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Ein Blick in die Programme von Verlagen, Fernsehsendern und Filmanbietern zeigt, dass es kein populäreres Genre gibt als den Krimi. Allein von Agatha Christies Romanen wurden über zwei Milliarden Exemplare verkauft. Die Figur Sherlock Holmes gehört zu den frühesten Film- und Serienhelden und am Anfang der modernen Krimiliteratur stehen Erzählungen nicht nur von Edgar Allan Poe, sondern auch von Friedrich Schiller und E.T.A. Hoffmann. Erstmals wird der Versuch gewagt, an exemplarischen Beispielen aus Literatur, Film und Serie in den ‚ganzen‘ Krimi einzuführen – in Merkmale, Geschichte und Entwicklung. Die englischsprachige Krimitradition wird in die Darstellung mit einbezogen. Bisher hat sich die Forschung selten mit dem als trivial geltenden Genre beschäftigt. Ein genauerer Blick zeigt aber, dass der Krimi genauso anspruchsvolle Beispiele bereithält wie andere Genres.
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Stefan Neuhaus
Der Krimi in Literatur, Film und Serie
Eine Einführung
Narr Francke Attempto Verlag Tübingen
Umschlagabbildung: Silhouette von Basil Rathbone als Sherlock Holmes.
Quelle: By Rumensz – Own work, CC0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=30967870
Prof. Dr. Dr. h.c. Stefan Neuhaus ist Inhaber des Lehrstuhls für Neuere deutsche Literatur an der Universität Koblenz-Landau, Campus Koblenz.
© Henriette Kriese
© 2021 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG
Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen
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Internet: www.narr.de
eMail: [email protected]
Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart
ISBN 978-3-8252-5556-5 (Print)
ISBN 978-3-8463-5556-5 (ePub)
Ein Blick in die Programme von Verlagen, Fernsehsendern und Filmanbietern legt die Vermutung nahe, dass es kein populäreres Genre gibt als den Krimi. Stellvertretend für viele sei auf zwei Superlative hingewiesen: „Nur von ShakespeareShakespeare, Williams Werken und von der Bibel sind mehr Exemplare verkauft worden als von [Agatha] ChristieChristie, Agathas Romanen, inzwischen über zwei Milliarden“ (Hamann 2016, 26). Nach den Romanen und Erzählungen setzten Filme und Serien die Erfolgsgeschichte fort. Für die Erstausstrahlung der Francis-DurbridgeDurbridge, Francis-Verfilmung Das HalstuchDas Halstuch als sechsteiliges Fernsehspiel im Januar 1962 wurde die sensationelle Einschaltquote von 89 Prozent ermittelt.
Einführungen in die Kriminalliteratur gibt es bereits (v.a. Vogt 1971; Vogt 1998; Nusser 2009), ein Handbuch von 2018 dokumentiert den Forschungsstand (Düwell u.a. 2018). Ebenso hat der Kriminalfilm in seinen verschiedenen Ausprägungen immer wieder Beachtung erfahren (Hickethier 2005; Grob 2012; Koebner/Wulff 2013). Dazu kommen Studien zu Subgenres und besonderen Themen (z.B. Föcking/Böger 2012; Hißnauer u.a. 2014). Allerdings ist das Feld der grundlegenden Handreichungen immer noch übersichtlich, wenn man sie mit dem Erfolg des Genres vergleicht.
Der wichtigste Grund dürfte sein, dass die Popularität des Genres als Zeichen schneller Konsumierbarkeit und somit als Beleg für seine Trivialität gewertet wird (vgl. z.B. Alewyn 1998, 52; Wörtche 2007, 344; Nusser 2009, 11; Worthington 2011, 1). Mit anderen Worten: Wenn etwas so einfach gestrickt ist wie ein Krimi, dann lohnt sich keine (literatur- oder kultur-)wissenschaftliche Auseinandersetzung (es sei denn, man blickt auf das Genre als Kulturbetriebsphänomen). Dieses Urteil ist allerdings ein Vor-Urteil. So hat beispielsweise Josef HoffmannHoffmann, Josef in seiner Studie Philosophien der KriminalliteraturPhilosophien der Kriminalliteratur versucht, die „Entstehung der Kriminalliteratur aus dem Geist der westlichen Philosophie“ zu erklären (Hoffmann 2013, 41). Auch andere Genres waren oder sind populär und auch hier ist der größere Teil stets eher der Unterhaltung gewidmet. Das heißt aber nicht, dass es nicht einen Anteil an herausragenden, innovativen und im Wortsinn bemerkenswerten Beispielen gibt, die eine genauere Betrachtung geradezu herausfordern. GoethesGoethe, Johann Wolfgang vonDie Leiden des jungen WertherDie Leiden des jungen Werther und Die WahlverwandtschaftenDie Wahlverwandtschaften sind frühe Beispiele für Liebesromane – aber doch wohl keineswegs trivial.
Die bisherigen Studien, Sammelbände und Nachschlagewerke können keinen historischen Überblick über den ‚ganzen‘ Krimi geben, obwohl beeindruckende Versuche vorliegen (vgl. z.B. Arnold/Schmidt 1978 u. Walter 2002). Der vorliegenden Einführung kann und wird es ebenfalls nicht gelingen, alle Medien und Aspekte abzudecken und das allein für den „Kriminalroman“ festgestellte „erhebliche[s] Forschungsdesiderat“ zu beheben (Wörtche 2007, 345). Dennoch soll erstmals der Versuch gewagt werden, den Krimi in Literatur, Film und Serie gemeinsam beispielhaft zu beleuchten. Auch das kann natürlich nur sehr selektiv geschehen, und dies bereits, wenn es um die Einbeziehung anderer kultureller Traditionen geht. Die im deutschsprachigen Raum besonders populäre US-amerikanische und britische Krimi-Tradition soll in die Darstellung mit einbezogen werden.
Die Ausdifferenzierung des Genres hat zu einer segmentierten Betrachtung verschiedener Subgenres geführt, die allerdings in ihrer idealtypischen Ausprägung nur selten vorkommen. Wie soll man sinnvoll eine Kriminalerzählung von einer Detektivgeschichte oder einem Thriller abgrenzen? Die Handlung entwickelt sich äußerst selten entweder retrospektiv-analytisch oder in die Zukunft gerichtet, in den meisten Fällen findet man eine Mischung von beidem vor. Und wohin gehören beispielsweise die Spionageerzählung oder der Spionagefilm? James BondJames Bond jagt in der Regel nicht politisch motivierte Verbrecher, sondern Kriminelle, die den Globus in Geiselhaft nehmen.
Kriminelle Handlungen sind in Literatur und Film ohnehin an der Tagesordnung. Letztlich kann nur das gewählte Analyseraster offengelegt und dann am Einzelbeispiel diskutiert werden, welches Thema überwiegt: Die Krimihandlung oder die Liebe zwischen den Protagonisten, selbst wenn gewalttätiges Verhalten eine große Rolle spielt, oder ein politisches Thema wie Rassismus, auch wenn Polizei und Gerichtsverfahren einen breiten Raum einnehmen. Ist also Harper LeeLee, Harpers To Kill a MockingbirdTo Kill a Mockingbird (Wer die Nachtigall stört) von 1960, ein moderner Klassiker der US-amerikanischen Literatur, nun ein Krimi? Wie steht es mit der Verfilmung von 1962 unter der Regie von Robert MulliganMulligan, Robert, die drei Oscars bekam und als einer der besten amerikanischen Filme überhaupt gilt? (AFI’S 100 Years 2019). Gregory PeckPeck, Gregory spielt die Hauptrolle, einen Anwalt, der einen Farbigen verteidigt, wobei der Plot als allegorische Anklage des alltäglichen Rassismus in den USA angelegt ist. Handelt es sich nun bei Buch und Film um Krimis?
Offenbar ja, denn es sind gleich mehrere Merkmale des Krimis zu finden – ein (angebliches) Verbrechen, Polizeiarbeit, eine Gerichtsverhandlung und am Ende noch versuchter Mord mit Notwehr. Andererseits zögert man, auch weil der Begriff des Krimis in der Praxis seiner Verwendung so weit herabgesunken ist, dass er vor allem die populären Ausprägungen des Genres meint. Deshalb ist beispielsweise Tatort-Kommissar Felix Murot, gespielt von Ulrich Tukur, so umstritten. Vor allem jene, die Entspannung durch Spannung suchen und erwarten, dass gängige Muster des Genres bedient werden, fühlen sich überfordert. Angriff auf Wache 08Angriff auf Wache 08 von 2019 beispielsweise (Regie Thomas StuberStuber, Thomas, mit ihm gemeinsam schrieb Schriftsteller Clemens MeyerMeyer, Clemens das Drehbuch) hatte am 24.08.2019 Premiere auf dem Festival des deutschen Films – unüblich für eine Fernsehproduktion (Angriff auf Wache 08 2019).
Die grundlegenden Fragen danach, was das Genre ausmacht, sind alles andere als neu. Ein Beispiel für die Wirkmacht von Tradierungen: Für die Forschung steht offenbar fest, dass das Genre mit Edgar Allan PoePoe, Edgar Allans Murders in The Rue MorgueMurders in The Rue Morgue (Die Morde in der Rue Morgue) beginnt (vgl. z.B. Scaggs 2005, 7; Düwell 2018, 286), obwohl in der deutschsprachigen Literatur bereits mit Friedrich SchillerSchiller, Friedrichs Der Verbrecher aus verlorener EhreDer Verbrecher aus verlorener Ehre eine bahnbrechende und zentrale Kriminalerzählung vorliegt und mit E.T.A. HoffmannHoffmann, E.T.A.s Das Fräulein von ScuderiDas Fräulein von Scuderi wenige Jahrzehnte später eine Detektiverzählung (vgl. Bloch 1998, 40), die modern genug ist, um beispielsweise von ihr eine Brücke zu den Romanen um den Detektiv Brenner von Wolf HaasHaas, Wolf zu schlagen (zu möglichen weiteren Beispielen vgl. die Auswahl in Hamann 2016).
