Der Klang des Ligusters - Michaela Pavelka - E-Book

Der Klang des Ligusters E-Book

Michaela Pavelka

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Beschreibung

Die Autistin Franka liebt den süßen Duft des Ligusters zur Blütezeit, das Rascheln seiner Blätter im Wind und auch den weichen Klang des Wortes, wenn sie es ausspricht. Mit ihrer gleichaltrigen Freundin Britta, die gleichzeitig ihre Tante ist, verbindet sie in der Jugend eine enge Freundschaft, die im Laufe der Zeit an Brittas Wahnhaftigkeit zerbricht. Als Franka nachts ein Telefonat ihres Großvaters Anton mithört, erfährt sie ein Geheimnis, das sie in innere Konflikte stürzt. Jahre später arbeitet die erwachsene Franka als selbstständige Fotografin. Eines Tages bringt ihr eine Kundin eine Kiste mit alten Fotos ins Geschäft, die sie in ihrem Haus in einem Versteck gefunden hat. Es wird deutlich, dass jemand über Jahrzehnte hinweg heimlich Aufnahmen von der Familie gemacht hat.

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Die Autistin Franka liebt den süßen Duft des Ligusters zur Blütezeit, das Rascheln seiner Blätter im Wind und auch den weichen Klang des Wortes, wenn sie es ausspricht. Mit ihrer gleichaltrigen Freundin Britta, die gleichzeitig ihre Tante ist, verbindet sie in der Jugend eine enge Freundschaft, die im Laufe der Zeit an Brittas Wahnhaftigkeit zerbricht.

Als Franka nachts ein Telefonat ihres Großvaters Anton mithört, erfährt sie ein Geheimnis, das sie in innere Konflikte stürzt.

Jahre später arbeitet die erwachsene Franka als selbstständige Fotografin. Eines Tages bringt ihr eine Kundin eine Kiste mit alten Fotos ins Geschäft, die sie in ihrem Haus in einem Versteck gefunden hat. Es wird deutlich, dass jemand über Jahrzehnte hinweg heimlich Aufnahmen von der Familie gemacht hat.

Michaela Pavelka arbeitet seit mehr als 25 Jahren als Psychologische Psychotherapeutin in eigener Praxis.

Sie hat bisher vier weitere Romane veröffentlicht:

Das Land hinter dem Horizont (2009)

Im Schatten der Stille (2011)

Ausgesprochen unerhört (2018)

Ob Schnee draußen liegt? (2020)

Für Franka

Liebe Sophia-Maria, lieber Norbert, ich danke Euch für das aufmerksame Lektorat, Eure wertvollen Anregungen und Ideen. Danke für die Zeit, die Ihr Euch genommen habt, um den Prozess zu begleiten.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 1

Wie wirklich ist die Wirklichkeit?

Paul Watzlawick

Im Nachhinein ist man immer schlauer, sagt man. Es wird so vieles gesagt, wenn der Tag lang ist. In manchen Familien existieren Wirklichkeit und Wahn nebeneinander wie gleichberechtigte Realitäten. Im Nachhinein fragt Franka sich immer noch, was real war und was nicht. Wenn sie abends still aus dem Fenster schaut oder am Strand aufs weite Meer hinausblickt, denkt sie noch immer darüber nach, was denn eigentlich wirkliche Wirklichkeit war und was nicht. Wann genau hatte es angefangen, dass die Dinge aus dem Ruder liefen? Wann genau hatte die Entfremdung zwischen ihr und Britta begonnen? Sicherlich war es eine schleichende Entwicklung. Und doch mag das Ende abrupt erscheinen, als werde man von dem Plötzlichen überrollt.

„Fahr vorsichtig! Und pass auf, dass die Blume nicht umkippt!“

„Ja, Mama. Keine Sorge“, antwortete Franka und stellte die Begonie und eine kleine Gießkanne in den Korb auf ihrem Gepäckträger.

„Stell doch deine Tasche dazu! Dann hat die Blume mehr Halt.“

„Ja, Mama“, erwiderte Franka nun leicht gereizt.

„Und bitte ganz gründlich gießen…“

„Jaaaaa“, unterbrach Franka sie, „ich schaffe das schon.“

„Ich weiß. Bis später dann! Und sieh zu, dass du vor Einbruch der Dunkelheit wieder zu Hause bist!“

Franka hauchte ihrer Mutter einen Handkuss zu, setzte sich aufs Fahrrad und fuhr los. Ihre Mutter stand noch lange in der Tür und ging erst ins Haus, als ihre Tochter aus dem Blickfeld verschwunden war.

Die Luft war mild. Die Japanische Zierkirsche stand in voller Blüte und in den Vorgärten wurde geharkt, gezupft und gefegt. Überall zeigte sich der Frühling. Franka fuhr vorsichtig und kontrollierte an jeder roten Ampel, ob die Pflanze in dem Korb immer noch aufrecht stand. Als sie durch Oberhausen-Lirich fuhr, den Stadtteil mit den mächtigen alten Bäumen, deren Wurzeln die Wege uneben gemacht hatten, verlangsamte Franka die Geschwindigkeit und trat erst dann wieder kräftig in die Pedale, als sie auf der Ulmenstraße die Kanalbrücke hochfuhr. Kurz darauf erreichte sie den Westfriedhof. Vor dem Eingangstor stieg sie vom Rad und schob es bis zum Grab ihrer Großmutter Hildegard. Hinter dem Grabstein holte sie eine kleine Schippe hervor, überlegte kurz, an welcher Stelle sie graben sollte und entschied sich dafür, die Begonie in die Nähe der Grablaterne zu setzen. Dann lief sie zur Wasserstelle, füllte die Gießkanne, ging zum Grab zurück und wässerte ausgiebig die Begonie, die weißen Rosen und das Heidekraut.

„Oma, jetzt bekommst du eine Dusche“, flüsterte sie. Schließlich nahm sie ein Tuch aus ihrer Hosentasche, goss etwas Wasser darüber und wischte über den Grabstein aus dunklem Granit. Als sie das Geburts- und Sterbedatum polierte, stutzte sie. Geboren 1925, verstorben 1961.

Merkwürdig. Oma ist ja nur sechsunddreißig Jahre alt geworden, überlegte Franka. Was ist denn da passiert? Mama hat noch nie erwähnt, dass ihre Mutter so jung war, als sie starb. Tante Wilma hat auch nie etwas gesagt. Wahrscheinlich irgendeine schlimme Krankheit. Oder ein Unfall vielleicht. Franka schrubbte, so gut sie konnte, um die Inschrift vom Schmutz zu befreien. Schließlich nahm sie ein Feuerzeug aus ihrer Hosentasche und zündete die Kerze in der Grableuchte an. Eine Weile noch blieb sie vor dem Grab hocken und betrachtete es still. Gepflegt war es. In der Frühjahrssonne, die durch das Laub der Baumkronen drang, hatte das Grab nicht nur etwas Trauriges. Es hatte etwas Würdevolles, ja Friedvolles. Franka schaute sich um. Vereinzelt lief jemand zur Wasserstelle oder brachte Pflanzenabfälle zur Sammelstelle. Weiter links harkte jemand die Erde auf. Alles geschah mit Bedacht und mit einer Langsamkeit, die sonst kaum irgendwo zu finden war. Verwundert stellte sie fest, dass sie sich an diesem Ort wohlfühlte und Ruhe verspürte. Aber sie musste jetzt fort, denn sie wollte zu Britta, die ihre beste Freundin und gleichzeitig ihre Tante war. Mit einer Hand strich Franka noch einmal über den Grabstein. „Bis bald, Oma. Ich bringe dir wieder Blumen. Du bekommst dann auch wieder eine Dusche.“ Dann schob Franka ihr Fahrrad zum Eingangstor zurück. Sie hob die Tasche, in der sich ihr Walkman mit den Kopfhörern befand, aus dem Korb und hängte sie sich um die Schulter. Dann drückte sie auf Play und hörte Genesis.

