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Tanz auf dem Pulverfass
August 1914. Endlich hat der große Krieg, den alle kommen spürten, wirklich begonnen. Das junge Paar Fritz und Mila wird gemeinsam mit so vielen anderen in den Taumel aus Kriegsbegeisterung und Feindseligkeit hineingerissen. Doch auch zwischen den beiden scheinen sich unkontrollierbare Gefühle zu erheben: Fritz erhofft sich vom Krieg eine Art Reinigung von verbotenen Gefühlen, die er nicht mal Mila anvertrauen kann, und meldet sich freiwillig an die Front. Und Mila bekommt plötzlich heftige Anfeindungen zu spüren, weil ihr Vater Franzose war und Frankreich jetzt als »Erbfeind« gilt. Als ein als Franzosenhasser bekannter Lehrer stirbt, kommt Mila in Untersuchungshaft. Hochverrat – schnell steht die Anklage im Raum ...
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Seitenzahl: 581
JÜRGEN SEIDEL
Der Krieg und das Mädchen
Roman
cbj ist der Kinder- und Jugendbuchverlagin der Verlagsgruppe Random House
Der Autor dankt der
für die finanzielle Förderung des Romanprojekts.
Gesetzt nach den Regeln der Rechtschreibreform1. Auflage 2014© 2014 cbj Verlag, MünchenAlle Rechte vorbehaltenLektorat: Frank GriesheimerUmschlaggestaltung: Zeichenpool, MünchenUmschlagfotos: © Shutterstock (Masson, javarman, Bob Orsillo)SK Herstellung: AJSatz: Uhl + Massopust, AalenISBN: 978-3-641-11114-4www.cbj-verlag.de
Im Voraus
Es klopfte ein zweites Mal, diesmal mit Nachdruck.
»Öffnen Sie!« Eine hohe Männerstimme drang durch den Spalt zwischen Wohnungstür und Rahmen.
Das Mädchen ließ von dem Geschirr ab, trocknete sich die Hände und spähte zum Flur. Im Treppenhaus brannte die Glühbirne und projizierte lebende Schatten auf die drei schlanken Riffelglasfenster in der Tür.
Die Mutter des Mädchens blieb erstaunlich ruhig. Sie drehte das Gas ab, nahm den Kessel vom Herd und ließ etwas kochendes Wasser in die silberne Mokkakanne plätschern. Sofort verbreitete sich der Duft. Die Mutter stellte den Kessel zurück, ging zur Wohnungstür und öffnete. Ohne ein Wort betraten drei Männer die Wohnung, als wäre sie ihnen vertraut. Sie drängten herein, sie blieben nicht stehen, um sich zu erklären, sondern strebten jeder in eine andere Richtung. Die Mutter war immer noch gefasst, sie blickte den Leuten verwundert hinterher.
»Wer sind Sie?«, rief sie deutlich und schloss lautlos die Tür.
Der Erste hatte ein weiches Gesicht und stand bereits im Wohnzimmer. Der Zweite, mit kräftigen dunklen Augenbrauen, war an dem Mädchen vorbei in die Küche geeilt. Der dritte Mann hatte das Schlafzimmer erobert, die Tür des Kleiderschranks quietschte vertraut. Der mit der hohen Stimme im Wohnzimmer sagte: »Ich bin Polizeileutnant Hörn. Wir haben einen Hinweis erhalten.«
Die Mutter machte ein empörtes Gesicht. Ihre Tochter sah den Gondoliere-Hut, den der Mann in der Hand hielt. Es musste etwas mit Janotas Tod zu tun haben.
»Sie wurden angezeigt«, erklärte der Polizist und wirkte unpassend schüchtern. Er begann, sich aufmerksam umzusehen.
Die Mutter fasste die Hand des Mädchens.
»Wer hat uns angezeigt?«, fragte sie.
»Darüber darf ich keine Auskunft erteilen.«
»Aber das muss ich doch wissen!«
»Sie bekommen schriftlich Bescheid.«
»Und was tun Sie hier?«
»Wir sehen uns um«, antwortete der Mann.
Die Tochter sah, wie er Schubladen bewegte, eine nach der anderen. Auch der Mann in der Küche öffnete Schranktüren, hob Mehl- und Zuckerdosen hoch, verrückte Schüsseln, berührte Teller und Schalen. Der Polizeileutnant im Wohnzimmer reckte den Hals und spähte in das Uhrwerk des Regulators – dessen Pendel jetzt bitte stehen bleiben sollte. Aber die Welt drehte sich weiter, als wäre nichts Besonderes geschehen. Was der Beamte im Schlafzimmer tat, konnte das Mädchen nicht sehen. Man musste sich doch wehren, rief es in ihr, man musste die Männer sofort dazu bringen, diesen Überfall zu beenden – der natürlich kein Überfall war, sondern eine »polizeiliche Maßnahme« …
»Wonach suchen Sie denn?« Die Stimme der Mutter klang geschwächt.
»Wenn wir es finden, erfahren Sie es.«
»Und wenn nicht?«
Der Mann richtete sich auf und blickte sie über die Strecke zwischen Wohnzimmer und Flur hin einen Moment an. Er wirkte nicht unfreundlich und schien Verständnis für die Verwirrung der Mutter zu haben.
»Wir tun nur unsere Arbeit, Frau Pi-ge-on.« Er sprach die drei Silben getrennt aus. »Sind Sie Französin?«
»Mein Mann war Franzose.«
»Ist er nicht hier?«
»Er ist tot.«
»Das tut mir leid.« Der Mann setzte seine Suche fort. »Wie spricht man Ihren Namen denn aus?«
Die Mutter antwortete und wiederholte es.
»Hat es eine Bedeutung?«
»Die Taube.«
»Dann sind Sie das Täubchen«, sagte er vorschnell in Richtung der Tochter und bezwang ein Lächeln, das ihm übers Gesicht huschte. Man spürte, dass er die Bemerkung sofort bedauerte. »Verzeihen Sie bitte!«
»Sie müssen sich nicht entschuldigen«, bemerkte die Mutter.
Das Mädchen machte einen Vorschlag: »Vielleicht verwechseln Sie uns mit jemandem im Haus oder auf der Straße.« Es klang zu zaghaft, sie hatte es mit fester Stimme sagen wollen, aber ihr fehlte die Kraft. Ihr fiel auf, wie dumm der Gedanke war. Wer verwechselte in diesen Zeiten jemanden mit einem französischen Namen?
