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Charlotte Ursinus, geb. von Weiss war eine Adelige in Berlin um 1800. Sie wurde wegen des Verdachtes auf Giftmord verhaftet. Monatelang war sie das Stadtgespräch in Berlin und die Sensationspresse berichtete ausführlich. Eine Reihe von Büchern wurden veröffentlicht, oft aber enthielten sie nur Halbwahrheiten oder erfundene Skandale. Klaus le Vrang hat in diesem Buch Wert gelegt auf exakte Tatsachen. Und die Wirklichkeit erweist sich als interessanter und spannender als die ausgedachten Geschichten. Es ist faszinierend zu erkennen, wie Charlotte Ursinus im Zuge der Ermittlungen und des Gerichtsverfahrens mit einer Verwirrtheit, hinter der eiskalte Logik steckt, der Todesstrafe zu entrinnen versucht. Dabei tritt auch das Eigenbild der Verbrecherin deutlich zutage.
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Seitenzahl: 190
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Vorwort
Einleitung
Teil 1: Die Zeit bis zum Urteil
Benjamin Klein
Die Ermittlungen
Die Kindheit und Jugend der Ursinus
Die Heirat
Die Ehe der Ursinus und der Liebhaber Ragay
Der Tod des Ehemannes Theodor Ursinus
Der Tod der Erbtante Christiane Witte
Die Exhumierungen
Die Obduktionsergebnisse
Das Gutachten des Arztes Heim
Einige rechtliche und rechtsgeschichtliche Anmerkungen
Die Giftanschläge auf Benjamin Klein
Das Gerichtsverfahren 1 Instanz
1 Ragay
2 Theodor Ursinus
3 Christiane Witte
Das Gerichtsverfahren der 2 Instanz
Gutachten
Ein „Schriftsatz“ der Ursinus
Das Urteil
Teil 2: Die Zeit nach dem Urteil
1803
1804 (1 Jahr der Gefangenschaft)
1805 (2 Jahr der Gefangenschaft)
1806 (3 Jahr der Gefangenschaft)
1807 (4 Jahr der Gefangenschaft)
1808 (5 Jahr der Gefangenschaft)
1809 (6 Jahr der Gefangenschaft)
1810 (7 Jahr der Gefangenschaft)
1811 (8 Jahr der Gefangenschaft)
1812 (9 Jahr der Gefangenschaft)
1813 (10 Jahr der Gefangenschaft)
1814 (11 Jahr der Gefangenschaft)
1815 (12 Jahr der Gefangenschaft)
1816 (13 Jahr der Gefangenschaft)
1817 (14 Jahr der Gefangenschaft)
1818 (15 Jahr der Gefangenschaft)
1819 (16 Jahr der Gefangenschaft)
1820 (17 Jahr der Gefangenschaft)
1821 (18 Jahr der Gefangenschaft)
1822 (19 Jahr der Gefangenschaft)
1823 (20 Jahr der Gefangenschaft)
1824 (21 Jahr der Gefangenschaft)
1825 (22 Jahr der Gefangenschaft)
1826 (23 Jahr der Gefangenschaft)
1827 (24 Jahr der Gefangenschaft)
1828 (25 Jahr der Gefangenschaft)
Nach 1828
Nachwort
Danksagung
Literaturverzeichnis
Über Charlotte Ursinus gibt es einiges an Literatur - schließlich war ihre Person vor etwas über 200 Jahren wochenlang das Stadtgespräch in Berlin Ein Thema, in dem „sex and crime“ zusammenflossen - schon damals, wie auch heute noch, ein dankbarer Publikumsmagnet
Einige Bücher über sie behandelten das Thema nicht nur oberflächlich Aber die ausführlicheren Darstellungen sind inzwischen auch schon über 100 Jahre alt, und die Betrachtungsweise von damals ist für uns heute nicht so einfach nachvollziehbar Zuviel damaliger Zeitgeist ist eingeflossen
Ich möchte mit dem vorliegenden Buch die Ereignisse um Charlotte Ursinus durch die Brille der jetzigen Zeit sehen, wobei ich versuche, auch die Unterschiede zwischen damals und heute aufzuzeigen
Dabei bin ich bestrebt, die Ereignisse nicht moralisierend darzustellen, mich wirklich an die Tatsachen zu halten und keine Wertungen abzugeben Ich weiß, immer wird mir das nicht gelingen (die eine oder andere Anmerkung rutscht mir dann doch heraus), aber meine Absicht ist es, dem Leser freien Raum zu geben und Charlote Ursinus selbst kennenzulernen Mit „Leser“ ist immer jeder, der das Buch liest, gemeint, welchen Geschlechts auch immer
Wenn ich damit erreiche, dass das Buch auf Interesse stößt (trotz der manchmal in ihrer alten Sprache schwer zu durchdringenden Zitate), und ich vielleicht sogar an manchen Stellen ein bisschen Neugier wecken kann, wäre mir das eine ganz besondere Freude