Der Fahrtwind pfiff Franka um die Ohren, als sie mit ihrem Sportrad die Brücke hinunterbrauste.

Am Ende der Straße, vor der Kreuzung, hielt sie an der Tankstelle, kaufte Zigaretten und steckte sie in die Tasche. Dann setzte sie ihre Fahrt fort. Nur noch fünf Minuten, dann habe ich es geschafft, dachte sie erfreut. Noch einmal links, dann geradeaus und nochmal links. Als sie das Haus ihrer Großeltern erreichte und das Fahrrad auf den Hof schob, roch sie bereits den Bratengeruch. Sie rümpfte die Nase. Hoffentlich gibt´s kein fettes Fleisch. Dann esse ich nur Kartoffeln mit Soße. Ihre Großmutter Andrea, genauer gesagt, ihre Stief-Oma, die zweite Frau ihres Großvaters, öffnete Franka die Tür.

„Hallo Franka, da bist du ja! Dann können wir gleich zusammen essen. Lust auf einen Tee?“

„Hallo Oma. Tee, ja immer! Danke. Krieg ich wieder die Tasse mit Paulchen Panther?“

„Na, klar.“

Sie reichte ihrer Großmutter die Hand und lugte über deren Schulter hinweg zum Herd. Erleichtert stellte sie fest, dass es Gulasch mit Klößen gab. Am Gulasch war meistens kein Fett.

„Essen ist gleich fertig. Du kannst Britta Bescheid geben.“

„Mache ich. Ist Opa auch da?“

„Ja, er spielt Schach mit sich selbst im Wohnzimmer.“

Ihr Großvater murmelte leise vor sich hin, als sie sich zunächst unbemerkt auf ihn zubewegte.

„Hallo Opa, na, wer gewinnt? Schwarz oder Weiß?“, fragte Franka und setzte sich auf die Sessellehne.

„Sieh genau hin! Wie ist deine Einschätzung?“, erwiderte er und schaute seine Enkelin über den Brillenrand an.

„Hm, ich sehe, du hast schon einen weißen Turm und einen Läufer ergattert. Weiß hat von dir noch gar nichts.“

„Und weiter?“

„Du bist bedrohlich weit vorgerückt. Deine Dame steht in Stellung. Sieht gut für dich aus, würde ich sagen.“

Er nickte zufrieden.

„Wenn du magst, meine Liebe, können wir später eine Partie spielen.“

„Wann denn? Du musst doch bestimmt nach der Mittagspause wieder zur Arbeit.“

Dann nuschelte er plötzlich etwas vor sich hin und gestikulierte mit seinen Händen. Die Stirnfalte zwischen seinen Augenbrauen trat deutlich hervor. Er wandte sein Gesicht ab und schaute nachdenklich aus dem Fenster, als gäbe es vor dem Haus irgendetwas Interessantes zu entdecken.

„Opa?“

Als er nicht reagierte, trat Franka ans Fenster, um nachzusehen.

„Ist da irgendwas?“

„Ja, die Wolken.“

„Was ist mit den Wolken?“

„Diese Formation…“

„Opa, was ist damit?“

Leise murmelte er vor sich hin, als sei Franka gar nicht vorhanden.

„Verheißen nichts Gutes. Diese Wolken…nicht gut…nicht gut…“

Franka setzte sich wieder zu ihm auf die Sessellehne und berührte seinen Arm.

„Was ist mit den Wolken? Da sind nur ein paar Wattetupfer am Himmel.“

„Die sehen nicht gut aus.“

„Wieso? Meinst du, es könnten mehr werden und Regen geben? Du willst nicht nass werden auf dem Rad, nicht wahr?“

„Ja“, sagte er leise und rückte auf dem Schachbrett seine Dame vor.

„Aber es sieht gar nicht nach Regen aus“, beteuerte Franka energisch. „Wie auch immer. Wir können nachher gerne eine Partie zusammen spielen. Aber ich muss jetzt Britta zum Essen holen.“

In der ersten Etage wusch sich Franka schnell in dem kleinen Badezimmer die Hände und sprintete dann weiter nach oben.

Als Franka in Brittas Zimmer kam, schaute diese auf und winkte ihr zu. Sie saß an ihrem Schreibtisch und blätterte in der Bravo.

„Du kommst genau zum richtigen Zeitpunkt.“

„Wieso?“, fragte Franka und stellte sich neben Britta.

„Ich habe gerade die Seite mit den Beatles aufgeschlagen. Kannst du haben. Das Poster auch.“

„Ja! Super! Danke.“

„Ich hoffe ja, dass da bald mal ein Poster von Bowie drin ist.“

Mit einem Fuß stieß sich Britta am Boden ab und drehte sich mit ihrem Schreibtischstuhl im Kreis.

„Wäre toll! Kommt bestimmt irgendwann. Übrigens, deine Mutter sagt, dass das Essen fertig ist.“

„Na, dann wollen wir mal! Was gibt´s denn eigentlich?“

„Gulasch. Zum Glück nicht so´n Fleisch mit Fettrand. Da kriege ich das Würgen. Kann ich dann nur in den Backen sammeln und später ausspucken.“ Franka schnitt eine Grimasse.

„Könnten wir an die Katzen verfüttern“, schlug Britta vor.

„Habe ich tatsächlich schon gemacht. Sag mal, ist dein Bruder da?“

„Ich habe ihn noch nicht gehört. Ich meine, Lars hat heute lange Schule. Mein Vater ist auch noch nicht da. Es wird heute Abend später, hat er gesagt. Sein Chef hat einen neuen Auftrag rein bekommen. Sie planen irgendein großes Gebäude.“

„Wieso? Dein Vater sitzt doch im Wohnzimmer und spielt Schach. Er muss nachher nicht mehr zur Arbeit. Aber er hat irgendetwas über Wolken erzählt.“

„Über Wolken?“ Britta schaute aus dem Fenster „Meint er die paar mickrigen Wölkchen?“

„Ja. Was bedeutet das, Britta?“

„Ach, vergiss es! Er hat manchmal so seine Eigenarten. Ich würde sagen, es ist eine verdammt dämliche Ausrede, um nicht arbeiten zu müssen. Und jetzt komm! Ab nach unten. Wer erster ist, hat gewonnen.“

Britta sprang auf und flitzte los. Franka beeilte sich, hinterherzukommen. Sie rannten die Treppen hinunter, die letzten vier Stufen sprangen sie und landeten im Flur.

„Erster!“, rief Britta stolz.