»Wir verstehen unser Handwerk, junge Dame. Wir verwechseln die Menschen nicht. Es hat alles seine Richtigkeit.«
Das letzte Wort klang so falsch und verrückt, dass es einen ulkigen Nachklang bekam. Das Mädchen hätte lachen können. Sie drückte die Hand der Mutter, die sich von ihr löste und in die Küche ging.
»Vielleicht darf ich Ihnen einen Mokka anbieten. Ich brühe gerade welchen auf.« Sie nahm den Kessel wieder vom Herd und goss das restliche Wasser in die Kanne. Sie trug den Mokka ins Wohnzimmer. Die Tochter folgte ihr mit den Tassen.
Herr Hörn erhob sich von der Durchsuchung einer der unteren Schubladen des alten Sekretärs, der aus dem Dahlemer Haushalt von Milas Großvater stammte. Er schloss die Lade und hüstelte trocken. Die Mutter goss Mokka in die Tassen, nahm eine und reichte sie dem Beamten. Er bedankte sich und bekam glühende Wangen.
»Hier sind auch Tassen für Ihre Kollegen«, sagte sie.
»Wir bleiben nicht lange«, antwortete der Mann. »Wir tun nur unsere Pflicht.«
»Natürlich«, entgegnete sie.
Das Mädchen schüttete Zucker in seine Tasse und rührte um. Es liebte Mokka. Mit siebzehn Jahren sei sie eigentlich zu jung, hatte eine Lehrerin behauptet, als sie in der Klasse über Kaffee redeten. Aber es machte ihr nichts aus, sie schlief am Abend sofort ein, und auch die Mutter hatte damit keine Schwierigkeiten.
»Sie müssen sich wirklich nicht entschuldigen«, sagte die Mutter. »Das wäre ja noch schöner! Jedenfalls habe ich nichts zu verbergen und meine Tochter ganz sicher auch nicht.«
»Chef!«, rief sein Kollege aus dem Schlafzimmer herüber. »Ich glaub, wir haben was gefunden …«
Noch schläft der Krieg
Seit Wochen lag etwas in der Luft. Man las und hörte hier und da ulkige Reime. Jeder Schuss ein Russ’. Straßenbahnen wurden angehalten und Offiziere herausgezerrt, nur um sie unter Hurra-Rufen in die Luft zu werfen. Jeder Brit’ ein Tritt. Erwachsene fielen einander weinend in die Arme, und Kinder marschierten in Reih und Glied über das Trottoire, sie trugen Holzstöcke wie Gewehre und hatten todernste Gesichter. Mila Pigeon musste jedes Mal schmunzeln, wenn sie die Kleinen sah. Aber manchmal blieb auch ein anderes Gefühl zurück: Unruhe, als gerate etwas aus dem Gleichgewicht. Jeder Stoß ein Franzos’. Da konnte sie nicht mehr schmunzeln. Ein bisschen fühlte sie sich selbst gemeint, dabei war sie keine Französin – eine halbe vielleicht. Ihr Vater war Franzose. Richtig erinnern konnte sie sich nicht an ihn. Er war gestorben, als sie drei Jahre alt war und hatte ihr einen schönen Namen hinterlassen. Pigeon. Mein Täubchen, hatte er sie genannt. Sie wusste es von ihrer Mutter, die den Papa sehr geliebt hatte. Damals, als das alte Jahrhundert zu Ende war und das neue begann.
Mila fragte sich, ob ihre Liebe zu Fritz derjenigen zwischen ihren Eltern glich. Zuerst hatte sie das geglaubt. Was sonst? Liebe ist Liebe. Dann erkannte sie, dass jeder Mensch seine eigene Liebe fühlen muss. Allen gemeinsam ist nur das Wort. Das Eigentliche gibt es nur ein einziges Mal auf der Welt und gehört einem ganz und gar alleine.
Sie hatte es Fritz gesagt. Er hatte gelacht, aber nicht verraten, was er dachte. Es war schwer, herauszufinden, was ihm durch den Kopf ging. Da war Fritz Wanlo wie die anderen Jungs. Obgleich er besonders war. Bestimmt schämte er sich nur, weil er Angst hatte, die anderen könnten ihn für weich oder weibisch halten. Das hasste er. Jungs wollen Helden sein, das ist dumm und lästig. Dabei war Fritz ein verdammt kluger Kerl. Er besuchte die Unterprima eines Charlottenburger Gymnasiums und sein Vater hatte ein Uhrengeschäft. Seine Mutter hatte ein paar Semester Medizin studiert, was sehr ungewöhnlich war. Sie war mit Gabriele Possanner befreundet, der berühmten ersten promovierten Ärztin in Österreich. Das war schon was. Fritz hatte Mila einmal unangekündigt mit zu sich nach Hause genommen, und seine Eltern hatten nicht geschimpft, nicht mal komisch geguckt. Nur die Köchin hatte das fremde Mädel wie Luft behandelt. »Also Magda, bitte!«, hatte die Mutter gerufen und den Blick zur Decke geworfen. Draußen hatte sie Mila erklärt, dass die alte Dame sehr auf Formen achte. Natürlich hatte Mila sofort erwidert, dass es überhaupt nicht schlimm sei und dass es ihr selbst peinlich sei, hier so plötzlich und unangekündigt aufzutauchen. Frau Wanlo hatte ihr über die Wange gestreichelt und gelächelt.
Was ihr an Fritz gefiel, war seine Besonnenheit. Aber noch mehr gefielen ihr seine Hände. Hundertmal hatte sie sich vorgenommen, sie einfach zu ergreifen und an ihr Gesicht zu drücken oder sogar zu küssen. Danach sehnte sie sich. Den Mut dazu hatte sie bislang nicht aufgebracht und Fritz machte es ihr weiß Gott nicht leicht. Nicht dass er abweisend gewesen wäre. Er hatte ein merkwürdiges und etwas grausames Talent, immer und überall einen Abstand zu ihr bestehen zu lassen. Wie ein misstrauisches Tier.
Als sie das von Fritzens Mutter und Gabriele Possanner und dem Medizinstudium gehört hatte, war ihr der Gedanke gekommen, auch Ärztin zu werden. Bis dahin hatte sie geglaubt, dass es Frauen gar nicht erlaubt war. Sie hatte es Fritz erzählt mit der Bitte, es keinem in seiner Klasse zu sagen. Auch nicht den anderen vom Künstlerbund, den sie im Frühjahr gegründet hatten. Er hieß DieSomnambulen und hatte vier Mitglieder. Ihrer Mutter hatte sie den Berufswunsch gestanden. »Wir leben in einer Männerwelt«, hatte sie geantwortet. Mila könne sich noch gar nicht vorstellen, wie viel Inhalt in dem ungewöhnlichen Wort lauere.