Dass es sich um eine international konventionalisierte Genregeschichte handelt, macht die, wenn auch in jüngerer Zeit monierte (z.B. Beck 2014, 33), Brüchigkeit der Argumentation nicht plausibler. So beginnt Richard Bradfords außerordentlich kundige Einführung in das Genre mit dem Hinweis auf Vorläufer wie SophoklesSophokles’ König ÖdipusKönig Ödipus, HerodotHerodots Rhampsinit und der MeisterdiebRhampsinit und der Meisterdieb oder ShakespeareShakespeare, Williams HamletHamlet (Bradford 2015, 1), wobei es sich hier auch um Dramen handelt.
Reclams Kriminalromanführer verortet „die anscheinend erste Detektivgeschichte der Weltliteratur“ 1679 in China und spart die englische gothic novel des 18. Jahrhunderts nicht aus (vgl. Arnold/Schmidt 1978, 43). In einer Liste der ‚hundert lesenswerten Krimis‘ kommen allerdings weder Schillers noch HoffmannHoffmann, E.T.A.s Erzählungen vor, ebenso fehlt FontaneFontane, Theodors Unterm BirnbaumUnterm Birnbaum. Dafür finden sich ganze neun Titel von Sir Arthur Conan DoyleConan Doyle, Arthur, aber nur zwei von Agatha ChristieChristie, Agatha (vgl. Arnold/Schmidt 1978, 403ff.), die (wie eingangs festgestellt) mehr Kriminalromane verkauft hat als jede*r andere Krimiautor*in. Folgende Schlussfolgerung liegt nahe: Jede Auswahl in einer Einführung kann nur eine sehr subjektive sein.
Bradford erwähnt SchillerSchiller, Friedrichs Verbrecher aus verlorener EhreDer Verbrecher aus verlorener Ehre und E.T.A. HoffmannHoffmann, E.T.A.s Das Fräulein von ScuderiDas Fräulein von Scuderi (Bradford 2015, 70f.), er betont sogar die wegweisenden Merkmale einer Psychologie des Verbrechens einerseits und der Entstehung der Figur einer Amateurdetektivin andererseits. Dennoch ist für ihn Edgar Allan PoePoe, Edgar Allans Figur Auguste Dupin der Prototyp des Detektivs, er ist sogar ‚Patriarch einer Nachkommenschaft von Holmes, Poirot, Miss Marple, Maigret‘ und den anderen bekannten Detektivfiguren (Bradford 2015, 7), und dies lediglich aufgrund eines Merkmals – der schlüssigen, auf Logik basierenden Detektion.
Dieses Merkmal wird aber nur für die schematisch ablaufenden Detektiverzählungen gelten. Es wird zu einem Merkmal trivialer Literatur. HoffmannHoffmann, E.T.A.s Das Fräulein von ScuderiDas Fräulein von Scuderi konterkariert es bereits, bevor es entsteht, und dies nicht zufällig als Reaktion auf die Defizite des Rationalismus der Aufklärung. Auch spätere Autoren wie Wolf HaasHaas, Wolf mit seiner Figur des Detektivs Simon Brenner werden sich nicht daran halten. Sogar PoePoe, Edgar Allans Erzählung bekommt durch die Figur des Täters – einen Affen – eine sehr untypische Note (Bradford 2015, 9).
Wie konnte es so weit kommen, weitgehend unwidersprochen PoePoe, Edgar Allan zum „,father‘ of the detective genre“ (Scaggs 2005, 7) zu erklären und ihn als Vater der rationalistischen Kriminalerzählung zu feiern? Auch darüber gibt Bradfords Einführung Auskunft, wenn er auf den Systematisierungsversuch von Tzvetan TodorovTodorov, Tzvetan verweist (die von 1966 stammende Typologie des Kriminalromans ist auch abgedruckt in Vogt 1998, 208-215). Doch bereits mit der Feststellung „Der Kriminalroman hat seine Normen“ und mit der Zuordnung des Krimis zur „Massenliteratur“ (ebd., S. 209) markiert Todorov deutlich, dass er eine bestimmte Ausprägung dessen meint, was allgemein in der Literaturwissenschaft unter Krimi verstanden wird.
Einige Systematisierungsversuche – Todorovs zählt zu den besonders populär gewordenen – haben das Bild eines Genres gezeichnet, das bei näherem Hinsehen deutlich an Kontur verliert. Einige wichtige Ansätze für mögliche Weiterungen gibt es bereits, etwa den Versuch, eine Geschichte der „Kriminalfallgeschichten“ an Beispielen aus den letzten vier Jahrhunderten zu schreiben (Košenina 2014). Mit der vorliegenden Einführung soll nun ein weiterer Versuch einer solchen Ausweitung des Blicks gewagt werden, und das hoffentlich, ohne den Fokus zu verlieren.
Die bisherigen Versuche der Genrebeschreibung zeigen, dass man der heterogenen Thematisierung von Verbrechen in der fiktionalen Prosa-Literatur (auf die sich so gut wie alle Genrebeschreibungen beschränken) eine Systematik aufgezwungen hat, die deutliche Limitierungen hat und nur funktioniert, wenn man sich auf einige wenige stereotype Merkmale konzentriert – die dann vor allem zu Merkmalen trivialer Literatur über Verbrechen werden. Von prototypischen, bereits in den Anfängen hybriden Beispielen ausgehend soll daher überlegt werden, welche Themen und Merkmale jeweils welche Geltung beanspruchen, um so zu einer stärker auf die literarische und filmische Praxis bezogenen Beschreibung des Genres zu gelangen.
Dabei wird die Frage nicht unwichtig sein, welche Krimis aus welchen Gründen zu den herausragenden Beispielen ihres Genres gezählt werden können. Um beurteilen zu können, ob ein Text, ein Film oder eine Serie als besonders gelungen angesehen werden kann, sind aber zunächst die genrespezifischen Merkmale zu ermitteln: Welche Diskurse von Gerechtigkeit werden so präsentiert, dass sie beispielsweise als (sozialgeschichtlich bzw. gegenwärtig) relevant angesehen werden können? Wie ist das Verhältnis der außertextuellen Auffassung von Gerechtigkeit und der poetischen Gerechtigkeit des Texts? Welche Rolle spielen Emotionen textintern wie textextern, also einerseits für das Verhalten der Figuren und andererseits für die Rezeptionssituation? In welcher Weise und aus welchen Gründen werden bestimmte Figuren oder Handlungen als ‚gut‘ oder ‚böse‘ markiert?
Ob es sich bei Krimis um – nach einer Unterscheidung des Soziologen Niklas LuhmannLuhmann, Niklas – Kitsch, Kunsthandwerk oder Kunst handelt (Luhmann 1997, 300ff.), lässt sich so zwar ermitteln, aber natürlich nicht verbindlich festschreiben. Erstens sind die Kriterien der Beurteilung historisch und kulturell variabel und zweitens ist es jeder und jedem selbst überlassen, was sie oder er aus welchen Gründen rezipiert. Allerdings kann es niemandem, die oder der sich für das Genre interessiert, schaden, sich darüber zu informieren, welche besonderen Qualitäten Krimis aus Sicht einer fachwissenschaftlichen Beurteilung haben oder eben nicht haben. Immerhin sind Bücher geistige Nahrung und der Nahrungsaufnahme sollte zumindest eine Einschätzung der Qualität des Essens und vielleicht sogar seiner Risiken und Nebenwirkungen vorausgehen. Ein wichtiges Ziel dieser Einführung ist es daher auch, den professionelleren Blick auf Krimis zu schulen, so dass die Leserinnen und Leser nach der Lektüre dieses Buches besser dazu in der Lage sind zu entscheiden, welche Krimis sich für sie persönlich lohnen – zur Unterhaltung wie zur Vermittlung etwa in der Schule.
Bei aller Kritik an der bisherigen Systematik wird es schwierig sein, aus dem Stand eine neue Systematik zu entwickeln, die geeigneter ist als die alte, erst recht in einer Einführung. Daher soll die Grobstruktur die bisher üblichen Begriffe zwar zum Teil übernehmen, es soll in der Argumentation aber auch immer diskutiert werden, welche Limitierungen die Einordnung der jeweiligen Beispiele in eine solche ‚Schublade‘ hat.
Der Begriff der ‚Erzählung‘ soll nicht nur literarische Texte, sondern auch Filme und Serienfolgen umfassen. Die Kriminalerzählungen sind die allgemeinste Kategorie – also ohne eines der Merkmale, die für die folgenden Kategoriebildungen zentral sind (und wohl am nächsten an der oft so genannten ‚Verbrechensliteratur‘). In den Detektiverzählungen steht, wenig überraschend, eine Detektivfigur im Mittelpunkt, allerdings kann dies ein Polizei- oder ein Privatdetektiv sein – oder beides. Oftmals werden dann beide, Privatdetektiv und Polizist, als antagonistische Ermittlerfiguren eingeführt – man denke an Inspector Lestrade in den Sherlock-Holmes-Erzählungen und deren Adaptionen. Es gibt aber auch genügend Beispiele für Helferfiguren – so hat Detektiv Jim Rockford in den Rockford FilesRockford Files (Detektiv Rockford – Anruf genügt), 1974-80 gespielt von James GarnerGarner, James, einen Freund bei der Polizei. Ebenfalls kann ein Anwalt oder ein Richter oder ein Gerichtsmediziner Ermittler*in sein – solche Sonderfälle können hier nur erwähnt werden.