„Pah! Mal sehen, wer nachher am schnellsten wieder oben ist“, erwiderte Franka und öffnete die Tür zum Wohnzimmer.

„Na, ihr Poltergeister! Irgendwann brecht ihr euch die Knochen, wenn ihr so rennt“, mahnte Frankas Großmutter Andrea. Sie lief zwischen Küche und Esszimmer hin und her und stellte die Schüsseln auf den Tisch.

„Setzt euch schon mal! Ich bin gleich fertig.“

Franka schupperte an dem Fleisch.

„Nase weg! Nachher tropft noch ´was in die Schüssel“, sagte Britta und grinste.

„Merkt doch keiner“, antwortete Franka prompt, griff nach der Sprudelflasche und schraubte den Deckel auf. Beim Öffnen schoss ihr sofort Wasser entgegen.

„Bah pfui!“

Franka stellte die Flasche ab, schüttelte die Hände und wischte sie an ihrer Jeans trocken. Ihr Großvater setzte sich an den Tisch und schmunzelte. Britta lachte laut, tauchte ihre Finger in die kleine Wasserpfütze und bespritzte Franka. Ihr Großvater hatte eine Ahnung, wie das Mittagessen jetzt weitergehen würde. Und so war es. Die Mädchen brachen ständig in Gelächter aus, sobald sie sich anschauten. Ein einziger Blick reichte. Und manchmal, wenn sie noch etwas im Mund hatten, konnte es auch passieren, dass Zerkautes auf dem Tisch landete, so wie heute. Pürierter Kloß mit Bratensoße an Rotkohlstreifen.

Nach dem Essen verschwanden die Mädchen wieder in Brittas Zimmer.

„Wer als erster oben ist!“, rief Franka, als sie bereits im Flur stand.

„Das gilt nicht!“, maulte Britta und rannte hinterher.

Diesmal hatte sie keine Chance. Als Britta in ihrem Zimmer ankam, saß Franka im Schneidersitz auf ihrem Bett und grinste.

„Du hast gepfuscht!“, meckerte Britta.

„Du vorhin auch!“

Und dann zog Franka eine Packung Zigaretten hinter ihrem Rücken hervor und hielt sie ganz stolz in die Höhe.

„Schau mal, was ich hier habe! Ich spendier ´ne Runde.“

„Wow!“

Britta stieg auf ihr Bett und öffnete das Fenster. Franka setzte sich zu ihr, reichte Britta eine Zigarette und gab ihr Feuer.

„Ich war vorhin auf dem Friedhof bei Oma Hildegard. Als ich klein war, war ich ja auch schon mal da. Ist ewig her. Aber heute ist mir etwas Seltsames aufgefallen. Meine leibliche Oma ist nur sechsunddreißig Jahre alt geworden.“

Franka führte die Zigarette zum Mund, nahm einen tiefen Zug und pustete den Rauch zum Fenster hinaus.

„Das wusste ich gar nicht“, sagte Britta erstaunt.

„Sie war die erste Frau deines Vaters, nicht wahr? Oder gab´s da noch eine andere Frau?“, fragte Franka.

„Nicht, dass ich wüsste“, erwiderte Britta.

„Ist schon merkwürdig alles. Dass du meine Tante bist, ist genauso bekloppt. Wir sind gleich alt – und doch bist du meine Tante.“

„Ja, weil mein Vater, also dein Opa, ein zweites Mal geheiratet hat. Meine Mutter ist ja auch gar nicht deine richtige Oma. Ich meine, sie ist nicht deine leibliche Oma.“

„Ich weiß. Deine Mutter ist meine Stief-Oma. Aber trotzdem ist sie für mich wie eine richtige Oma“, erwiderte Franka.

„Sie mag dich auch sehr. Das sieht man.“ Britta nahm den letzten Zug von ihrer Zigarette und schnippte den Filter zum Fenster heraus.

„Ich mag deine Mutter auch sehr. Für mich ist sie eine richtige Oma. Willst du noch eine Kippe?“

„Einen Moment! Ich hab´ auch noch ´was Feines.“ Britta ließ sich ins Bett fallen, rutschte zur Kante vor und langte unters Bett. Mit zwei Bierflaschen Krombacher in den Händen setzte sie sich auf die Fensterbank. Franka öffnete sie mit dem Feuerzeug. Sie stießen die Flaschen gegeneinander, ganz vorsichtig, damit kein Schaum herausquoll. Und auch die nächste Zigarette ließ nicht lange auf sich warten.

„Was meinst du, woran Oma Hildegard gestorben ist?“

Britta nahm einen großen Schluck, bevor sie antwortete.

„Schwer zu sagen. Krebs vielleicht. So ein schnell tötender“, überlegte sie.

„Oder ein Unfall? Ich meine, ich hätte so etwas schon mal gehört. Aber vielleicht irre ich mich auch. Spricht dein Vater denn schon mal von seiner ersten Frau?“, fragte Franka.

„Nee. Kann mich nicht erinnern.“

„Vielleicht ist sie ja ermordet worden?“, murmelte Franka und blies Kringel in die Luft.

„Also jetzt geht aber die Fantasie mit dir durch“, antwortete Britta und blies ebenfalls Kringel in die Luft.

„Komm, wir versuchen die Olympischen Ringe zu pusten!“ Franka zog schnell hintereinander an ihrer Zigarette und hauchte Kreise in die Luft. Britta tat es ihr nach.

„Ist aber schwierig. Ich glaube, das geht nicht. Hast du eigentlich noch mehr Bier hier oben?“

Britta rutschte von der Fensterbank und kroch halb unters Bett. Den Geräuschen nach zu urteilen, mussten da mehrere Flaschen liegen, dachte Franka.

„Wie kommst du auf Mord?“, fragte Britta, öffnete die Bierflaschen und setzte sich wieder.

„War nur eine Idee. Prost! Auf Hildegard!“

„Auf Hildegard, die Unbekannte!“ Britta hob die Flasche, Franka stieß mit ihrer an.

„Die Verschwiegene!“

„Die Verschwiegene? Das ist doppeldeutig“, sagte Britta.

„Wieso?“

„Naja, diejenige, über die geschwiegen wird und diejenige, die selbst verschwiegen ist.“

„Ob sie verschwiegen war, wissen wir ja nicht“, gab Franka zu bedenken.

„Stimmt! Dann trinken wir eben auf die Rätselhafte.“

„Ja. Prost! Auf die Rätselhafte!“

Und wieder stießen sie die Flaschen aneinander. Und wieder steckten sie sich eine neue Zigarette an.

Ihre Köpfe rauchten, die Zigaretten qualmten. Die Zigarettenstummel schnippten sie zum Fenster heraus. Manche landeten auf dem Bürgersteig und manche auf der Straße. Außer Lars, Brittas älterem Bruder, wusste niemand, dass sie rauchten. Zumindest glaubten sie das. Einmal allerdings wären sie fast aufgefallen, weil ein Zigarettenstummel den dickbäuchigen Nachbarn auf der Glatze traf. Er klingelte und beschwerte sich, meinte, jemand würde aus den Fenstern Zigaretten auf die Straße werfen. Doch Brittas Mutter glaubte ihm nicht. „Es sind nur die Kinder im Haus. Und die rauchen nicht. Sie müssen sich irren.“ Die Mädchen taten ganz unbeteiligt, als man es ihnen erzählte. Pokerface. Faltenlos. In den Augen der Erwachsenen waren sie fast noch Kinder. Das war ihre Tarnkappe. Sie ließen Andrea glauben, was diese glauben wollte. Sie lasen Simone de Beauvoir, Erich Fromm und Alice Miller genauso wie Enid Blyton und Astrid Lindgren – nur an verschiedenen Orten. Jugendbücher lasen sie im Wohnzimmer, die anderen Bücher abends in Brittas Zimmer. Entweder lagen sie dabei im Bett oder saßen in den alten ausrangierten, verblichenen Sesseln mit Strohfüllung und Brandflecken auf den Armlehnen.

