Wochenmarkt jeden Tag geboten. In einer Zeit, als eine Orange oder eine Tafel Schokolade für eine durchschnittliche Familie noch längst nicht zum täglichen Bedarf gehörten, war die Lebensmittelabteilung von Horten vielleicht der Ort, an dem den Kunden der größte Luxus geboten wurde. Die Lebensmittelabteilung hob das Warenhaus außerdem vom einfachen Kaufhaus ab: Dem Kaufhaus fehlte die Lebensmittelabteilung, Textilien waren die primäre Sortimentsgruppe, und oft handelte es sich um kleinere Häuser auf weniger Etagen. Das Warenhaus hingegen verfügte über eine Lebensmittelabteilung. Damit einher gingen meist auch ein umfassenderes Warensortiment und eine baulich großzügigere Gestaltung.

Das Erdgeschoss war die Visitenkarte jeden Hauses, ganz gleich ob Waren- oder Kaufhaus. Die Schaufenster waren bei Horten stets aufwändig und ansprechend gestaltet und gut einsehbar. Katalogartig zeigten sie Kleidung, Technik und allerlei andere Waren, die thematisch gruppiert waren. Hauseigene Maler schufen kunstvolle Hintergrundbilder und beschrieben Preis- und Angebotstafeln. Dekorateure arrangierten die Warenpräsentation. Gleich hinter dem meist gläsernen Haupteingang teilten klug postierte Aufsteller und Regale die Familien beim gemeinsamen samstäglichen Einkaufsbummel: Vater bog rechts in die Abteilung für Rauchwaren ab. Gleich daneben war der Juwelier, bei dem sich für die Gattin rasch das Geburtstagsgeschenk erstehen ließ, während die bereits auf dem Weg ins Obergeschoss war. Zielsicher strebten die Kinder ebenfalls in Richtung der Rolltreppen, um in die Spielwarenabteilung zu gelangen.

Das erste Obergeschoss gehörte den Damen. Als einzige Käufergruppe hatten sie eine ganze Etage für sich. Sie waren die umsatzstärkste Kundschaft. Vom Büstenhalter bis zum Pelzmantel fand sich hier alles, was die Körper der Kundinnen umhüllen konnte. Horten bot etwas für jeden Geldbeutel. Die preiswerten Blusen hingen auf stählernen Gestellen, die gehobenen Kostüme hingegen in Separees. In räumlich und gestalterisch abgesetzten Nischen fand sich die Boutique „Miss H.“, welche Mode für junge Frauen bot.

Die Etage darüber war der Platz der Herrenabteilung. Weil die Herren weniger kauffreudig als ihre Gattinnen waren, teilten sie sich ihre Abteilung mit einer anderen Sortimentsgruppe wie Stoffen oder Badtextilien. Wer wollte, der konnte auch hier anspruchsvolle Mode finden. Der „Herrenausstatter“, eine weitere Boutique, bot Maßkonfektion. Seine Zielgruppe waren die modebewussten Angestellten. Weil die Horten-Warenhäuser wie die meisten Bürogebäude damals im Zentrum der Städte lagen, ließ sich hier in der Mittagspause leicht eine neue Krawatte finden oder ein Anzug bestellen.

Weiter oben lagen die Abteilungen für Haushaltswaren und Technik. Bügeleisen, Fernseher, Zahnbürsten oder Haartrockner – Horten hatte in den 1970er Jahren fast 120.000 unterschiedliche Artikel im Sortiment.1 Ganz oben, meist mit herrlichem Blick über die Innenstadt und manchmal auch mit einer Außenterrasse, befand sich der Kupferspieß. Das Restaurant war in dieser Form eine Innovation im deutschen Einzelhandel. Zwar hatte es bereits um die Jahrhundertwende Gasträume in großen Warenhäusern gegeben. Die Horten-Warenhäuser waren jedoch nach dem Zweiten Weltkrieg die ersten, die in Form einer Systemgastronomie aufgebaut waren und als Familienrestaurants nach US-amerikanischem Vorbild organisiert und ausgestattet waren. Der Kupferspieß bot Deftiges an, kurzgebratene Fleisch- und Wurstgerichte. Gab es eine besondere Gelegenheit wie eine Fußball-Weltmeisterschaft, dann wurde das Restaurant in den Farben des Gastgeberlandes geschmückt und bot – vermeintlich – landestypische Gerichte an. Im Kupferspieß endete ein nicht selten mehrstündiger Aufenthalt im Warenhaus bei Schaschlik-Spießen, Bier und süßer Limonade.

Vielleicht fiel dem einen oder anderen Kunden beim Schlendern durch die Gänge und Etagen ein schlanker und gut gekleideter Herr auf. Sein Anzug saß perfekt, öfter mit Karo- oder Nadelstreifenmuster. Die Krawatte war hochgeschlossen, das Hemd weiß. Das dichte Haar war glatt zurückgekämmt und das Handgelenk umschlang eine offensichtlich teure, aber nicht aufdringliche Uhr mit schwarzem Lederarmband. Er beäugte kritisch einen Stapel ungeordneter Pullover vor den Umkleidekabinen, blickte nach oben auf eine ausgefallene Glühbirne und beobachtete wie ein Ladendetektiv nicht die Kunden, sondern die Verkaufsgespräche des Personals. Nichts schien ihm zu entgehen. Alles wurde mit einem kleinen blauen Horten-Werbekugelschreiber in einem Notizbuch aufgenommen.

So gingen vermutlich viele Kunden an Helmut Horten vorüber, ohne zu bemerken, dass er der Hausherr über mehr als 50 Warenhäuser in ganz Deutschland war. Manchen mag der Mann mittleren Alters bekannt vorgekommen sein, war doch von ihm ab und an in bundesdeutschen Illustrierten zu lesen. Der gut gekleidete Herr war gerade auf einer seiner berüchtigten Inspektionen. Als Vollblutverkäufer notierte er selbst kleinste Mängel in seinen Häusern und bei seinen Angestellten und ging anschließend mit den Filialleitern in die Manöverkritik. Er war der Chef, alle Fäden liefen bei ihm zusammen. Sein Wort war Gesetz. Bis hinunter zur Dekoration der Waren ließ er den einzelnen Häusern genaue Instruktionen diktieren. Das Warensortiment war in weiten Teilen vorgegeben. Wer davon abwich, der musste mit Konsequenzen rechnen. Hortens Angestellte, von der Führungsetage bis zum Warenlager, wurden von ihm ebenso straff wie fürsorglich geführt. Wer für ihn arbeitete, erhielt gesonderte Zuwendungen für gute Arbeit und lange Betriebszugehörigkeit. Die „Hortensien“, die weiblichen Verkaufskräfte in den Fluren und hinter den Kassenschaltern, waren nicht selten Jahrzehnte im Betrieb. Auch lange nachdem der Name Horten aus den deutschen Innenstädten verschwunden ist, treffen sich ehemalige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu nostalgischen Runden und schwelgen in der Vergangenheit.2 Helmut Horten hat es über seinen Tod im Jahr 1987 hinaus geschafft, seine Angestellten an das Unternehmen zu binden.

Doch es gab auch andere Seiten Hortens. Bereits seit den frühen 1950er Jahren kursierten Gerüchte. Sein Aufstieg begann mit der Übernahme von jüdischen Kaufhäusern in der Zeit des Nationalsozialismus. Mit nur 27 Jahren wurde er Inhaber seines ersten Unternehmens. War Horten ein skrupelloser Geschäftemacher, der die Notlage jüdischer Kaufhausinhaber ausnutzte? Nach 1945 saß er für 17 Monate in einem Internierungslager der britischen Besatzungskräfte. Doch schon drei Jahre nach dem Krieg eröffnete er wieder ein großes Kaufhaus. Bald gehörten ihm vierzig Häuser in der ganzen Bundesrepublik. Stammte das Geld für Hortens persönliches Wirtschaftswunder aus den Geschäften der NS-Zeit? In den 1960er Jahren war er ganz oben angekommen. Als er zum Multimillionär wurde, übersiedelte er in die Schweiz und sparte damit etwa 250 Millionen DM Steuern. Fortan wurde Horten als Steuerflüchtling gesehen, der sich über Gesetze hinwegsetzte. Stimmte das? Und inwieweit nutze er seine privaten Bekanntschaften, um weiter aufzusteigen und Einfluss zu nehmen? Vor allem Politiker und Unternehmer waren gern gesehene Gäste auf Hortens Anwesen wie seinem Jagdschloss in Österreich, seiner Yacht an der Côte d’Azur oder in seinem Haus im Tessin. Schließlich gab es den Helmut Horten der Illustrierten. Sein sagenhafter Reichtum, seine geradlinige Art und nicht zuletzt seine schöne junge Ehefrau weckten das Interesse der Medien. Wie ging Horten damit um, und welche Fehler machte er im Umgang mit der Öffentlichkeit?

Helmut Hortens Leben war eng verwoben mit Zäsuren und Etappen der deutschen Zeitgeschichte vom Ende der Weimarer bis fast zum Ende der „alten“ Bundesrepublik. Sein Wirken prägte die deutsche Wirtschafts-, Politik- und Sozialgeschichte. Er war ein typischer Vertreter der „Generation Boom“, jener Alterskohorte, die nach dem Krieg neu durchstarten und die langanhaltende günstige Konjunktur nutzen konnte. Vor allem zwei Aspekte bilden gesonderte Schwerpunkte in dieser Biografie. Der erste ist Hortens geschäftliches Agieren in der Zeit von 1936 bis 1945 und seine spätere Beschäftigung mit jenen Jahren seines Aufstiegs in der NS- Zeit.3 Bei der Darstellung und Bewertung der „Arisierungen“, an denen Horten beteiligt war, folgt diese Arbeit dem etablierten Schema der historischen Forschung: Zunächst wird eine betriebswirtschaftliche Rekonstruktion des Vermögensentzugs auf der Grundlage der zur Verfügung stehenden Quellen unternommen. Danach folgt die Analyse des Verhaltens von Horten im Prozess der Übernahme. Schließlich beleuchtet die Arbeit die Nachgeschichte der „Arisierungen“, die sich von den Wiedergutmachungsverhandlungen und den Korrespondenzen mit den ehemaligen Besitzern bis in die 1970er Jahre zog.