Thriller ist zu einem Sammelbegriff geworden für alle Erzählungen, die vorrangig auf Handlungsspannung setzen – daher werden Eingrenzungen unvermeidlich sein. Auf den Sonderfall Spionageerzählungen soll an dem prototypischen Beispiel James BondJames Bond kurz eingegangen werden. Spione sind im Auftrag von Regierungen international handelnde Figuren, die Verbrechen aufzuklären oder zu verhindern suchen oder auch selbst begehen. Komödien und Parodien nutzen Merkmale der genannten Subgenres, auch hier ist das Spektrum viel größer, als dies zu zeigen möglich sein wird. Es reicht von mit Humor erzählten Krimis über Genreparodien bis hin zu satirisch-kritischen Funktionalisierungen von Krimimerkmalen.
Zu Serien müsste eigentlich (mindestens) eine eigene Einführung geschrieben werden. Sie sind außerordentlich populär und auch wenn sie seit der Etablierung von Streaming-Kanälen in den 2010er Jahren noch einmal mehr zu boomen scheinen, so haben sie schon viel früher ein breites Publikum angezogen. Dies betrifft sowohl Miniserien wie scheinbar endlose Fortsetzungen in Staffeln mit zahlreichen Folgen, etwa von 1972-77 die erfolgreichen The Streets of San FranciscoThe Streets of San Francisco (Die Straßen von San Francisco) mit 120 Folgen in fünf Staffeln; durch sie wurde Michael DouglasDouglas, Michael zum Star. Auch Beispiele aus Deutschland ließen sich hier nennen, so wurden von Der KommissarDer Kommissar mit Erik OdeOde, Erik in den Jahren 1968-75 immerhin 97 Folgen produziert. Der internationale Verkaufsschlager DerrickDerrick mit Horst TappertTappert, Horst in der Titelrolle brachte es sogar von 1974-98 auf 281 Folgen in 25 Staffeln. Die österreichische Serie Kottan ermitteltKottan ermittelt, die von 1976-84 in sechs Staffeln auf 19 Folgen kam, gilt als eine der besten deutschsprachigen Genreparodien.
Nur angesprochen werden kann, dass es wichtige Überschneidungen zu anderen Genres und Gattungen gibt, etwa zum Drama und zur Lyrik. Das Spektrum reicht von hochkanonisierten Texten wie Heinrich von KleistKleist, Heinrich vons Gerichtsdrama und Komödie Der zerbrochne KrugDer zerbrochne Krug (1828) oder populären Gerichtsdramen wie HokuspokusHokuspokus von Curt GoetzGoetz, Curt (Urfassung 1828) mit den entsprechenden Verfilmungen bis hin zu Kriminalhandlungen auf der Bühne wie in dem wohl größten Bühnenerfolg aller Zeiten, Agatha ChristiesChristie, AgathaMouse TrapMouse Trap (dt. Die Mausefalle), ein Stück, das seit dem Uraufführungsjahr 1952 bis zur durch das Corona-Virus bedingten Schließung der Theater 2020 täglich im Londoner West-End aufgeführt wurde. Auch in der Ballade finden sich oft Kriminalhandlungen. In Friedrich SchillerSchiller, Friedrichs Die Kraniche des IbykusDie Kraniche des Ibykus (1797) beispielsweise geht es um die Ermordung des Dichters Ibykus (Ibykos) durch Räuber, die sich später selbst entlarven. Frank WedekindWedekind, Franks satirisches Gedicht Der TantenmörderDer Tantenmörder (1902) handelt von einem jungen Mann, der sich für den Mord an seiner Tante aus Habgier vor einem Gericht rechtfertigt, und in Erich KästnerKästner, Erichs Die Ballade vom NachahmungstriebDie Ballade vom Nachahmungstrieb (1931/32) wird aus Spiel Ernst, wenn ein Kind von anderen verurteilt und hingerichtet wird.
Texte wie die beiden letztgenannten stehen in der Tradition der Moritat, einer Variante des Bänkelsangs, die vor allem im ausgehenden Mittelalter und in der Frühen Neuzeit von fahrenden Sängern gepflegt wurde. Bertolt BrechtBrecht, Bertolts DreigroschenopeDreigroschenoperr (1928) handelt nicht nur von Verbrechern und ihren Untaten; aus dem Drama stammt auch die berühmte Moritat von Mackie MesserMoritat von Mackie Messer, die von zahlreichen berühmten Sänger*innen adaptiert wurde (Louis ArmstrongArmstrong, Louis, Hildegard KnefKnef, Hildegard, Frank SinatraSinatra, Frank, Eartha KittKitt, Eartha, Robbie WilliamsWilliams, Robbie u.v.m.).
Auch innerhalb der fiktionalen Prosa-Literatur gibt es zahlreiche Überschneidungen, als Beispiel sei nur auf das Horror-Genre hingewiesen. Horrorerzählungen und -filme haben in der Regel mit Straftaten zu tun, so handelt Stephen KingKing, Stephens Roman ItIt (dt. Es) von 1986, ebenso wie seine nicht weniger populären Verfilmungen, von einem als Clown auftretenden Monster, das Kinder ermordet. Der sage und schreibe bereits 22. Roman des Autors hat zugleich Fantasy-Elemente; anders als andere Horrorproduktionen wie etwa, um ein Filmbeispiel zu nennen, Alfred HitchcockHitchcock, Alfreds PsychoPsycho von 1960. Darin geht es eigentlich um einen jungen Mann, der aus einem ödipalen Persönlichkeitskonflikt zum Mörder wird. Komödien wie Hot FuzzHot Fuzz (2007; Regie Edgar WrightWright, Edgar) arbeiten mit Krimi-, Thriller- und Horrorelementen.
Die Konzentration auf Prosaliteratur und Film (Spielfilme, Serien) und auf einige wenige Merkmale, die sich vor allem an der ‚Profession‘ – Ermittler oder Täter – der im Mittelpunkt stehenden Figur(en) orientieren, soll nicht als einziges, sondern als ein mögliches Raster verstanden werden, um die Hybridität und die Breite der Produktionen exemplarisch besser darstellen zu können. Die Notwendigkeit zu weiteren Beschränkungen liegt in der Natur der Sache einer solchen Einführung, etwa die Konzentration auf Texte der fiktionalen Literatur, auf fiktionale Filme und Serien fast ausschließlich deutsch- oder englischsprachiger Produktion. Eine Abgrenzung zu (halb-)dokumentarischen Formaten (etwa Aktenzeichen XY ungelöstAktenzeichen XY ungelöst oder den CSICSI-Serien) kann ebenso wenig erfolgen wie eine grundlegende Diskussion darüber, was unter Film oder Serie zu verstehen ist. Als Film wird hier der Regelfall des Spiel- oder Fernsehfilms gesehen mit seiner durchschnittlichen Länge von 90 Minuten; unter Serie wird alles verstanden von der abgeschlossenen Miniserie bis zu über viele Staffeln gehenden Serienformaten mit mehr oder weniger abgeschlossenen Handlungen je Episode oder Staffel.
Ein hier nur kurz zu erwähnendes Problem ist die Übersetzung oder Synchronisation von Kriminalerzählungen. Wohl wegen der vermuteten Trivialität des Genres lassen sich selbst bei den bekanntesten Werken Eingriffe beobachten, die philologisch nicht zu rechtfertigen sind. So stellt Monika Gripenberg zu einer Übersetzung von Agatha ChristieChristie, Agathas The Murder of Roger AckroydThe Murder of Roger Ackroyd (1926; dt. üblicherweise Alibi) fest, dass in „der deutschen Ausgabe des Romans“ eine „etwa vier Seiten lange Konversation einfach weggelassen“ wurde, und fügt hinzu: „[…] bei den deutschen Ausgaben Agatha Christies scheint es leider ein gebräuchliches Vorgehen zu sein, alles zu streichen, was nicht zum unmittelbaren Verständnis der Handlung notwendig ist“ (Gripenberg 2005, 52f.). Yaak KarsunkeKarsunke, Yaak hat vergleichbare Verstümmelungen an den Übersetzungen der Romane Raymond ChandlerChandler, Raymonds beobachtet (Karsunke 1978, 118). Bei englischsprachigen Texten und Filmen wird daher stets auf das Original zurückgegriffen.
Lesezeit ist Lebenszeit, auch wenn sie nicht gewaltsam verkürzt wird. Von solchen gewaltsamen Verkürzungen handelt dieser Band Gott sei Dank nur in Theorie und Fiktion. Gibt es in der Realität überhaupt Fälle, in denen Bücher getötet haben? Umberto EcoEco, Umbertos Roman Der Name der RoseDer Name der Rose (1980) schildert einen solchen Fall, dort ist es bekanntlich ein an den Seiten vergiftetes Buch, das lesehungrige Mönche ihr Leben kostet. Der im Mittelalter spielende Kriminalfall – die augenzwinkernden Verweise auf Conan DoyleConan Doyle, Arthurs Figuren Sherlock Holmes und Doktor Watson sind offensichtlich – würde auch in die Reihe der zu behandelnden Bücher gehören, wenn genug Raum für alles wäre, was wichtig ist. Ebenso die Verfilmung von 1986, eine der überzeugenderen Literaturverfilmungen mit deutscher Beteiligung. Regie führte Jean-Jacques AnnaudAnnaud, Jean-Jacques und die Hauptrolle spielte Ex-James-BondJames Bond Sean ConneryConnery, Sean. Das Beispiel zeigt, dass Tragik und Komik nah beieinander liegen: AristotelesAristoteles’ Buch über die Komödie ist es, das als verschollen gilt und aus dem die Mönche ihre verbotenen Lesefrüchte kosten. Dass das Buch mit der Bibliothek des Klosters verbrennt, ist ein wunderbarer Roman- und Film-Trick. So liefert Eco eine fiktionale Erklärung für das faktuale Fehlen eines der (vermutlich) einst realen Bücher, die grundlegend für unsere Kultur waren oder gewesen wären.