Verliebt sein ohne Gegenliebe, das ist Liebeskummer. Aber Sehnsucht zu spüren ohne Grund, das ist wie ein Schnitt ohne Klinge. Franka und Britta sehnten sich kaputt und wussten nicht, wonach. Britta legte eine Schallplatte auf den Plattenspieler und setzte die Nadel ab. „Heroes“, flüsterte sie, und als die ersten Klänge den Raum erfüllten, da standen sie längst bereit, tanzten und sangen, bis ihnen der Schweiß die Stirn herunterlief. Wie im Rausch hörten sie immer wieder dieses Lied, erfüllt von einer namenlosen und schmerzvollen Sehnsucht.

I, I will be king And you, you will be queen Though nothing will drive them away We can beat them, just for one day We can be heroes, just for one day

And you, you can be mean And I, I´ll drink all the time `Cause we´re lovers, and that is a fact Yes, we´re lovers, and that is that

Mit beiden Händen strich Britta ihre langen, rot gefärbten Haare zurück und zwinkerte Franka zu.

„Da vorne ist er!“

„Wer?“, fragte Franka.

„Na, ER! Er persönlich! Steigt hernieder aus dem Dunst.“

„Wovon sprichst du?“

„Von Bowie, von wem denn sonst? Da, am Spiegel!“

„Britta, ich sehe nichts.“

“Sieh, er winkt mir zu, du Blindfisch! Cause we´re lovers, and that is a fact. Yes, we´re lovers, and that is that.”

Brittas Haare leuchteten in dem Lichtschein, der durch den schmalen Spalt des Fensters fiel.

Feine Staubpartikel wirbelten durch die Luft.

Britta streckte ihre Hände nach ihm aus. Matt schimmerte ihr weißer Nagellack. Eine Haarsträhne klebte feucht auf ihrer Stirn, während sie ihm entgegentanzte und alles, was Franka sah, war ein verschwitztes Mädchen, das sich auf einen blinden, alten Spiegel zubewegte und sich schließlich mit beiden Armen selbst umschlang.

Franka hatte sich auf den Boden gesetzt, lehnte mit dem Rücken an der Wand. Eigentlich wollte sie die Musik ausschalten, doch sie bewegte sich nicht. Gleichermaßen fasziniert wie irritiert schaute sie nur zu. In diesem Moment war Britta ihr fremd. Sie fühlte, dass das, was hier geschah, größer war als das, was sie bisher kannte. Ihr fehlten die Begriffe. Brittas Augen, so weit geöffnet, als wollten sie jemanden verschlingen, schienen trotzdem die Realität nicht zu sehen. Sie erblickten, was nicht vorhanden war, ein Trugbild, aber das Vorhandene, den Spiegel, sahen sie nicht. Für einen kurzen Moment überlegte Franka, ob es wirklich wünschenswert sein könnte, dass eine Sehnsucht so intensiv wird, dass sie plastische Gestalt annimmt. Immens kurz war dieser Moment. Nur ein Bruchteil eines Bruchteils.

„Britta!“, rief sie. Doch diese reagierte nicht.

Zaghaft näherte sich Franka, so wie man sich einer Schlange nähert, bevor man sie einfängt, stets darauf gefasst, dass sie angreifen könnte. So wie man seine Hand ganz behutsam auf eine Herdplatte legt, um zu ertasten, ob sie heiß ist, so legte Franka ihre Hand auf Brittas Schulter. Wie in Zeitlupe drehte Britta sich herum und als Franka irgendetwas in Brittas Blick zu erkennen versuchte, da war es ihr, als schaute ein lebloser Geist sie an. Sie konnte Britta nicht finden, nicht in diesem Blick, der leer war und ausdruckslos. Franka erstarrte, und als sie nach Worten suchte, verweigerte ihr Kopf seinen Dienst. Stumm legte sie ihre Hand auf Brittas Stirn und fühlte die Nässe an ihren Fingern. Mit beiden Händen wedelte sie vor Brittas Augen, bis diese unvermittelt sagte, als fiele sie von irgendwoher in die Zeit zurück:

„Komm, lass und nach unten gehen. Ich habe Hunger.“

Später am Abend, als sie in ihren Betten lagen, zu müde, um noch etwas zu tun und zu wach, um schon zu schlafen, wollte Franka noch einmal sichergehen. Sie zögerte eine Weile, bevor sie fragte.

„Britta?“

„Ja.“

„Sag mal, das war doch nur eine Fantasie, nicht wahr?“

„Was meinst du?“

„Dass du Bowie gesehen hast, das war doch nur eine Fantasie. Ich meine, du hast ihn nicht wirklich gesehen, oder?“

Britta lachte albern.

„Bowie gesehen? Was denkst du denn? Nein! Ich bin doch nicht bekloppt. Das hast du dir nur eingebildet. Und jetzt lass mich schlafen!“

„Ich? Ich habe mir etwas eingebildet? Das warst doch wohl du, nicht ich!“

„Niemals! Du hast dir eingebildet, dass ich mir etwas eingebildet habe. So war es. Feierabend!“

Ohne ein weiteres Wort löschte Britta ihre Nachttischlampe und drehte sich zur Wand. Frankas Lampe hingegen brannte noch lange. Träge rollte sie sich zur Seite, griff mit einer Hand unters Bett und zog eine Pappschachtel hervor, in der sie einige Bücher aufbewahrte. Vor ein paar Tagen erst hatte sie beim Schlendern durch die Stadt in einem unscheinbaren Geschäft ein interessantes Buch entdeckt. Ein Wunder überhaupt, dass die kleine Buchhandlung in Oberhausen-Mitte so etwas im Regal hatte.

Ihre neue Errungenschaft war von dem Autor namens Watzlawick, der ihr bis zu diesem Zeitpunkt völlig unbekannt war. Der Titel hatte sie magisch angezogen. Und jetzt schien er passender denn je. Franka war ungeheuer gespannt auf den Inhalt.

Wie wirklich ist die Wirklichkeit?

Teil Eins begann mit einem Zitat:

„Wohlan, lasset uns herniederfahren und ihre Sprache daselbst verwirren, dass keiner des anderen Sprache verstehe.

Genesis 11,7“

Dass keiner des anderen Sprache verstehe.

Genau, so ist es, ging es Franka durch den Kopf. Sofort musste sie an Britta denken, die ihr einreden wollte, dass sie sich einbilde, Britta hätte sich etwas eingebildet. Wenn alles wahr ist, was ist denn dann Wirklichkeit? Die Gedanken erschienen sehr gefährlich. Und wenn keiner des anderen Sprache versteht, wie groß muss dann die Einsamkeit sein? Beunruhigt klappte Franka das Buch zu und legte es auf ihren Bauch. Es hob und senkte sich bei jedem Atemzug.