Der zweite Schwerpunkt dieser Biografie, der unmittelbar verknüpft ist mit dem vorigen, ist Hortens Wiederaufstieg während des sogenannten Wirtschaftswunders. Er gehörte zur Gruppe jener Unternehmer, die den wirtschaftlichen Aufschwung nutzten und gestalteten. Oft konzentriert sich die wirtschaftshistorische Forschung auf die Geschichte der Industrie. Das Bild der rauchenden Schlote der 1950er Jahre haben daher viele vor Augen. Doch es war der Einzelhandel, der in Ludwig Erhards Konzeption der „Sozialen Marktwirtschaft“ eine zentrale Bedeutung hatte. Er war das Bindeglied zwischen Konsumenten und Produzenten. Horten ermöglichte vielen Millionen Deutschen mit seinen Warenhäusern den relativ preiswerten Zugang zu einem breiten Warensortiment und damit den Anschluss an die moderne Konsumgesellschaft. Der Aufbau seines Unternehmens ist damit ein integraler Teil bundesdeutscher Wirtschaftsgeschichte. Daher wird dem schrittweisen Wachstum des Unternehmens bis hin zur Umwandlung in eine Aktiengesellschaft und dem Rückzug seines Gründers viel Raum gegeben und so die goldene Zeit der Waren- und Kaufhäuser in der Bundesrepublik beleuchtet.4

Diese Biografie Helmut Hortens ist chronologisch aufgebaut. Sie setzt vor seiner Geburt an. Denn die Hortens waren bereits seit dem 17. Jahrhundert eine bedeutende Kaufmannssippe am Niederrhein und machten sich später einen Namen als Juristen und katholische Geistliche. Helmut Hortens Entscheidung, Kaufmann zu werden, war ein Ausbruch aus der Familientradition und gleichzeitig eine Rückkehr zu alten Wurzeln. Die folgenden Jahre, von der ersten geschäftlichen Tätigkeit 1936 bis zum Kriegsende, bilden gemeinsam mit dem darauf folgenden Kapitel zu den ersten Nachkriegsjahren den ersten oben beschriebenen inhaltlichen Schwerpunkt.

Danach wendet sich die Biografie der engen Verwobenheit von Hortens Leben und seinen Geschäften zu. In den 1950er und 1960er Jahren lebte er für die Arbeit. Erscheint das Netz an Firmen, Beteiligungen und Aktienpaketen bisweilen verwirrend, so blieb ein Grundsatz stets erhalten: Horten behielt alles in der Hand. Dieses Konzept galt bis zur Gründung der Horten AG 1968, die ihm durch den Verkauf von Aktienpaketen den Rückzug ermöglichte. Sie ist sinnbildlich für Hortens Biografie: Um ein Privatleben führen zu können, musste er sich zuvor vom Geschäft trennen. Dieses Privatleben war ambivalent, wie das letzte Kapitel dieses Buches zeigen wird. Es changierte zwischen Luxus, Reichtum und sorglosen Stunden an Deck der Yacht Carinthia einerseits und einem fast asketischen Lebenswandel, unheilvollen Bedrohungen von Leib und Leben, zermürbenden gerichtlichen Auseinandersetzungen und Krankheitsängsten andererseits.

Horten hat keinen geschlossenen Nachlass hinterlassen. Anders als von Unternehmern wie Friedrich Flick oder den Krupps gibt es von ihm kein umfassendes und der Öffentlichkeit zugängliches Archiv. Vielmehr wurde im Kontext des Zweiten Weltkriegs nicht nur Material vernichtet, Horten entsorgte auch selbst sehr viele Papiere. Was erhalten geblieben ist, sind zumeist Akten Dritter über Geschäftsvorgänge sowie Gerichtsakten der zahlreichen Verfahren, in die er mal als Kläger, mal als Beklagter involviert war. Eine Sonderrolle nehmen die Akten aus dem Archiv der Helmut Horten Stiftung in Agno im Tessin ein. Erstmals wurden für diese Arbeit die dortigen Bestände systematisch gesichtet und ausgewertet. Zwischen den zahllosen Ordnern, die über Jahrzehnte zu fast allen von Hortens Unternehmen Auskunft geben, fanden sich sehr persönliche, intime Zeugnisse. Sie zeigen: Privatleben und Arbeit waren über viele Jahre eng miteinander verbunden. Nicht zuletzt sind es alte Weggefährten Hortens, die als Zeitzeugen ihre persönlichen Eindrücke mit den Autoren teilten.5

Dieses Buch ist die wissenschaftliche Biografie eines Mannes, der zeit seines Lebens als Projektionsfläche anderer diente. Bereits sein Vater sah in ihm einen Juristen und keinen Kaufmann, was zu Konflikten mit der Familie führte. Für die Nationalsozialisten schien Horten ein idealtypischer Kandidat für Übernahmen aus „Arisierungen“ zu sein. Als sich zeigte, dass der junge Geschäftsmann eigenwillig war und das Geschäft politischen Anforderungen vorzog, schuf dies Konflikte. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs führte sein Agieren im Dritten Reich dazu, dass er zur Zielscheibe für allerlei Anfeindungen und Vorwürfe wurde. Sein Aufstieg in den 1950er Jahren machte ihn zu einem Sinnbild des deutschen Unternehmers im Wirtschaftswunder. Aus scheinbar nichts hatte er den Aufstieg geschafft. So projizierten viele Deutsche ihre eigenen Wünsche auf den Mann in Maßanzug und Sportwagen und dessen Warenhäuser und wurden seine Kunden. Er schuf Sehnsüchte, die er auch bedienen konnte. In seinen späten Jahren wandelte sich sein Image wieder. Nach dem Umzug in die Schweiz wurde er zum Objekt der Kritik an Unternehmern und Reichen im Allgemeinen, die in Deutschland ihr Geschäft machten und danach ins steuergünstige Ausland flohen. Zu den Anfeindungen als „Ariseur“ kam nun der Ruf des „Steuerflüchtlings“, den Horten stellvertretend für viele andere wohlhabende Auswanderer trug. So war er zeit seines Lebens eine Projektionsfläche, auf der ganz unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen und Akteure positive wie negative (Zerr-) Bilder entwerfen konnten. Hortens Leben spiegelt den jeweils vorherrschenden wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Zeitgeist seiner Epoche.

Bei den anderen großen Warenhauskonzernen herrschten Manager, Vorstände und Aufsichtsräte. Bei Horten war es nur Helmut Horten. „Kaufhauskönig“ nannten ihn deshalb bereits zu seinen Lebzeiten Bewunderer und Kritiker. Das Leben dieses „Kaufhauskönigs“ nimmt uns mit in die Erfolgsgeschichten der frühen Bundesrepublik – samt ihrer Schattenseiten.

Kapitel 1 Ausbruch aus der Juristenfamilie (1909–1936)

Der Name Horten war bekannt, bevor Helmut Horten auf die Welt kam. Er kam aus einem bürgerlichen Milieu. Traditionen, Glaube und berufliches Ethos spielten bei den Hortens eine wichtige Rolle. Diese Konstanten machten aus ihr eine der einflussreichsten Sippen des Rheinlandes, aus der vorrangig wohlhabende Kaufleute, angesehene Geistliche und hochrangige Juristen im Dienst des Staates hervorgingen. Und genau dies wurde für ihn zu einem Problem.

Zwar konnte er auf das Fundament eines ansehnlichen bürgerlichen Wohlstands aufbauen und musste in seiner Kindheit und Jugend keine materiellen Ängste fürchten. Die Schattenseite war allerdings die Erwartung des Vaters und der Familie, dass auch Helmut entweder den Weg eines Juristen oder den eines Geistlichen einschlagen werde. Beide Optionen kamen für ihn nicht infrage. Sein Entschluss, eine Kaufmannslehre im Warenhaus Leonhard Tietz in Düsseldorf zu beginnen, wurde später von ihm selbst und seinen engen Begleitern als konfliktreich beschrieben. Er markierte einen Ausbruch aus den Erwartungen der Juristenfamilie. Zugleich war er die Wiederaufnahme der erfolgreichen Kaufmannstradition der Hortens. Und es war früh klar, dass der junge Helmut Horten bereit war, unkonventionelle Entscheidungen zu treffen und Risiken einzugehen. Er wurde kein Student der Jurisprudenz und kein Priesteranwärter oder Novize eines Klosters. Was ihn lockte, war die schillernde Welt des Einzelhandels und die Versprechung vom damit verbundenen Wohlstand.

Für Helmut Horten spielte diese frühe Familiengeschichte in späteren Jahren eine wichtige Rolle. Er interessierte sich für seine Vorfahren und für Genealogie. Nachforschungen aus dem Familienkreis und Veröffentlichungen zur Geschichte der Hortens wurden von ihm gesammelt und archiviert. Gleiches galt für Fotografien, die Vorfahren und selbst weit entfernt verwandte Familienmitglieder zeigten. Besonderes Interesse hatte er an jenen Ahnen, die mit dem Handel zu großem Reichtum gekommen waren.

Die Sippe: Die Hortens als Kaufleute am Niederrhein

Die Ursprünge der Familie Horten liegen im Rheinland. In den aufstrebenden Mittelstädten und kleineren Zentren zwischen Düsseldorf und Kleve lebten Hortens seit dem ausgehenden Mittelalter. Im niederrheinischen Kempen verfestigte sich der Familienname und seine Träger prägten die Stadtgeschichte seit dem 18. Jahrhundert mit.