Liebe Leser, tauchen Sie mit ein in das Berlin zur Zeit der Jahrhundertwende um 1800
Ihr Klaus le Vrang
Charlotte Ursinus, geb von Weiß steht bei mir im Familienstammbaum Dieser Stammbaum umfasst allerdings auch entferntere Verwandte, und solchen ist Charlotte Ursinus zuzurechnen Dennoch ist sie und bleibt sie eine Person im Stammbaum, und sie ist wahrlich nicht alltäglich (Gott sei Dank! Eine von dieser Art reicht)
Bei der Fragestellung, ob es genügend Material gibt, um ein ganzes Buch über sie zusammenzustellen, ergab die erste Suche nur zwei ernstzunehmende Literaturstellen
Beide beschreiben „die Ursinus“, die Giftmischerin Und beide sind insoweit seriöse Quellen, als sie keine erdichteten Pseudofakten eingefügt haben, sondern sich ernsthaft darum bemüht haben, die Tatsachen zusammenzustellen Aber beide sind über 150 Jahre alt Und es ist auch nur zum Teil erkennbar, welche Quellen wiederum diese Bücher benutzt haben
Ich habe aus beiden auch Textstellen zitiert Dabei habe ich die damalige Diktion und Orthographie beibehalten, wie auch bei den anderen alten Quellen, auf die ich noch zu sprechen komme Zum einen spiegelt das die Authentizität wider, und es ist nach meinem Gefühl auch unangemessen, die damalige Sprache auf unser heutiges Niveau anzupassen Man täte ihr damit sehr unrecht Was die „Rechtschreibung“ anbelangt: Es gab damals ja noch gar keine Es bestanden keine Regeln, diese kamen erst mit dem Duden, also deutlich später (erste Ausgabe 1880) Davor bestand die Freiheit, so zu schreiben, wie man es für richtig hielt, und diese bemerkenswerte Freiheit wollte ich bei den Zitaten beibehalten Nur in einigen Aktenteilen habe ich behutsam eingegriffen Zum Beispiel, wenn das Wort „wahr“ ohne „h“ geschrieben wurde und damit der Satz für uns heute erst einmal unverständlich wurde
Die beiden oben genannten Bücher sind:
1 C F Stephany „Charlotte Ursinus – die Giftmischerin“ Enthüllung ihrer Lebenszüge und Schuld, Berlin 1866
Stephany war „Platzmajor“, der in der letzten Phase der Festungshaft sozusagen der Gefängnisdirektor und zugleich offensichtlich für Charlotte Ursinus ein willkommener Geprächspartner war Stephany schrieb all das auf, was die Ursinus ihm so erzählte Dabei nahm sich der Herr Major der Aufgabe an, mit all den Einzelheiten auch die Psyche seiner Gefangenen etwas zu durchleuchten Spätestens hier allerdings wollte ich diese Teile nicht übernehmen Und bei den anderen Abschnitten muss immer im Auge behalten werden, dass die Angaben von der Ursinus selbst stammten, und zwar sowohl die, die sie Stephany erzählte als auch die, die Stephany aus den Akten entnahm, denn auch dort stand ja das, was Ursinus bei ihrer Vernehmung ausgesagt hatte Wobei ich noch eine Anmerkung machen möchte: Es irritiert mich etwas, dass in all den Akten des Geheimen Preußischen Staatsarchivs, die sich ausgiebigst auch mit der Zeit ihrer Haftstrafe auseinandersetzen, nirgendwo dieser Name „Stephany“ auftaucht Und auch das Erscheinungsjahr von 1866 (Charlotte verstarb 1832) ist eher ungewöhnlich Dennoch habe ich mich entschlossen, das Buch von Stephany für bare Münze zu nehmen, es wirkt authentisch
2 Willibald Alexis und Julius Eduard Hitzig „Kriminalfälle des neuen Pitaval – eine Sammlung der interessantesten Criminalgeschichten aller Länder aus älterer und neuerer Zeit“, Leipzig 1854
So „neu“, wie der Titel suggeriert, ist diese Quelle nicht, sie stammt aus 1854, die verwendeten Fakten gründen sich auf die Gerichtsakten, wobei die Verfasser vielfach ihre eigenen Vermutungen (die oft sehr naheliegend waren) einfließen ließen
Eher zufällig fand ich in „Preussische Staatsschriften aus der Regierungszeit König Friedrich II 3 Band S 478ff“ Berlin 1892 die amtlichen Protokolle zu den „Vorfällen“ zu Maximilan von Weingarten, dem Vater von Charlotte Ursinus
