Der Körper, der ich bin - Adrian Mühlebach - E-Book

Der Körper, der ich bin E-Book

Adrian Mühlebach

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Beschreibung

Nichts ist uns näher als unser Körper - und doch sind wir uns dessen nur wenig oder gar nicht bewusst! Unser Körper spielt oft die entscheidende Rolle in unserem Leben: als Basis unserer Existenz, in der Regulierung unseres Wohlbefindens sowie bei unserer Verhaltenssteuerung. -Dennoch nehmen wir ihn viel zu selten aufmerksam wahr. Während sich Körperempfindungen auf emotional bewertete, somatosensorische Informationen gründen, bildet die Körperwahrnehmung das kognitive Gerüst, in das sich Körperempfindungen einordnen lassen. Sie ist ein dynamischer, zirkulärer, sich selbst verändernder Prozess, bei dem mittels individuell und kollektiv entstandener Vorstellungen aus Körperempfindungen Körperwahrnehmungen entstehen. Unsere subjektive Körperwahrnehmung ist nur schwer objektiv oder naturwissenschaftlich zu begründen. In diesem Buch wird sie aus der Sicht verschiedener Disziplinen wie Philosophie, Psychologie, Physiologie und Geschichte beleuchtet, um so ihre Bedeutung für unser Leben zu reflektieren und ihren Nutzen angesichts der Herausforderungen unserer Zeit aufzuzeigen. Ein bewusstes und differenziertes Wahrnehmen des Körpers sowie seines Eingebundenseins in die Umwelt •ermöglicht uns ein waches Dasein, •erhöht unsere Kompetenz in der Entfaltung unserer Fähigkeiten und •unterstützt uns bei der Pflege unserer Gesundheit von der Kindheit bis ins Alter. Mit der Alexander-Technik lässt sich die Körperwahrnehmung in den Lebensalltag integrieren und für die bewusste Selbstorganisation nutzen: für einen lebendigen und authentischen Umgang mit sich selbst und anderen Menschen sowie als Zugang zur Erfahrung der eigenen Existenz in den Kreisläufen der Natur.

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Seitenzahl: 431

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Adrian Mühlebach

Der Körper, der ich bin

Was wir durch unsere Körperwahrnehmung lernen können

Der Körper, der ich bin

Adrian Mühlebach

Programmbereich Psychosomatik/Medizin

Adrian Mühlebach

Hasenbühlstrasse 18m,

8910 Affoltern am Albis

[email protected]

Wichtiger Hinweis: Der Verlag hat gemeinsam mit den Autoren bzw. den Herausgebern große Mühe darauf verwandt, dass alle in diesem Buch enthaltenen Informationen (Programme, Verfahren, Mengen, Dosierungen, Applikationen, Internetlinks etc.) entsprechend dem Wissensstand bei Fertigstellung des Werkes abgedruckt oder in digitaler Form wiedergegeben wurden. Trotz sorgfältiger Manuskriptherstellung und Korrektur des Satzes und der digitalen Produkte können Fehler nicht ganz ausgeschlossen werden. Autoren bzw. Herausgeber und Verlag übernehmen infolgedessen keine Verantwortung und keine daraus folgende oder sonstige Haftung, die auf irgendeine Art aus der Benutzung der in dem Werk enthaltenen Informationen oder Teilen davon entsteht. Geschützte Warennamen (Warenzeichen) werden nicht besonders kenntlich gemacht. Aus dem Fehlen eines solchen Hinweises kann also nicht geschlossen werden, dass es sich um einen freien Warennamen handelt. Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt des Redaktionsschlusses eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

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Anregungen und Zuschriften bitte an:

Hogrefe AG

Lektorat Psychiatrie/Psychotherapie

Länggass-Strasse 76

3012 Bern

Schweiz

Tel. +41 31 300 45 00

[email protected]

www.hogrefe.ch

Lektorat: Susanne Ristea, Christina Nurawar Sani

Redaktionelle Bearbeitung: Dr. med. Antje Merz-Schönpflug, Eitelborn

Herstellung: René Tschirren

Umschlagbild: Getty Images/Erikreis

Umschlaggestaltung: Claude Borer, Riehen

Satz: Claudia Wild, Konstanz

Format: EPUB

1. Auflage 2023

© 2023 Hogrefe Verlag, Bern

(E-Book-ISBN_PDF 978-3-456-96257-3)

(E-Book-ISBN_EPUB 978-3-456-76257-9)

ISBN 978-3-456-86257-6

https://doi.org/10.1024/86257-000

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Zitierfähigkeit: Dieses EPUB beinhaltet Seitenzahlen zwischen senkrechten Strichen (Beispiel: |1|), die den Seitenzahlen der gedruckten Ausgabe und des E-Books im PDF-Format entsprechen.