Heinrich Horten war 1749 aus Neersen nach Kempen gezogen. Er hatte wohl an seinem alten Wohnort ein größeres Vermögen als Landwirt und Händler erwirtschaftet. Bei seinem Umzug zahlte er in Kempen ein höheres Bürgergeld als andere Einwanderer.1 Heinrich Horten heiratete rasch in die höchsten Kreise der Stadt ein. Dies schützte ihn allerdings nicht vor politischen Problemen. Immer wieder wurden seine Geschäfte und Unternehmungen eingeschränkt, indem man sie mit Auflagen belegte. Er führte lange gerichtliche Auseinandersetzungen, die sich um Genehmigungen für Bauvorhaben und insbesondere die Höhe steuerlicher Abgaben drehten.2 Ab den 1750er Jahren konzentrierte sich Heinrich Horten als Kaufmann gänzlich auf den Handel mit Kaffee, Öl und Eisenwaren, die er aus dem Bergischen Land sowie Köln und Düsseldorf bezog. 1772 errichtete er ein großes Wohn- und Wirtschaftshaus in der Stadt. Heinrichs Sohn Josef Johannes baute den väterlichen Kaufmannsbetrieb ab den 1780er Jahren zu einem großen Umschlaglager aus. Vor allem der Handel mit Eisenwaren und Branntwein entwickelte sich im Zuge der Napoleonischen Kriege positiv.

Es gelang Josef Johannes Horten in kurzer Zeit, größeren Wohlstand zu erwirtschaften. Auch in der städtischen Verwaltung übernahm er Ämter, während er gleichzeitig wie bereits sein Vater immer wieder mit der Stadt Kempen um Genehmigungen, Steuern und die Zahlung von Strafgeldern stritt. Er bediente sich dabei der Unterstützung von Rechtsanwälten und Notaren. So zogen sich die Verfahren oft über Jahre hin. Am Ende gelang es Josef Johannes Horten nicht selten, seinen Standpunkt juristisch durchzusetzen – ähnlich wie sein Nachfahre viele Jahre später. Wenn es um die Zahlung von Steuern ging, zeigten sich die Hortens seit jeher störrisch und kämpferisch. Daneben teilte Helmut Horten mit einigen seiner Vorfahren den Hang zu waghalsigen Geschäften. Wenn es gewinnbringend erschien, wurde nicht selten mit dem Einsatz von Haus und Hof kalkuliert.

Um die Wende des Jahres 1800 investierte Josef Johannes Horten in die hoch profitable Herstellung und den Vertrieb von Seidenwaren. Zugleich kaufte er allerlei Grundstücke, Häuser und Gehöfte auf, um seinen Wohlstand zu sichern. Zeitgenossen sprachen von Josef Johannes bereits als Inhaber von „99 Höfen“, denn ab dem hundertsten Hof mussten zusätzliche Steuern für Großgrundbesitz entrichtet werden.3

Das Millionenvermögen des Josef Johannes Horten wurde von seinen Söhnen verwaltet und erweitert. In den Folgejahren waren Hortens stets auch Ratsherren und bemühten sich insbesondere um die bauliche Entwicklung Kempens. Keiner von ihnen wurde hingegen Bürgermeister der Stadt. Stattdessen lässt sich eine Doppelstruktur aus politischer Teilhabe an Entscheidungen und der umtriebigen Geschäftstätigkeit beobachten. Durch das gesamte 19.  Jahrhundert hindurch konnte das Vermögen so erhalten werden. Auch die wirtschaftlichen Krisen jener Jahre wurden durch ebenso kluge wie riskante Investitionen in die Mechanisierung und den Ausbau des Handelsnetzes gemeistert. Anton Horten etwa, der Sohn von Josef Johannes, ging eine Partnerschaft mit dem Kaufmann Isaak Kounen aus Kempen ein. Beide betrieben gemeinsam eine einträgliche Seidenplüschmanufaktur.

Rheinisches Bürgertum: Die Hortens als Juristenfamilie

Mit Helmut Hortens Großvater Anton Hubert schlug die Familiengeschichte eine andere Richtung ein. Der erworbene Wohlstand machte es möglich, dass er als Erster der klugen Söhne der Horten-Familie Rechtswissenschaften studierte. Was zum gesellschaftlichen Aufstieg noch fehlte, war der Zugewinn an symbolischem Kapital durch gesellschaftliche Anerkennung, Renommee, Zugang zu Ehrenämtern und die Zuschreibung einer herausgehobenen Stellung. Dies erwarben Hortens im Staatsdienst, als einige von ihnen zu führenden Juristen ihrer Zeit und ihrer Region wurden. Anton Hubert verließ Kempen und wurde Landgerichtsrat in Elberfeld. 1882 wurde er zum Oberlandesgerichtsrat in Frankfurt am Main ernannt und schließlich 1890 zum Reichsgerichtsrat am Reichsgericht in Leipzig, wo er 1903 starb. Durch den Wegzug aus Kempen verstreuten sich auch die übrigen Familienmitglieder über die benachbarten Städte des Rheinlandes.

Familie Horten, Leipzig 1903 (v. l. n. r. sitzend Anton Hubert, Leo, Sidonie, Josef; v.  l. n. r. stehend Paul, Johanna, Alphons, Franz, Max)

Der älteste Sohn Anton Huberts war der Orientalist Max Horten (1874–1945). Er wurde in der Zwischenkriegszeit durch seine Übersetzungen altarabischer Schriften einer der bedeutendsten Forscher auf diesem Gebiet. 1930 wurde er außerordentlicher Professor an der Universität Breslau. 1933 trat er in die NSDAP ein.4 Seine Söhne Walter und Reimar, Cousins von Helmut Horten, sollten in den 1930er Jahren und während des Zweiten Weltkriegs zu Pionieren der Nurflügelluftfahrt werden.5 Die Fluggeräte kamen bis zum Ende des Krieges über das Versuchsstadium allerdings nicht hinaus. Fragmente von ihnen, insbesondere vom Modell Horten H IX, wurden von der US-Army konfisziert und zu Versuchszwecken in die USA gebracht. Mit seinem Cousin Walter unterhielt Helmut Horten bis ins hohe Alter regelmäßigen Kontakt. Meist ging es dabei um finanzielle Unterstützungen, doch auch um den Austausch über die Flugzeugproduktion während des Krieges.6 Die von Helmut Horten übernommene Flugzeugwerk Johannisthal GmbH, von der später noch berichtet werden wird, befand sich in keiner Verbindung zum Unternehmen von Walter und Reimar Horten.

Paul Horten (1875–1925), das dritte Kind von Helmut Hortens Großeltern, verließ den Staatsdienst als Gerichtsassessor und trat in den Franziskanerorden ein. Auch sein Bruder Alphons Horten Sr. (1876–1946) wurde Jurist, um dann 1907 in die Thyssen AG einzusteigen. Auf Grund seiner Position im Unternehmen wurde er während des Ersten Weltkriegs 1916 Leiter der Sektion Eisen der Kriegsrohstoffversorgung im Preußischen Kriegsministerium. In der Zwischenkriegszeit wurde er zunächst Abteilungsleiter im Reichsfinanzministerium, später Stadtbaurat im Magistrat Berlins und Vorstandsmitglied der Deutschen Liga für Menschenrechte, in der sich auch Carl von Ossietzky, Albert Einstein und Kurt Tucholsky engagierten.7

Sein Sohn Alphons Horten Jr. (1907–2003) war ein enger Weggefährte seines Cousins Helmut. In der Zwischenkriegszeit und den Jahren des NS-Regimes bekleidete er führende Positionen bei den Ersten Deutschen Knäckebrotwerken in Magdeburg. Außerdem beteiligte er sich am Aufbau einer Düngemittelversuchsanlage. 1949 wurde Alphons Horten Geschäftsführer der J.  Weck Glaswerke und Mitbegründer des Bundes Katholischer Unternehmer (BKU). Das CDU-Mitglied war einer der Mitbegründer des Wirtschaftsrats der Partei und saß von 1965 bis 1972 für sie im Bundestag. Die beiden Cousins Alphons und Helmut tauschten sich vor allem in den 1960er und 1970er Jahren intensiv über die Hintergründe der bundesdeutschen Politik aus. Über Helmut Hortens Onkel Leo Franz Joseph Horten (1878– 1936) liegen kaum biografische Informationen vor. Er studierte Chemie. Seine Berufsbezeichnung als „Direktor“ legt eine Tätigkeit im kaufmännischen oder administrativen Bereich nahe.8

Auch in Klöstern und Kirchen erwarben Hortens großes Ansehen. Die Familie war stets katholisch. Männliche und weibliche Namensträger fanden so den Weg in den Klerikerstand oder eine Ordensgemeinschaft, nicht selten nach oder mitten in einer weltlichen Karriere. Schon Helmut Hortens Großmutter Sidonie Sophie Eugenie sollte diesen Weg einschlagen und damit großen Einfluss auf ihre Kinder und Enkel haben. Sie trat 1911 im Alter von 62 Jahren als Salesianerin ins Kloster des Ordens von der Heimsuchung Mariens in Koblenz-Moselweiß ein. Bereits seit den 1850er Jahren und davor schien es unter den Familienmitgliedern eine ausgeprägte katholische Frömmigkeit gegeben zu haben. Dafür sprechen die Eintritte einiger Töchter in Schwesternorden und die finanziellen Unterstützungen der Kaufmannsfamilie für kirchliche Einrichtungen. Helene Horten (1873–1896), das älteste Kind von Anton Hubert und Sidonie Horten, trat in den Franziskanerorden ein.