Es war weit nach Zwölf, als sie es zurück in die Schachtel legte. Für eine Weile schaute sie Britta beim Schlafen zu. Wie Spaghetti breiteten sich ihre kupferroten Haare auf dem Kissen aus. Sie lag jetzt auf dem Rücken und ihre Hände waren zart und weiß wie Schnee. Ab und zu murmelte sie unverständliche Laute und wenn sie sich bewegte, dann knarrte das Bett. Franka öffnete das Fenster auf ihrer Seite und streckte den Kopf hinaus. Sternenklar war die Nacht. Der pralle Mond streifte mit seinen silbernen Fingern ihr Gesicht. Die Grillen zirpten und in der Ferne schlug die Turmuhr zur halben Stunde. Sie setzte sich aufs Fensterbrett und lauschte still den Geräuschen der Nacht, als sie plötzlich den Geruch von Zigarettenrauch wahrnahm. Rot leuchtete die Glut auf. Erst jetzt entdeckte sie ihren Großvater, der im Hof saß, den Kopf in den Nacken gelegt. Franka kniff die Augen zu und rieb sie mit den Knöcheln ihrer Zeigefinger. Doch als sie die Augen wieder öffnete, saß er noch immer auf der Mauer. Es war also keine Einbildung. Es war wirkliche Wirklichkeit. Sie hörte Opas Stimme, ungewohnt traurig der Klang. Er rutschte von der Mauer und lief auf das Haus zu, gespenstisch im Mondlicht, mit einem Telefon in der Hand. Silbern funkelte sein Brillenglas. Dann schloss er die Tür.

Es war ein wunderlicher Tag und eine wunderliche Nacht. Unwirkliche Wirklichkeit. Was sollte sie denken? Was hatte das alles zu bedeuten? Was machte ihr Großvater nachts im Hof? Ein Gefühl riet ihr davon ab, ihn zu fragen. Franka ließ das Fenster geöffnet und legte sich wieder ins Bett. Wie aufgescheuchte Mücken jagten ihre Gedanken ungezügelt durch den Kopf. Wie wirklich ist die Wirklichkeit? Ist die Wirklichkeit denn nicht immer wirklich? Gibt es eine unwirkliche Wirklichkeit? Oder eine wirkliche Unwirklichkeit? So sehr diese Fragen sie reizten, so sehr ängstigten sie Franka auch. Kann denn das, was sie für wirklich gehalten hatte, unwirklich sein, also nur Einbildung? Hatte sie sich jetzt eingebildet, dass Britta sagte, sie hätte Bowie gesehen, oder hatte sie es tatsächlich gesagt?

Aber wie auch immer – es war unmöglich, dass er anwesend war. Eine bleierne Müdigkeit drückte sie ins Kissen und gleichzeitig peitschten diese Überlegungen sie auf und trieben sie vor sich her durch immer verschlungenere Pfade. Mit wem, außer Britta, konnte sie darüber sprechen? Und Britta, so vermutete sie, wäre dafür wahrscheinlich gänzlich ungeeignet, die Eltern und Großeltern wahrscheinlich auch. Und die Lehrer in der Schule? Auf gar keinen Fall! Da würde sie bestimmt niemand verstehen.

Franka musste an einen Erlebnisaufsatz denken, den sie einmal in Deutsch geschrieben hatte. Heutzutage konnte sie darüber nur schmunzeln. Damals allerdings nicht. Der Kommentar der Lehrerin unter ihrer Arbeit hatte ihr sehr zu denken gegeben und bewog sie zu einer weitreichenden Entscheidung:

Am besten erzählst du nichts von dir! Ist besser so.

Der Aufsatz sollte etwas real Erlebtes enthalten. Franka hatte sich daran gehalten und bekam für die Arbeit nur ein Befriedigend. Die Begründung, warum es nur eine Drei war, war das Entscheidende. Unter ihrer Arbeit stand folgender Text zur Erläuterung:

„Nur befriedigend, da nicht plausibel.“

Warum glaubte die Lehrerin ihr nicht? Franka überlegte, was genau sie geschrieben hatte.

Sie war mit ein paar Jungen und Mädchen unterwegs gewesen, abends, als es schon dunkel war. Vor einem Haus parkte ein Mercedes und einer der Jungen versuchte, den Mercedesstern abzuschrauben, als im Erdgeschoss plötzlich der Rollladen hochgezogen wurde und ein Mann aus dem Fenster sprang. Schnell rannten sie alle fort. Doch Franka stürzte und der Mann hielt sie und ihren Freund fest. Zum Glück hatte er nur fürchterlich geschimpft und sie dann laufen gelassen.

Als Franka den Kommentar unter ihrer Klassenarbeit las, wollte sie zuerst protestieren. Doch nachdem sie genau überlegt hatte, kam sie zu dem Schluss, dass es besser war zu schweigen. Denn offensichtlich war das, was sie geschrieben hatte, so ungewöhnlich, dass die Lehrerin es lieber für reine Erfindung hielt. Und nach dieser Erkenntnis hielt Franka es für besser, dass die Lehrerin lieber bei ihrer Fehlannahme bleiben sollte. Sollte sie glauben, was sie glauben wollte. Jedenfalls entschied sich Franka bereits in diesen jungen Jahren dafür, möglichst wenig von sich preiszugeben. Zurück blieb aber eine Verunsicherung. Zurück blieb die bange Frage, ob man sie für glaubwürdig hielt.

Wie hätte wohl der Kommentar ausgesehen, wenn Franka aus ihrer Zeit im Kindergarten geschrieben hätte? All die Details, die sie noch wusste. Die Sandkörner auf dem Weg zum Spielzeugschuppen. Der Klang der Stelzen, wenn ein Kind damit herumlief. Die Oberfläche der Tische, ihre Farbe und Beschaffenheit. Der vollständige Name der Kindergärtnerin und ihres Sohnes. Das Muster ihrer Kniestrümpfe.

Wahrscheinlich hätte dann folgender Kommentar unter ihrer Arbeit gestanden:

„Viel Fantasie. Aber als Erlebnisbeschreibung nicht plausibel, da nur erfunden. Deswegen nur befriedigend.“

Ob die Lehrerin Frankas Mutter hätte sprechen wollen? So nach dem Motto: „Ihre Tochter hat wirklich eine blühende Fantasie. Kann sie eigentlich Realität und Traum auseinanderhalten?“

Manchmal waren es nur kleine Sequenzen im Leben, die sich hartnäckig verankerten und Weichen stellten mit weitreichenden Konsequenzen. Es konnte ein so schlichter Satz sein wie der dieser Lehrerin, nur befriedigend, da nicht plausibel. Es konnte auch ein einzelnes Wort sein oder auch nur eine Geste – sowohl im negativen als auch im positiven Sinne. Und das, was es in Franka auslöste, verweilte Wochen, Monate, Jahre, vielleicht ein Leben lang.

Ein Tropfen Ewigkeit.

Manches muss ich für mich behalten. Es sprengt wohl sonst den Rahmen. Nur, wie kann ich es unterscheiden? Was kann man mitteilen und was nicht?