Inhaltsverzeichnis

Dank und Vorbemerkung

Einleitung

1 Philosophie

1.1 Warum Philosophie?

1.2 Einzelwesen oder Teil des Ganzen?

1.3 Mensch als Teil der Natur

1.4 Ein kleiner philosophischer Rückblick

2 Körperphilosophie

2.1 Eine verrückte Zeit

2.2 Was ist der Mensch?

2.3 Was kann ich wissen?

2.4 Was meint die Biologie?

2.5 Was meint die moderne Physik?

2.6 Realität der sinnlich erfahrbaren Welt

2.7 Denke ich oder werde ich gedacht?

2.8 Was soll ich tun?

3 Physiologie

3.1 Wahrnehmung des Bewegungsapparates und der inneren Organe

3.2 Somatosensorik

3.3 Körper und Bewusstsein

4 Psychologie der Körperwahrnehmung

4.1 Überblick

4.2 Raum und Zeit

4.3 Aufmerksamkeit

4.4 Falsche Körperwahrnehmung

4.5 Visuelles Körperbild

4.6 Körperwahrnehmung durch Bewegung

4.7 Somatosensorische Qualitäten

5 Der Körper – die Bühne der Emotionen

5.1 Körperwahrnehmung und Selbstwahrnehmung

5.2 Angst

5.3 Verortung von emotionalen Qualitäten

5.4 Ein Film ohne Ende

6 Über Körperwahrnehmung sprechen

6.1 Was fasse ich in Worte und was nicht?

6.2 Sensorische Erfahrung und sprachlicher Ausdruck

6.3 Was ist Sprache?

6.4 Denken und Sprache

7 Individualgeschichte

7.1 Embryonale Entwicklung

7.2 Säuglingsalter

7.3 Auf dem Weg sein

7.4 Berühren und berührt werden

7.5 Kontakt

7.6 Störungen

7.7 Körperbild – Selbstbild

7.8 Schmerz

8 Der Blick zurück in die Menschheitsgeschichte

8.1 Vorgeschichte

8.2 Mensch und Natur

8.2.1 Jagen und Sammeln

8.2.2 Nahrung herstellen

8.2.3 Die Fabrik und die Stadt

8.2.4 Zerstörung der Natur

8.2.5 Zurück zur Natur

8.2.6 Auswirkungen auf die Körperwahrnehmung

8.3 Religion

8.3.1 Auswirkungen auf die Körperwahrnehmung

8.4 Herrschaft und Unterdrückung

8.4.1 Hierarchien entstehen

8.4.2 Leibeigenschaft

8.4.3 Vom Feudalismus zur Herrschaft des Bürgertums

8.4.4 Gesellschaftlicher Umbruch

8.4.5 Auswirkungen auf die Körperwahrnehmung

8.5 Körper als Arbeitskraft

8.5.1 Agrarkultur

8.5.2 Industrialisierung

8.5.3 Konsum- und Leistungsgesellschaft

8.5.4 Auswirkungen auf die Körperwahrnehmung

8.6 Krieg

8.6.1 Krieg als Teil des Lebens

8.6.2 Militarisierung der Gesellschaft

8.6.3 Heldengeschichten als Propaganda

8.6.4 Krieg als Geschäft

8.6.5 Die Opfer – das wahre Gesicht des Krieges

8.6.6 Krieg der Nationalstaaten

8.6.7 Die beiden Weltkriege

8.6.8 Der Kalte Krieg

8.6.9 Wie aus Jungs Männer werden

8.6.10 Krieg der Zukunft

8.6.11 Auswirkungen auf die Körperwahrnehmung

8.7 Stellung der Geschlechter in der Gesellschaft

8.7.1 Auswirkungen auf die Körperwahrnehmung

8.8 Medizin

8.8.1 Medizin von der Antike bis zur Neuzeit

8.8.2 Naturwissenschaftliche Medizin

8.8.3 Auswirkungen auf die Körperwahrnehmung

8.9 Körperkultur

8.9.1 Auswirkungen auf die Körperwahrnehmung

9 Herausforderungen von heute

9.1 Entfremdungsprozesse

9.2 Ernährung

9.3 Bewegung

9.4 Atmung

9.5 Sport, Fitness, Schönheit

9.6 Sexualität

9.7 Regeneration

9.8 Umgang mit Medien

9.9 Kleidung, Mode

9.10 Älter werden

9.11 Medizin

10 Die Körperwahrnehmung nutzen

10.1 Mit dem Körper in Kontakt

10.2 Den Kontakt zum Körper verlieren

10.3 Zur Körperwahrnehmung zurückfinden

10.4 Alexander-Technik

10.5 Körperorientiertes Selbstmanagement

10.6 Innehalten

10.7 Körperwahrnehmung im Alltag

10.8 Berührungen

10.9 Reine Wahrnehmung

10.10 Visuelle Informationen

10.11 Mentale Anweisungen

10.12 Anatomisch-physiologisches Wissen

10.13 Mein Körper als Kompass im zwischenmenschlichen Verhalten

10.14 Veränderungsprozesse

11 Zum Schluss

11.1 Zusammenfassung

11.2 Ausblick

Übungsblätter: Visuelle Darstellung der Körperwahrnehmung in einem Netzdiagramm

Zum Autor

Informationen und Kontakte

Literaturverzeichnis

Sachwortverzeichnis

|9|Dank und Vorbemerkung

Ich danke allen Klientinnen und Klienten, mit denen ich all die Jahre zusammenarbeiten durfte, allen Studierenden und Assistierenden am Ausbildungszentrum für Alexander-Technik in Zürich, mit denen ich das Thema Körperwahrnehmung erforscht habe, sowie allen Bekannten und Freunden, die mich bei der Entstehung dieses Buches unterstützt haben.

Speziell danken möchte ich Robin Möckli Webster, mit der ich über Jahre Alexander-Technik-Studierende ausgebildet habe, Renata Leimer, die mir wertvolle Anregungen für den historischen Teil des Buches gegeben hat, Elsbeth Läuffer, die mich mit ihrem Enthusiasmus gestärkt hat, Lena Bachmann für ihre anregenden Hinweise zum Thema der sozialen Medien, Franziska Bratoljic, die mit toller Spürnase meine orthografischen Verirrungen aufdeckte, Andreas Egloff, der mich als Testleser in meinem Vorhaben bestärkt hat, und schließlich Christina Nurawar Sani, die dieses Buchprojekt von Verlagsseite sehr engagiert begleitet hat.

Und noch ein Wort zur gendergerechten Schreibweise: Ich habe mich bemüht, diese in diesem Buch anzuwenden. Manchmal (sehr selten) habe ich jedoch der guten Lesbarkeit wegen abwechslungsweise nur die weibliche oder männliche Form verwendet. Trotzdem sollen sich auch in diesen Fällen beide Geschlechter angesprochen fühlen.

|11|Einleitung

Der Baum kann nur Früchte tragen, wenn er gute Wurzeln hat, die Wasser und Nährstoffe aus dem Boden holen.

Je länger ich mich mit dem Thema Körperwahrnehmung beschäftige, desto mehr merke ich, wie schwer es zu fassen ist. Was auf den ersten Blick so einfach aussieht, ist beim zweiten Hinschauen überhaupt nicht einfach, im Gegenteil. Allein schon die Fragen, „Was ist das Ich, welches da seinen Körper wahrnimmt?“ und „Was ist dieser Körper, den ich da wahrnehme?“, werfen viele weitere Fragen auf.

Vielleicht ist das einer der Gründe, warum es über die Körperwahrnehmung so wenig Publikationen gibt. Wohl aber auch, weil es ein sehr subjektives Thema ist, denn niemand außer mir kann wissen, wie ich meinen Körper wahrnehme, und es beinhaltet Fragestellungen, welche in eine Vielzahl von wissenschaftlichen Fachbereichen hineingreifen, wie Philosophie, Psychologie, Biologie, Physik, Neurowissenschaften oder Geschichte.

Zudem war es nicht die universitäre Wissenschaft, welche sich in der Vergangenheit mit der Körperwahrnehmung befasst hat. In Westeuropa und den USA waren es Pioniere der Körpertherapie, welche dieses Gebiet erforscht haben, wie Frederick Matthias Alexander, Moshe Feldenkrais, Ida Rolf, Marion Rosen, Ilse Middendorf, Elsa Gindler, Heinrich Jacoby, Gerda Alexander, Bonnie Bainbridge Cohen oder Milton Trager (Friedmann, 1989; Johnson, 2012). Sämtlich Menschen, die recht eigenständig ihre Methoden und ihren Zugang zur Körperwahrnehmung entwickelt haben.

Und schließlich ist die Körperwahrnehmung auch ein Thema, das sich dagegen sträubt, in Sprache gefasst zu werden. Es ist uns nicht einfach so gegeben, darüber zu sprechen, wir müssen es uns erarbeiten, müssen eine Sprache dafür entwickeln. Und diese Sprache basiert auf Vorstellungen, die wir in einem bestimmten ökologischen, kulturellen und sozialen Umfeld entwickelt haben. Es hängt also von diesem Umfeld ab, ob und wie über den Körper gesprochen wird, persönlich, emotional, liebevoll oder eher allgemein, sachlich oder sogar abwertend.

|12|Wir leben heute in einer Kultur, welche das Geistige gegenüber dem Körperlichen klar höher bewertet, auch wenn in den letzten Jahrzehnten im gesellschaftlichen Bewusstsein eine Aufwertung des Körpers stattgefunden hat. Wirtschaftsbereiche wie Mode, Kosmetik, Pharmazeutik, plastische Chirurgie, Fitness oder Wellness haben sich stark entwickelt und dem Körper einen anderen Stellenwert gegeben. Doch geht es dabei weniger um eine Anerkennung des Körpers als fühlendes, denkendes und sich bewegendes Subjekt, als vielmehr um den Körper als Objekt, das man gestalten, optimieren, verschönern, trainieren kann, als Objekt mit dem sich Geld verdienen lässt – um den Körper als Konsumbereich. Was vordergründig nach einer Aufwertung des Körpers aussieht, ist lediglich eine neue Form der Distanzierung. Das „Ich“ als Subjekt identifiziert sich nach wie vor mit seinem Denken und Fühlen. Der Körper hingegen ist ein Objekt, etwas, das ich habe, mit dem ich etwas machen kann, und nicht etwas, das ich bin.

Mein Körper ist aber viel mehr. Er ist die Manifestation meines Lebens. Durch ihn lebe ich, fühle und denke ich, nehme ich wahr, handle ich, erinnere ich mich. In ihm ist meine Lebensgeschichte mit all ihren Episoden gespeichert.

Mein Körper richtet sich nur beschränkt nach meinen Vorstellungen und Wünschen. Er ist so, wie er ist – konkret, bedingt, beschränkt. Ein Faktum, mit dem wir uns ein Leben lang auseinandersetzen müssen. Wir können unseren Körper nicht auswählen, wie wir auch unsere Lebensgeschichte nicht wirklich auswählen können, vieles passiert uns einfach. Das kränkt unser Ego, jenen Teil von uns, der glaubt, alles selbst bestimmen zu können und zu müssen. Doch Leben hat viel mit Hingabe zu tun, mit Geschehen lassen, mit Zulassen, mit dem Annehmen unserer konkreten Existenz.

Unser Körper entspricht in den wenigsten Fällen unseren Wunschvorstellungen und wir werden diese auch mit allen Anstrengungen und allem Geld der Welt nicht erreichen. Der Körper hat nicht die Form, die Proportionen, die er haben sollte. Er ist zu dick, zu dünn, zu groß, zu klein, hat zu wenig oder zu viel Muskeln, die falsche Haarfarbe, Haare am falschen Ort. Und ganz schlimm: Er altert, verliert die jugendliche Straffheit, Geschmeidigkeit, Kraft und Beweglichkeit … und er stirbt.

Nachdem uns die Philosophie der letzten 2500 Jahre die Aufteilung des Menschen in einen Körper und einen Geist klarzumachen versuchte, bescherte uns das reduktionistisch naturwissenschaftliche Denken in den letzten Jahrzehnten eine weitere Spielart dieses Themas: die Abtrennung des Gehirns vom Rest des Körpers. In aufwendigen Forschungsprojekten wird versucht, das menschliche Gehirn mit Computern nachzubilden. Dabei geht man nicht nur von der Annahme aus, dass ein Gehirn ohne den Körper funktioniert, sondern auch von der Annahme, dass alle Prozesse, welche ein menschliches Gehirn ausmachen, mit Computertechnik simuliert werden können. Ja, die Visionen gehen noch weiter. Könnte ein Gehirn tatsächlich mit Computern nachgebaut werden, dann wäre es möglich, ein indivi|13|duelles Gehirn und damit auch das Bewusstsein eines bestimmten Menschen (mit den entsprechenden finanziellen Möglichkeiten) von seinem sterblichen Körper unabhängig zu machen. Das Individuum würde, solange die Computer funktionieren, unsterblich.