Größere Bekanntheit erlangte ein Onkel Helmut Hortens als Pater Titus Maria Horten, dessen Geburtsname Franz Horten war (1882–1936). Dieser studierte zunächst Rechts- und Sprachwissenschaften und promovierte 1909. Im selben Jahr trat er in den Dominikanerorden in Vechta ein. Seinen Besitz schenkte er dem dortigen Stift. Im Orden war Titus Maria Horten überaus rege tätig. Zwischen 1927 und 1933 war er Prior des Klosters. Er leitete seit 1923 in Vechta den Albertus-Magnus-Verlag, der in der Zwischenkriegszeit, aber auch während der NS-Zeit religiöse Bücher veröffentlichte. Zudem engagierte sich Titus Maria Horten in der Mission und war dazu mehrfach in Südost-China. Am 8. Mai 1935 wurde er durch die Gestapo verhaftet und anschließend wegen angeblicher Devisenvergehen zu einer Gefängnisstrafe von zwei Jahren und einer Geldstrafe von 70.000 Reichsmark (RM) verurteilt. Vermutlich stand die Verhaftung im Zusammenhang mit der Tätigkeit als Leiter des geistlichen Verlages. Er wurde zunächst im Vechtaer Männergefängnis und kurz darauf im Oldenburger Gerichtsgefängnis inhaftiert. Am 25. Januar 1936 starb Titus Maria Horten in der Gefängnisanstalt an den Folgen einer Herzmuskelentzündung. Seine große Bekanntheit und sein Wirken als Ordensbruder führten dazu, dass bereits 1948 ein Seligsprechungsprozess eingeleitet wurde.9 Eine weitere Tante von Helmut Horten wurde Ordensschwester in München.

Helmut Hortens Vater Josef Emil August Horten (1880–1957) war das drittjüngste der hier aufgeführten Reihe der Kinder Anton Hubert Hortens. Wie sein Vater studierte Josef Rechtswissenschaften und schlug nach dem Studium die Richterlaufbahn ein. Nach dessen Tod zog die Familie 1904 nach Bonn, vermutlich ins Haus von Max Horten, der an der Bonner Universität tätig war. Das Haus befand sich in der Königstraße 55 im gutbürgerlichen Stadtteil Südstadt. Bonn hatte sich seit dem Wiener Kongress 1815, durch dessen Beschlüsse das Rheinland dem Königreich Preußen zugeschlagen worden war, stark vergrößert. Die Stadt wurde mit einem neuen Landgerichtsbezirk zu einem Verwaltungszentrum der Region. Die neu gegründete Universität sorgte für den Zuzug gebildeter Bürger. Das Kulturleben der Stadt war ausgeprägt, es gab Theater und Zeitungen. Durch das besondere Wohlwollen der Hohenzollern entwickelte sich die Stadt nach der Reichsgründung 1871 weiter positiv. Um die Jahrhundertwende prägten daher große Bürgerhäuser im Jugendstil das Stadtbild. Inzwischen lebten hier rund 80.000 Einwohner. Durch die hohe Zahl gebildeter Akademiker und wohlhabender Pensionäre zählte Bonn zu den bestsituierten Städten des Deutschen Reiches. Kleinere Kaufhäuser, wie das Kaufhaus Blömer, gab es bereits vor der Jahrhundertwende. In den 1910er Jahren eröffneten weitere Häuser, die allerdings bedeutend kleiner als im nahen Köln waren.

Josef Emil August Horten bestand 1905 sein Referendariat.10 Im Jahr darauf heiratete er Helena Huberta Bieger, die Tochter eines Oberleutnants aus Boppard am Rhein. Inzwischen war Josef Horten beamteter Richter am Amtsgericht in Bonn. Anton Hubert hatte seinen Kindern ein ansehnliches Vermögen hinterlassen. Geht man von einer Gleichteilung der Erbengemeinschaft aus, dann dürften seine Ehefrau und seine Kinder mit je mehreren hunderttausend Mark bedacht worden sein. Dies legt jedenfalls die Stiftertätigkeit von Titus Maria Horten nahe, der beim Eintritt in den Dominikanerorden ein solches Erbe einbrachte.11 Wahrscheinlich ist, dass Josef Horten ein ähnlicher Erbteil zustand. In diese komfortable Lebenssituation einer höheren Beamtenfamilie, die zudem wirtschaftlich überaus potent war, wurde Helmut Eugen Franz Horten, so der volle Name unseres Protagonisten, am 8.  Januar 1909 in Bonn geboren. Sein älterer Bruder Rudolf (1907–1925) starb bereits als junger Mann. Die jüngeren Schwestern Gisela (1916–1963) und Josefa Helene (1917–1989) folgten in einigen Jahren Abstand. 1937 sollte die Ehe von Helena und Josef Horten geschieden werden. Josef Horten heiratete 1938 Ina van den Bosch, die Witwe eines Kölner Rechtsanwalts. Helena Horten starb 1940 in Köln.

In Bonn fügte sich die Familie Horten in die städtische Gesellschaft ein. Sie bezog nach der Station in der Südstadt die Wohnung von Helena Horten in der Blücherstraße 35. In der Koblenzer Straße (heute Adenauerallee) unterhielt die Familie in direkter Nachbarschaft zum Palais Schaumburg und zum Rheinufer eine Privatkapelle. Dort wurde Helmut Horten am 12. Januar 1909 getauft.12

In jungen Jahren litt Horten an einer Kinderlähmung. Diese heilte jedoch gut aus, so dass er später nur geringfügige motorische Einschränkungen erdulden musste. Auch dürften die ersten Lebensjahre trotz der Krankheit behütet und komfortabel gewesen sein. Das Geld des Großvaters sowie die gute Stellung des Vaters ermöglichten ein angenehmes Dasein. Doch der Berufsweg von Josef Emil August Horten als Jurist im Staatsdienst verlangte Flexibilität. 1915 erfolgte der Umzug nach Gemünd in der Eifel, wo er eine Stellung als Amtsrichter übernahm. Vermutlich ebenfalls aus beruflichen Gründen erfolgte nach dem Ersten Weltkrieg der Umzug nach Köln. Ab 1925 war Josef Horten dort als Landgerichtsdirektor, also Richter an einer Strafkammer am Oberlandesgericht, tätig. 1943 schied er nach einem Herzleiden aus dem Richteramt aus und ging in Vorruhestand. Bis dahin hatte Josef Horten eine Reihe aufsehenerregender Prozesse geführt. Vor der nationalsozialistischen Machtübernahme berichteten die Zeitungen in Köln oft und ausführlich über Hortens harte Verurteilung von Tätern aus dem kommunistischen Milieu.13 Nach 1933 ebbte die Berichterstattung ab. In internen Dienstbeurteilungen seiner Vorgesetzten wurde seine distanzierte Haltung zum NS-Regime bemängelt. Er blieb allerdings weiter im Amt am Oberlandesgericht Köln. Nach dem Krieg war er wieder als Richter tätig. Er wurde 1950 Vorsitzender des Entnazifizierungs-Berufungsausschusses für den Regierungsbezirk Köln.14

Die Familie Horten zog 1925 nach Köln-Lindenthal in die Sielsdorfer Straße 31. Der Stadtteil war geprägt vom Konzept der Gartenstadt und im Zuge der Baupolitik des Kölner Oberbürgermeisters Konrad Adenauer erweitert worden. Besonders bürgerliche junge Familien lebten in den Ein- und Mehrfamilienhäusern, umgeben von ausgedehnten Grünanlagen und Parks. Hier wohnte nicht nur die bessere Gesellschaft. Die Viertel waren bewusst durchmischt und boten auch Arbeiterfamilien bezahlbaren Wohnraum. In Köln bestand Helmut Horten 1928 das Abitur.

Nicht in Köln! Anfänge im Warenhaus

Als der 20-jährige Helmut Horten 1929 sein Vorstellungsgespräch beim Geschäftsführer Dr. Otto Bayer vom Warenhaus Leonhard Tietz in Düsseldorf hatte, kam dies einem Ausbruch gleich. Gegen den Willen seines Vaters, dem hochrangigen und bekannten Juristen, entschied sich der junge Mann für eine Lehre.

Der Einstieg ins Handelsgeschäft ist in biografischen Artikeln über Helmut Horten stets als Bruch mit der Familientradition gewertet worden. Horten hielt sich diesbezüglich weitgehend bedeckt. Im Interview mit dem Stern im Jahr 1971, von dem noch ausführlich die Rede sein wird, gab er allerdings einige Einblicke in seine berufliche Entscheidung. „Gewiß, die Hortens sind eine Juristenfamilie seit Generationen. Aber sie waren in früheren Jahrhunderten auch Kaufleute“, führte er aus. „Ich wollte nun einmal nicht den fest vorgezeichneten Lebenslauf eines Beamten führen.“15 Ähnlich deutete es auch Hortens Vertrauter Rudolf Tesmann, den Horten während seiner Haft im britischen Internierungslager in Recklinghausen 1946 bis 1948 kennengelernt hatte, in seinen biografischen Notizen zu Horten aus dem Jahr 1991 an: „Der stete Wandel im Handel mit seinen zwar riskanten, aber dabei auch vorteilhaften Möglichkeiten faszinierte ihn umso mehr.“16 So verlief die Entscheidung, kein Jurist zu werden, nicht ohne Konflikte. Horten selbst sprach davon, dass sein Vater dafür wenig Verständnis hatte und „sanft enttäuscht“ gewesen sei. Andererseits war der Einstieg ins Kaufmannsleben kein allzu harter Bruch mit der Familientradition, wie er selbst bemerkte.17

Ein Zugeständnis hatte ihm der Vater allerdings abgerungen: Nicht in Köln! Tesmann nahm dies jedenfalls an, wohl nicht ganz zu Unrecht: „Nur in Köln, dem Wohnsitz der Familie damals, durfte der eigenwillige Aussenseiter nicht debütieren. Das rührte an gesellschaftliche Peinlichkeit.“18 Andererseits sprach viel mehr als nur die gekränkte Familienehre dafür, dass Horten 1929 als Lehrling bei Tietz in Düsseldorf begann. Das dortige Haus gehörte zu den größten in Deutschland. Der 1909 in der Alleestraße errichtete Bau war überregional bekannt für seinen gehobenen Stil. Dies betonte auch die ansprechende Außenfassade mit Elementen des Jugendstils, die vom Architekten Joseph Maria Olbrich gestaltet worden war. Im Inneren befand sich ein großer Lichthof. Seitlich vom Hauptraum abgehend waren Nischen mit den einzelnen Abteilungen. Das Warenhaus in Düsseldorf war mehr als ein Konsumtempel. Internationale und hochkarätig besetzte Kunstausstellungen sowie allerlei öffentliche Veranstaltungen verliehen ihm auch den Charakter eines Zentrums der Moderne und des Handels, ein Symbol der Jahre des wirtschaftlichen Aufstiegs vor dem Ersten Weltkrieg. In der Zwischenkriegszeit ermattete dieser Glanz trotz der schwierigen Umstände nicht. Das Tietz in Düsseldorf blieb das bedeutendste Warenhaus im Rheinland. Allein dies mag überaus anziehend auf Helmut Horten gewirkt haben.