Alles, was Franka sagte, durchlief nun eine innere Zensur. Es wurde weichgespült, verdaulich zubereitet oder verschwiegen. Franka zahlte einen hohen Preis, um glaubhaft zu sein, um dazuzugehören und nicht beargwöhnt zu werden.

Lieber gewöhnlich bleiben und das zur Gewohnheit machen, überlegte sie und fühlte sich unbehaglich. Sie spürte sehr wohl, dass sie nicht mehr sie selbst sein würde, wenn sie sich verstellen und anpassen würde. Zwischen mir und den anderen befindet sich immer ein Filter, eine unsichtbare Wand, dachte sie, wenn sie nachts wach in ihrem Bett lag. Ich bin sichtbar und unsichtbar zugleich. Ich gehöre dazu und bin trotzdem einsam.

Und so begann Franka, Menschen in ihrem Umfeld sehr genau zu beobachten, um herauszufinden, wem sie sich selbst zumuten könnte. Zu groß war ihre Angst, wieder auf Kopfschütteln zu stoßen.

Bin ich denn so anders als andere? Ist denn das, was ich erlebe, so ungewöhnlich?

Wieder hörte sie die Turmuhr zur halben Stunde schlagen.

Sie dachte an Britta, die auf eine eigentümliche Art ebenfalls ungewöhnlich war. Ihr fühlte sie sich nahe. Bei ihr brauchte Franka sich nicht zu verstellen. Intuitiv spürte sie aber auch, dass Britta beschützt werden müsste, auch wenn sie nicht hätte sagen können, wovor.

Franka fasste einen Plan. Watzlawick hatte sie dazu inspiriert, eine Wirklichkeit zu erfinden.

Sie würde am nächsten Morgen den Spiegel, vor dem Britta gestanden hatte, entfernen. Und da sie ihn nicht einfach hinaustragen konnte, gab es eigentlich nur eine einzige Möglichkeit.

Sie stieß ihn um und schlug ein paarmal mit dem Hammer auf ihn ein. Die Scherben spritzten ihr entgegen. Als Britta fragte, wie das passiert sei, da sagte Franka, dass sie aus Versehen dagegen gestoßen sei und sie sich bei dem Versuch, ihn festzuhalten, fast noch selbst verletzt hätte.

Britta stellte keine weiteren Fragen.

Kapitel 2

Speziell

Frankas Großeltern, Anton und Andrea, liebten sie sehr, nur zeigten sie es auf unterschiedliche Weise. Ihre Großmutter, die zweite Frau ihres Großvaters, also Frankas Stief-Oma, hatte stets ein offenes Ohr und ihre Art, Fragen zu stellen, war geprägt von Interesse und wirkte nie durchbohrend oder inquisitorisch, sondern zurückhaltend und diskret. Mit ihren langen Haaren, die sie oft zu einem Dutt hochgesteckt hatte, und ihrer rahmenlosen, filigranen Brille mit der Kette daran, hätte Franka sie sich auch gut als strenge Vorsteherin eines Mädchenheimes vorstellen können. Aber wenn Franka mit ihr sprach, war sie jedesmal überrascht, dass ihre Großmutter ganz anders wirkte, als sie tatsächlich war. Sie saßen sich nie direkt gegenüber, sondern immer im rechten Winkel zueinander. Ihr Blickwechsel hatte etwas angenehm Wohldosiertes, nicht zu wenig, dass Franka hätte denken können, Andrea sei desinteressiert, und nicht zu viel, dass sie sich beobachtet gefühlt hätte und ins Stocken geraten wäre. Nie kam so ein Satz wie: „Das kann doch gar nicht sein!“ Oder: „Stell dich nicht so an!“ Geduldig nahm sie auf, was Franka sagte, abwartend, ob der Satz wirklich beendet war, bevor sie dann manchmal einen lieb gemeinten Rat gab wie: „Sei vorsichtig!“ Oder: „Denke lieber nochmal eine Nacht darüber nach.“ Oder: „Lass uns später nochmal darüber sprechen. Es ist schon spät.“

Niemals klang Abwertung oder Herablassung in ihren Worten. Und wenn sie wusste, dass Franka zu Besuch kam und sie sie mit ihrem Fahrrad herannahen sah, dann setzte Andrea sofort Teewasser auf. Frankas Lieblingstasse mit dem Bild von Paulchen Panther stand schon im Esszimmer bereit, bevor Franka ihre Jacke an der Garderobe aufgehängt hatte.

„Hallo Oma, ich rieche Earl Grey!“, sagte Franka dann jedes Mal und reichte ihrer Großmutter die Hand.

Ihr Großvater Anton war von stillerer Natur. Oft saß er im Wohnzimmer, wenn er nicht bei der Arbeit war, schaute Fernsehen oder spielte Schach mit sich selbst und kaute auf einem Streichholz herum. Wenn Franka schließlich zu ihm kam, um ihn ebenfalls zu begrüßen, sagte er jedes Mal augenzwinkernd, „der Earl hat schon auf dich gewartet“.

Frankas Mutter Luise war die Stieftochter von Frankas Stief-Oma Andrea. Luise war nur fünf Jahre jünger als Andrea. Es war für viele verwirrend und manche gaben sich keine Mühe mehr, die Verwandtschaftsverhältnisse zu verstehen. Dass Luise und ihre Zwillingsschwester Wilma blaue Augen hatten, war deren Vater, also Frankas Opa, extrem wichtig. Scherzhaft sagte er mehr als einmal, dass er sich von Hildegard, seiner ersten Frau, hätte scheiden lassen, wenn sie Kinder mit braunen Augen geboren hätte. Er war halt manchmal speziell. Darüber waren sich alle einig. Franka allerdings wollte Ordnung in die verwirrenden Verwandtschaftsbeziehungen bringen und hatte ganz akkurat mit einem Lineal ein ausführliches Organigramm entworfen. Sie hatte sogar extra blaue Punkte neben die Namen Wilma und Luise gemalt, um hervorzuheben, dass sie tatsächlich blaue Augen hatten. Ihr Großvater wusste nur nicht so recht, was er davon halten sollte. Für Franka war es jedoch ganz selbstverständlich, ausdrücklich auf die blauen Augen hinzuweisen, denn es war offensichtlich etwas ungeheuer Wichtiges.

Als Frankas Großvater nach Hildegards Tod irgendwann Andrea geheiratet hatte, kamen dann Lars und Britta auf die Welt, die lustigerweise, obwohl sie im gleichen Alter waren wie Franka, deren Onkel und Tante waren. Sie belächelten Frankas Organigramm, und als sie die blauen Punkte neben den Namen der Zwillinge entdeckten, bekamen sie einen Lachanfall.

„Hört sofort auf zu lachen!“, verteidigte Anton seine Enkelin, „Franka hat sich so viel Mühe gegeben.“

„Ja, ist ja schon gut, Papa!“ maulte Lars und brach wieder in Gelächter aus.

Jedenfalls war es Franka ein großes Bedürfnis, die Verwandtschaftsbezeichnungen und auch die Geburtsdaten zu kennen. Dies war eine ihrer Leidenschaften – das Sammeln von Geburtsdaten. Sie hatte Spaß daran, jedem zum Geburtstag zu gratulieren.