Ecos metafiktionaler Roman zeigt deutlich: Fiktionen modellieren mögliche Wirklichkeiten. Es wird zu diskutieren sein, wie sie dies tun und weshalb. „Nichts entspannt so sehr wie Mord und Totschlag“, titelte der Tagesspiegel (Huber 2016). Die besondere Konjunktur des Genres erklärt Joachim HuberHuber, Joachim wie folgt:
Das Publikum sucht über die Klammer aus Verbrechen und Entertainment ja seiner Alltagserschlaffung zu entkommen. Alltag, das ist zwar die gemeinhin gewollte Lebensform, gerne abgesichert über ein Kordon aus Versicherungen gegen das Nicht-Alltägliche, aber dieser Alltag hat eben seinen sehr niedrigen Thrill-Horizont. Da kommt der Fernsehkrimi gerade recht: Teilhabe und Teilnahme an fremder Gefahr bis hin zum Mord, das Schlimmste, was passieren kann, sind Schweißausbruch und Angst vorm Gang in den Keller. Spannung wird Entspannung, Entspannung wird Spannung, das klingt nach Paradox und ist doch nur die Klammer, die Krimi und Krimifan umfasst. (ebd.)
Antje StrubelStrubel, Antje kommt im Deutschlandfunk zu einem etwas anderen Befund: „Die Konjunktur von Krimis in einer Gesellschaft, heißt es, weise auf steigende soziale Spannungen hin“ (Strubel 2007). Bedeutet dies aber nun, dass Krimis das Animalische im Menschen verarbeiten helfen oder befördern, dass sie soziale Spannungen reduzieren oder verstärken? Wenn Strubel, die selbst Schriftstellerin ist, die Lektüre des von ihr besprochenen Bandes mit Kriminalerzählungen von Håkan NesserNesser, Håkan als „Zeitverschwendung“ abtut (ebd.), dann wird offensichtlich, dass sie andere Maßstäbe an die Lektüre anlegt als jene nach Entspannung suchenden Rezipient*innen.
Nicht zu vergessen ist, dass Krimis Waren sind. Es ist daher kein Zufall, dass sich etwa auch das Börsenblatt des deutschen Buchhandels mit der Frage der Krimi-Konjunktur beschäftigt hat. Michael Roesler-GraichenRoesler-Graichen, Michael nennt Zahlen aus dem Jahr 2011, an denen sich grundsätzlich wenig geändert haben dürfte:
Spannungsliteratur hat Konjunktur: mehr als ein Viertel der gesamten Belletristikproduktion der deutschen Verlage sind Krimis, Thriller oder Mischformen, die auch Elemente aus Science-Fiction und Fantasy enthalten können. Die Tendenz ist insgesamt gleichbleibend, auch wenn es laut ‚Buch und Buchhandel in Zahlen‘ für das vergangene Jahr einen leichten prozentualen Rückgang zu verzeichnen gibt (2010: 27 Prozent; 2009: 28,3 Prozent). […] Während die Zahl der Novitäten auf hohem Niveau bleibt, wird das Spektrum der Krimireihen breiter und die Genredifferenzierung immer größer. Beispiele sind die neue Reihe Polaris von Rowohlt, die Internationalisierung des Regionalkrimis (Luxemburg, Bretagne, Mallorca etc.) und die immer ausgefallenere Spezialisierung (Wein-, Kaffeehaus-, Schrebergarten-, Wilhelm-Busch-, Gänse-Krimi). (Roesler-Graichen 2011)
Es gilt das Gesetz von Angebot und Nachfrage: Wenn sich Krimis nicht so gut verkaufen würden, gäbe es viel weniger davon. Die genannten Subgenres deuten an, dass Gewalt dabei nicht nur auf Menschen beschränkt bleibt. Zu den besonders originellen Beispielen gehören die millionenfach verkauften Schafskrimis (Glenkill. Ein SchafskrimiGlenkill. Ein Schafskrimi, 2005; Garou. Ein Schaf-ThrillerGarou. Ein Schaf-Thriller, 2010) und der Papageienkrimi (GrayGray, 2017) von Leonie SwannSwann, Leonie, einer in Dachau geborenen Autorin, die unter Pseudonym schreibt.
Umso dringender gestaltet sich nach der Frage, was ein Krimi überhaupt ist oder sein kann, die Frage, welche Gratifikationen Krimis bereitstellen, um so erfolgreich sein zu können. Die in den letzten Jahrzehnten boomenden Regionalkrimis beispielsweise punkten mit ihrem Bezug zu einem Ort oder einer Landschaft, wobei das Bedürfnis nach Identifikation mit einer Herkunftsregion ebenso eine Rolle spielen dürfte wie das nach lokalen Sensationen, auch wenn sie nur fiktiv sind. Besonders bekannte Orte und Landschaften bieten darüber hinaus Leser*innen Anknüpfungspunkte, die diese Gegenden vielleicht nur von Urlauben kennen. Allein die Topographie sorgt für eine erhöhte Aufmerksamkeit, vergleichbar etwa mit der früher so populären Heimatliteratur.
Wenn nachfolgend bestimmte Erzähltexte, Filme und Serienfolgen ausgewählt werden und der Vorschlag gemacht wird, die Geschichte der modernen Kriminalliteratur bereits im 18. Jahrhundert und hier vor allem mit Friedrich SchillerSchiller, Friedrichs Der Verbrecher aus verlorener EhreDer Verbrecher aus verlorener Ehre und Der GeisterseherDer Geisterseher zu beginnen, dann wird dies bei einem so populären und bekannten Genre vielleicht bei einigen zögerliche Zustimmung, bei anderen aber prinzipiellen Protest hervorrufen. Nun kann ein solches Büchlein – wie jede Publikation – nur ein Diskursbeitrag sein, der im besten Falle weitere Diskursbeiträge provoziert. Wenn diese Einführung Interesse genug wecken sollte, dass das für die Produktion und Rezeption von Literatur und Film zentrale Genre weniger stiefmütterlich behandelt wird, dann ist schon viel gewonnen.
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Mein Dank gebührt allen, die mit mir über das Thema diskutiert und mir Anregungen gegeben haben, dazu zählen Helga Arend, Renate Giacomuzzi, Klaus Kanzog, Nicole Mattern, Kirsten Reimers, Helmut Schmiedt und andere, die bitte nicht böse sind, wenn sie hier nicht namentlich genannt werden.
Außerdem danke ich Kathrin Heyng von der Verlagsgruppe Narr Francke Attempto sehr herzlich für Ihre Unterstützung von Anfang an und für die wie stets umsichtige und freundliche Betreuung des Projekts.
Fragen zu diesem Kapitel:
Weshalb ist der Krimi ein so populäres Genre?
Welches sind die wichtigsten Merkmale eines Krimis?
Weshalb ist es ein Problem, die Geschichte des Genres mit Poes Erzählung über die Morde in der Rue Morgue beginnen zu lassen?
Wie lässt sich der Krimi unterteilen?
Weshalb sind Abgrenzungen zwischen Genrebezeichnungen mit Kriminalhandlung schwierig?
Inwiefern ist die Bewertung von Kriminalerzählungen historisch und kulturell variabel?
Welche Überschneidungen gibt es zu Drama und Lyrik?
Welche Überschneidungen gibt es zu anderen Genres?
Es gibt, wie wir noch sehen werden, viele Genredefinitionen und verschiedene Begriffe, die hier unter ‚Krimi‘ als Oberbegriff zusammengefasst werden sollen. So finden sich etwa im Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft unter der Überschrift „Kriminalroman“ Unterkategorien wie „Detektivgeschichte“ und „Thriller“ (Wörtche 2007, 342). Das Lemma ‚Kriminalroman‘ wurde gewählt, obwohl der Autor des Artikels zugesteht: „Einen konsensfähigen Begriff des Kriminalromans gibt es nicht“ (Wörtche 2007, 343). Das ältere Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte verwendet dagegen „Kriminalgeschichte“ als strukturbildenden Begriff und erläutert, es handele sich um „eine Sammelbezeichnung für erzählende Werke, in deren Mittelpunkt Verbrechen und Verbrecher und deren gerichtliche Verfolgung und Bestrafung stehen“ (Frenzel 1984, 895). Dieser Begriff kursiert immerhin bereits, wie Edgar MarschMarsch, Edgar gezeigt hat, seit dem Ende des 18. Jahrhunderts (Marsch 1983, 7). Richard AlewynAlewyn, Richard stellt in seinem einflussreichen Beitrag zum Thema fest, „Krimi“ sei nur die „Koseform“ für „Kriminalroman“ und es komme oft zu einer Verwechslung mit dem „Detektivroman“, den er nun seinerseits in den Mittelpunkt rückt (Alewyn 1998, 52).
Die einschlägigen Definitionen konzentrieren sich auf Prosa und vor allem auf den Roman. Was aber ist mit anderen Gattungen der Prosa (unabhängig von Dramen und Balladen, auf die hier nicht eingegangen werden kann), in denen Verbrechen geschildert werden, also beispielsweise mit Märchen? Volker LadenthinLadenthin, Volker hat, mit jedem Recht, eine Anthologie der „Märchen von Mördern und Meisterdieben“ erstellt (Ladenthin 1992) – wären das keine Krimis? Und wie ist es mit jenen Texten, die das Verbrechen, aber nicht die polizeiliche oder gerichtliche Verfolgung schildern und in denen vielleicht sogar keine Bestraftung des Täters erfolgt? Das ältere Reallexikon sieht die vorgestellte Genredefinition der Kriminalgeschichte jedenfalls als „weitmaschig“ an (Frenzel 1984, 895).