Hinzu kam die persönliche Bewunderung für den Leiter, Dr. Otto Bayer, wie Horten selbst bemerkte.19 Offenbar lag ihm auch der bisweilen hemdsärmelige Ton im Warenhausgeschäft. Helmut Horten schien sich in diesem Umfeld wohlzufühlen und fand sich nach dem Beginn seiner Lehre ohne Probleme zurecht. Er lernte schnell und konnte rasch die Aufmerksamkeit seiner Vorgesetzten auf sich ziehen. Horten blieb nach der Beendigung der Lehre allerdings nicht lange in Düsseldorf.

1932 kehrte er nach Köln zurück. Dieser Schritt sollte bedeutsam für die Entwicklung in den folgenden Jahren werden. Horten trat als Verkäufer ins Kaufhaus Michel & Co AG in Köln ein. Das Haus wurde von Heinrich und Ernst Michel geleitet und war bereits in den 1890er Jahren gegründet worden. Die Michels standen damit mit ihrem Unternehmen für die jüdische Kaufmannstradition Kölns. In der Hohen Straße, der zentralen Einkaufsmeile der Domstadt gelegen, war es kleiner als das Warenhaus Tietz in Düsseldorf. In der Schildergasse, nur rund 300 Meter entfernt, wurde ein gesondertes Geschäft für Spezialmäntel unterhalten. Das kleinere Kaufhaus Michel bot dem ehrgeizigen Verkäufer Horten allerdings auch bessere Aufstiegschancen. Hier sollte er schnell die Gelegenheit bekommen, sich zu beweisen.

Das Kaufhaus trafen die Boykottaktionen gegen Häuser mit jüdischen Inhabern nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten hart. Für die Inhaber stellte sich die drängende Frage, wie das Geschäft und ihre Beteiligung daran zu erhalten waren. Man entschied sich dafür, einen „arischen“ Käufer und Geschäftsführer zu suchen. Diese Rolle fiel dem Kölner Juristen Dr. Paul Jacobi zu, der in Helmut Hortens weiterem Wirken noch eine entscheidende Rolle spielen sollte. Jacobi war zuvor Einkäufer bei Karstadt gewesen.20 Er übernahm am 26. Februar 1936 51 Prozent der Aktien der Michel & Co AG. Der Kaufpreis von 122.000 RM wurde in ein Darlehen der Michels an Jacobi umgewandelt. Als Sicherheit verblieben die Aktien in deren Besitz. Die Michel & Co AG war weiterhin Inhaberin der Kaufhausimmobilien. Die Michel & Co GmbH war die Betreibergesellschaft. Jacobi bezog als deren Geschäftsführer ein Gehalt. Indem das Geschäft nur pro forma auf Jacobi überging und die Michels weiterhin über die Aktienmehrheit verfügten, war die „Arisierung“ nur dem Anschein nach realisiert worden. Erst 1938 erfolgte auf Druck der Gauleitung Köln-Aachen die Umbenennung des Unternehmens in Paul Jacobi KG.21

Einige Änderungen mussten allerdings schon vorher eingeführt werden. Bereits im Jahr 1933 war ein NSDAP-Mitglied als Betriebsobmann gewählt worden. Im Betriebsrat bekam die Partei mehr und mehr Einfluss. 1935 wurden im Kaufhaus und davor Veranstaltungen wie Reden des Kreispropagandaleiters abgehalten. Horten war kein Mitglied der Arbeitnehmervertretung und gehörte nicht zu den NSDAP-Mitgliedern im Betrieb.22

Mit der Übernahme durch Jacobi veränderte sich bereits 1934 die Reklame des Textilhauses Michel. Zuvor war diese eher bieder. Der Schriftzug „Michel“ war in schlichten Blockbuchstaben abgedruckt. Nach der Übernahme prägte eine moderne und schwungvolle Schriftart den Unternehmensnamen. Jacobi setzte auf auffallende Anzeigen in den örtlichen Zeitungen, die häufig mit grafischen Elementen wie Zeichnungen versehen waren.23

Horten ließ sich davon inspirieren. Seine Reklamen waren in der Helmut Horten KG grafisch ähnlich gestaltet. Die Schriftart war identisch. Die Trennung von Immobilienbesitz und Kaufhausbetrieb in unterschiedliche Gesellschaften wurde später von Horten ebenfalls vorgenommen.24 Diese Organisation war bei Kauf- und Warenhäusern durchaus üblich. Dahinter stand die Logik der Wertetrennung und der vorteilhaften steuerlichen Ausgestaltung: Wenn ein Haus in die Insolvenz gehen musste, dann blieb der Wert der Immobilie davon unberührt und der Eigentümer konnte diese entweder weiternutzen, verkaufen oder vermieten. Zugleich entstand durch das Mietverhältnis eine Situation der Kostenverursachung, die sich steuerlich aktivieren ließ, wenngleich Mieter und Vermieter in die gleiche Tasche wirtschafteten. Auch deshalb übernahm Horten diese Trennung in späteren Zeiten, wie auch viele der anderen Kaufhauskonzerne und Betreiber.

Helmut Horten erlebte die Phase des Geschäftsübergangs von den jüdischen auf einen „arischen“ Eigentümer aus nächster Nähe. Er stieg 1934 unter der Führung Jacobis zum Leiter der Abteilung für Herrenmode und Trikotagen auf.25 Trotz seines jungen Alters galt er bereits als überaus fähiger und vielversprechender Angestellter. Auch sein Talent als Geschäftsmann scheint bereits damals deutlich hervorgetreten zu sein. Mitarbeiter erinnerten sich später daran, dass Horten es verstand, äußerst günstig Waren von bester Qualität zu beziehen. Zudem habe sich im direkten Kundenkontakt immer wieder sein Können als Verkäufer gezeigt. „Durch seinen besonderen Fleiss und seine besondere Einkaufstaktik sowie seinen anständigen Charakter war er bei unserem Chef und auch bei dem übrigen Personal sehr geachtet und beliebt. Sein außerordentliches Einkaufs- und Verkaufstalent steigerte den Umsatz seiner Abteilung enorm, so dass Herr Horten bei wichtigen Entscheidungen der Geschäftsleitung stets hinzugezogen wurde.“26

Horten gehörte zu einer Gruppe gehobener Angestellter der Michel & Co GmbH, die in jenen Jahren als Kandidaten für die Übernahme eines eigenen Geschäfts infrage kamen. Seit der Übernahme durch Jacobi 1934 kam es zu neun Übernahmen von Kauf-, Waren- und Textilhäusern durch leitende Angestellte der Michel & Co GmbH. Vor Hortens Übernahme des Kaufhauses der Gebrüder Alsberg OHG in Duisburg 1936 gab es sechs solcher Geschäftsübernahmen leitender Angestellter der Michel & Co GmbH in verschiedenen deutschen Städten. Nach Horten folgten weitere zwei.27

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Hortens Kölner Zeit war zwar kurz, aber sehr bedeutsam für seine Entwicklung, da er hier ein erstes Netzwerk aufbauen konnte. Seine spätere langjährige Prokuristin Marianne Weißenbach war ebenfalls bei der Michel & Co GmbH angestellt und führte dort die Bücher. Als Prokuristin folgte sie auf Hermann Kistenmaker, mit dem Horten gemeinsam das Kaufhaus in Wattenscheid gründen sollte. Hermann Winterer war Zentraleinkäufer bei Michel und später für kurze Zeit gleichzeitig in gleicher Funktion für die Helmut Horten KG tätig. Der wichtigste Kontakt war jedoch Paul Jacobi. Er sollte Horten 1936 die Tür zur Übernahme der Gebrüder Alsberg OHG öffnen. Dem jungen Mann blieben die enormen geschäftlichen Möglichkeiten nicht verborgen, die eine Geschäftsübernahme aus jüdischem Vorbesitz mit sich brachte. Durch die „Arisierung“ seines Arbeitgebers konnte er unmittelbar nachverfolgen und beurteilen, welche Chancen und Risiken diese in sich barg.

Kapitel 2 Aufstieg in der Diktatur (1936–1939)

Seit ihrer Gründung im Jahr 1920 vertrat die NSDAP eine wirtschaftspolitische Programmatik, die im Kern auf dem rassistischen und radikalen Fundament der Parteiideologie fußte. Sie widersprach in zentralen Punkten den Idealen einer liberalen Wirtschaftsordnung, in der Angebot und Nachfrage den Preis bestimmen. Statt eine Warenallokation über den freien Markt zu begünstigen, sollte der Staat zahlreiche Konsumgüterpreise diktieren, die Produktion sollte nach politischen Zielvorgaben und die Verteilung der Waren an die Betriebe über regionale oder branchenspezifische Quoten erfolgen. Ziele nach der Machterlangung 1933 waren eine autarke und kriegsbereite deutsche Wirtschaft und eine nicht profitorientierte „Volksgemeinschaft“ an der Ladentheke.