Dabei hatte Mila schon längst vieles verstanden. Frauen haben die Aufgabe, Kinder großzuziehen, einen Haushalt zu führen und ihrem Ehemann zu Diensten zu sein. Das musste ihr niemand mehr sagen, auch wenn die Mutter glaubte, dass ihre Tochter noch ein Kind war. Immerhin hatte Mila schon zweimal einen Jungen geküsst. Leider nicht Fritz. Dass es in der Liebe mehr gab, wusste sie, hatte allerdings nur eine sehr vage Vorstellung davon und keine Lust, ihre Mutter direkt zu fragen. Dass es nicht wie bei den Bienen zuging, war ihr klar. Jedenfalls war alles aufregend, und niemand würde ihr die Pläne für ihr Leben schlechtreden, dafür würde sie schon sorgen.
Die Leitung von Fritzens Gymnasium hatte einer mehrtägigen Sommerfrische der Unterprima am Müggelsee zugestimmt. Die Klasse fuhr unter der Aufsicht von zwei Lehrern mit der Eisenbahn von Berlin nach Friedrichshagen und wohnte dort in einer Villa am See, die auch diesen Namen trug. Mila kannte Köpenick und den Müggelsee. Bekannte der Mutter lebten dort, bei denen sie gewohnt hatten, als sie, Mila, klein war. Es war abgemacht, dass Mila das ältere Ehepaar ein paar Tage besuchen und in der Zeit auch zu der Villa und den Schülern spazieren würde. Darauf freute sie sich. Vor allem darauf, ein bisschen Zeit mit Fritz zu verbringen, mit dem sie heute auf den Tag genau seit einem halben Jahr fest befreundet war.
Sie war von zu Hause mit der Straßenbahn zum Schlesischen Bahnhof gefahren, jetzt wartete sie auf den Zug in Richtung Müggelsee. Das Wetter würde bestimmt schön bleiben und das Baden im See einen Riesenspaß machen. Die Klasse hatte den frühesten Zug nehmen wollen und war vermutlich schon dort. Es war Sonntag, der Himmel hatte einen matten Glanz wie Seidenpapier. Das Leben war schön!
Der Künstlerbund DieSomnambulen hatte sein Vorbild in der Pariser Boheme, die von den Erwachsenen belächelt, verachtet oder gar gehasst wurde, weil man dort ein Leben in Freiheit führte. Freiheit war das Zauberwort. Ein Leben ohne Freiheit war für Mila nicht lebenswert. Ob die anderen auch so dachten und empfanden, wusste sie nicht sicher. Die Gespräche, die sie immer darüber hatte führen wollen, entwickelten sich nie so, wie sie hoffte. Fritz und Rasmus Bloemacher waren vielleicht sowieso die Einzigen, die den nötigen Grips hatten, um über so etwas ernsthaft nachzudenken. Die anderen kamen ihr oft kindisch vor. Wenn sie ehrlich war, zweifelte sie, ob der Künstlerbund wirklich über längere Zeit Bestand haben würde.
Sowieso waren sie alle momentan meilenweit davon entfernt, frei zu leben. Frei würden sie erst sein, wenn die Schule vorüber war und sie studierten – am liebsten in Paris, Wien oder München. Immerhin hatte es am Müggelsee den Friedrichshagener Dichterkreis von Bruno Wille und Wilhelm Bölsche gegeben, der an die Macht der Naturwissenschaft glaubte, an Charles Darwin und weniger an Gott. Bölsche hatte sich mit seinen Büchern ziemlich berühmt gemacht, aber bei vielen auch sehr unbeliebt. Der Dichterkreis allein war Grund genug für Mila, der Jungenklasse hinterherzufahren, auch wenn es ihn nicht mehr gab. Die wichtigsten Mitglieder lebten noch. Und es waren auch Frauen dabei gewesen und eine von ihnen hatte dasselbe Wilmersdorfer Lyzeum besucht wie sie, Mila.
Fritz Wanlo, Rasmus Bloemacher, Wieland Hassel und sie selbst hatten sich an einem Sonnabendnachmittag im Café des Westens getroffen und einander geschworen, ihr Leben der Freiheit und der Kunst zu widmen. DieSomnambulen – das sollte für die Achtung der Gefühle stehen und für eine kritische Bestandsaufnahme dessen, was die Erwachsenen sagten. Das Café des Westens auf dem Kurfürstendamm hatten sie natürlich mit Absicht gewählt – »Café Größenwahn«, wie man es auch nannte. Von ihm wusste man, dass sich dort Dichter und Maler trafen, freie Menschen also, wenigstens aber Leute, die nach Freiheit strebten, für die Freiheit ein wichtigeres Ziel war als Gehorsam, Vaterlandsliebe oder Geldverdienen. Die Freiheit macht den Menschen zu dem, was ihn vom Tier unterscheidet, nicht das Denken oder die Arbeit, davon war sie überzeugt. Und Freiheit entfaltet sich erst, wenn man kreativ ist. Immer wieder hatte sie versucht, neue Treffen der Gruppe zu organisieren, aber so recht war der Künstlerbund bislang leider nicht in Gang gekommen und ihre Hoffnung, dass es besser würde, schrumpfte von Mal zu Mal. Es bestand die Gefahr, dass alles im Sande verlief.
Mila stand auf dem Bahnsteig, von wo der Zug nach Köpenick und Friedrichshagen abfuhr. Es war noch kühl. Sie hatte sich sogar ihren Herbstmantel angezogen, weil es in der Straßenbahn immer ein bisschen zog. Dennoch hatte dieser Sommer 1914 bislang niemanden enttäuscht; das Wetter war oft sonnig und warm gewesen, weshalb man an Fritzens Gymnasium überhaupt auf die Idee einer kurzen Sommerfrische noch vor den Ferien gekommen war. Wer weiß, ob es überhaupt richtige Ferien geben würde. Alle redeten von der Möglichkeit eines Kriegsausbruchs, der die Schule, zumindest für die älteren Jungen, jederzeit vorzeitig beenden konnte.
Dreimal war sie mit Fritz im Tiergarten gewesen. Sie waren »gesittet« nebeneinander hergelaufen und hatten geredet. Sie hatte geredet. Fritz war eher schweigsam, leider, jedenfalls was seine Gefühle betraf. Das sei so bei Jungs. Immerhin hatte er ihr erzählt, dass er begonnen habe, einen Roman zu schreiben. Das hatte sie stolz gemacht, es war romantisch. Noch schöner wäre es gewesen, mit ihm durch die Kiefernwälder außerhalb der Stadt zu laufen. Dort, wo man wirklich alleine war. Davon träumte sie, und dass er sie küsste. Am Müggelsee gab es einsame Kiefernwälder. Fritz hatte einen schönen Mund und weiche Lippen.