In diesem Buch soll die Wahrnehmung des Körpers im Zentrum stehen. Dabei beschränke ich mich auf die Betrachtung der europäischen Kultur, in der ich aufgewachsen bin und lebe. Ich bin mir bewusst, dass die Körperwahrnehmung in anderen Kulturen eine andere Bedeutung hat. Gerade der asiatische Kulturraum befruchtet uns mit seiner anderen Art, mit dem Körper umzugehen. So boomt bei uns aktuell das aus Indien stammende Yoga. Auch verschiedene asiatische Kampfsportarten, aber auch sanftere Formen des Körpertrainings wie Tai-Chi oder Qigong sind sehr beliebt. Und auch die Zen-Meditation, also langes Stillsitzen und Schweigen, bringt den Westmenschen in eine intensive Verbindung zu seinem Körper. Diese Zugänge zum Körper fließen nur indirekt in dieses Buch ein. Ich praktiziere zwar selbst einige dieser Körperübungen und sie haben mein Körperverständnis mit verändert, groß thematisieren werde ich sie aber nicht.

Die Körperwahrnehmung beschäftigt mich seit Jahren. In meiner täglichen Arbeit als Alexander-Technik-Therapeut ist sie immer präsent. Sie ist die Basis dieser Arbeit. Über die Körperwahrnehmung hat das Bewusstsein der Klientinnen und Klienten Zugriff auf Informationen aus dem Körper. Weil er schmerzt, sich eng, verspannt, gestresst, nervös oder unsicher anfühlt, kommen sie zu mir in die Praxis. Mithilfe der Körperwahrnehmung entdecken sie dann neue Möglichkeiten, mit ihrem Körper umzugehen, und können diese einüben. Gleichzeitig ist die Wahrnehmung meines eigenen Körpers mein primäres Arbeitsinstrument. Durch ihn nehme ich den Körper der Klientin oder des Klienten, wie auch die nonverbale Interaktion zwischen uns beiden, wahr. Und mit meinen Händen vermittle ich neue Körper- und Bewegungserfahrungen. Überlegungen zur Körperwahrnehmung gehören daher zwangsläufig zu meinem Job. Wie kommt sie zustande? Und wie setze ich sie methodisch richtig ein? Das sind Fragen, die mich täglich beschäftigen.

Die theoretischen Überlegungen des Methodengründers F. M. Alexander stammen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und überzeugten mich bereits während meiner Ausbildung nicht sehr. Ich begriff, dass ich nach neuen, aktuellen und wissenschaftlich fundierten Grundlagen suchen musste. Also trat ich eine lange, sehr interessante Forschungsreise an. Doch es war eine Reise durch ein karges Gebiet, wenn nicht gar durch eine Wüstenregion, denn nahrhafte Pflanzen waren nur selten anzutreffen oder mussten mühsam gesucht werden. Umso erfreuter war ich, ab und zu auf eine Pflanze mit schönen, saftigen Früchten zu treffen.

Eine dieser Pflanzen war die konstruktivistische Betrachtung der Wahrnehmung. Mit ihr war es möglich, die Entstehung der Wahrnehmung zu analysieren, die einzelnen Elemente wie somatosensorische Informationen, emotionale Bewertung, Erin|14|nerungen und Vorstellungen zu benennen und ihrerseits wieder genauer unter die Lupe zu nehmen.

Eine weitere wichtige Pflanze war die auf Maurice Merleau-Pontys (1966) phänomenologischer Philosophie basierende Leibtheorie von Hilarion Petzold (2004). Ich betrachte sie als einen gelungenen Versuch, die Trennung von Körper und Geist zu überwinden und dem Körper die Bedeutung und Wertschätzung zu geben, die ihm gebührt. Hier gleich anzufügen ist die Theorie von Gerald Hüther (2006) zum Körperselbst. Aus Beobachtungen der embryonalen Phase entwickelt, bietet auch sie ein Denkmodell, um das Körper-Geist-Problem zu lösen und das therapeutische Handeln theoretisch zu fundieren.

Ein weiterer Fund war Luc Ciompis Buch „Die emotionalen Grundlagen des Denkens“ (Ciompi, 2016). Seine Überlegungen basieren auf seiner langen Erfahrung als Psychiater. Emotionen entstehen für ihn aus dem Körper und aus den Emotionen entsteht das Denken. Der Körper ist also der Ausgangspunkt unseres Fühlens und Denkens.

Und schließlich bin ich auf Alan Fogels Buch „Selbstwahrnehmung und Embodiment in der Körperpsychotherapie“ (2013) gestoßen. Fogel ist Professor der Psychologie und Praktiker der Rosen-Methode (Rosen, 2017), verbindet also die akademische Lehre mit konkreter therapeutischer Erfahrung. Er betrachtet den Körper als dynamisch lernendes System, eine Einheit aus Bewegung, Fühlen und Denken. Eine Sichtweise, die mit der Aufklärung und der damit verbundenen rein naturwissenschaftlichen Betrachtung des Körpers verloren ging.

Ich selbst bin nicht körperfreundlich aufgewachsen. In meinem vom Katholizismus und von großem Arbeitswillen geprägten Elternhaus war wenig Platz für eine positive Körperkultur. Das Körperliche und erst recht das Sexuelle waren an den Rand geschobene Tabuzonen. Der Körper hatte Arbeit zu leisten. Für körperliches Wohlbefinden, Genuss und Lust war wenig Platz. Ich denke, meine Eltern waren mit dieser Einstellung in ihrer Generation wohl weniger die Ausnahme als vielmehr die Regel. Sie waren beide in einer von zwei Weltkriegen belasteten Zeit als Bauernkinder aufgewachsen. Das hieß arbeiten, um leben zu können. Die Kirche bot mit ihrer gelebten religiösen Praxis den Rahmen, um dieser Art von Leben Sinn zu geben. Mit ihrer Moralvorstellung sorgte sie aber auch für ein distanziertes bis ablehnendes Verhältnis zur eigenen Körperlichkeit.

Als Kind der 1960er-Jahre wurde ich in ganz andere Lebensbedingungen hineingeboren – in eine Zeit des Aufbruchs und des relativen Wohlstandes. Die Lebensvorstellungen meiner Eltern taugten daher nicht für mein eigenes Leben. Ich war sehr stark gefordert, meinen eigenen Weg und meine eigenen Vorstellungen für ein gutes, sinnvolles Leben zu finden.

Nachdem ich einen naturwissenschaftlich orientierten Beruf, Physiklaborant, erlernt hatte, studierte ich Theologie und Philosophie, um mein Verhältnis zur |15|Ideenwelt meiner Eltern zu klären. Doch schon während der Studienzeit zog mich das Theaterspielen magisch an. Die Lebendigkeit und die Intensität des Theaters faszinierten mich. Nachdem ich mich durch das Studium aus meinen geistigen Fesseln befreien konnte, rief auch mein Körper nach mehr Freiheit. Und so machte ich – nicht ohne innere Ängste vor dem, was da auf mich zukommt – eine Theater-, und weil es halt auch dazugehörte, eine Tanzausbildung.

Das war in den 1980er-Jahren in Zürich. Die Jugend ging damals auf die Straße, lehnte sich gegen die etablierten Strukturen der Bankenstadt auf. Es musste etwas Neues aufbrechen. Was das Neue sein sollte, war allerdings nicht so klar. Die Devise hieß ausprobieren. So wurde ich Teil einer selbstverwalteten Tanz- und Theaterschule. Und dann geschah auch noch der Reaktorunfall in Tschernobyl und Zürich rutschte in eine große Drogenkrise. Gewohnte Werte und Vorstellungen wurden in Frage gestellt. Alles war in Bewegung. Und so nannte sich der Jugend-Aufstand in Zürich denn auch: „Bewegig“ (deutsch: „Bewegung“). Und obwohl sich das Establishment damals tüchtig gewehrt hatte, hat sich Zürich nach diesen Jahren bewegt. Die Jugend erhielt mehr Platz und mehr Geld. Die Stadt wurde bunter und lebendiger.

Als meine Ausbildung abgeschlossen war, beteiligte ich mich an verschiedenen Theater- und Tanzprojekten, begann Tanzimprovisation zu unterrichten – und bekam Probleme mit meinen Knien. Meine Bewegungstechnik hielt den Belastungen nicht stand. Ich musste etwas tun, etwas verändern. Also begann ich eine Ausbildung in Alexander-Technik – und wurde Vater.

Es folgte die Familienzeit. Ich teilte die Kinderbetreuung und den Haushalt mit meiner Partnerin und arbeitete als Tanzpädagoge und Alexander-Technik-Therapeut. Und heute, nach über 30 Jahren beruflicher Beschäftigung mit dem menschlichen Körper und seinen Bewegungen schreibe ich dieses Buch.