Peter NusserNusser, Peter wählt für seine grundlegende Einführung zunächst eine Unterscheidung in Verbrechens- und Kriminalliteratur (Nusser 2009, 1). Wenn die Verbrechensliteratur „nach den Motivationen des Verbrechers“ fragt und die Kriminalliteratur die „Anstrengungen, die zur Aufdeckung des Verbrechens und zur Überführung und Bestrafung des Täters notwendig sind“, in den Mittelpunkt stellt (ebd.), dann wird man bei der Suche nach Beispielen feststellen, dass sich auch die Kriminalliteratur in der Regel für die „Motivationen des Verbrechers“ interessiert, eben um ihm auf die Spur zu kommen. Wie würde man beispielsweise eine der erfolgreichsten Krimiserien aller Zeiten einordnen – ColumboColumbo mit Peter FalkFalk, Peter. Die legendäre US-amerikanische Serie wurde in den USA von 1968 bis 1978 und dann wieder von 1989 bis 2003 in insgesamt 69 spielfilmlangen Folgen ausgestrahlt. Als Vorbild für die Filmfigur gilt eine literarische Figur: der Untersuchungsrichter Porfirij Petrowitsch aus Fjodor DostojewskijsDostojewskij, Fjodor Michailowitschs Roman Schuld und SühneSchuld und Sühne (1866).
Lieutenant (Inspektor) Columbo, der für die Mordkommission des Los Angeles Police Department arbeitet, wird in jeder Folge mit einem Mordfall konfrontiert, bei dem ihm sehr bald klar wird, wer der Täter ist. Seine Aufgabe ist es nun, die Tat auch zu beweisen – dafür beschäftigt er sich intensiv mit dem Motiv des Täters und dem Hintergrund der Tat. Die Rollen der Täter*innen wurden oft prominent besetzt, u.a. mit Faye DunawayDunaway, Faye, Martin LandauLandau, Martin, Janet LeighLeigh, Janet, Vera MilesMiles, Vera, Leonard NimoyNimoy, Leonard, Donald PleasencePleasence, Donald, Vincent PricePrice, Vincent oder Robert VaughnVaughn, Robert. Zu Mördern wurden auch Sympathieträger wie der Sänger Johnny Cash oder der frühe Musicalstar (Mary PoppinsMary Poppins; 1964) und spätere Krimi-Ermittler Dick van Dykevan Dyke, Dick (Diagnosis MurderDiagnosis Murder, dt. Diagnose: Mord; 1993 bis 2001 in 178 Folgen).
Dies nur als Beispiel für die Schwierigkeiten, denen man sich ausgesetzt sieht, wenn man sich mit Begriffsdefinitionen des Krimis beschäftigt, auch wenn Definitionen ja eigentlich in der Lage sein sollten, halt- und überprüfbare Kurzcharakterisierungen zu liefern.
Wer Interesse an der bisherigen ‚idealtypischen‘ (Nusser 2009, 2) Begriffsbildung hat, der sei auf die älteren gängigen Einführungen verwiesen. Wer jedoch das Unbehagen über die geringe Trefferquote solcher Definitionen nachvollziehen kann, der möge mit auf die Reise gehen, den Krimi weniger aus Definitionen abzuleiten und stattdessen mehr auf die konzeptionellen Hintergründe und auf die Realisierungen in Literatur, Film und Serie zu achten – um zu einem (hoffentlich) ganzheitlicheren Verständnis des Genres zu gelangen.
Es gibt einige wenige grundlegende Merkmale des Krimis, die sich in einer Minimaldefinition so zusammenfassen lassen:
Ein Krimi handelt von einer im Rahmen der für die fiktionale Realität geltenden Normen strafbaren Tat (oder von mehreren solcher Taten), um die herum Figuren und Handlung organisiert sind, und von deren Aufdeckung mit Hilfe von Indizien (‚clues‘), erschwert durch falsche Fährten (,red herrings‘). Zentral für den Krimi ist Spannung, vor allem Handlungs- und Rätselspannung, die auf die Frage nach dem Täter, nach den Motiven oder nach den Folgen der Tat zielen kann.
Die Bedeutung der (Handlungs-)Spannung und der Indizien bei der Aufklärung des Falles hat beispielsweise bereits der Philosoph Ernst BlochBloch, Ernst hervorgehoben (Bloch 1998, 41). Oft falle, so stellt er weiter fest, der Krimi „mit der Leiche ins Haus“ (Bloch 1998, 45). Die Leiche könne aber auch etwas „anderes“ sein. Bloch verweist beispielsweise auf Heinrich von KleistKleist, Heinrich vons Lustspiel Der zerbrochne KrugDer zerbrochne Krug (1808), in dem es neben der Frage, wer den Krug zerbrochen hat, vor allem darum geht, wer die junge Eve nachts besucht und damit ihre Jungfräulichkeit bedroht hat.
Dennoch dürfte, außer in der Kinder- und Jugendliteratur (hier ist es, wie in Erich KästnerKästner, Erichs Emil und die DetektiveEmil und die Detektive von 1929, eher der Diebstahl), der Mord den Regelfall darstellen. Die Figuren, die im Mittelpunkt stehen, sind Opfer und (Straf-)Täter und solche, die die Täter verfolgen. Dabei handelt es sich vor allem um Polizist*innen oder (Privat-)Detektiv*innen, aber auch um Anwält*innen, an der Verbrechensaufklärung interessierte Bürger*innen oder Zeug*innen des Verbrechens, ebenso auf anderem Wege am Geschehen Beteiligte – wobei die Rollen wechseln und beispielsweise Ermittler*innen oder auch Täter*innen zu Opfern werden können.
Breiten Raum der Handlung nimmt die Schilderung oder die Erörterung des Verbrechens bzw. der Verbrechen ein. Zum üblichen Spannungsaufbau des Detektivromans hat beispielsweise Richard AlewynAlewyn, Richard festgestellt: „Die zentrale Frage im Detektivroman ist die Frage: Wer ist der Täter? Oder: Whodunit?, wie der englische Slang die Gattung treffend bezeichnet“ (Alewyn 1998, 57). Auf der Suche nach den Täter*innen kommen dann die Indizien oder ‚clues‘ ins Spiel (Alewyn 1998, 61), dies betont auch den rätsellösenden Spielcharakter der Gattung. Nicht zufällig gibt es seit 1948 ein populäres Brettspiel namens Cluedo, bei dem ein Mordfall aufgeklärt werden muss. Denn es gilt: „Die Kunst der Detektion besteht darin, Clues zu sehen und zu lesen“ (Alewyn 1998, 62).
Zu fragen ist, was mit einer Kategorie „Verbrechensliteratur“ gewonnen ist. Welcher Krimi handelt nicht von Verbrechen, welche/r Polizist*in oder welche/r (Hobby-)Detektiv*in untersucht es nicht, welche Gerichtsverhandlung dreht sich nicht genau darum, welche Verfolgungsjagden im Thriller haben es nicht zum Anlass oder zur Wirkung? So handelt zwar der US-amerikanische Spielfilm Bonnie und ClydeBonnie und Clyde von 1967 (Regie: Arthur PennPenn, Arthur; mit Faye DunawayDunaway, Faye und Warren BeattyBeatty, Warren) wie andere Verfilmungen dieser ‚wahren Geschichte‘ von einem Pärchen, das raubend und mordend Anfang der 1930er Jahre durch den Süden der Vereinigten Staaten zieht. Abgesehen davon, dass die „Motivationen des Verbrechers“ (Nusser 2009, 1) in den Verfilmungen ganz unterschiedlich beleuchtet werden, ist diese eine Verfilmung wohl vor allem deshalb so bekannt, weil sie das Verbrechen als Road Movie inszeniert und an der Verfassung einer von der Jugend als erstarrt und einengend empfundenen Gesellschaft der späten 1960er Jahre starke Zweifel anmeldet.
Gattungsunterscheidungen wie jene zwischen Detektivgeschichte und Thriller sind selbst zum Stereotyp geronnen: „Dominiere die Zukunftsspannung in ‚Thrillern‘, so die Geheimnis- oder Rätselspannung im Detektivroman, der darin dem ‚analytischen Drama‘ gleiche“ (Anz 1998, 157; vgl. u.a. auch Wörtche 2007, 342). Wenn allerdings Gattungsdefinitionen und -unterscheidungen davon abhängig gemacht werden, ob die Handlung auf die Rekonstruktion eines Geschehens in der Vergangenheit oder auf ein Geschehen in der Zukunft gerichtet ist, dann wird vernachlässigt, dass selbst die eine Rekonstruktion unternehmende Handlung eine auf die Zukunft gerichtete sein muss, weil es ja darum geht, eine*n Täter*in dingfest zu machen – dies ist nicht selten mit Momenten der Gefahr oder sogar weiteren kriminellen Handlungen bis hin zum Mord verbunden.
Ähnlich schwierig ist die Abgrenzung von Thriller und Spionageroman. Nusser ordnet letzteren zwar ersterem unter: „Der Spionageroman ist thematisch, aber nicht strukturell von anderen Erscheinungsformen des Thrillers unterschieden“ (Nusser 2009, 116). Es gebe eine „wesentliche thematische Variation“ in der Behandlung von „politischen Strukturen und Machtverhältnissen, die der Leser normalerweise nicht durchschaut“ (Nusser 2009, 117). Beim paradigmatischen Beispiel des Genres – Ian FlemingFleming, Ians Figur James BondJames Bond – sind die Strukturen und Machtverhältnisse eigentlich nur am Anfang unklar und es dauert nicht lange, bis ein Katz-und-Maus-Spiel zwischen James Bond und seinem Gegenspieler beginnt, der sich auch gern von Auftragskillern und vergleichbar ‚gewöhnlichen‘ Verbrechern helfen lässt. Dabei fällt auf, dass die Rolle des Gegenspielers oft prominent mit Schauspielern besetzt ist, die durch frühere Rollen bekannte Sympathieträger sind, in jüngerer Zeit etwa mit Oscar-Preisträger Christoph WaltzWaltz, Christoph, so dass ein reines Gut-Böse-Schema nur noch für jene funktioniert, die das Spielerische und Ironische des Konzepts ignorieren.