Die Lokomotive wurde sichtbar, erst der weiße, aufsteigende Wasserdampf, dann der feste, dunkle Rauch aus dem kurzen Schornstein am Bug der Maschine. Man hörte ihr Stampfen und schließlich auch das Rattern und Schlagen der Eisenräder auf den Schienen, die immer so geheimnisvoll in der Ferne einander näher kommen, es aber in Wirklichkeit gar nicht tun und auch nicht dürfen.
Der Roman, an dem Fritz schrieb, spielte auf See in der Mitte des 18. Jahrhunderts. Es habe damals gewaltige Kriegsschiffe gegeben, hatte er erzählt, auf denen Hunderte von Menschen lebten wie in kleinen Städten. An Land wusste kaum jemand etwas über diese schwimmenden Städte und den Männern an Bord war ihrerseits das Leben an Land oft völlig fremd. Es waren getrennte Welten. Besonders bemerkenswert erschien Mila, dass nicht selten fünfzig oder mehr Kinder und Jugendliche dort lebten und das Seemannshandwerk lernten. Manche nicht älter als sieben. Unter ihnen sollte sich die Handlung des Romans zutragen – in einer Weise, als seien sie bereits erwachsen. Fritz konnte sich nicht vorstellen, dass sie mitten unter den Seeleuten so etwas wie eine richtige Kindheit erlebt haben sollten, und Mila teilte seine Ansicht.
Die Dampflokomotive kroch fauchend an Mila vorbei, die Bremsen kreischten. Der Zug kam klirrend zum Stehen. Die Türen wurden aufgestoßen und die ersten Fahrgäste reichten ihr Gebäck auf den Bahnsteig herab. Frauen mit viel zu weiten Kleidern zwängten sich durch die engen Türen über die Stufen nach unten. Ihre Gesichter waren rot von der Anstrengung, ihre großen Hüte mussten neu gerichtet werden, die Frisuren waren zerdrückt. Jungen mit Matrosenkragen und Mädchen mit Blumenhüten und zerzaustem Haar kletterten nach draußen und hatten die gleichen ernsten Gesichter wie die singenden Kindersoldaten mit ihren Holzgewehren oder die Seemannslehrlinge an Bord der schwimmenden Städte im Roman.
Mila hatte ihre wenigen Sachen, die sie für die Tage brauchte, in einen geflochtenen Korbkoffer gepackt, der ihrer Mutter gehörte und jetzt neben ihr auf dem Bahnsteig stand. Die Mutter hatte sie gebeten, den Korbkoffer mit Sorgfalt zu handhaben, weil er ein Geschenk des Vaters war. Er hatte ihn in Venedig gekauft und der Mutter zum zweiundzwanzigsten Geburtstag geschenkt, also vor fünfzehn Jahren. Auf der Innenseite des Deckels klebte die kolorierte Fotografie einer Gondel, die unter die Rialtobrücke fuhr und in der ein Hochzeitspaar saß. Wenn die Mutter es anschaute, bekam ihr Blick einen Glanz und ihre Stimme ein Timbre. Mila wusste, warum. Das Bild holte den grauenvollen Schreck zurück, als man ihr damals mitteilte, dass ihr Mann beim Einsturz eines Baugerüsts tödlich verunglückt sei.
Als Mila eines der leeren Abteile betrat, konnte sie noch den dumpfen Geruch der Reisenden wahrnehmen, die es soeben verlassen hatten. Auf dem Boden lag zerknülltes Zeitungspapier, dazwischen Brotkrümel, zertretene Zigarettenstummel. Immerhin waren die Lattenbänke der 3. Klasse sauber. Nur am Fenster sah man einen feinen Schmierfilm – vielleicht von der Stirn eines Kindes, das vom Stillsitzen müde während der Fahrt vom Müggelsee zurück nach Berlin in die vorüberziehende Wuhlheide geschaut hatte.
Sie hob den Koffer in das Gepäcknetz unter dem hölzernen Plafond und setzte sich ans Fenster. Der Blick ging über das Nebengleis auf den gegenüberliegenden Bahnsteig, wo ein Dutzend Fußsoldaten in kleinen Gruppen zusammenstanden und rauchten. Ihre drei Vorgesetzten bildeten einen eigenen Kreis, der in keinerlei Beziehungen zu den Infanteristen zu stehen schien, so wie die Offiziere aussahen und sich verhielten. Nicht einen Blick tauschten sie mit den einfachen Männern, so lange Mila auch hinsah und wartete, dass der Zug losfuhr.
Die Freunde der Mutter, bei denen sie in Köpenick wohnen würde, waren ältere Eheleute. Sie lebten im »Wolkenkuckucksheim«, so nannten sie das kleine Gartenhaus am Rande der »Heide«. Bis zum Müggelschlösschen war es von dort ein Stündchen zu Fuß. Man ließ sich auf einer Kettenfähre über die Spree setzen und war in Friedrichshagen. Frau Timpe war eine gutmütige, rundliche Person, die oft lächelte und wenig redete. Sie hatte vor Jahren manchmal in der Küche des Ehepaars Bölsche ausgeholfen, wenn sich der Dichterkreis traf und seine Feste feierte. Ihr Mann hatte für kleinen Verdienst allerhand Praktisches in Haus und Garten erledigt, auch in den Wohnungen der anderen Dichter und Künstler. Jetzt lebten die Timpes ihr bescheidenes Altenteil. Noch heute wurden sie ab und zu eingeladen und erhielten von Bölsches an Geburtstagen und Hochzeitstagen Blumensträuße, Wein oder Kuchen.
Milas Mutter hatte das Ehepaar Timpe kennengelernt, als sie nach dem Unfall des Vaters für eine Weile nach Köpenick gezogen war, um in einer Kohlenhandlung die Buchführung zu machen. Sie musste Geld verdienen. Es waren zwei Jahre, an die Mila sich gerne erinnerte. Danach zogen sie zurück nach Deutsch-Wilmersdorf. Seither war die Mutter für Klausner & Co. tätig, eine Näherei in Schöneberg, die für die Kaserne der Luftschifffahrtsabteilung am Tempelhofer Feld spezielle Stoffbahnen lieferte.