Es ist mir ein Anliegen, den Wert und das Potenzial der Körperwahrnehmung in unserem heutigen Leben aufzuzeigen. Ich glaube, dass das Thema Körperwahrnehmung eine hohe Daseinsberechtigung – um nicht zu sagen eine Daseinsdringlichkeit – hat, denn wir haben mit unserer Lebensweise die gelebte Verbindung zu unserem Körper verloren. Ein wichtiger Grund für dieses Phänomen sind falsche Vorstellungen über das Zusammenwirken unseres Bewusstseins mit unserem Körper. Wir haben vergessen, dass wir in unserem Körper leben und von ihm getragen werden.

Oder wie Alan Fogel (2013, S. 1) schreibt: „Ist unsere Aufmerksamkeit erst einmal gefangen in Gedanken, Bewertungen, Anforderungen, Erwartungen und anderen Stressfaktoren, bleibt keine Zeit mehr für uns selbst. (…) Wir riskieren unsere emotionale Gelassenheit, unsere körperliche Gesundheit, den Sinn für unser Wohlergehen. Verkörperte Selbstwahrnehmung hingegen ist die Fähigkeit, uns selbst Aufmerksamkeit zu schenken. Unsere Empfindungen, Emotionen und Bewegun|16|gen (…), im unmittelbaren Augenblick, zu fühlen, ohne beeinflusst zu werden von beurteilenden Gedanken (…).“

Körperwahrnehmung ist kein Abbilden eines realen Körpers, sie ist ein komplexer Prozess, in dem unser Bewusstsein die Wahrnehmung unseres Körpers konstruiert. Um diesen Prozess mit seinen einzelnen Wirkfaktoren betrachten zu können, habe ich versucht, ihn aus philosophischer, biologischer, physikalischer, physiologischer, psychologischer und historischer Sicht zu untersuchen und darzustellen. Es sprengt jedoch die Möglichkeiten dieses Buches, alle Aspekte der Körperwahrnehmung in der notwendigen Tiefe zu erforschen und differenziert darzustellen. Die einzelnen Kapitel geben aber einen Einblick in die angesprochenen Themen, sodass wir uns der einzelnen Wirkfaktoren bewusst werden und das Potenzial der Körperwahrnehmung gewinnbringend nutzen können.

Weil der Körper so eng mit dem Gehirn und allem, was dort geschieht, verbunden ist, bietet er uns einen Zugang zu allen Ebenen des Erlebens und Verhaltens, zu den Gefühlen, den unbewusst gesteuerten Verhaltensmustern und nicht zuletzt zu unseren Erinnerungen. Oder wie der Neurobiologe Gerald Hüther (2006, S. 97) schreibt: „Deshalb erfahren die meisten Menschen, sobald sie ihren Körper wiederzuentdecken beginnen, dass sie nun wieder Zugang zu sich selbst finden. Oft kommt es so zu Einsichten, die den ganzen Menschen ergreifen. Dabei entsteht oft auch das Gefühl, dieses feste, eigene Fundament wiedergefunden zu haben, nach dem die betreffende Person seit ihrer frühen Kindheit ein Leben lang gesucht hat. Wenn das ‚Ich‘ die Verbindung mit seinem Körper wieder zurückgewinnt, spürt der betreffende Mensch nicht nur im übertragenen Sinn, sondern auf eine reale, verkörperte Weise, dass er ein Rückgrat hat, dass er sich aufrichten und sich aufrecht im Leben bewegen kann.“

|17|1  Philosophie

1.1  Warum Philosophie?

Warum ein Kapitel über Körperwahrnehmung und Philosophie? Was haben diese beiden Themen miteinander zu tun? Ganz einfach: Die Philosophiegeschichte ist ein wichtiger Teil der Menschheitsgeschichte, weil sich in ihr ein Teil der Geschichte unseres Denkens abbildet. Und Körperwahrnehmung hat viel mit Denken zu tun, denn die Vorstellungen, welche wir brauchen, um Körperempfindungen zu verarbeiten, sind auch das Produkt von kollektiven Denkprozessen, welche von verschiedenen philosophischen Denkrichtungen reflektiert und mitgeprägt wurden. Wenn man also verstehen möchte, wie eine Körperwahrnehmung entsteht, ist es wichtig, sich auch mit Philosophie und Philosophiegeschichte zu befassen. Aber keine Angst, dies wird keine abgehobene Abhandlung werden, sondern immer schön auf dem Boden bleiben.

Sicher, was einzelne Philosophen über den Körper schrieben oder eben nicht schrieben, sagt noch nicht viel darüber aus, wie ein einzelnes menschliches Individuum in einer bestimmten Epoche der Menschheitsgeschichte über seinen Körper dachte und diesen wahrnahm. Es sagt aber definitiv etwas darüber aus, welche Rolle und welchen Stellenwert der Körper im Denken dieser Philosophen, oder genauer gesagt, im Denken dieser philosophierenden Männer hatte.

Denn die Philosophie war bis ins 20. Jahrhundert hinein von Männern, von mehr oder weniger wohlhabenden Männern, beherrscht. Was in ihren Schriften zu lesen ist, ist das Denken einer kleinen elitären Gruppe, die es sich leisten konnte, ihre Zeit mit Nachdenken zu verbringen, die kaum je körperliche Arbeit verrichten musste und die diese auch als minderwertig betrachtete. So hatte beispielsweise der edle philosophierende Mann im antiken Griechenland Sklaven und Frauen, welche die körperliche Arbeit von ihm fernhielten, und auch die Philosophen in den folgenden Jahrhunderten machten sich die Hände kaum schmutzig. Und all dies prägte wohl auch ihre Beziehung zum eigenen Körper und die Art, wie sie ihn empfanden, über ihn dachten, schrieben oder eben nicht schrieben.

Erlauben wir uns an dieser Stelle doch ein kleines Gedankenspiel. Wie sähe die Philosophiegeschichte aus, wenn sie durch all die Jahrhunderte von Bäuerinnen, |18|also von Frauen, deren Leben aus Kinderkriegen sowie harter körperlicher Arbeit in Haushalt, Feld und Stall bestand, geschrieben worden wäre? Es wäre eine völlig andere Perspektive und es wäre eine völlig andere Geschichte. Denn das Leben dieser Frauen wurde viel mehr von körperlichen, ökonomischen und sozialen Faktoren als von philosophischen Gedanken bestimmt. Der Körper und das körperliche Erleben hatten sicher einen anderen Stellenwert in ihrer Art zu denken. Das Kinderkriegen sowie die Arbeit prägten ihren Alltag und wenn sie die Muße gehabt hätten, über sich, ihr Leben und die Welt nachzudenken, hätten wohl auch eher diese Themen im Vordergrund gestanden. Der Körper wäre dabei zentral gewesen, der Körper, durch den und mit dem sie ihr Leben erlebten.

Aber es gibt keine Bäuerinnen, deren Gedanken Eingang in die Philosophiegeschichte gefunden haben. Deshalb müssen wir uns an die Texte der philosophierenden Männer halten. Ihre Texte sind greifbar und es ist anzunehmen, dass ihre Gedanken nicht völlig losgelöst vom Denken der Menschen ihrer Zeit sind. So wie auch unser heutiges Denken durch das Denken von Philosophinnen und Philosophen mitbestimmt oder zumindest reflektiert wird.

Im Großen und Ganzen ist die Philosophiegeschichte also geprägt von einer Geringschätzung des Körpers. Der Geist ist das Edlere, der Körper das Mindere, das Störende, das zu Überwindende. In diesem Denken findet sich deshalb auch der Wille, sich von der Natur abzuheben, dem Ausgeliefertsein und der Vergänglichkeit. Denn im Geistigen liegt das Wahre, Gute, Schöne und Ewige. Das Geistige ist das Kontrollierbare, das im eigenen Gehirn Denkbare. Ich kann mich daran festhalten, es rinnt mir nicht durch die Finger. Es ist nicht wie das körperliche Leben, das wie der Sand in einer Sanduhr stetig wegrinnt, bis kein Sandkorn mehr da ist. Aus. Fertig. Brutal … für unser Denken.

Das Denken hat Mühe mit dem Vergänglichen. Worte hingegen – und philosophische Begriffe im Besonderen – erwecken den Eindruck, sie wären nicht der Vergänglichkeit unterworfen. Im Gegensatz dazu ist der menschliche Körper – ein sich dauernd verändernder Organismus – in seinem Wesen schwer fassbar; kaum ist er da und voll entwickelt, wird er schon wieder abgebaut und hört schließlich auf zu sein.

1.2  Einzelwesen oder Teil des Ganzen?

Die abendländische Philosophie nimmt eine klare Trennung von Körper und Geist vor, welche auch zur Trennung von erkennendem Subjekt und zu erkennendem Objekt führt, also einer Trennung von meinem denkenden, fühlenden, wahrnehmenden Ich und allem, was ich außerhalb dieses Ichs wahrnehme. Das Bewusstsein ist in diesem Denken also etwas von meinem Körper und meiner Umwelt Getrenntes. Dieses Denken basiert auf der philosophisch-theologischen Grundannahme der |19|Existenz einer immateriellen Geisteswelt, also einer Welt der Götter, des Gottes oder des Geistes. Lasse ich diese Grundannahme aber beiseite und betrachte mein Bewusstsein als etwas, das in den Körper und die Umwelt eingebunden ist, dann löst sich auch die Trennlinie zwischen Körper und Geist auf.