Abgesehen davon, dass die Grenzziehung zwischen Politik und Verbrechen bei vielen Krimis nicht funktioniert, gibt es auch genügend Beispiele für eine Mischung von Ermittlern und Spionen, selbst in Vorabendkrimis wie SOKO WienSOKO Wien. Die Folge Im Paradies (Staffel 11, Folge 7) von 2019 handelt von zwei Morden, die an einem Ort geschehen, an dem die Regierung alten Spion*innen die Möglichkeit gegeben hat, ihren ‚Ruhestand‘ zu verbringen. Der erste Mord geht dann auch auf einen früheren Einsatz zweier Spion*innen zurück und der zweite Mord dient der Sühne des ersten, denn die wichtigste Regel des Zusammenlebens lautet, die Leichen im Keller ruhen zu lassen. Dazu kommt noch die eher zufällige Ergreifung eines Wiener Unterweltbosses, so dass auch die organisierte Kriminalität in dieser Folge eine wichtige Rolle spielt.
Entgegen gängigen Definitionen des Krimis könnte man generell statt von einer Gattung von einer thematischen Ausrichtung oder von einer Schreibweise sprechen. Mord und Totschlag sind schon immer gängige Bestandteile der Handlung von Texten gewesen, bereits die Literatur der griechischen und römischen Antike bietet zahlreiche Beispiele, man denke nur an HomerHomers OdysseeOdyssee. Christof HamannHamann, Christof beginnt seine Zusammenstellung der bedeutendsten Texte der Kriminalliteratur aller Zeiten und Kulturen mit SophoklesSophokles’König OidipusKönig Ödipus (Hamann 2016, 33). Es gibt zahllose Dramen, die von Verbrechen handeln, auch in der deutschsprachigen Literatur, man denke etwa an Bertolt BrechtBrecht, Bertolts DreigroschenoperDreigroschenoper von 1928, die wiederum den Stoff von John Gays The Beggar’s OperaThe Beggar’s Opera von 1728 verwendet. Verbrechen ist, so kann ein Zwischenfazit lauten, auch dann grenzenlos, wenn es um Genretraditionen geht.
Hierzu noch ein frühes bedeutendes Beispiel. Zu den einflussreichsten Textsammlungen der Literaturgeschichte der Welt gehört Tausendundeine NachtTausendundeine Nacht (Alf laila wa-laila) mit Wurzeln in Indien und den arabischen Ländern, sie setzt bereits in der Rahmenhandlung mit Mord und Totschlag ein. Ein genauerer Blick würde zeigen, dass hier zum Teil sehr andere Auffassungen von Recht und Gerechtigkeit vorausgesetzt werden. Den Anfang des Zyklus von Tausendundeine Nacht etwa bildet Die Erzählung von König Schehrijar und seinem BruderDie Erzählung von König Schehrijar und seinem Bruder. Der gehörnte König Schehrijar nimmt, wie bereits sein Bruder vor ihm, blutige Rache an seiner Ehefrau – und nicht nur an ihr:
Der aber ging in sein Schloß und schlug seiner Gemahlin und den Sklavinnen und Sklaven den Kopf ab. Und von nun an nahm König Schehrijar jede Nacht eine Jungfrau zu sich; der nahm er die Mädchenschaft, und dann tötete er sie, um seiner Ehre gewiß zu sein, und so trieb er es drei Jahre lang. Da geriet das Volk in Aufruhr und flüchtete mit den Töchtern, bis keine mannbare Jungfrau mehr in der Stadt war. (Zit. nach Neuhaus 2017c, 57)
Bekanntlich ist es Schehrezad, die buchstäblich um ihr Leben (und das ihrer Schwester) erzählt und den König durch ihre Erzählungen nicht nur zu besänftigen, sondern zudem als Ehemann zu gewinnen weiß. Auch das Nibelungenlied, ein Epos (also ein Langgedicht), in mittelhochdeutscher Sprache tradiert, handelt von Mord und Totschlag, ebenso der Bänkelsang – Lieder, die von fahrenden Sängern etwa auf Märkten gegen Entgelt vorgetragen wurden und die grausame Geschehen farbenfroh ausmalten, von denen (es gab noch keine Zeitungen) die Zuhörer*innen annahmen, dass zumindest die zugrunde liegende Handlung in der Realität stattgefunden hatte.
Wenn wir wieder zur Prosa wechseln und in der Hochliteratur bleiben, dann sind auch Franz KafkaKafka, Franzs Roman Der ProzeßDer Prozeß (1925) und seine Erzählung In der StrafkolonieIn der Strafkolonie (1919) zur Kriminalliteratur zu zählen, denn beide handeln von Verbrechen und ihrer Bestrafung – so unklar die Art der Verbrechen und die Motivation der Bestrafung auch sein mögen.
Nun hilft es bei einer Genrebeschreibung wenig, alles zur Disposition zu stellen. Auch wenn man die Geschichte eines Genres neu schreiben möchte, sollte man von dem ausgehen, was man vorfindet. Aber für ein kritisches Verständnis jedes Genres ist es unabdingbar, zumindest zu überlegen, seit wann und weshalb sich jene Strukturen herauspräpariert haben, die es überhaupt erst ermöglichen, von einem Genre zu sprechen.
Was wir unter Krimi verstehen oder unter einem der anderen gängigen Begriffe, ist ein Produkt vor allem des 18. und 19. Jahrhunderts, allerdings nicht erst des „späten 19. Jh.“ (Wörtche 2007, 342). Der Übergang vom christlichen zum naturwissenschaftlichen Weltbild, die Entstehung von Individualität und somit des modernen Subjekts (gefördert durch die Verbreitung von Bildung und Wohlstand), die Ausdifferenzierung der Gesellschaft und die Entstehung einer Literaturgeschichtsschreibung sind Voraussetzungen, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann.
Alle Gattungen der Moderne sind Produkte des 18.-20. Jahrhunderts. Selbst die aus der Antike stammenden Begriffe wie Tragödie und Komödie wurden immer wieder neu gefasst und an die jeweiligen theoretischen wie praktischen Referenzrahmen angepasst. Bestenfalls können historische Gattungen vergleichsweise genau beschrieben werden (etwa der Minnesang), weil es sie seit Beginn der Moderne nicht mehr gibt.
Die seit Beginn der Moderne im 18. Jahrhundert geänderte Literaturauffassung führt aber auch dazu, dass im Literaturbetrieb angesehene Texte immer etwas Neues bieten müssen, schließlich lassen sie sich – nach dem autonom-ästhetischen Paradigma von Literatur als Kunst – nur noch aus sich selbst heraus erklären (Luhmann 1997, z.B. 75). Hans-Dieter GelfertGelfert, Hans-Dieter bringt es in seiner Studie Was ist gute Literatur? auf die einfache Formel des ‚Prinzips der Abweichung‘: „Das heißt, das Kunstwerk muss uns mit etwas konfrontieren, das von der erwarteten Normalität abweicht“ (Gelfert 2006, 46).
Im Mittelpunkt eines Krimis stehen Verbrechen und der Versuch ihrer Aufklärung (natürlich kann es auch nur ein Verbrechen sein, oft sind es aber mehrere) mit Hilfe von Indizien. Auf die Genealogie und Bedeutung des Wortes Verbrechen weist etwa das Grimmsche Wörterbuch hin: „die alte sinnliche bedeutung zerstücken, verstümmeln ist in der schriftsprache nicht erhalten, sondern durch die zusammensetzung mit zer verdrängt; nur in den mundarten, in welchen die zusammensetzung mit zer unüblich ist“. Eingebürgert hat es sich, unter Verbrechen eine „rechtverletzende handlung, mit der nebenbedeutung der absichtlichen“, zu verstehen (Grimm 2019). Was jeweils unter einem Verbrechen als ‚rechtsverletzender Handlung‘ zu verstehen ist, hängt von den entsprechenden Gesetzen einer Zeit und in einer Gesellschaft ab und kann strittig sein, wie etwa die zahlreichen Krimis zeigen, die Gerichtsverhandlungen zum Gegenstand haben.
Protagonist*innen der Handlung sind demnach vor allem Verbrecher- und Ermittlerfiguren, dazu kommen Helferfiguren auf beiden Seiten. Je nach Handlung können eher bereits geschehene oder zu erwartende Verbrechen im Mittelpunkt stehen. Oft wird zunächst die Vorgeschichte eines Verbrechens geschildert. Handlungen, Motive und Symbole dienen in dem Fall als Vorausdeutungen auf das kommende Geschehen und werden später Teil der Ermittlung. Spannung wird auch dadurch erzeugt, dass das Verbrechen einerseits motiviert, andererseits aber durch falsche Fährten (‚red herrings‘) und irreführende Hinweise in seiner Motivierung verunklart wird. Auf die Spitze getrieben wird die Konzentration auf Indizien- und Täter*innensuche mit dem ‚locked-room-mystery‘, mit dem Geheimnis des verschlossenen Raums (vgl. Alewyn 1998, 71), wie es sich in der als Muster des Genres angesehenen Erzählung Edgar Allan PoePoe, Edgar Allans findet, The Murders in The Rue MorgueThe Murders in the Rue Morgue (1841).