Als der Zug bereits langsam rollte, betrat eine junge Frau das Abteil, grüßte wortlos und setzte sich Mila gegenüber an die Tür zum Gang. Auf den zweiten Blick war es sogar eine Dame. Ihre Lippen waren farblos, sie hatte dunkle Augen und ein Gesicht, in dessen Symmetrie etwas auf eine aparte Art nicht ganz stimmte. Ihr strohblondes Haar quoll unter einem zartblauen Stoffblumenhut mit umlaufender Krempe hervor, der gut zu ihrem hellen, leichten Sommerkleid passte. Auf dem Schoß hielt sie eine schneeweiße Handtasche mit beiden Händen fest.
Die Lokomotive, von der man drinnen kaum etwas wahrnahm, beeilte sich nicht gerade, schneller zu werden. Mila blickte in Gärten, in denen Männer jäteten, Frauen Wäsche aufhängten. Kinder jagten eine Katze. Auf der Rückseite eines Siedlungshauses hatte man die Fenster aus den Rahmen genommen. Auf dem Hof einer Fabrik stand eine Handmarie, eine Räderkarre mit einer geschlossenen Zeltliege für einen Kranken. Vielleicht hatte es einen Arbeitsunfall gegeben. Eine Gruppe Arbeiter mit grauen Schürzen umringten zwei Männer in langen weißen Kitteln, die sich über jemanden am Boden beugten. Das Bild verschwand hinter einer hohen Fliederhecke. Es folgten eine Scheune, ein pechschwarzer Tümpel, ein Gehege mit Ziegen, neue Häuser, ein Bahnübergang mit militärisch grüßendem Schrankenwärter und wartenden Fußgängern, die Mila anblickten und aus dem Geviert des Fensters wieder verschwanden.
Mila blickte die junge Dame an. In dem Gesicht kippte die Achse der Augen ein wenig zu einer Seite, wie wenn man den Rahmen eines Gemäldes verzieht und die Leinwand Wellen schlägt. Doch es war ein hübsches, ansonsten ebenmäßiges Gesicht mit einer Haut wie Perlmutt und hellen, strahlenden Augen. Ihr Mund war ungeschminkt. Die Frau schaute auf ihre Tasche oder die Hände. Für einen Moment hatte Mila das peinliche Gefühl, sie hätte bemerkt, dass sie beobachtet wurde.
»An die Müggel?« Die Stimme der Frau klang rau, ein bisschen wie die von Rosa in der Unterprima. Rosa hatte spanische Eltern, und wenn man sie sprechen hörte, konnte man denken, sie sei ein Junge. Mila schätzte die Dame auf Mitte zwanzig, bestimmt zehn Jahre älter als sie selbst.
Sie antwortete Ja und lächelte flüchtig.
»Sie sind Schülerin, nicht wahr?«
Auch das bestätigte Mila. »Ich besuche Bekannte meiner Mutter in Köpenick.«
»Darf ich fragen, wie diese Leute heißen?«
»Timpe«, sagte Mila, verwundert über die etwas neugierige Frage.
»August und Erna Timpe? Heideweg 9? Wie klein die Welt ist!« Die Dame öffnete ihre Tasche und holte ein Täfelchen Schokolade hervor.
»Die teilen wir uns jetzt. Es schadet den Zähnen, aber das ist uns egal, oder?« Sie riss das Papier auf, brach einen Riegel ab und reichte ihn Mila. Sie nahm das Stück und sagte Danke.
»Als Kinder waren wir oft an der Müggel«, erzählte die junge Frau, während sie sich ein Taschentuch vor den Mund hielt, weil sie die Schokolade lutschte. »Tagsüber haben wir gebadet und am Abend im Feuer Kartoffeln gebacken. Später, als Onkel Schwertfeger aus England zurückkam und in der Familie das Regiment übernahm, war damit Schluss. Ho!« Sie hob die Hand mit dem Tuch ein Stück, um die Bedeutung des »Ho!« zu verstärken. »Als Kind mochte ich Onkel Schwertfeger sehr, weil er mir mit Puppen Märchen vorspielte, wenn er aus London zu Besuch kam. Leider starb seine Frau, sie war Engländerin. Er kam hierher zurück und veränderte sich immer mehr, wurde griesgrämig und streitsüchtig. Ihn interessierte nur noch sein Geld und der Klatsch und Tratsch der besseren Familien.« Sie schaute zum Fenster hinaus.
»Was die Familien in Köpenick betrifft«, fuhr sie fort. »Es sind wenige. Also die wichtigen. Gustrows, Matzners, von Galls, Zopps natürlich, vielleicht noch Scherfers … Philipsens. Mehr aber nicht.«
Mila genoss die Schokolade. Sie war unsicher, wie sie auf diesen freundlichen Überfall reagieren sollte. Timpes gehörten nicht zu den tonangebenden Familien in Köpenick. Sie musste etwas sagen. »Ich kenne die Bölsches«, sagte sie kurz entschlossen.
»O Gott, wie schrecklich!«, rief die Dame mit verstellter Stimme und schlug sich die Hand vor den Mund, nahm sie aber sofort herunter und lachte hell. »Keine Angst! Ich spiele nur die Empörung nach, mit der Sie würden rechnen müssen, wenn Sie den Namen in einem der besseren Salons … also zum Beispiel bei Frau von Gall aussprechen würden oder bei den Zopps. Die Freiherrin von Gall würde sofort ihr Glöckchen schwenken und den Diener um das Riechsalz bitten. O Gott, o Gott!«
Mila musste lachen.
»Die Bölsches also und die Timpes«, sagte die Frau mitleidig. »Na, das wird nicht leicht werden …«
»Was?«
»Eine gute Partie für Sie zu finden, mein Kind. In Köpenick oder in Friedrichshagen und Umgebung.«
Die merkwürdige Begegnung fing an, Mila Spaß zu machen.
»Ich will nicht heiraten«, stellte sie klar. »Ich möchte Ärztin werden, da hat man keine Zeit für Kinder … In so einer Männerwelt.«
Die junge Frau machte große Augen und schaute Mila prüfend an.
»Sie sind nicht wie alle, oder?«, stellte sie überraschend vertraulich fest. »Ich bin auch nicht wie alle. Meine Familie ist tonangebend, wie man so sagt. Man hat sich genau überlegt, was gut für mich ist und was nicht. Im Grunde muss ich überhaupt nicht selbst leben, die Familie lebt für mich. Sie trifft meine Entscheidungen, sie räumt meine Schwierigkeiten aus dem Weg, trägt meine Risiken, und sie lässt sich loben, wenn ich Erfolg habe. Zum Glück habe ich kaum welchen.« Sie hielt Mila wieder die Schokolade entgegen.