Wir erkennen, wie unser Bewusstsein in ein System von Abhängigkeiten und gegenseitiger Beeinflussung integriert ist. Wenn wir über uns, unser Denken, Fühlen und Wahrnehmen reflektieren wollen, so sollten wir dies deshalb vom Ganzen her tun, das heißt Körper, Umwelt und auch die Geschichtlichkeit miteinbeziehen. Geschichtlichkeit darum, weil wir nicht nur Raum-, sondern auch Zeitwesen sind. Das heißt, wir können uns unser Dasein nur in Verbindung mit der zeitlichen Dimension vorstellen. Erst die zeitliche Dimension macht Veränderung, Bewegung, ja Leben möglich.

Wir können die Grundlagen unseres Seins weder kontrollieren, noch können wir uns ihrer in ihrer Ganzheit bewusst sein. Wir sind eher wie ein steuerloses Schiffchen, das auf der riesigen Weite des Ozeans dahintreibt. Wir können nicht die Richtung unserer Bewegungen bestimmen, noch kennen wir die Tiefe des Wassers, das uns trägt.

Und wenn wir schon beim Meer als Metapher sind, gleich noch ein weiteres Bild, das uns zum Nachdenken über unser Bewusstsein anregen kann: Stellen wir uns vor, unser Bewusstsein ist wie ein Wassertropfen im weiten Meer. Es ist nur ein winziger Teil eines viel größeren Bewusstseins und das Empfinden vom Getrenntsein von diesem viel größeren Bewusstsein ist eine Illusion.

Betrachte ich mich aufgrund dieser Überlegungen aber nicht mehr als unabhängiges Einzelwesen, verliere ich einen Teil meiner vermeintlichen Autonomie. Ich muss zugestehen, dass ich ein Wesen bin, das von seinem Körper und seiner Umwelt sowie deren Veränderungsprozessen mindestens mitbestimmt, wenn nicht sogar größtenteils bestimmt wird. Ich muss die Vorstellung aufgeben, ein von Körper und Umwelt unabhängig agierendes Wesen zu sein.

Stattdessen kann ich mich als Teil eines großen, sich ständig verändernden Organismus sehen. Konkret kann das heißen, dass ich mich mehr dem Fluss des Lebens hingebe und mich weniger bemühe, ein um seine Selbstbestimmung kämpfendes Ich zu sein. So kann ich gelassener mit meiner Selbstbestimmung umgehen, kann besser erkennen, wo ich die Freiheit habe, selbst zu entscheiden, kann mich andererseits aber auch vom Fluss des Lebens tragen lassen.

Vergessen wir nicht: Wir sind das Resultat der Evolution, einer sehr langen Entwicklung bis hin zum Menschen von heute. Und die Idee, dass der Sinn unseres Lebens in so etwas wie Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung liegt, ist menschheitsgeschichtlich extrem neu. Für die meisten unserer Vorfahren, deren Gene unser Verhalten bis heute zu einem beträchtlichen Teil steuern, ging es einzig und allein ums Überleben des Individuums und seiner Gruppe.

|20|1.3  Mensch als Teil der Natur

In der Steinzeit, sie begann vor 2 Millionen Jahren, lebten die Menschen in einer nomadisierenden Jagd-und-Sammel-Kultur. Sich zu bewegen und sich selbst wie auch die Umwelt wahrzunehmen, war überlebenswichtig – sowohl für die Nahrungsbeschaffung wie auch zum Schutz vor Gefahren. Die Menschen lebten in kleinen Gruppen und ernährten sich von dem, was die Natur ihnen zu bieten hatte. Diese enge Verbundenheit mit der Natur kam auch in ihrer Religion, dem Animismus, zum Ausdruck in der Vorstellung, dass sich das Göttliche in allen Dingen der Natur offenbart.

In derAgrarkultur, sie begann vor 10 000 Jahren, veränderte sich das Verhältnis der Menschen zur Natur. Es kam zum Übergang vom nomadisierenden Dasein zum sesshaften Dasein mit Ackerbau und Viehzucht. Die Natur war nicht mehr die Nahrungschenkende, sie wurde nun bearbeitet, um Nahrung herzustellen. Und es kam zu einer weiteren entscheidenden Veränderung: Das Leben war jetzt an ein bestimmtes Territorium gebunden – Landbesitz wurde zur Lebensgrundlage.

Auch der Begriff der Arbeit trat nun in Erscheinung. Denn die Landwirtschaft verlangte den Menschen harte Arbeit ab, weil erst durch sie Nahrung entstand. Zusätzlich kam es zu einer Spezialisierung auf bestimmte Arbeitsbereiche. Neben den Menschen, die mit den Tieren und auf dem Feld arbeiteten, gab es Handwerker, Verwalter, Priester und Krieger. Dies führte zur Ausbildung von sozialen Schichten, von Herrschaftsideologien und Religionen, welche dieses System stützten.

Der Geist wurde über den Körper gestellt, die geistige Arbeit über die körperliche Arbeit.

In der Agrarkultur ist auch die jüdisch-christliche Vorstellung der Welt als Schöpfung Gottes entstanden, ein Modell, welches die Existenz der Welt und des Menschen erklärt. Der einzelne Mensch ist Teil dieser Schöpfung, dieser Schöpfungsgeschichte. Er findet den Sinn seiner Existenz in dieser Geschichte. Sie hat einen Anfang und ein Ende, einen Ursprung und ein Ziel, einen Sinn und in diesen Sinn ist die Existenz des Einzelnen eingebettet. Der Mensch ist Teil der Natur und ist von ihr abhängig. Er betet zu Gott, um in dieser Natur, die ihn ernährt, überleben zu können.

Über Jahrtausende brachten die Menschen religiöse Vorstellungen in mannigfaltigen Formen von Geschichten und Bildern zum Ausdruck. Welterklärungsmodelle wie die jüdisch-christliche Schöpfungsgeschichte sind so alt wie die menschliche Sprache und in verschiedenen Formen überall auf der Welt vorzufinden. Und solange es Menschen gibt, werden sie solche Modelle kreieren, um die ewigen Fragen nach ihrer Herkunft und ihrer Zukunft zu beantworten und um praktische |21|Handlungsanweisungen zu erhalten, wie sie ihr Leben und Überleben günstig beeinflussen können.

Ab dem 15. Jahrhundert, der Zeit der Renaissance, vollzog sich im Verhältnis des Menschen zur Natur ein weiterer Wandel. Der Mensch verstand sich immer weniger als Teil der ihn umgebenden Natur, er stellte sich ihr gegenüber, er wurde ihr Gestalter. Mit naturwissenschaftlichem Denken begann er, ihre Geheimnisse zu erforschen. Er entwickelte Techniken, um ihre Kräfte zu beherrschen, zu kontrollieren und nutzbar zu machen. Es ging nun nicht mehr nur um das Sichern des Überlebens, sondern auch um das Anhäufen von Reichtum und Macht.

Im 19. Jahrhundert, mit der aufkommenden Industrialisierung, überrollte schließlich das kapitalistische System mit seiner Eigendynamik die Natur und den Menschen. Wirtschaftliches Wachstum wurde zum höchsten Gut der Menschheit erklärt und führte zur schamlosen Ausbeutung der Natur, zur Zerstörung der Lebensgrundlage des Menschen. Aus der göttlichen Schöpfung, in die der Mensch eingebunden und in der er aufgehoben war, wurde eine vom Menschen umgestaltete Natur – eine zerstörte Natur.

Die Naturwissenschaften bescherten uns alternative Modelle zu den religiösen Schöpfungsgeschichten. Die Evolutionstheorie erklärte die vielfältigen Formen des Lebens auf unserem Planeten und die Urknalltheorie die Entstehung des Universums. Doch was war vor dem Urknall und wie kam Leben in die „tote“ Materie? Diese Ur-Fragen können die Naturwissenschaften bis heute nicht, oder noch nicht, beantworten.

Geblieben ist auch die menschliche Sehnsucht, dass hinter allem nicht nur physikalisch-chemische Prozesse stehen, sondern noch irgendetwas Persönliches, etwas, das unser Bedürfnis nach Beziehung, nach Gefühlen anspricht und das unserem Leben einen Sinn gibt, der über die Befriedigung unserer elementaren Bedürfnisse hinausgeht.