Die Voraussetzungen der Entwicklung eines solchen Genres im 18. Jahrhundert werden in der Regel mit Begriffen wie Aufklärung und dem bereits verwendeten Begriff Moderne bezeichnet und mit der Ablösung des christlichen Weltbildes durch das naturwissenschaftliche sowie mit der Entstehung einer bürgerlichen Öffentlichkeit in Verbindung gebracht. So hat Bertolt BrechtBrecht, Bertolt mit Blick auf den Kriminalroman von der „Annäherung an den wissenschaftlichen Standpunkt“ gesprochen (Brecht 1998, 34). Im 18. Jahrhundert verändern sich die ursprünglich noch weitgehend verbindlichen, wenn auch (etwa durch Ereignisse wie den 30-jährigen Krieg) bereits erschütterten Eckpfeiler zentraleuropäischen Lebens, dies betrifft sowohl die Abhängigkeit des Individuums von religiösen wie weltlichen Rahmensetzungen. Die Stellung des Individuums innerhalb einer Ständepyramide, in die es hineingeboren wurde, hat weitgehend ausgedient. Das Bürgertum entsteht und mit ihm ein neues Konzept von Individualität, das durch eine auf gesellschaftlichen Fortschritt orientierte Bildung, für die Vernunft und Tugend zentrale Begriffe sind, nun als neues Paradigma die größtmögliche Freiheit des Individuums setzt.
Nun erst kann ein Konzept „individueller Schuld“ (Luhmann 2016, 51) entstehen. Zugleich entfällt ein Anspruch auf ‚höhere‘ Gerechtigkeit, sofern die Individuen nicht weiterhin Religionen oder Ideologien vertrauen, auch wenn die Spuren solcher Konzepte bis in die normativen Ordnungen der Realität wie der Literatur weiterwirken. Die gewonnene individuelle Freiheit hat Folgen, die nicht immer absehbar sind: „Auch beste Absichten können üble Folgen haben und auch ein einwandfrei geführtes Leben kann miserabel enden“ (Luhmann 2016, 95).
Es kommt in der Moderne zu einer „doppeldeutige[n] Konstellation“: Das Subjekt ist einerseits „dasjenige, das unterworfen ist, das bestimmten Regeln unterliegt und sich ihnen unterwirft“, und es wird andererseits „zu einer vorgeblich autonomen, selbstinteressierten, sich selbst verwirklichenden Instanz“ (Reckwitz 2010, 14). Das „hybride Subjekt“ (Reckwitz 2006) wird also krisenhaft geboren. Die neuen Gestaltungsspielräume implizieren Gefahren, gerade in einer nun immer weiter ausdifferenzierten Gesellschaft: „Diese immanenten Heterogenitäten und Fissuren machen die [post-]modernen Subjektformen instabil und lassen sie potentiell als mangelhaft erlebbar werden: die Muster gelungener Subjekthaftigkeit enthalten damit sogleich spezifische Muster des Scheiterns der Identität“ (Reckwitz 2006, 19).
In einer solchermaßen veränderten Welt wird das, was wir unter Verbrechen verstehen, daher überhaupt erst möglich. Die Polizei beispielsweise, wie wir sie kennen, ist ein Produkt des 19. Jahrhunderts. Der Wechsel vom christlichen zum naturwissenschaftlichen Weltbild, vom ausgehenden Mittelalter zur Aufklärung macht ein ganz neues Regelsystem notwendig:
Dieser Wille zur Wahrheit [den die Naturwissenschaften scheinbar kultivieren und so die Aufklärung vorantreiben] stützt sich, ebenso wie die übrigen Ausschließungssysteme, auf eine institutionelle Basis; er wird zugleich verstärkt und ständig erneuert von einem ganzen Geflecht von Praktiken wie vor allem natürlich der Pädagogik, dem System der Bücher, der Verlage und der Bibliotheken, den gelehrten Gesellschaften einstmals und den Laboratorien heute. Gründlicher noch abgesichert wird er zweifellos durch die Art und Weise, in der das Wissen in einer Gesellschaft eingesetzt wird, in der es gewertet und sortiert, verteilt und zugewiesen wird. (Foucault 2000, 15)
Michel FoucaultFoucault, Michel hat eine Geschichte des ‚Überwachens und Strafens‘ geschrieben (Foucault 1994). Im Mittelalter war ein Verbrechen das, was als Handlung nicht nur jemanden individuell oder eine Gruppe schädigte, sondern durch den Verstoß gegen die als göttlich angesehene Ordnung und ihre Vertreter direkt Gott beleidigte: „Das Verbrechen greift über sein unmittelbares Opfer hinaus den Souverän an; es greift ihn persönlich an, da das Gesetz als Wille des Souveräns gilt; es greift ihn physisch an, da die Kraft des Gesetzes die Kraft des Fürsten ist“ (Foucault 1994, 63). Und der hat seine Legitimation von Gott.
So erklärt sich die „peinliche Strafe“ (Foucault 1994, 46) als „Teil eines Rituals“ (Foucault 1994, 47), mit dem es, als Teil der Wiederherstellung der göttlichen Ordnung, auch „um die Rettung der Seele“ ging (Foucault 1994, 61). Deshalb sind die Verfahren damals andere als heute. Bereits ein Verdacht konnte eine aus heutiger Sicht unheimliche Evidenz haben: „Die Beweisführung bei Gericht gehorchte also nicht dem dualistischen System wahr/falsch, sondern einem Prinzip der stetigen Abstufung: eine bestimmte Stufe der Beweisführung bildete bereits eine Schuldstufe und hatte darum eine bestimmte Strafstufe zur Folge“ (Foucault 1994, 57).
Mit der Aufklärung entsteht ein individualitätsbasiertes Konzept von Humanität, das auch dazu führt, dass das frühere Strafsystem nicht mehr ‚verstanden‘ wird. Foucault stellt wohl auch deshalb etwas ironisch fest, dass „man die Strafen, die sich ihrer ‚Gräßlichkeit‘ nicht schämten, durch solche“ ersetzte, „die sich ihrer ‚Menschlichkeit‘ rühmten“ (Foucault 1994, 75). Oder noch schärfer: „Die ‚Aufklärung‘, welche die Freiheiten entdeckt hat, hat auch die Disziplinen erfunden“ (Foucault 1994, 285). Es lassen sich also nicht nur Brüche, sondern auch Kontinuitäten feststellen, ebenso in der Tradierung religiöser Muster. Im deutschsprachigen Raum wirkt das christliche Weltbild sogar in der feudalen politischen Ordnung weiter. Noch 1813 ist „Mit Gott für König und Vaterland“ die Devise des von Friedrich Wilhelm III. von Preußen gestifteten Landwehrkreuzes.
Dennoch verändert sich die Machtverteilung immer mehr von der horizontalen auf die vertikale Ebene. Um unter solchen Umständen noch eine funktionierende Gesellschaftsordnung gewährleisten zu können, muss ein immer ausgeklügelteres System implementiert werden, in dessen Zentrum die Selbstdisziplinierung des Subjekts oder Individuums steht. FoucaultFoucault, Michel nennt dies „eine neue ‚politische Ökonomie‘ der Strafgewalt“ (Foucault 1994, 103). Zum Modell wird das von Jeremy BenthamBentham, Jeremy erdachte Panoptikum, das „die Schaffung eines bewußten und permanenten Sichtbarkeitszustandes beim Gefangenen“ zur Folge hat (Foucault 1994, 258). Die Gefängniszellen sind kreisförmig um einen Turm herum organisiert, aus dem heraus in die Zellen gesehen werden kann – aber nicht umgekehrt. Die Strafgefangenen können also nie sicher sein, wann sie überwacht werden. Das Panoptikum wird zum Modell der neuen, individualisierten Gesellschaft:
Derjenige, welcher der Sichtbarkeit unterworfen ist und dies weiß, übernimmt die Zwangsmittel der Macht und spielt sie gegen sich selber aus; er internalisiert das Machtverhältnis, in welchem er gleichzeitig beide Rollen spielt; er wird zum Prinzip seiner eigenen Unterwerfung. (Foucault 1994, 260)
Das Panoptikum wird zum „Ei des Kolumbus im Bereich der Politik“, denn es „kann sich wirklich in jede Funktion integrieren (Erziehung, Heilung, Produktion, Bestrafung)“ (Foucault 1994, 265). In einer solchen „Disziplinargesellschaft“ (Foucault 1994, 269) gibt es erstens keinen „Raum des Privaten“ (Hamann 2016, 29), der es erlauben würde, eine Grenze zum Politischen zu ziehen, und zweitens sind auch Krimis Teil der Ökonomie der Selbstdisziplinierung, etwa indem sie den Leser*innen vor Augen führen, welche Konsequenzen bei Straftaten drohen, oder indem sie ihnen ein Ventil bieten, Figuren ihre Aggressionen stellvertretend ausleben zu lassen, also ihre Impulskontrolle in der Realität stärken. Als problematisch werden daher immer wieder Produktionen gesehen, denen etwa das Potenzial zugeschrieben wird, gewaltstimulierend zu wirken – dies wäre der gegenteilige Effekt. Andererseits zeichnet es gerade die im Kulturbetrieb besonders wertgeschätzten Krimis aus, dass sie Aspekte der Disziplinargesellschaft für die Leser*innen transparent machen und so dabei helfen, die skizzierten Mechanismen kritisch zu hinterfragen, sofern sie einer ‚Unterwerfung‘ des Subjekts dienen.
Ein Beispiel für eine relativ einfache, auf der Ebene der histoire angesiedelte Kritik wären Krimis, die Missstände in Gefängnissen thematisieren; eine ebenfalls Ende des 18. Jahrhunderts erst in der Form entstehende Einrichtung, der bereits FoucaultFoucault, Michel ein denkbar schlechtes Zeugnis ausstellt: „Das Gefängnis kann gar nicht anders, als Delinquenten zu fabrizieren“ (Foucault 1994, 342). Er sensibilisiert insbesondere für den Effekt der neuen und ‚modernen‘ Strafordnung, tendenziell bereits „die Abweichung von einer Regel, einem Durchschnitt, einer Anforderung, einer Norm“ als möglicherweise bestrafenswert anzusehen (Foucault 1994, 386). Eine Frage bei der Interpretation und Bewertung von Krimis wird es daher sein, ob sie an der „Fabrikation des Disziplinarindividuums“ (Foucault 1994, 397) mitwirken oder in einer über Immanuel KantKant, Immanuel, Friedrich SchillerSchiller, Friedrich und Wilhelm von HumboldtHumboldt, Wilhelm von geprägten aufklärerischen Tradition helfen, Normen und normative Verfestigungen in der Gesellschaft immer wieder neu zu überprüfen. Gerade dafür erscheint die Kunst im Sinne LuhmannLuhmann, Niklass (s.o.) – hier verstanden als Literatur, Film und Serie – als besonders geeignet.