Ihre Freude an Geburtsdaten überschritt dann irgendwann die familiären Grenzen. Unproblematisch war das allerdings nicht. Denn sie merkte irgendwann, dass es bei manchen Menschen zu Irritationen führte, spätestens als sie die Schuldirektorin und den Pastor nach ihren Geburtstagen fragte. Die Direktorin gab in ihrer Klasse Musikunterricht und Franka pirschte sich vorsichtig heran. Als die Lehrerin auf Mozart zu sprechen kam, da ergab sich eine gute Möglichkeit und Franka sagte einfach: „Mozart ist 1756 geboren, Freud 1856 und mein Klavierlehrer 1956. Ist das nicht ganz wunderbar? Wann Sie wohl Geburtstag haben? Ja, das frage ich mich.“ Verdutzt und überrumpelt von dieser Frage, gab die Direktorin zur Antwort, dass sie 1954 geboren sei. Mehr sagte sie dann aber doch nicht. Sie kratzte sich hektisch am Kinn, zog die Augenbrauen hoch und wandte sich kopfschüttelnd zur Tafel. Von weiteren Nachfragen hatte Franka dann lieber Abstand genommen. Die Klassenkameraden haben sich hingegen vor Lachen auf die Schenkel geklopft. Franka wusste nicht, was daran so lustig war.

Und eines Tages, es war der erste Samstag im Mai, ergab sich die Möglichkeit, auch den Pastor zu fragen. Britta und Franka mussten jeden Sonntag in die Kirche oder eben Samstagabend. Sie hatten die Erlaubnis, auf der Empore bei der Orgel zu sitzen.

Franka liebte es, die Wendeltreppe mit ihren leicht ausgetretenen Stufen aus Stein in dem dunklen, kühlen Turm nach oben zu steigen. Sie ging betont langsam und bedächtig, während ihre Hand das kalte schmiedeeiserne Geländer entlangfuhr. Gern wäre sie auf den obersten Stufen sitzen geblieben, um mit geschlossenen Augen dem majestätischen Klang der Orgel zu lauschen und die stille Luft zu atmen. Der dünne, heisere Gesang der Gemeinde wäre mehr ein Hintergrundrauschen geblieben, einem Windhauch gleich. Das Segel des Kirchenschiffs hing schlaff am Mast. Es trieb leise plätschernd über die seichte, unaufgeregte See. Die Atmosphäre in dem Wendelturm verbreitete mehr Geistlichkeit als der Kirchraum selbst mit seinen Haupt- und Nebenschiffen, den systematisch angeordneten Sitzreihen und den harten Holzbänken, auf denen sie sonst immer herumrutschte. Nicht zu verschweigen seien die Kniebänke, die ihr immer Schmerzen verursachten.

Da es aber seltsam angemutet hätte, im Turm sitzen zu bleiben, hatte sich Franka zur Empore begeben, wo ausschließlich Jugendliche saßen und alles Mögliche taten, nur eins nicht – den Worten des Pastors folgen. In dem Turm, so empfand sie es, war sie Gott näher gewesen. Aber wem hätte sie das erklären können? Sie versuchte es erst gar nicht. Schweigen war hier die bessere Alternative.

Sie unterhielten sich leise, ein unaufhörliches Gesäusel wie das sanfte Murmeln eines kleinen Baches. Der Organist ließ sie gewähren. In der Atmosphäre der Kirche, dem milden Licht und dem heiligen Geruch von Weihrauch, war es ungeheuer spannend, von den ersten Aufregungen des Lebens zu erzählen, die sie in ihren jungen Jahren durchmachten. Dazu die ergreifenden Klänge der Orgel, mal laut und ehrfurchtgebietend, mal melancholisch leise. Das alles brachte sie dazu, ihre Erlebnisse mitzuteilen, leidenschaftlich und beseelt und manchmal mussten sie auch lachen. Leider…

An diesem besagten ersten Samstag im Mai, passierte es. Die Orgel spielte „Großer Gott, wir loben dich“. Bereits die ersten Klänge brachten Franka zum Schweigen. Worüber die anderen sprachen, interessierte sie nicht mehr. Sie hörte nur noch der Musik zu. Sie war Musik, durch und durch. Sie floss durch sie hindurch und trieben ihr Tränen in die Augen.

„Großer Gott, wir loben dich.

Herr, wir preisen deine Stärke.

Vor dir neigt die Erde sich

Und bewundert deine Werke.

Wie du warst vor aller Zeit,

so bleibst du in Ewigkeit.

Alles, was dich preisen kann,

Kerubim und Serafinen

Stimmen dir ein Loblied an.

Alle Engel, die dir dienen,

rufen dir stets ohne Ruh ´

Heilig, heilig, heilig´ zu.

Herr, erbarm, erbarme dich!

Lass uns deine Güte schauen.

Deine Treue zeige sich,

wie wir fest auf dich vertrauen.

Auf dich hoffen wir allein;

lass uns nicht verloren sein.“

Die Strophe war beendet, die Musik verstummte, nur das Lachen von Britta und ihren Freundinnen nicht. Es war unüberhörbar. Der Pastor schaute hinauf. Britta presste sich die Hände vor den Mund. Vergeblich. Auch die anderen versuchten, sich zu beherrschen. Vergebens. Wieder prusteten sie los. Der Organist warf ihnen böse Blicke zu. In dem Versuch, die Situation zu retten, begann er schnell, ein neues Lied zu spielen. Welches es war, konnte Franka gar nicht sagen. Sie hielt sich die Ohren zu, schloss die Augen und stellte sich vor, ganz woanders zu sein. Erdboden, tu dich auf und nimm mich mit, dachte sie. Das passierte allerdings nicht. Natürlich nicht. Wie denn auch?

Es kam, wie es kommen musste. Der Pastor fing Franka und Britta nach der Messe ab und forderte sie zu einem Gespräch in der Sakristei auf. Sie gehorchten und saßen stocksteif an einem rechteckigen Tisch, auf dem eine weiße Decke lag, in der Mitte eine rote, brennende Kerze mit ausgebeultem Rand. An deren Seiten tropfte Wachs herunter. Neben der Kerze ein hellbrauner Kaffeefleck. Franka bemühte sich, dem Drang zu widerstehen, ihre Fingerkuppen in das heiße, flüssige Wachs zu stippen. Der Tisch schaukelte ein wenig hin und her, wenn sie mit ihrem Arm etwas Druck ausübte. Es gab jedesmal ein leises Geräusch, ein warmes, weiches Tack, Tack, Tack. Sie bemühte sich, es so unauffällig wie möglich zu wiederholen. Doch dann brach ein Donnerwetter über die Mädchen herein. Die Ohren konnte Franka sich nun leider nicht zuhalten. Weglaufen war auch keine Option.

„Seid ihr eigentlich von allen guten Geistern verlassen? Was ist das nur für ein ungehöriges Benehmen? Wie könnt ihr mit eurem Gelächter den Gottesdienst stören?! Ihr könnt froh sein, dass ihr euch nicht in einem anderen Jahrhundert befindet!“

Franka wusste zwar nicht, was er damit ausdrücken wollte, spürte aber, dass es angebracht war, nicht zu widersprechen, obwohl sie selbst während der Messe ja gar nicht gelacht hatte. Sie saß dort oben ganz still und war eingetaucht in ein Meer von Musik, gefangen genommen von den Klängen des Kirchenliedes Großer Gott, wir loben dich.