Und wie steht es heute mit unserem Verhältnis zur Natur? Unser Überleben scheint einigermaßen gesichert, unser Leben scheinbar von der Natur abgekoppelt. Wir streben nach dem individuellen Glück, welches, wie uns die Werbung sagt, im Konsum von Waren und Dienstleistungen liegt. Konsum befriedigt unsere Bedürfnisse, solche, die wir haben, und solche, von denen man uns sagt, dass wir sie haben. Die Wirtschaft befriedigt sie alle – von Nahrung und Kleidung über Wohnen und Gesundheit bis hin zur Partnersuche. Doch damit wir konsumieren können, brauchen wir Geld und um Geld zu haben, müssen die meisten von uns arbeiten.

In der Konsumgesellschaft dient dieses Arbeiten nicht mehr nur dem Überleben, denn wir geben einen beträchtlichen Teil unseres Geldes für Dinge aus, die wir eigentlich gar nicht brauchen. Die Konsumwelt ist die neue Mutter Natur geworden, die mütterliche Brust, welche die vermeintlichen Bedürfnisse des Menschenkindes stillt. Dass es jedoch immer noch die Natur ist, die uns am Leben erhält, wird dabei |22|leicht vergessen. Denn es sind nicht die Supermärkte mit ihren vollen Regalen, die uns ernähren, es ist immer noch die Natur.

Wir leben heute in einer Zeit, in der wir wieder erkennen müssen, dass wir in die Natur eingebunden sind. Nicht zuletzt die globalen Herausforderungen wie Klimaveränderung, Umweltzerstörung und Migration zwingen uns zu einem neuen Denken, das sich mehr am großen Ganzen, am Planeten, auf dem wir leben, an der Natur, in der und von der wir leben, und an den Menschen, die mit uns auf diesem Planeten leben, orientiert und sich weniger auf die Optimierung von individuellem Wohlbefinden und Profit konzentriert.

1.4  Ein kleiner philosophischer Rückblick

Bevor wir uns im nächsten Kapitel mit möglichen Ansätzen einer Körperphilosophie beschäftigen werden, machen wir zuerst noch eine Reise durch die Philosophiegeschichte. Sie soll uns in einer sehr gerafften Form einen kleinen Einblick geben, wie unterschiedlich über den menschlichen Körper und sein Verhältnis zur immateriellen Welt von Geist und Seele gedacht wurde, aber auch die Entwicklung aufzeigen, welche sich im philosophischen Denken vollzog.

Denn die Philosophiegeschichte lässt sich als eine Geschichte der Auseinandersetzung zwischen zwei unterschiedlichen Konzepten lesen. Da gab es einerseits Philosophen, welche die Meinung vertraten, dass die sinnlich erfahrbare Welt nur eine Folgeerscheinung der geistigen Welt oder gar als eine reine Illusion zu betrachten sei, und andererseits jene, die umgekehrt vorgingen, ihre Philosophie auf der sinnlichen Erfahrung aufbauten und die Existenz einer immateriellen Welt bestritten. Und noch heute bewegt sich die Philosophie auf dem Feld zwischen diesen beiden Polen. Dieser Rückblick stellt somit die Vorgeschichte zu den im nächsten Kapitel folgenden Überlegungen zur Körperphilosophie dar, einer Philosophie, die versucht, den Körper ins philosophische Denken zu integrieren und damit die Körper-Geist-Spaltung zu überwinden.

Philosophische Erklärungsmodelle sind Hilfestellungen, mit denen sich Menschen Vorstellungen über die erlebte „Wirklichkeit“ machten und heute noch machen. Sie helfen, Erfahrungen einordnen, verstehen und eigenes Handeln begründen zu können. Früher lieferten die Erzähler am Lagerfeuer mit ihren Geschichten solche Erklärungsmodelle zur Entstehung der Welt und zum Wirken von geheimnisvollen Wesen, welche das Leben der Menschen beeinflussten.

So findet sich auch die Unterscheidung von Körper und Seele bereits in den Mythen früher Kulturen und sie ist damit viel älter als die philosophischen Überlegungen zu diesem Thema. In der Bibel steht zu lesen, dass Gott den Menschen aus Erde vom Ackerboden formte und ihm den Lebensatem einblies, um ihn so zu einem |23|lebendigen Wesen zu machen (Genesis 7). Die Materie (der Ackerboden) wird durch die eingeblasene Atemluft lebendig, erhält einen Geist, ein Bewusstsein, eine Entscheidungsfähigkeit.

Nach griechischer Vorstellung, wie sie bei Homer (um 800 v. Chr.) zum Ausdruck kommt, ist es die Seele, welche den leblosen Körper lebendig werden lässt. Im Moment des Todes verlässt sie ihn dann wieder wie ein Lufthauch, um als schattenhaftes Abbild des Verstorbenen in der Unterwelt zu wandeln. Die Seele hat in dieser Vorstellung aber keine geistigen Fähigkeiten wie Wahrnehmen, Fühlen, Denken oder Willen.

Im Griechenland des 5. Jahrhunderts v. Chr. entstand dann eine neue Art von Erklärungsmodellen. Die geistige Welt als Gegenwelt zur sinnlich erfahrbaren Welt wurde erfunden. Abstrakte, begriffliche Modelle traten an die Stelle der Geschichten von mystischen Wesen. Diese Art, über die „Wirklichkeit“ nachzudenken, wirkt bis heute nach. Und in ihr wurzelt auch die Idee, dass wir Menschen aus einem Körper und einem Geist bestehen – das Körper-Geist-Modell.

Platon (428–348 v. Chr.) schuf ein umfangreiches philosophisches Werk, welches das Denken des Abendlandes nachhaltig prägte. Für ihn macht die Seele das eigentliche Selbst des Menschen aus. Sie ist ein rein geistiges, nach Erkenntnis strebendes Wesen, ist für sich alleine existenzfähig und unsterblich. Im Körper mit seinen leiblichen Bedürfnissen und Gebrechen ist sie lediglich für die kurze Zeit des menschlichen Lebens gefangen. Danach ist sie wieder frei und kann ihrem Drang nach Erkenntnis durch die Schau der reinen Ideen nachgehen. Denn, so Platon, diese Ideenwelt existiert wirklich. Die sinnlich erfahrbare Welt hingegen ist lediglich eine Täuschung. Menschliche Erkenntnis ist somit ein Erinnern der Seele an früher Geschautes.

Doch Platons Denken löste auch Widerspruch aus. So lehnte die philosophische Schule der Stoiker (ab 300 v. Chr.) Platons Ideenlehre ab. Für sie gibt es den Menschen, die Pflanze und die Gerechtigkeit nicht als Ideen, sondern nur in der konkreten Existenz. Die Stoiker waren Pantheisten. Ihr Gott hat die Welt nicht geschaffen, sondern er ist die der Welt innewohnende Gestaltungskraft. Gott ist das aktive dynamische Prinzip, das die Materie beseelt und in ihr waltet.

Auch Aristoteles (384–322 v. Chr.) wandte sich gegen Platons Konzept. Für ihn liegt das Wesen der Dinge in den Dingen selbst, nicht in den Ideen. Die Ideen reflektieren nur, was die Sinne wahrnehmen. Die unsterbliche Seele ist bei ihm ein universelles Prinzip, welches dem Körper Leben einhaucht, sie ist selbst aber immateriell, verliert nach dem Tod des Körpers ihre Individualität und geht im universellen Prinzip auf.

Der Kirchenvater Augustinus (354–430) orientierte sich am Denken Platons, modifizierte es aber in einem christlichen Kontext. Er unterteilte die Wirklichkeit in die Welt des höchsten Seins, die Welt Gottes, in die Geist-Seele-Welt des Menschen |24|und die niedere Welt des Werdens, die den Sinnen zugänglich ist. Der Geist des Menschen hat Teil an der göttlichen Welt und ist zur Führung des Körpers bestimmt. Ihm kommen Vernunft und Einsicht zu. Er ist das „Auge der Seele“, er kann die Wirklichkeit als Ideenwelt erkennen, denn die mit den Sinnen erfahrbare Welt ist nicht die wirkliche Welt. So ist auch der menschliche Körper, ganz im Sinne Platons, eine Illusion.

Im Mittelalter war die aristotelische Philosophie in Europa lange Zeit unbekannt, bis sie im Hochmittelalter von der Scholastik neu entdeckt wurde. Ihr wichtigster Vertreter war Thomas von Aquin (1225–1274). Im Gegensatz zu Augustinus nimmt er die sinnlich erfahrbare Welt als Ausgangspunkt des Erkenntnisprozesses. Wenn die Welt von Gott geschaffen wurde, so muss sie auch einen Wert besitzen und der Mensch kann Gott in ihr erkennen, so Thomas von Aquin. Gott erschuf die Welt aus der reinen Materie. Er ist die Ursache, das Ziel und die höchste Form des Seins. Die menschliche Seele ist eine geistige Substanz und daher unsterblich. Gleichzeitig, und hier liegt ein klarer Unterschied zum augustinischen Denken, bildet sie aber eine Einheit mit dem Körper. Sie gibt ihm seine Form. Der Geist wiederum ermöglicht dem Menschen das Denken, die Erkenntnis Gottes, ist dazu aber auf die sinnliche Erfahrung, auf den Körper, angewiesen.