Es wird zudem an konkreten Beispielen zu zeigen sein, was es heißt, wenn FoucaultFoucault, Michel feststellt: „Aber der Körper steht auch unmittelbar im Feld des Politischen“, wenn er weiter von einer „politische[n] Besetzung des Körpers“ spricht (Foucault 1994, 37) und von einer „Mikrophysik der Macht, die von den Apparaten und Institutionen eingesetzt wird“ (Foucault 1994, 38), hinter denen freilich machtvolle Subjekte stehen oder in denen solche machtvollen Subjekte agieren. Auch der Krimi legt, oft in drastischer Zuspitzung, Zeugnis ab von der „Technologie der Macht über den Körper“ (Foucault 1994, 41). Dies kann mehr oder weniger differenziert ausfallen, wobei etwa die Kritik an der Arbeitsweise der Ordnungsmächte Polizei und Justiz durch vielfache Wiederholung und geringe Variation von Mustern teilweise zu Klischees geronnen ist.
Wenn Ende des 19. Jahrhunderts Sherlock Holmes die Arbeit der Polizei in den Schatten stellt und Inspektor Lestrade von Scotland Yard Fälle nicht ohne ihn lösen kann, mag diese Art von Kritik noch innovativ gewesen sein. In trivialen Romanen oder gängigen Film- und Fernsehproduktionen wie den Verfilmungen nach Agatha ChristieChristie, Agathas Romanen um die Hobbydetektivin Miss Marple unter dem Titel Agatha Christie’s MarpleAgatha Christie’s Marple (2004-2013) wird freilich vorrangig das Bedürfnis der Zuschauer*innen bedient, sich zur Stärkung des eigenen Egos mit Alltagsfiguren identifizieren und über Repräsentanten der gesellschaftlichen Ordnung den Kopf schütteln oder lachen zu können. Auf der anderen Seite steht das gängige Sehgewohnheiten verunsichernde Verhalten von Täterfiguren, die zur Identifikation einladen – wie im Fall des intellektuellen Kannibalen Hannibal Lecter, gespielt von Anthony HopkinsHopkins, Anthony, in The Silence of the LambsThe Silence of the Lambs (dt. Das Schweigen der Lämmer von 1991; Regie: Jonathan DemmeDemme, Jonathan).
Wie sehr Aufklärung und Individualisierung im Mittelpunkt der sich zeitgleich mit der Moderne entwickelnden Gattung stehen, zeigt die Konzentration auf das Individuelle des Täters und seiner Tat, ebenso des Ermittlers und seiner Methoden. Nicht zufällig erinnert man bestimmte Einzelfiguren, die im Fall von Sherlock Holmes gattungsprägende Funktion haben. Ermittler wie Täter sind oft radikale Individualisten, die – als zwei Seiten einer Medaille, man denke an Holmes’ Antagonisten James Moriarty – das Geschehen bestimmen und einen Kampf ‚Gut‘ gegen ‚Böse‘ ausfechten (hierzu später mehr).
Auch in der Folge sind es gerade stark individualisierte Figuren wie Jane Marple (oder Hercule Poirot) bei Agatha ChristieChristie, Agatha oder der ebenfalls bereits erwähnte Hannibal Lecter, die im Gedächtnis bleiben und eine starke produktive Rezeption zeigen, vor allem im Film. So ist allein die Zahl der Verfilmungen mit Sherlock Holmes kaum mehr zu überschauen, das Spektrum reicht von den legendären Schwarzweiß-Verfilmungen (die erste aus dem Jahr 1939) mit Basil RathboneRathbone, Basil in der Hauptrolle über herausragende und mit der Figur frei umgehende Einzelproduktionen wie The Private Life of Sherlock HolmesThe Private Life of Sherlock Holmes (dt. Das Privatleben des Sherlock Holmes) von Star-Regisseur Billy WilderWilder, Billy aus dem Jahr 1970 über die sich um Werktreue bemühende BBC-Produktion Sherlock HolmesSherlock Holmes mit Jeremy BrettBrett, Jeremy in der Hauptrolle aus den Jahren 1984-1994 bis zu der besonders erfolgreichen, ebenfalls von der BBC produzierten Serie SherlockSherlock (seit 2010) mit den beiden zu Stars gewordenen Schauspielern Benedict CumberbatchCumberbatch, Benedict und Martin FreemanFreeman, Martin als Holmes und Dr. Watson.
Wenn die starke Individualität der Figur und ihres Hauptdarstellers zusammenkommen, erlangen solche Filme auch Kult-Status. Ein bekanntes Beispiel hierfür sind die Poirot-Verfilmungen mit Peter UstinovUstinov, Peter, etwa Death on the NileDeath on the Nile (dt. Tod auf dem Nil) von 1978; ebenso die vier Miss-Marple-Filme mit Margaret RutherfordRutherford, Margaret (unter der Regie von George PollockPollock, George) aus den Jahren 1961-64. Als eine Steigerung des Bekanntheitsgrades durch potenzierte Individualität könnte man noch zwei Verfilmungen von Agatha ChristiesChristie, Agatha Roman Murder on the Orient ExpressMurder on the Orient Express (dt. Mord im Orient-Express; 1934) ansehen, die ein kaum überbietbares Starensemble aufweisen. In der Verfilmung von Sidney LumetLumet, Sidney aus dem Jahr 1974 spielen u.a. Albert FinneyFinney, Albert (als Poirot), Lauren BacallBacall, Lauren, Ingrid BergmanBergman, Ingrid, Michael YorkYork, Michael, Jacqueline BissetBisset, Jacqueline, Richard WidmarkWidmark, Richard und Sean ConneryConnery, Sean. In Kenneth BranaghBranagh, Kenneths Verfilmung von 2017 sind es der Regisseur selbst, der ebenso ein berühmter Schauspieler ist (hier als Hercule Poirot), Penélope CruzCruz, Penélope, Willem DafoeDafoe, Willem, Judi DenchDench, Judi, Johnny DeppDepp, Johnny und Michelle PfeifferPfeiffer, Michelle.
Im US-amerikanischen Typus des sogenannten ‚hardboiled detective‘ manifestiert sich eine maskuline Form der Individualität, die einen ‚homme fatal‘ mit Figuren der ‚femme fatale‘ zusammenbringt, wobei der Detektiv ein ‚lonely wolf‘ ist und bleibt. Anders gesagt: Die Detektiv-Figur ist einerseits betont männlich und andererseits einsam und in ihrer Persönlichkeit gebrochen. Sie begegnet immer wieder ebenso mondänen wie zwielichtigen Frauen, wobei solche Bekannt- und manchmal auch Liebschaften selten dauerhafte Folgen zeitigen. Der englische Typus – von Sherlock Holmes über Hercule Poirot bis Miss Marple – wirkt dagegen entsexualisiert. Die Figur scheint größtenteils ohne eine Partner- oder Liebschaft zurecht zu kommen und sich auch keine zu wünschen. Die relative Einsamkeit ist einerseits der weitergetriebenen Individualisierung geschuldet und andererseits der Dramaturgie einer Handlung, die sich auf Verbrechen und deren Aufklärung konzentriert.
Neben anderen, noch zu diskutierenden Faktoren dürfte es gerade der hochgetriebene Individualisierungsgrad der Hauptfiguren sein, der viele Krimis für heutige Rezipient*innen so attraktiv macht. Der Krimi setzt der Suche nach Ordnung in einer unübersichtlich gewordenen Welt ein ‚role model‘ entgegen, das die Unwägbarkeiten, Fährnisse und Paradoxien der Moderne meistert oder zumindest aushält.
Allerdings hat sich ein Bild des Krimis verfestigt, das quer zu der Entwicklung des Genres steht. Das Erbe der Aufklärung ins Zentrum rückend hat Bertolt BrechtBrecht, Bertolt festgestellt: „Der Kriminalroman handelt vom logischen Denken und verlangt vom Leser logisches Denken. Er steht dem Kreuzworträtsel nahe, was das betrifft“ (Brecht 1998, 33). Das trifft zu 100 Prozent allerdings nur auf triviale Beispiele des Genres zu. Selbst die Krimis, in denen die immer wieder gehandelten Prototypen auftreten, allen voran PoePoe, Edgar Allans Auguste Dupin und Conan DoyleConan Doyle, Arthurs Sherlock Holmes, zeigen deutlich, dass es über die Aufklärung eines Verbrechens hinaus etwas gibt, das ebenso wenig zähmbar ist wie der Gorilla bei Poe oder der Hund der Baskervilles bei Doyle. Man kann es einfangen und bannen und vielleicht sogar töten, aber höchstens für die Dauer der Erzählung, über die hinaus es weiterwirkt.
Helmut HeißenbüttelHeißenbüttel, Helmut hat auf diesen Kern bei Poe aufmerksam gemacht: „Der Täter ist ein Affe. In dieser extremen Polarisierung von Ratio und Unmenschlichkeit erscheint der Doppelmord in der Rue Morgue wie ein Programm, das in so reiner Ausprägung nie wieder eingeholt werden sollte“ (Heißenbüttel 1998, 111). Freilich gibt es in anderen Texten und auch in Filmen nicht weniger extreme Gegensätze, die nur anders angelegt sind und eigentlich Durchkreuzungen von gängigen Mustern darstellen. So ein Gegensatz findet sich beispielsweise in HoffmannHoffmann, E.T.A.s Figur Cardillac in Das Fräulein von ScuderiDas Fräulein von Scuderi