Auf dem Gang liefen Leute vorbei. Ein Mann schleppte einen prall gefüllten Rucksack, eine junge Mutter schob einen Jungen vor sich her, der an der Scheibe stehen blieb und Mila anblickte, bis die Mutter ihn weiterstieß.
»Ich heiße Sheena«, sagte die Dame. »Es wird wie China ausgesprochen. Mein Großvater mütterlicherseits war Brite, ich habe ihn nie kennengelernt, aber offenbar hatte er viel Einfluss auf die Namensgebung seiner Enkelkinder.«
Auch Mila sagte ihren Namen. Sie fand, dass die Frau jugendlich wirkte, dafür dass sie schon richtig erwachsen war. Am liebsten hätte sie ihr etwas Nettes gesagt. Aber das war vielleicht zu forsch einer Fremden gegenüber – auch wenn die Fremde just dieselbe Etikette missachtete. Mila bewunderte den Mut. Doch selber mutig sein ist etwas anderes.
»Meine Mutter und ich haben bei Timpes zur Untermiete gewohnt«, sagte sie, um irgendetwas zu sagen. »Da war ich noch sehr jung.«
»Im Wolkenkuckucksheim?«, rief die Frau erfreut. »Wir durften als Kinder in den Obstgarten und haben furchtbar gewütet. Onkel August hat nie geschimpft.«
Da gab es also eine überraschende Nähe zwischen ihnen. Wenn diese Sheena ebenfalls an den Müggelsee fuhr, würde man sich vielleicht einmal treffen können.
»Haben Sie gewusst, dass August Timpe, als er jünger war, ein leidenschaftlicher Flugveteran war?«, fragte Sheena. »Er hat für Otto Lilienthal gearbeitet.«
Mila schüttelte den Kopf. Allerdings kannte sie Timpes Werkstatt in einem Schuppen am Ende des Gartens. Dort hingen eine Reihe geisterhaft durchscheinende Flügelwesen an Fäden von der Holzdecke und wurden bei jedem Öffnen der Tür oder des Fensters lebendig.
»Onkel August arbeitete in Lilienthals Fabrik als Schlosser«, fuhr Sheena fort. »Eines Tages stellte sich heraus, dass er mit Holz und Stoff noch besser umgehen konnte als mit Eisen. Als Kind habe ich mir oft vorgestellt, wie wunderbar es wäre, einen Hügel hinunterzurennen, und plötzlich verliert man den Boden unter den Füßen.«
»Die absolute Freiheit«, sagte Mila und schaute zum Fenster hinaus in den Himmel, wo die Telefondrähte, die den Geleisen folgten, auf und nieder tanzten. In der Höhe drehte ein Vogel seine Kreise, ohne einen Flügelschlag zu tun.
»Wir erträumen uns dasselbe«, erwiderte Sheena. »Leider bin ich kein Junge, ich würde liebend gerne einmal fliegen.«
Mila nickte.
»Allerdings habe ich gelesen«, setzte die junge Frau hinzu, »dass sie die Aeroplane sogar für den Krieg verwenden wollen, wenn er ausbricht. Dann ist es aus mit der absoluten Freiheit. Dann werden sie sich im Himmel genauso zanken wie am Boden.«
Mila flog in Gedanken mit dem Vogel. Die Eisenbahn war eine Spielzeugeisenbahn, die Häuser waren Spielzeughäuser, die Menschen wie Ameisen und Käfer. Es gab keinen drohenden Krieg und auch keine Not in dieser Kinderwelt.
Sheena wollte weiterreden und Mila hätte ihr gerne zugehört. Aber die Tür wurde geöffnet. Ein Herr grüßte höflich und setze sich Sheena gegenüber an den Gang. Nun waren sie zu dritt. Das vertrauliche Gespräch würde gewiss nicht weitergeführt werden können, überlegte Mila. Sie würde es bedauern, die junge Frau interessierte sie immer mehr. Der Satz »Wir erträumen dasselbe« klang nach und sank immer tiefer ins Bewusstsein. Er schien so etwas wie eine Verheißung zu enthalten.
»Wenn wir beide in Köpenick sind«, sagte Sheena, als blickte sie in Milas Seele, »treffen wir uns vielleicht einmal. Ich glaube, Timpes würden sich freuen, wenn ich anklopfte.«
Mila antwortete mit gedämpfter Stimme. Sie fände es eine wunderbare Idee. Dann erzählte sie Belangloses, aus Verlegenheit. Dass die Unterprimaner des Gymnasiums schon dort seien und bestimmt schon badeten. Dass es eine große Villa am See sei, wo sie wohnten, gleich am Wasser gelegen, soweit sie wisse, von Kiefern eingefasst. Dass sie die Jungen dort besuchen werde.
»Mein Aufenthalt an der Müggel wird leider keine Sommerfrische«, entgegnete Sheena. Der Herr zündete eine Zigarette an und entfaltete eine Zeitung.
»Mir steht eine Art Gerichtsverhandlung bevor. Die Familie tagt. Manchmal sind deren Urteile und Strafen schlimmer als Zuchthaus.«
Mila horchte auf. Ihr war klar, dass dies ein Hinweis war auf etwas, das man nicht jedem erzählte. Als ob sie bereits Freundinnen wären, dabei saßen sie sich erst seit ein paar Minuten gegenüber. Ein kleines Wunder. Sie war sehr gespannt, ob dieser winzige Keim einer Freundschaft weiter wachsen würde. Der Herr blickte ein paarmal an seiner Zeitung vorbei in die Gesichter, dann aus dem Fenster, vielleicht damit es nicht aufdringlich wirkte. Er rauchte und las, raschelte mit dem Papier, schlug die Beine übereinander, räusperte sich, verzog aber keine Miene. Wenn er Sheena ansah, verweilte sein Blick einen Moment.
Mila lächelte zugewandt, immer neugieriger werdend, während Sheena weiterredete.