Durch René Descartes (1596–1650) kam es zu einer weiteren, entscheidenden Entwicklung des philosophischen Denkens und damit auch der Begriffe Körper und Geist. Statt sich wie seit der Zeit der griechischen Antike am Absoluten (Gott) und am Objektiven (Welt) zu orientieren, macht Descartes die Existenz des Subjektes zum Ausgangspunkt seiner Philosophie. Er teilt die Welt in zwei unterschiedliche Wirklichkeitsbereiche. Da gibt es einerseits die innere Welt, es ist die Welt des Denkens und des Empfindens. Und andererseits gibt es die äußere Welt, das heißt die Körperwelt, die materielle Welt, die Welt der Naturwissenschaften. Die sinnliche Wahrnehmung dieser äußeren Welt betrachtet Descartes jedoch als Täuschung. Er glaubt, allein im Denken die Welt in ihrer Seinsweise richtig erkennen zu können. Descartes Satz „Ich denke, also bin ich“ wurde zum Meilenstein in der Philosophiegeschichte. Er meint damit, dass er an allem zweifeln kann, aber nicht daran, dass er zweifelt, also dass er denkt.

In der Folge von Descartes’ Denken neigte man in Kontinentaleuropa zur philosophischen Position des Idealismus, welche das Geistige als Ursprung der Wirklichkeit betrachtete, während die Angelsachsen eher Empiristen waren und ihr Denken auf dem Boden der sinnlichen Erfahrung, der Empirie, entwickelten. So auch John Locke (1632–1704). Er steht für eine Erkenntnistheorie ohne Spekulation, die nur auf der sinnlichen Erfahrung basiert. Locke betont die Bedeutung des körperlichen Empfindungsvermögens sowohl für die intellektuelle Tätigkeit wie auch für das emotionale Erleben. Er nimmt damit das Denken der Stoa wieder auf und lehnt Platons Ideenlehre ab. Für ihn gibt es nichts Geistiges hinter den Dingen.

|25|Immanuel Kant (1724–1804) führte sowohl Descartes’ Denkansatz wie auch jenen der Empiristen weiter, indem er sich folgende Fragen stellte: Gibt es wahre Aussagen über mich selbst, über die Welt, über Gott? Und wie kommen solche Aussagen in meinem Bewusstsein zustande? Kant untersucht also die Art und Weise, wie der Mensch Erkenntnisse erlangen kann. Und er kommt zum Schluss, dass Raum, Zeit und Kategorien Formen des menschlichen Erkenntnisprozesses sind. Sie sind Werkzeuge des Denkens. Sie bestehen somit nur im menschlichen Verstand und sind keine Formen der sinnlichen Welt. Diese übt zwar Reize auf unsere Sinne aus, Reize welche in Verbindung mit Raum, Zeit und Kategorien in unserem Bewusstsein zu sinnlichen Wahrnehmungen führen. Doch dasjenige, welches diese Reize auf unsere Sinne ausübt, ist nicht zu erkennen. Kant nennt es „das Ding an sich“.

Den Höhe- und Endpunkt der idealistischen Denkströmung setzte dann Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831). Anfangs- und Endpunkt seines Denkens ist der Geist, der sich in der Welt materialisiert und durch diese Materialisierung im Denken des Menschen wieder zu sich selbst zurückfindet. Aus dem Gott der Bibel ist eine Art Gott der Philosophen geworden. In der Nachfolge und Ablehnung von Hegels Philosophie entstanden neue Konzepte. Eines davon war der amerikanische Pragmatismus.

Die pragmatische Philosophie von John Dewey (1859–1952) entwickelte den angelsächsischen Empirismus weiter. Für Dewey bildet die konkrete, gelebte Erfahrung, das Experiment, die Grundlage des Denkens und des wissenschaftlichen Vorgehens. Auch er macht, wie schon John Locke, damit eine Absage an idealistische Gedankengebäude mit ihren Körper-Geist-Modellen. „Learning by Doing“ ist seine berühmt gewordene Aussage, welche auch die moderne Pädagogik entscheidend mitgeprägt hat.

Exkurs

Eine interessante Begegnung

1916 traf der Philosoph John Dewey Frederick Matthias Alexander, den Begründer der Alexander-Technik. Dewey ließ sich von Alexander in seiner Methode unterrichten und erlebte dabei erstaunliche Veränderungen. Dewey erfuhr die Alexander-Technik als eine Anwendung seiner Idee, also des Erkenntnisgewinns durch die Erfahrung, des Learning by Doing. Sein eher schwächlicher Körper begann sich neu zu organisieren und vermittelte ihm ein Gefühl von Kraft, Lebendigkeit und Wohlbefinden. Nicht eine neue Art zu denken führte zu dieser Veränderung, sondern ein bewusster, konstruktiver Umgang mit dem eigenen Körper. Das Buch, das die beiden später zusammen über die Alexander-Technik schrieben, hatte dann auch den Titel „Die bewusste, konstruktive Steuerung des Individuums“.

|26|Dewey lernte von Alexander ganz konkret und körperlich, anders zu stehen, zu sitzen, sich anders zu bewegen oder anders zu atmen. Er lernte, in seinem Verhalten innezuhalten und sich für neue, ungewohnte Verhaltensweisen zu öffnen. Dewey beschreibt diesen Erkenntnisgewinn aus der Körpererfahrung in seiner Einleitung zu Alexanders Buch „Der Gebrauch des Selbst“. Er habe die Erfahrung gemacht, dass er mit seinem Verstand nicht begreifen konnte, was Alexander ihm beibringen wollte. Er habe sogar die größte intellektuelle Demütigung seines Lebens erlebt, weil er nicht fähig war, einfachste Anweisungen beim Sichhinsetzen zu befolgen, weil gerade sein Verstand, das heißt seine eigenen Vorstellungen, ihn daran hinderten, eine neue Erfahrung zu machen.

Dewey erfuhr dann aber, wie durch das Nichttun, das Nichtaktivieren seiner Vorstellungen, die körpereigene Bewegungsintelligenz die Steuerung übernahm und ihn eine neue, viel entspanntere Bewegungserfahrung machen ließ. Statt sich beim Sichhinsetzen in Nacken, Schulter und Rücken zu verspannen und die Atmung anzuhalten, war es ihm möglich, all diese störenden Gewohnheiten wegzulassen.

Er schreibt von der enormen geistigen Anstrengung, die es ihn kostete, etwas nicht zu „tun“, und von den großen Veränderungen in seiner moralischen und geistigen Einstellung, welche die neue Selbstorganisation zur Folge hatte. Vieles hatte er zwar aus seinem Studium in den Bereichen Philosophie und Psychologie bereits theoretisch gewusst. Durch die Arbeit mit Alexander verwandelte sich dieses Wissen aber in eine lebendige Erfahrung und erhielt dadurch eine neue Bedeutung (Dewey, 2001).

Auch die von Edmund Husserl (1859–1938) begründete Phänomenologie stellt den Dualismus von Körper und Geist infrage. Die Phänomenologie spart Fragen der Metaphysik, also nach Gott, dem Ursprung des Wissens und der Welt oder des Lebens nach dem Tod, aus. Aufgrund ihres Ausgangspunktes, den uns Menschen unmittelbar zugänglichen Erscheinungen (Phänomenen), kann sie keine Aussagen zu diesen Fragen machen. Helmuth Plessner (1892–1985) brachte dann den Begriff „Leib“ ins Spiel. Einen Körper haben wir und ein Leib sind wir (Plessner, 1970). Und für Maurice Merleau-Ponty (1908–1961) wurde diese Leiblichkeit des Menschen zum zentralen Punkt seiner phänomenologischen Philosophie (Merleau-Ponty, 1966). Der Leib ist der belebte Körper, die vermittelnde Instanz zwischen Geist und Körper. Er ist weder rein materiell noch rein geistig.

Mit Pasi Falk (1994) lässt sich dieser Rückblick zusammenfassen. Unser Körper ist das offensichtlichste und vertrauteste sichtbare „Ding“, das wir wahrnehmen, und neigt dennoch dazu, im Akt der Wahrnehmung oder der Beziehung zur Außenwelt zu verschwinden. Der Körper hat eine Mehrdeutigkeit, die in einer Reihe von binären Widersprüchen formuliert wird. Er ist sowohl ein Subjekt als auch ein Objekt von Praktiken und Wissen, er ist sowohl ein Werkzeug als auch ein Rohstoff, an dem |27|gearbeitet werden muss. Er scheint zwischen Präsenz und Abwesenheit zu oszillieren. Er vermittelt uns intensive Gefühle und ist gleichzeitig in ständiger Gefahr aus unserem Bewusstsein zu verschwinden.