Im Zentrum stand die Ausrichtung der Wirtschaft nach dem Willen der Partei. Dies betraf unmittelbar auch die Kauf- und Warenhäuser im Deutschen Reich. Im von Hitler verkündeten 25- Punkte-Programm waren 1920 die „Groß-Warenhäuser“ bedacht worden: „Wir fordern die Schaffung eines gesunden Mittelstandes und seine Erhaltung, sofortige Kommunalisierung der Groß- Warenhäuser und ihre Vermietung zu billigen Preisen an kleine Gewerbetreibende, schärfste Berücksichtigung aller kleinen Gewerbetreibenden bei Lieferung an den Staat, die Länder oder Gemeinden.“1

Während sich in der NS-Zeit in der Schwerindustrie die Konzentration und Kartellbildung der 1920er Jahre noch verstärkte, setzte man nach 1933 im Einzelhandel zunächst auf Dezentralisierung. Die größeren Einzelhandelskonzerne sollten zugunsten kleinerer Unternehmen des Mittelstands entflochten werden. Dies hatte einen ideologischen Hintergrund: Ein nicht unerheblicher Teil der Kauf- und Warenhausbesitzer war jüdischer Herkunft. Daher richtete sich auch ein Großteil der Attacken und Boykotte wie etwa der Braunschweiger „Warenhaussturm“ am 11. März 1933, also direkt nach der „Machtergreifung“, gegen diese Häuser. Doch bald rückte man vom Ziel der Zerschlagung ab. Denn in der Erhaltung von größeren Komplexen lagen mehrere Vorteile: Die geschäftliche Struktur konnte nach einer „Arisierung“ beibehalten werden, die anfallende Gewerbesteuer für Kaufhäuser sowie die Arbeitsplätze dort gesichert werden. Die Unternehmen blieben bestehen, wenn auch nicht länger unter der Leitung der jüdischen Inhaber. Und der Staat bekam die Gelegenheit, an den Übernahmen mitzuverdienen. Für Verkäufe fielen saftige Steuern an, die umso höher waren, je größer das Unternehmen war. Jüdische Geschäftsführer und bald auch einfache Verkäuferinnen wurden entlassen, jüdische Eigentümer herausgedrängt.2

Meist hatten sich die Kaufhäuser nach der Jahrhundertwende aus kleineren Einzelhandelsläden in den Städten zu Kaufhäusern modernen Stils nach Pariser, Londoner oder amerikanischen Vorbildern entwickelt. Sie verfügten über ein breites Sortiment an Waren, das über Textilien und Schuhe hinausging und im Falle der Warenhäuser auch Lebensmittelsortimente umfasste. In großen, zunächst häufig im neoklassizistischen Stil errichteten Gebäuden konnten sie an prominenter Stelle in den Einkaufsstraßen gleich auf mehreren Etagen die Kunden anziehen. Die „Kathedralen des Konsums“ (Émile Zola) wurden zu Symbolen der neuen Zeit. Auch architektonisch, oft durch Elemente des Jugendstils angereichert oder wie die Schocken-Häuser aus den 1920er Jahren in Stuttgart und Chemnitz vom Bauhaus inspiriert, kündeten sie von Aufbruch und Modernität. Zwar hatten sie in den Jahren der Weltwirtschaftskrise oft an Umsatz und Kunden verloren. Der Glanz prominenter Häuser wie Wertheim in Berlin, Schocken in Dresden oder Tietz in Düsseldorf mag allerdings noch vorhanden gewesen sein. Trotz oder gerade wegen der Kritik an den Kaufhäusern in den 1920er Jahren blieben sie Symbole der entstehenden Konsumgesellschaft.3

Diese Häuser zogen schon den jungen Helmut Horten an. Die vergleichsweise komfortable wirtschaftliche Situation seiner Familie machte sie naturgemäß zu Kunden der städtischen Einkaufspaläste, die, zumal an Rhein und Ruhr, in den urbanen Zentren blühten. Der geschäftliche Einstieg ins Kaufhausgeschäft war allerdings eine ganz andere Sache. Zwar versprach das Dasein als Kaufmann Reichtum und Ansehen demjenigen, dem es gelang, ein Haus erfolgreich aufzubauen und zu führen. Doch für einen „arischen“ Käufer war die Übernahme eines Kaufhauses mit jüdischen Eigentümern kein Selbstläufer. „Arisierungen“ waren keine eindimensionalen Vermögensentziehungen zwischen Käufern und Verkäufern. Die neuen politischen Machthaber bestimmten die Konditionen von Kaufhausübernahmen nämlich mit. An die Stelle eines zivilrechtlichen Geschäftsverhältnisses zwischen Käufer und Verkäufer trat ein Dreiecksgeschäft, bei dem der Staat die Bedingungen mitdiktierte. Und diese waren durchaus komplex: Zwar sollten die „Volksgenossen“ die Gelegenheit bekommen, die Kaufhäuser aus jüdischem Besitz günstig zu erwerben. Zu lukrativ durften die Geschäfte aber auch nicht sein. Bei allzu billigen Übernahmen war eine Kompensationsabgabe an den Staat zu leisten. Die NS-Behörden achteten zudem genau darauf, dass die Vorbesitzer keinen Einfluss mehr auf das Unternehmen hatten. Die Überprüfungen der Übernahmen waren also keine reine Formsache. Das sollte auch Horten bald erfahren.

Zweifelsfrei boten die „Arisierungen“ günstigere Konditionen für die Käufer als ein Geschäft auf Augenhöhe ohne Druck auf die Verkäufer. Doch die Folgen für die neuen Eigentümer waren oft nur schwer zu überblicken. Es war alles andere als transparent, wie man an ein Kaufhaus kommen konnte und wie sich die politischen Rahmenbedingungen einer Übernahme darstellten. Nicht zu kalkulieren war das unternehmerische Risiko, wenn das eigene unternehmerische Handeln nicht mehr den Spielregeln des NS-Regimes entsprach.

Für die Verkäufer waren die Geschäfte weder freiwillig noch vorteilhaft: Auch bei Übernahmen, bei denen sich beide Seiten auf einen Preis einigten, profitierte der Käufer durch den umständehalber erzwungenen Verkauf, denn ohne die Repressionen und Boykotte hätten viele der Unternehmen gar nicht erst zum Verkauf gestanden. Juden wurden systematisch aus dem Wirtschaftsleben herausgedrängt. Ihnen wurde die Existenzgrundlage genommen, ob durch Erpressung, Nötigung zum Verkauf oder staatlichen Entzug. „Arisierungen“ boten unter bestimmten Umständen aber auch den Verkäufern Handlungsspielräume. Das Bild der gewaltsamen Besetzung von Läden und Betrieben durch marodierende SA- Trupps zeigt dabei nicht den Regelfall der Übernahme von Geschäften jüdischer Inhaber. Verpachtungen und Gewinnbeteiligungen eröffneten den jüdischen Eigentümern anfangs noch die Möglichkeit, auch nach einer „Arisierung“ am Unternehmen beteiligt zu bleiben. Die begrenzte Menge an Übernahmebetrieben konnte einen Wettbewerb der Bieter schaffen, zum Vorteil der Anbieter. Und im Dreieckshandel zwischen Käufer, Verkäufer und den NS- Behörden wussten die Verkäufer, dass die Käufer auf die Anerkennung der Behörden angewiesen waren.

Die Nationalsozialisten selbst sprachen von „Arisierung“ und „Entjudung“, wenn sie die Übernahme von jüdischen Geschäften, Unternehmen und Immobilien durch „Arier“ oder die Entlassung jüdischer Vorstände und Angestellten meinten.4 Der Begriff „Arisierung“ fand schon in den 1920er Jahren im völkischen Antisemitismus Verwendung und wurde Mitte der 1930er Jahre dann auch von Behörden gebraucht. 1939 forderte das Reichswirtschaftsministerium, auf den Begriff zugunsten der „Entjudung“ zu verzichten. Damit sollte der Eigentumstransfer verschleiert werden.5

Unterschieden wird nun in der Forschung eine engere und eine weitere Verwendung des Begriffs der „Arisierung“: „Im weiteren Sinne bezeichnet die ‚Arisierung‘ den Prozeß der wirtschaftlichen Verdrängung und Existenzvernichtung der Juden, im engeren den Eigentumstransfer von ‚jüdischem‘ in ‚arischen‘ Besitz.“6 Nach dem „Anschluss“ Österreichs im März 1938 waren dort bereits erste Gesetze und Anordnungen zum Entzug von jüdischem Vermögen erlassen worden, die Modellcharakter für das „Altreich“ haben sollten. Dann wurde am 12. November 1938 die „Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben“ für das gesamte Deutsche Reich erlassen, die die Ausübung von Berufen im Einzelhandel und Handwerk verbot, und am 3. Dezember 1938 die „Verordnung über den Einsatz jüdischen Vermögens“, die den Zwangsverkauf jüdischer Unternehmen und jüdischen Grundbesitzes und die Einbehaltung der Erlöse durch den Staat anordnete. Lange hat die Geschichtsschreibung daher eine Phaseneinteilung vorgenommen, in eine „Periode der schleichenden Arisierung“, deren „Erfolg … gemessen an dem Parteiziel einer ,judenfreien Wirtschaft‘ recht mäßig“ gewesen sei, und eine zweiten Phase der „völligen Ausschaltung der Juden aus der Wirtschaft“.7 Die neuere Forschung, die stärker die Opferperspektive einnimmt, hat dies aufgegeben. Von über 50.000 Einzelhandelsgeschäften waren im Juli 1938 nur noch 9.000 in jüdischer Hand.8 Von allen selbstständigen jüdischen Betrieben – 1932 waren dies ungefähr 100.000 an der Zahl – war 1935 bereits ein Fünftel bis ein Viertel liquidiert oder „arisiert“ worden, in den meisten Fällen in Dörfern und Kleinstädten.9 Von einer ökonomischen „Schonzeit“ für jüdische Unternehmer in den ersten Jahren des Regimes kann man also nicht sprechen.10 Vielmehr waren sie Boykottmaßnahmen, propagandistischen Angriffen und vielerlei Schikanen von Parteistellen und Funktionären ausgesetzt. Freilich bestand diese Illusion durchaus bei vielen Zeitgenossen.11