»Genau das werden wir tun«, sagte die Ältere. »Wir werden uns treffen. Es gibt bestimmt allerhand, das wir uns zu sagen haben.«
Vielleicht war es mit einer jungen Dame wie Sheena sogar möglich, über Fritz Wanlo zu sprechen. Von Frau zu Frau. Über das Schweigen der Jungs im Allgemeinen. Womöglich hatte sie ähnliche Erfahrungen mit Männern gemacht. Jedenfalls würden ihnen die Themen gewiss nicht ausgehen, vor allem die privaten oder gar intimen nicht, wie es schien, auch wenn es verpönt war, über so etwas zu reden. Wo gerade das im Herzen brannte! Wie schön wäre es, eine Vertraute zu haben, der man intime Dinge sagen könnte. Wie sehr sie, Mila, sich nach Fritzens Händen sehnte und dass sie nicht einmal den Mut hatte, es ganz und gar vor sich selbst einzugestehen. Denn dazu gehörte auch die Vorstellung, wie seine Hände sie berührten, oder dass sie die Hoffnung hatte, Fritz dort in Friedrichshagen bei einem Spaziergang einmal richtig zu küssen, so wie man es sich erzählt und es eigentlich ziemlich ekelig wäre …
»Meine Familie ist sehr klein«, sagte Mila. »Sie besteht nur aus meiner Mutter und mir selbst.« Darin war die Frage nach dem Vater quasi enthalten, aber Sheena würde sie in Gegenwart des Herrn nicht stellen. Also gab Mila die Antwort nach einer winzigen Pause selbst: »Mein Papa ist verstorben, als ich sehr klein war.« Und sie hatte sogar große Lust hinzuzufügen, dass ihre Eltern sich sehr geliebt hatten. Natürlich sagte man so etwas nicht laut, wenn man nicht unter sich war.
»Bestimmt hatten sie sich sehr lieb, Ihre Eltern«, bemerkte Sheena. Mila wäre beinah ein kleiner Überraschungsschrei herausgerutscht. Sie konnte sich gerade noch zusammennehmen. Der Herr blickte an der Zeitung vorbei Sheena an und ließ die Zigarettenasche auf den Boden fallen. In seinem Gesicht war kein Ausdruck zu erkennen.
Sheena beachtete ihn nicht. »Ich glaube«, sagte sie, »zwischen meinen Eltern hat es so etwas wie Liebe nie gegeben. Sie reden nur über Geld, und ehrlich gesagt, es ist genug da, um daraus ein Jahrhundertthema zu machen.« Sie lachte hell. Es klang strahlend oder funkelnd, fand Mila, ganz anders als vorhin. Ein so schönes Lachen hatte sie schon lange nicht mehr gehört, nicht mal auf dem Hof des Lyzeums, wenn sie mit ihren Freundinnen zusammenstand.
»Liebe ist nicht berechenbar«, fuhr Sheena fort. »Sie kommt und geht, wie sie will. Für uns Frauen ist sie etwas ganz anderes als für die Männerwelt …« Sie gab dem ungewöhnlichen Wort, das Mila vorhin gesagt hatte, eine besondere Betonung und streifte den Blick des Zeitungslesers. Mila fühlte einen kalten Schreck über ihren Rücken huschen. Der Mann ließ die Zeitung sinken, aber Sheena hatte sich schon wieder ihr zugewandt. Das Papier raschelte, der Zug rumpelte, die Welt draußen zog ruhelos vorüber. Der Herr machte mit seiner Stimme ein hässliches Geräusch, es war kein Räuspern.
»Sobald es um Geld geht, fühlen meine Eltern sogar etwas, glaube ich. Jedenfalls sagen sie es. Als ich meinen ersten Verlobten ins Haus brachte … wir hatten uns eigenmächtig verlobt und er war ein bettelarmer Kerl … meinte meine Mutter, sie habe ein ungutes Gefühl bei ihm. Ich glaube, es war das erste Mal, dass sie das Wort ›Gefühl‹ in meiner Gegenwart auch nur aussprach.« Wieder ihr klangvolles Lachen, das nicht zur Dunkelheit dessen passte, was sie erzählte. Sie nahm keinerlei Rücksicht auf den rauchenden Herrn.
»Wenn mein Vater eine seiner neu erbauten Mietskasernen von der Polizei räumen lässt, weil die Trockenwohner nicht rechtzeitig ausgezogen sind, pflegt er zu sagen: Jetzt fühle ich mich besser. Da sind also Gefühle. Niemand soll sagen, Menschen wie er hätten kein Herz …«
Mila zog ihr Lächeln ein wie eine Schnecke die Fühlhörnchen, wenn man sie berührt. Sie fragte sich, ob Sheena den Zeitungsleser provozieren wollte oder ob sie nur eine finstere Freude an solch bitterer Ironie empfand. Sie nahm das letzte Stück Schokolade und dankte ihr.
»Sie lieben Ihre Mama von Herzen, Mila, davon bin ich überzeugt. Bei uns liebt man Wertpapiere, Dividenden, Mieteinkünfte und Zinserträge. Solche Dinge lassen die Herzen höher schlagen und rauben zuweilen sogar den Atem, so wie andere Menschen ergriffen sind, wenn sie das Selbstporträt Albrecht Dürers sehen oder die Eucharistie erfahren.«
Sheena erzählte weiter. Noch einmal von ihrem »Märchenonkel« Schwertfeger, der seinem martialischen Namen alle Ehre mache, wenn es Krieg gebe. Zum Glück müsse sie, Sheena, nicht seinen Namen tragen, denn der Onkel sei ein Bruder ihrer Mutter. »Er und mein Vater verdienen ihr Geld mit Stahl, sie reden ganz offen von der Hoffnung auf einen Krieg, damit Maschinen, Waffen und Fahrzeuge verkauft und verwendet werden. Sie sagen tatsächlich verwenden«, wiederholte sie empört. Ihre Stimme hatte einen überraschend scharfen Klang angenommen. »Verwenden!«
Mila hielt den Herrn im Auge. Er warf die Zigarette auf den Boden und zertrat sie. Die Zeitung hatte er so weit aufgeschlagen, dass Mila auf einen Bericht über ein furchtbares Flugunglück blickte, das vor ein paar Tagen in Wien geschehen war. Dort war ein Aeroplan in 400 Meter Höhe in ein Luftschiff geflogen. Neun Menschen waren zu Tode gekommen.
»Sie hoffen auf den Krieg, weil er ihnen Geld einbringt. Das ist meine Familie. Und diese Leute führen nun einen Prozess gegen mich! Nein, nicht vor einem ordentlichen Gericht, sondern vor dem Familiengericht, das ist viel schlimmer.«
Mila riss sich von dem Zeitungsartikel los.
»Ach, Mila, Sie werden sich fragen, wieso ich Ihnen diese Intimitäten erzähle, noch dazu in Gegenwart eines Fremden, der uns noch unbekannter ist, als wir uns beide sind.« Ihre Stimme war wieder normal, vielleicht ein wenig außer Atem.