„Tut uns leid!“, stammelte Britta.

Uns? Wieso uns? Ich hatte damit nichts zu tun, protestierte es in Franka. Britta meinte sich und die anderen. Franka wusste das, nicht aber der Pastor. Wo waren überhaupt die anderen?

„So, es tut euch leid! Wenigstens das! Das will ich doch hoffen! Auch für euch selbst. Ihr seid hier in der Kirche und nicht auf dem Jahrmarkt!

Franka schwieg. Stumm nahm sie eine Schuld auf sich, die nicht die ihre war. Ein leichter Windzug streifte die Kerze. Dunkler Ruß stieg auf. Blitzschnell tunkte sie ihren Zeigefinger in das Wachs.

„Was ist mit dir, Franka? Tut es dir auch leid?“

Sie nickte wortlos.

„Schaust du mich vielleicht mal an, wenn ich mit dir spreche!“

„Ja, ich finde es auch nicht gut, wenn der Gottesdienst und diese wunderbaren Lieder gestört werden“, antwortete sie tonlos.

Jetzt schaute sie dem Pastor direkt ins Gesicht. Zwischen seinen dichten, raupenartigen Augenbrauen war eine tiefe Furche zu sehen. Der blühende Pickel darüber pulsierte. Sein rötliches Haar war mit Gel glatt nach hinten gekämmt und mit seinem Schnurbart in dem feisten Gesicht erinnerte er Franka an Majestix. Seine Mimik konnte sie nicht deuten. Und wenn sie ihn anschaute, wanderte ihr Blick stets zu dem reifen Pickel. Unbehagen keimte in ihr auf. Der Tisch wippte fast wie von selbst, bis der Pastor das Geschaukele mit dem festen Druck seiner aufgestützten Ellbogen beendete. Beruhigend strich Franka mit der Hand über ihre Oberschenkel. Sie sah seine Mundwinkel zucken, als setzte er an zu einem Lächeln. Das dachte sie zumindest. In diesem Moment der Erleichterung erinnerte sie sich daran, dass ihr sein Geburtsdatum noch unbekannt war. Sie setzte an zu dieser unglückseligen Frage, die wie aus dem Nichts in ihr aufkeimte, und ihren Mund verließ, bevor sie darüber nachdenken konnte.

„Herr Pastor, darf ich Sie fragen, wann Sie Geburtstag haben? Oder Ihre Kinder vielleicht?“

Wie ein Fisch, der nach Luft schnappt, so klappte sein Mund auf und zu. Doch kein Wort kam heraus. Nur seine Augen weiteten sich gefährlich.

Britta raufte sich die Haare und rief fassungslos: „Bist du eigentlich völlig verrückt?! Franka! So etwas fragt man nicht. Und überhaupt – der Pastor hat keine Kinder und auch keine Frau! Herr Pastor, tut mir leid! Echt! Ich muss mich für meine Nichte entschuldigen. Sorry!“

„Ach! Ja, ja! Stimmt ja!“, stammelte Franka verlegen.

„Franka hat nur eine ungewöhnliche Vorliebe für Geburtsdaten. Weiß der Teufel, warum. Äh, nicht der Teufel. Weiß der Geier, warum. Sie hat es bestimmt nicht so gemeint, wie es rüber kam. Sie wollte Ihnen bestimmt nichts unterstellen. Stimmt´s, Franka?“

„Unterstellen? Was meinst du damit?“

„Sehen Sie, Herr Pastor, sie meint es nicht so.“

„Nein, ich meine es nicht so, Herr Pastor“, flüsterte Franka kleinlaut. Sie wich seinem Blick aus und fixierte nur diesen Pickel auf seiner Stirn, als sei er ein Ort der Ruhe.

Endlich fand er zu seiner Sprache zurück. Wie Stakkato-Schläge schnellten seine Worte hervor, denen er zusätzliches Gewicht und Bedeutung verlieh, indem er bei jedem einzelnen Wort heftig mit der flachen Hand auf den Tisch schlug. Franka zählte mit. Es erinnerte sie an ein Metronom. Achtelnoten.

„Morgen - Will - Ich - Eure - Eltern - Sehen! Habt - Ihr - Mich - Verstanden?“

Die Mädchen nickten synchron.

„Und - Zur - Beichte - Kommt - Ihr - Auch! Habt - Ihr - Mich - Verstanden?“

Wieder nickten sie synchron.

Endlich hörte er auf, auf den Tisch zu schlagen.

„Wie respektlos die Jugend heute ist! Unglaublich! Ihr seid mir vielleicht zwei Früchtchen! Und jetzt ab nach Hause!“ Sie sprangen von den Stühlen auf. Franka blies die Kerze aus und dann rannten sie zur Kirche hinaus.

Als Franka ihrer Großmutter davon erzählte, strich diese ihr übers Haar und sagte nur: „Meine Kleine, du bist wirklich speziell. Weißt du, was? Ich werde demnächst mal mit dem Pastor sprechen. Nächsten Mittwoch ist in der Gemeinde Frühschicht. Um sechs Uhr ist Messe und danach gibt es ein gemeinsames Frühstück. Ich finde, es ist ein gutes Zeichen, wenn ihr daran teilnehmt und euch hinterher noch einmal glaubhaft bei ihm entschuldigt.“

„Meinst du, ich brauche dann auch nicht mehr zur Beichte?“

Ihre Großmutter lachte.

„Das würde ich dir jetzt nicht empfehlen. Der Pastor hat ausdrücklich darum gebeten. Zeig ihm deinen guten Willen.“

„Mir fällt aber nichts ein, was ich beichten könnte. Oder könnte ich beichten, was er schon weiß? Dass wir die Messe gestört haben? Gilt das auch? Oder muss es etwas sein, dass er noch nicht weiß?“

„Tja, gute Frage. Du hast ja noch ein paar Tage Zeit bis zur Beichte. Vielleicht tust du ja bis dahin noch etwas Verbotenes, das sich zu beichten lohnt“, sagte die Großmutter schmunzelnd und gab Franka einen Kuss auf die Wange.

Der Mittwoch nahte und mit ihm die Frühschicht. Bisher kannte Franka das Wort „Frühschicht“ nur von einer Freundin, deren Mutter Krankenschwester war. Aber Frühschicht und Kirche – diesen Zusammenhang kannte sie noch nicht.

Um 5:15 Uhr klingelte der Wecker. Britta kroch unter Frankas Decke und flüsterte ihr ins Ohr.

„Hörst du auch die leise Musik?“

„Welche Musik?“, fragte Franka schlaftrunken.

„Diese wunderbare Melodie. Manchmal ist sie einfach da, ganz plötzlich.“

„Ich höre nichts. Vielleicht hast du ja geträumt.“

„Nein. Ich träume das nicht. Ich weiß auch nicht, wo sie herkommt. Aber hör doch!“

Franka setzte sich auf und spitzte die Ohren.

„Ich höre nichts, Britta. Wirklich, da ist nichts.“

„Merkwürdig. Das verstehe ich nicht“, antwortete Britta verwundert.