Die Aufgabe ihrer Geschäfte und Unternehmen hieß für die vormaligen Eigentümer fast durchgängig, dass sie für den immateriellen Firmenwert, den Goodwill, nicht entschädigt wurden. Dies war sogar ab 1938 untersagt. Eine Liquidation und Zerlegung in Einzelteile und die häufig angesetzten Rabatte auf nicht mehr modische und verschmutzte Ware waren oft unvorteilhaft. Durch das regional manchmal große Angebot von Verkaufsobjekten gerade im Einzelhandel wurde zudem der Marktpreis gedrückt. Sowohl die Taxierung des Firmenwertes als auch die Gründe für den Verkauf sind für die Forschung schwer zu eruieren. Ebenso ist das Verhalten der Käufer nicht leicht zu bewerten, da es sich häufig in formaljuristisch legaler Form vollzog. Neben einer kleinen Gruppe von Käufern, welche den jüdischen Verkäufern zusätzlich zum Kaufvertrag verdeckte Zahlungen leisteten oder Rückabwicklungen vereinbarten, stand auf der anderen Seite die ebenfalls kleine Gruppe derjenigen, welche den jüdischen Unternehmern die Fortführung ihrer Geschäfte im Eigeninteresse verunmöglichten. Die größte Gruppe, also der „Normalfall“, bestand in der Käuferschar, die nicht an den Verfolgungsmaßnahmen beteiligt war, davon aber profitierte.12

Ungeachtet der politischen Rahmenbedingungen brauchte es für eine „Arisierung“ eines: Geld. Und ebendieses hatte Helmut Horten nicht in ausreichendem Umfang, als er die ersten Schritte in die Welt der Kaufhäuser wagte. Die Mittel der bürgerlichen Existenz seiner Familie waren durchaus ansehnlich, doch reichten sie nicht aus, um alleine ein Warenhaus zu übernehmen und in Eigenregie zu leiten. Hinzu kam, dass dafür die familiäre Akzeptanz fehlte. Die Alternative: Horten musste erhebliche Risiken eingehen. Er musste Haftungen übernehmen, in geschäftlichen Entscheidungen gegebenenfalls von den anderen Anteilseignern und deren Geld abhängig sein und letztlich enorme eigene finanzielle Mittel aufnehmen und für deren Rückzahlung bürgen. Die in jenen Jahren angeeignete Risikobereitschaft sollte sein Handeln prägen, auch nach den Jahren des NS-Regimes.

Der Startschuss fiel in Duisburg. Als Helmut Horten in den Kreis der Gründer der späteren Helmut Horten KG aufgenommen wurde, waren die Konditionen der Arisierung des Kaufhauses Alsberg bereits vereinbart. Zwar stand seit April 1936 Hortens Name an prominenter Stelle über dem Eingang des Kaufhauses. Doch sein eigener Herr war er nicht – noch nicht. Vielmehr übernahm er die geschäftliche Leitung und die Verantwortung für das Unternehmen, an dem er nicht die Mehrheit hielt. Es gelang ihm aber rasch, die Federführung zu übernehmen. Das Duisburger Unternehmen sollte das Rückgrat seines persönlichen Vermögensaufbaus werden.

Bei seinem zweiten Engagement lagen die Dinge anders. Nur wenige Monate nach dem Einstieg in Duisburg übernahm er als Mehrheitseigentümer und kurz darauf als alleiniger Geschäftsführer das Kaufhaus Hess in Wattenscheid. Doch dieses Geschäft sollte unerwartete und unangenehme Folgen nach sich ziehen. Der junge Kaufmann erregte das Interesse der NS-Behörden. Es entfaltete sich ein Konflikt, der Horten bis an den Rand der Existenz brachte.

Große Gewinne und wenig Gegenwind versprachen Hortens geschäftliche Engagements in Ost- und Westpreußen. 1937 wurde er Teilhaber des Kaufhauses Alexander und Echternach in Königsberg. Wenig später wurde er Anteilseigner zweier Unternehmen in Marienburg und Marienwerder. Als der Zweite Weltkrieg aufzog, hatte Horten noch weitere Beteiligungen und Unterbeteiligungen an Kauf- und Warenhäusern im gesamten Deutschen Reich erworben. In nur drei Jahren hatte er es verstanden, in die obere Liga der Kaufhausbesitzer und -betreiber aufzusteigen. Wie ging er dabei vor? Was prägte sein Handeln? Und war der rasche Aufstieg nur durch eine skrupellose Erpressungspolitik gegenüber den jüdischen Verkäufern möglich?

Die Übernahme: Das Kaufhaus Alsberg und die Gründung der Helmut Horten KG

Der Startpunkt war Duisburg. Und das zweimal: Hier wagte Helmut Horten seinen Einstieg ins Kaufhausgeschäft im Jahr 1936 und von hier aus begann der Wiederaufstieg nach dem Krieg im Jahr 1948. Somit hat der Standort eine besondere Bedeutung für Hortens Leben. Aber auch die Biografien von Amalie, Ernst und Kurt Lauter sowie Hermann Strauß – die Eigentümer des Kaufhauses Alsberg – waren eng mit der Geschichte der Stadt verknüpft. Für sie gab es keine Rückkehr und auch keinen Wiederaufstieg. Sie wurden ermordet oder in die Emigration gezwungen. Ihr Schicksal war eng mit dem Helmut Hortens verknüpft – auf vielen Ebenen und auf unerwartete Weise, wie sich nach dem Krieg noch zeigen sollte.

Der Name Alsberg stand bereits seit den 1920er Jahren für ein florierendes Einzelhandelsunternehmen. In den 1930er Jahren firmierten darunter etwa 60 Fachgeschäfte im gesamten Rheinland, Westfalen und dem Ruhrgebiet. In zahlreichen Mittelstädten und regionalen Zentren gab es ein „Alsberg“, so auch in Duisburg.13 Hinter dem Handelsnamen stand eine Dachgesellschaft, die drei Komponenten umfasste: Die Alsberg-Eteg-Konzern AG bildete die gemeinsame Einkaufsgenossenschaft. Die Gebrüder Alsberg AG war für den Betrieb der Kaufhäuser zuständig. Und die Gebrüder Fried & Alsberg GmbH übernahm die Verteilung und den Vertrieb der Waren. Im Dezember 1933 wurde der Zusammenschluss auf Weisung der NS-Behörden entflochten. Übrig blieben nach den Umfirmierungen und Übernahmen eine Reihe von Kaufhäusern, die zwar weiterhin zur Dachorganisation mit dem Namen Gebr. Alsberg OHG gehörten, in sich aber eigenständige OHGs waren – so auch in Duisburg. Bei der OHG (Offene Handelsgesellschaft) handelte es sich damals wie heute um einen Zusammenschluss von zwei oder mehr persönlich haftenden Kaufleuten.

Das traditionsreiche Kaufhaus Alsberg hatte zu diesem Zeitpunkt bereits seit vielen Jahren unter der Leitung der beiden Eigentümerfamilien Lauter und Strauß gestanden. 1893 war Theodor Lauter in führender Position in das 1878 gegründete Unternehmen in der Duisburger Beekstraße 19–23 eingestiegen und wurde wenig später Geschäftsführer.14 Anfänglich nur eine Textilhandlung, wurde das Geschäft von Lauter schrittweise zu einem Kaufhaus ausgebaut. 1911 wurde sein langjähriger Mitarbeiter Hermann Strauß zu 50 Prozent an dem Unternehmen beteiligt.15 Theodor war der Inhaber der Grundstücke, auf welchen das Unternehmen betrieben wurde. Als er 1932 verstarb,16 vererbte er diese zu 50 Prozent seiner Witwe Amalie, zu 25 Prozent seinem Sohn Kurt und zu 25 Prozent seinem Sohn Ernst.17 Die Anteile am Geschäft Gebrüder Alsberg OHG gingen zu 30 Prozent an die Witwe und zu 20 Prozent an Ernst Lauter. Bei Hermann Strauß verblieben 50 Prozent.18

Die späten 1920er Jahre brachten für das Unternehmen positive Zahlen. Die durchschnittlichen Jahresumsätze beliefen sich auf acht Millionen RM. Die Gewinne lagen bei rund 250.000 RM. Zu Beginn der 1930er Jahre trübte sich die konjunkturelle Lage durch die Weltwirtschaftskrise stark ein. 1931 lag der Jahresumsatz nur noch bei rund fünf Millionen RM. Hinzu kamen hohe Privatentnahmen aus dem Unternehmen durch die Eigentümer.19

Die Machtübernahme der Nationalsozialisten verschärfte die Situation. Die Boykotte gegen Kaufhäuser im Allgemeinen und gegen jene jüdischer Eigentümer im Besonderen sowie die Parole der Zerschlagung setzten dem Unternehmen zu. Vor den Eingängen des Kaufhauses Alsberg in Duisburg wurden SA-Einheiten positioniert, die Kunden bedrohten und fotografierten.20 Der Jahresumsatz 1933 sank ab auf 2.600.000 RM bei gleichbleibend hohen Entnahmen. Immer mehr Geld musste als Kredit aufgenommen werden, um den Betrieb des Kaufhauses zu erhalten. Die Folge war eine rasch voranschreitende Verschuldung des Unternehmens und der Eigentümer.