»Ich kann nur bitten, dass dieser Zeuge die Größe hat, das Gesagte zu überhören. Meine Familie wird mir den Prozess machen. Man ist der Auffassung, dass ich sittlich nicht in ihren Kreis gehöre. Man wird mich womöglich ausstoßen aus der Gemeinschaft wie Effi Briest …« Nun lachte sie wieder ihr klingendes Lachen und Mila freute sich. Sheena beugte sich zu ihr vor, als könne sie damit vermeiden, dass der Herr alles mitbekam.
»Zugrundegehen wie die arme Effi werde ich allerdings nicht«, flüsterte sie laut. »Um was es dort geht, das erzähle ich Ihnen später, liebe Mila, das geht hier nun wirklich nicht. Ich kann auch jetzt nur hoffen, dass unser Zeuge es mir nachsieht, wenn ich an diesem Punkt der Unterhaltung das Gold des Schweigens wähle.«
Der Herr stülpte die Unterlippe vor, es sah nicht gewinnend aus. Mila fürchtete einen Moment, er würde lospoltern. Aber er verzog nur den Mund.
Der Zug wurde langsamer. Ein Schaffner öffnete die Tür des Abteils und verlangte nach den Fahrkarten, die er mit seiner Lochzange entwertete. Der Herr musste keine herzeigen. Es stellte sich heraus, dass sie einander kannten, vielleicht weil der Fahrgast die Strecke nach Köpenick regelmäßig fuhr. Man nahm sofort eine irgendwann begonnene Unterhaltung wieder auf, wobei sichtbar wurde, dass der Herr vergoldete Schneidezähne hatte, so wie sie im Morgenland oder im Levantinischen gerne hergezeigt wurden. Seine Stimme war ungewöhnlich hoch, als er sagte: »Der Herr Offizier hat mir versichert, dass er meinen Neffen auf die oberste Liste der Kadettenanstalt setzen lassen werde. Aber der Schlingel will partout zu den Goldglänzenden, den Gardekürassieren, was ich ihm nicht verüble, aber es können nun mal nicht alle hin, nicht wahr?«
Der Zug bremste. Sheena blickte aus dem Fenster und flüsterte, unverständlich. Man konnte glauben, draußen flöge ein Gespenst mit. Mila machte eine verwunderte Miene. Die Ältere bemerkte es und fragte: »Sehen Sie es auch, Mila? Welche Färbung der Himmel jetzt annimmt? Ich mache mir wirklich Sorgen wegen des Kriegs, von dem alle Welt spricht. Darf ich Ihnen ein kleines Gedicht aufsagen, das ich neulich gelesen habe?«
Mila war sehr einverstanden.
»Noch schläft der Krieg und träumt von tausendfacher Not. Doch nur die Zeit, bis er sich aus den blut’gen Federn wälzt. Schon morgen wetzt er wieder seine Klingen und erntet Sieg um Sieg, die aber keines Menschen Freude wecken. Denn siegen wird auch diesmal nur der tausendfache Tod.«
Der Herr mit der Zeitung und der Kondukteur wechselten Blicke. Der Schaffner sagte: »Ja, meine Dame, die Feinde des Reichs werden eine grausame Lektion lernen. Man will uns in die Knie zwingen, aber wir werden uns zu wehren wissen.« Er sah den Herrn mit den goldenen Zähnen triumphierend an. »Es mögen so viele Feinde sein, wie es wollen. Wir werden sie vernichten.« Damit grüßte er halb militärisch und verschwand im Gang.
»Haben Sie bitte keine Angst«, setzte der Herr hinzu und sah dabei Sheena an. »Wenn dieser Krieg kommt, wird er nur ein paar Wochen dauern, glauben Sie mir! Und ich bin stolz, dass es bei uns Frauen gibt wie Sie, selbstbewusst und mit einem Schneid, wie er jedem Kerl gut zu Gesicht stünde.«
Er stand auf, schlug ebenfalls die Hacken zusammen und folgte dem Kondukteur zur Waggonplattform. Der Zug fuhr in den Bahnhof von Köpenick ein. Beide Frauen waren ziemlich sprachlos und zeigten es in ihren Mienen.
»Ich fahre weiter bis Friedrichshagen«, erklärte Sheena, als Mila aufstand und ihren Korbkoffer aus dem Netz hob. »Bitte, grüßen Sie Timpes von mir … Und Mila, ich werde mich melden. Sie hören von mir, sobald das Schlimmste vorüber ist.«
Das Menetekel
Fritz Wanlo war sicher: Mit Janota stimmte etwas nicht. Der Lehrer war ihm schon gestern in der Klasse verändert erschienen. Noch gereizter als sonst. Irgendwie ließ das alles nichts Gutes ahnen. Abgesehen davon, dass der »Diktator« sowieso seltsam war – wenn er zum Beispiel eine seiner »Kaiserreden« hielt und zwischen den wenigen nützlichen Menschen und den »Millionen Räderwerken« unterschied. Erziehung müsse zwei Ziele haben: den Respekt vor den »Helden und Nützlingen« und den »Fleiß der Millionen Räderwerke«. Er redete und redete und redete – mit einer Stimme, die so durchdringend war, dass auch schon mal Kollegen aus den Nachbarklassen an die Zimmertür klopften und fragten, was los sei. Oberlehrer Janota schwieg empört und wartete mit glühendem Gesicht, dass die Tür wieder zugemacht wurde. Dann predigte, schimpfte und spuckte er weiter. Der Mann war Sprengstoff.
Jetzt stand dieser kleine, rundliche, auf den ersten Blick harmlos wirkende Oberlehrer auf dem Bahnhof von Friedrichshagen und deutete auf die fauchende Lokomotive. Die Klasse stand versammelt da, und jeder wusste, dass sie nicht sofort zur Villa an den See gehen würden, sondern dass eine der Reden begonnen hatte – zum falschen Zeitpunkt allerdings, jetzt, am Beginn der Sommerfrische. Janotas käsiger Teint stach vor dem schwarzen Dampfkoloss todbleich hervor. Sein jüngerer Kollege Leibhold, der Ordinarius der Klasse, stand mitten unter den Schülern und verzog nicht mal den Mund. Was sollte er auch tun? Am besten, man ließ sich nichts anmerken, man wusste nie, zu was Janota fähig war, wenn man ihn reizte. Fritz biss sich auf die Lippen. Schließlich wusste er, dass es höchstgefährliche Gesichtsmuskeln gab. Etwa die, mit denen man grinst. So etwas konnte schnell ein »Todesurteil« nach sich ziehen.
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