Bereits prähistorische Völker glaubten an einen Geist oder an eine Seele, die sich vom Körper unterscheidet und in ihm innewohnt und ihn – wie auch Tiere, Bäume und Steine – lebendig macht. Im animistischen Denken wurde der Geist als materielle Substanz verstanden. Er wurde einerseits mit dem Blut, aber auch dem Atem in Verbindung gebracht.

Ganz anders bei Platon, der mit seinem Konzept der Seele als immaterielle und unkörperliche Substanz großen Einfluss auf das christliche Denken hatte. Er verband dadurch die Dualität von Materiellem und Immateriellem sowie von beschränkter Zeit und Ewigkeit. Dieser Dualismus von Körper und Geist/Seele wiederholte sich in der Folge in einer Vielzahl von philosophischen und religiösen Konzepten und Traditionen. Und auch die philosophischen Strömungen von heute bewegen sich in diesem Spannungsfeld. So wird in der Philosophie des Geistes das Bewusstsein auf chemisch-physikalische Prozesse im Gehirn reduziert. Und auf der anderen Seite des philosophischen Spektrums betrachtet der Konstruktivismus die sinnlich erfahrbare Welt als eine Illusion, als ein Produkt unseres Bewusstseins.

Und so sind wir beim Qualia-Problem angelangt, wie es in der Philosophie genannt wird, nämlich der Frage, wie aus physikalisch-chemischen Prozessen ein Bewusstsein entsteht. Wie entsteht beispielsweise beim Prozess des Sehens aus der Reizung der visuellen Sensoren im Gehirn das Bewusstsein von dem, was ich sehe? Wie entsteht aus dem Baum in meinem Garten ein sinnliches Erlebnis in meinem Bewusstsein? Und, was ist dieses Bewusstsein überhaupt? Die Beantwortung dieser Fragen liegt, wie Thomas Nagel (2019) meint, beim aktuellen Stand unserer intellektuellen Entwicklung aufgrund unserer wesensmäßigen kognitiven Beschränkung außerhalb unseres Verständnisvermögens, bleibt also eine offene Frage für die Zukunft.

|29|2  Körperphilosophie

2.1  Eine verrückte Zeit

Wie müsste eine Philosophie des Körpers aussehen, in einer Zeit der Computer, Tablets und Smartphones, von Bewegungsmangel und Übergewicht einerseits und von Körper- und Fitnesskult andererseits? Wo es höchst uncool ist, körperlich zu arbeiten, und erst recht uncool, dabei zu schwitzen. Wo man nach der bewegungsarmen Arbeit bewegungsarm mit dem Auto ins Fitnessstudio fährt, um sich dort gegen Gebühren an Maschinen zeitgemäß zu bewegen und zu schwitzen. Wo der Körper zum gestaltbaren Objekt wird, vom Bodystyling bis hin zu Operationen, welche den Körper umgestalten. Wo Brustvergrößerungen und Fettabsaugen zum Standard werden, aber auch Prothesen selbstverständliche Lösungen bei Degenerationserscheinungen geworden sind. Wo in Zukunft der mit biotechnischen Mitteln genetisch optimierte Mensch winkt. Wo Älterwerden und Sterben als inakzeptable Einmischung in unsere Selbstbestimmung betrachtet werden. Wo Antiaging ein neuer Wirtschaftsbereich geworden ist und Pharmafirmen uns Mittel versprechen, die Alterung wie eine Krankheit behandelbar zu machen. Gegen Bezahlung kann ich meinen Körper nach dem Tod sogar einfrieren lassen, damit er später, wenn die dazu notwendigen medizinisch-technischen Möglichkeiten entwickelt worden sind, wieder ins Leben zurückgeholt werden kann.

Wir erleben heute sowohl eine Entkörperlichung des Lebens wie auch eine Kommerzialisierung des Körpers. Doch wo bleibt der Körper, der wir sind, der Körper als sich bewegendes, empfindendes und denkendes Subjekt? Haben wir den Kontakt zu unserem Körper verloren, haben wir uns zu körperfremden Wesen gewandelt und dabei vergessen, was uns zu lebendigen Wesen, zu Lebewesen macht, was Leben auf dem Planeten Erde überhaupt ausmacht – haben wir den Körper und damit das evolutionäre Erbe, das sich durch Generationen unserer Vorfahren entwickelt hat, verloren?

Körperphilosophie soll diesen Fragen nachgehen, soll ein Nachdenken über uns als körperliche Wesen sein. Welche Bedeutung, welchen Wert, welche Rolle geben wir dem Körper in unserem Leben? Wie lässt sich der Körper in ein philosophisches Denken, in ein nach Weisheit suchendes Denken, ein Denken, das uns ein gutes Leben ermöglichen soll, einbeziehen?

|30|Doch eine wichtige Klarstellung vorweg: Es kann nicht das Ziel einer Körperphilosophie sein, ein Wissenssystem zu entwickeln, das abschließende Antworten gibt. Es geht mir vielmehr darum, eine Methode darzustellen, mit der wir Fragen stellen und nachdenken können. Es geht darum, der Suchbewegung des Denkens eine Struktur zu geben, um Themenfelder, wie sie unsere „verrückte Zeit“ zuhauf mit sich bringt, zu durchleuchten und zu prüfen, ob das, was wir tun und wie wir es tun, wirklich zu unserem Besten ist.

Also, los jetzt, beginnen wir mit körperphilosophischem Denken und zwar ganz klassisch, nämlich mit Immanuel Kants Grundfragen „Was ist der Mensch?“ und „Was kann ich wissen?“. Die Behandlung von Kants dritter Grundfrage „Was soll ich tun?“ folgt dann am Schluss dieses Kapitels.

2.2  Was ist der Mensch?

In der wissenschaftlichen Diskussion dieser Frage finden wir folgende Antworten oder Konzepte:

Naturwissenschaftliches Konzept: Der Mensch besteht aus einem Körper und dieser wiederum aus Materie. Doch aus der Sicht der Teilchenphysik ist diese Materie kaum existent, das heißt, sie besteht vor allem aus Nichts. Dennoch ist der Körper jener Teil von uns, über den naturwissenschaftliche Aussagen gemacht werden können. Über den Geist hingegen lassen sich aus naturwissenschaftlicher Sicht keine Aussagen machen.

Neurowissenschaftliches Konzept: Es gibt keine Eigenständigkeit des Geistes, denn emotionale und kognitive Prozesse sind das Produkt materieller Vorgänge in unserem Nervensystem. Jede unserer Entscheidungen entsteht daher nach dem Prinzip von Ursache und Wirkung, genau wie jeder andere Vorgang in der Natur auch.

Konzepte von Hilarion Petzold, Luc Ciompi und Gerald Hüther: Der Ausgangspunkt von Hilarion Petzolds Menschenbild ist, mit Bezug auf Merleau-Ponty, der belebte Körper – der Leib. Aus ihm steigt unser Bewusstsein auf, das heißt, allen Gedanken, Ideen, Gefühlen und Willensakten liegen biologische (biochemische und bioelektrische) Prozesse in unserem Hirn zugrunde. Der Leib nimmt wahr, speichert Wissen und Erfahrungen, denkt nach und drückt sich aus. Er steht in Raum und Zeit, ist in ständigem Austausch mit einer konkreten Umwelt und hat eine individuelle, in ihm abgespeicherte Geschichte (Petzold, 2004).

In eine ähnliche Richtung gehen auch Luc Ciompis Überlegungen. Die Wurzeln des Denkens liegen in unserem Körper. Denken entsteht immer aus der individuel|31|len Lebensgeschichte heraus, eine Lebensgeschichte, die sich in den Körper des Menschen, in die Muskeln, Knochen, das Nervensystem, die Organe, ja in jede einzelne Zelle eingeschrieben hat. Sie steht hinter unserem Denken. Der ganze Körper denkt mit, reagiert mit, schwingt mit. Denken und Fühlen sind nicht vom Körper zu trennen. Wenn wir denken, tun wir das nicht nur mit unserem Kopf, denn Gedanken verändern die Muskelspannung und den Zustand der inneren Organe und sie wirken bis in die zelluläre Ebene unseres Körpers (Ciompi, 2016).

Und Gerald Hüther meint: „Das Gehirn ist mit dem Körper nicht einfach nur durch den Hals verbunden, sondern Gehirn und Körper bilden eine untrennbare funktionelle Einheit.“ (Hüther, 2006; S. 75)

Für das körperphilosophische Nachdenken sowie die Frage nach dem Wesen der Körperwahrnehmung macht es Sinn, die trennenden Körper-Geist-Konzepte hinter sich zu lassen. Und da der Begriff Leib außerhalb unseres allgemeinen Sprachgebrauchs liegt, ist es sinnvoll, anstelle des Begriffs „Leib“ den Begriff „Körper“ zu verwenden, ihn aber neu zu interpretieren, um uns so unser Verhältnis zu unserem Körper bewusst zu machen, es zu klären und bewusst zu verändern.