Die Fortexistenz des Kaufhauses war nur mit fremdem Kapital zu sichern. Doch jeder Kredit erhöhte zugleich den Druck, das Unternehmen zu veräußern. Einen Ausweg bot am Ende nur der Verkauf, um die Emigration zu finanzieren. Kreditzinsen waren im Fall der Gebr. Alsberg OHG und ihrer Eigentümer ein wirkungsvoller Antreiber der „Arisierung“.

Der Weg zum Verkauf führte über Vermittler, zuallererst die Hausbanken, im Fall des Kaufhauses Alsberg und seiner Besitzer über die Filiale der Commerz- und Privatbank in Duisburg. An diesem Punkt betrat eine Persönlichkeit das Geschehen, die für Helmut Horten zu einem wichtigen Partner werden sollte. Wilhelm Reinold war der Direktor der Duisburger Commerzbank- Filiale. Er wurde zum Bindeglied zwischen Horten und den Familien Strauß und Lauter. Der 1895 geborene Reinold hatte bereits vor seinem Kriegsdienst als Unteroffizier im Ersten Weltkrieg eine Lehre als Bankkaufmann abgeschlossen. In der Zwischenkriegszeit hatte er verschiedene Positionen als Prokurist und Filialleiter beim Barmer Bankverein inne, bevor er 1933 Leiter der Duisburger Filiale der Commerzbank wurde.21 Reinhold war seit Mai 1933 Mitglied der NSDAP gewesen.

Reinold war in seiner Position als Bankdirektor auch persönlicher Berater der Familien Strauß und Lauter in finanziellen Angelegenheiten. Er kannte deren wirtschaftliche Situation und wusste um die prekäre Lage. Anfang 1935 wurde Reinold von den Eigentümern damit beauftragt, einen Käufer oder Pächter für das Duisburger Kaufhaus zu finden. Zugleich wandten sich die Eigentümerfamilien an einen gewerbsmäßigen Vermittler. Diesen kam bei „Arisierungen“ eine Schlüsselrolle zu: Sie sollten den Kontakt zwischen verkaufswilligen jüdischen Eigentümern von Vermögenswerten und „arischen“ Interessenten herstellen und erhielten dafür eine Provision von den Verkäufern. Auch Reinold und seine Bank hatten Aussicht darauf. Er ging mit dem Vermittler auf die Suche nach Käufern und verhandelte „mit 6 oder 7 Reflektanten (Interessenten)“, ohne dass sich daraus ein Geschäftsabschluss erzielen ließ.22

Zu Beginn des Jahres 1936 schien aber ein aussichtsreicher Kandidat gefunden zu sein. Dr. Paul Jacobi – er ist uns schon im ersten Kapitel begegnet – hatte 1934 das Kölner Kaufhaus Michel von den jüdischen Eigentümern übernommen und führte dies nun erfolgreich. Er wurde durch Reinold und den Vermittler kontaktiert, ob Interesse an der Übernahme des Kaufhauses Alsberg in Duisburg bestünde.23 Jacobi zeigte sich interessiert, das Geschäft schien lukrativ zu sein. Er verhandelte auch selbst mit den Eigentümerfamilien Strauß und Lauter.24 Beiderseits war das Interesse groß, die Übernahme zu realisieren. Allerdings war Jacobi durch sein Engagement in Köln zeitlich wie auch finanziell gebunden. Der Kaufmann leitete das dortige Haus als Geschäftsführer und hatte wohl kaum freie Kapazitäten für die Leitung eines weiteren Hauses übrig. Außerdem wäre die Übernahme eines weiteren Hauses mit enormen Investitionen verbunden gewesen, zu denen Jacobi wohl nicht im Stande war.

Er präsentierte aber eine andere Lösung: Sein Angestellter Helmut Horten sollte als Geschäftsführer das Duisburger Kaufhaus leiten. Schon andere Angestellten hatten, wie bereits erwähnt, Kaufhäuser aus „Arisierungen“ übernommen. Horten als Geschäftsführer bei Alsberg einzusetzen, erschien als gangbarer Weg, die „Arisierung“ der Gebr. Alsberg OHG zu realisieren.25 Seine Ambitionen wie auch sein verkäuferisches Talent waren offenkundig, allein, es fehlten noch die finanziellen Mittel. Reinold fand einen Weg: Statt nach einem einzelnen finanzkräftigen Kaufmann Ausschau zu halten, suchte er nun nach einer Investorengruppe, die zwar nicht über die fachliche Eignung verfügte – mit Horten stand ja bereits ein fachkundiger Einzelhändler parat –, aber das Kapital bereitstellen konnte.

„Arisierungen“ boten in einem komplexen wirtschaftlichen Umfeld hohe Renditechancen für Vermögende. Denn nach einer Übernahme bestand die Aussicht darauf, dass mit den wegfallenden Boykotten und Drangsalierungen, die zuvor noch den jüdischen Eigentümern galten, Umsatz und Gewinn wieder anzogen. Noch dazu gab es seit der Machtübernahme der Nationalsozialisten wenige Investitionsmöglichkeiten. Der private Börsenhandel war aus ideologischen Gründen erheblich eingeschränkt worden. Direkte Unternehmensbeteiligungen waren eine der wenigen verbleibenden Optionen. Es fiel daher nicht schwer, Investoren zu finden.

Einer war der vermögende Arzt Josef Fieger. Der Mediziner praktizierte in Köln-Lechenich und war als politisch zuverlässiger Parteigenosse bekannt.26 Der andere, Erich Rump, hatte 1921 die Westfälische Baumwollweberei in Bocholt gegründet und war zumindest mittelbar mit den Eigenheiten des Einzelhandels vertraut.27 Mit Fiegers Einlage von 150.000 RM, Rumps Einlage von 100.000 RM und schließlich Helmut Hortens Anteil von 50.000 RM wurde am 23. April 1936 die Helmut Horten KG in Duisburg gegründet. Als deren Zweck wurde festgeschrieben: „Übernahme und Fortführung des bisher in Duisburg unter der Firma Gebrüder Alsberg betriebenen Handelsunternehmens“.28 Helmut Horten gehörten also nur 16,7 Prozent an dem Unternehmen, welches seinen Namen trug. Die 50.000 RM brachte Horten durch ein Darlehen von Werner Horten (45.000 RM) und 5.000 RM Eigenkapital auf.29 Werner Horten war Justiziar und Syndikus des Bankhauses Sal. Oppenheim in Köln und ein Cousin von Helmut Hortens Vater.30

Doch entscheidender als die Kapitalbeteiligung war für Helmut Horten die neue berufliche Aufgabe: Er sollte die Geschäfte als Geschäftsführer leiten. Zugleich war er als sogenannter Komplementär alleinhaftender Gesellschafter, was zusätzlich die Aufgabenteilung zwischen den Geldgebern und dem operativen Geschäft unterstrich. Sollte das Vorhaben scheitern, so haftete Horten mit seiner Einlage sowie seinem gesamten Privatvermögen, während die Finanziers nur mit ihrem Geschäftsanteil hafteten.

Als beratendes Organ der KG wurde ein Beirat eingesetzt. Dessen Aufgabe sollte darin bestehen, „Anweisungen über die Art der Geschäftsführung“ an den geschäftsführenden Gesellschafter zu geben. Der Beirat war damit die Kontrollinstanz, die über Hortens Arbeit wachen sollte. Mitglieder waren neben den Kommanditisten Rump und Fieger auch Wilhelm Reinold, der Bankdirektor, und Paul Jacobi, Hortens ehemaliger Chef. Horten war in ein Netz aus Kapitalbeteiligungen und Kontrollen eingeschnürt. Eigenständige unternehmerische Entscheidungen waren in begrenztem Maße zwar möglich, aber unterlagen einem Mechanismus aus Rechenschaft und Überprüfung. Im Gesellschaftervertrag vom 23.  April 1936 wurde zudem festgelegt, dass der Beirat der Helmut Horten KG dem Geschäftsführer kündigen durfte, sofern „ein wichtiger Grund, insbesondere Unfähigkeit oder grober Verstoß gegen die Geschäftsanweisung“ vorlag.31 Für seine Arbeit wurde er zwar mit einem Geschäftsführergehalt von 24.000 RM jährlich entlohnt, neben seiner anteiligen Gewinnausschüttung aus der Bilanz der KG. Doch noch war er alles andere als sein eigener Herr. Nicht Horten hatte das Kaufhaus Alsberg übernommen, sondern er war an der Übernahme mit dem geringsten der drei Anteile beteiligt.

Horten selbst gab 1948 an, dass die Verhandlungen mit den jüdischen Vorbesitzern von Reinold und Jacobi geführt worden seien und diese die Konditionen mit den Eigentümern vereinbart hätten. Er selbst habe an den Verhandlungen der „Arisierung“ keinen Anteil gehabt. Reinold widersprach dieser Version nicht. Jacobi war im Zweiten Weltkrieg gefallen.32 Die Übernahmekonditionen sollten vor allem in den Entnazifizierungs- und Rückerstattungsverfahren nach dem Krieg von Bedeutung sein.

Mit Wirkung zum 1. Mai 1936 wurde der Geschäftsbetrieb aufgenommen.33 Die Übernahme vollzog sich auf zwei Ebenen. Auf der ersten ging es um den Warenbestand und kleinere Nebenwerte des Kaufhauses Alsberg, die durch Kauf erworben wurden. Auf der zweiten um die Nutzung der Geschäftsräume mit einem Pachtvertrag. Die Geschäftsräume waren schließlich noch im Besitz der Familie Lauter.34

Für den Tag vor der Übernahme des Kaufhauses ergab eine Inventur des Warenlagers einen Verkaufswert der Waren von rund 1.100.000 RM.35