Zudem habe ich die Gerichtsakten aus dem Geheimen Preußischen Staatsarchiv besorgt, dieses Archiv heißt zwar immer noch „geheim“, ist aber natürlich heute öffentlich zugänglich Dabei habe ich auch die Kopie der Privatakte des Königs zu dem Fall erhalten, eine Quelle, die Pitaval und Stephany zu ihrer Zeit nicht zur Verfügung stand Inhalte der Akten sind zum Teil sinngemäß, zum Teil wörtlich in diesem Buch übernommen
Einige Literatur der damaligen Zeit, insbesondere medizinischer Art, oder Auszüge aus den Gesetzbüchern des preußischen Landrechts sind ebenfalls eingeflossen
Eine Anmerkung möchte ich noch machen: In all diesen Büchern und auch in den Akten wird, wenn von Charlotte Ursinus gesprochen wurde, sie immer nur „die Ursinus“ genannt – diese Diktion habe ich weitgehend der Einfachheit halber übernommen
Zur Struktur des Buches habe ich noch eine Anmerkung: In Teil 1 wird das Gerichtsverfahren dargestellt, die Ereignisse überschlagen sich fast, die Abläufe sind dynamisch Im zweiten Teil hingegen versuche ich, die Festungshaft darzustellen, naturgemäß sind die Abläufe sehr viel geruhsamer (ja, es gab keine Ausbruchsversuche ) Aber vielleicht gelingt es mir gerade in diesem zweiten Teil, den Charakter der Ursinus noch etwas zu verdeutlichen
Für das weitere Verständnis mag es hilfreich sein, eine kurze Darstellung der Familienzusammenhänge in Form eines Stammbaumes aufzuzeigen
Benjamin Klein
Berlin, im Februar 1803
Benjamin Klein fühlte sich unwohl
Benjamin Klein war ein Bediensteter im Haushalt der verwitweten Geheimrätin Charlotte Ursinus in der Behrenstraße in Berlin, einer Dame mit Vermögen, die zu den gehobenen Ständen hier in Berlin zählte
Das Verhältnis zwischen Benjamin und seiner Arbeitgeberin, der er schon eine Reihe von Jahren diente, war gut Es war sogar mehr als das – es war ein Vertrauensverhältnis, und die Frau Geheimrätin teilte mit ihm auch Gedanken, die man damals sonst sicherlich nicht seinen Domestiken erzählt hätte So besprach sie mit ihm sogar, dass sie sich gerne wieder verheiraten würde und erwähnte auch den Namen eines in Aussicht genommenen Herrn Ein Projekt, das sich aber letztlich wieder zerschlug Aber seitdem war das Verhältnis zwischen der Frau Geheimrätin und Benjamin Klein getrübt, es gab auch Zank, und Benjamin hatte deshalb jetzt gekündigt und wollte demnächst anderweitig eine Stelle annehmen So war zumindest sein Plan
Jetzt, Februar 1803, während Benjamin das Mittagessen servierte, überkam ihn, wie er sagte, ein „Unwohlsein“, auch mit Erbrechen Er klagte es seiner Herrin, und diese war sogleich sehr besorgt um ihn Sie ließ Benjamin eine Tasse aus der Küche holen, aber schickte ihn nochmals in die Küche, um auch die zugehörige Untertasse zu bringen Als er zurückkam, hatte Frau Geheimrätin bereits von der Boullion, die es heute Mittag als Suppe gab, etwas in die Tasse eingefüllt, die er austrinken solle, damit er wieder zu Kräften käme
Benjamin tat, wie ihm geheißen, er bemerkte aber, dass in der Tasse ein „pulverisierter Bodensatz, etwa ein halber Teelöffel voll“ zurückblieb Kurz nach dem Trinken der Brühe verspürte Benjamin, wie er beschrieb, „Übelkeiten und Leibschmerzen“, und Frau Geheimrätin, besorgt um ihn, füllt ihm die Tasse nochmals nach und lässt ihn sie austrinken
Benjamin konnte noch feststellen, dass es diesesmal keinen Bodensatz mehr gab, dann überfallen ihn Schwindel, Hitze und ein noch stärkeres Erbrechen
Er war nunmehr bettlägerig und in qualvollem, schlechtem Allgemeinzustand Bisweilen besuchte ihn seine Herrin, die „sehr liebevoll und gütig“ war und auch ihren Hausarzt, den „General-Chirurgus“ Laube zu dem Kranken schickte Dieser diagnostizierte ein „schleimiges galliges Nervenfieber“ Charlotte Ursinus ermahnte den Hausarzt noch ausdrücklich zu größter Sorgfalt bei der Behandlung dieser Krankheit Und sie kümmerte sich auch selbst um ihn So erschien sie den nächsten Tag mit ein paar Rosinen, um ihn zu stärken und blieb, bis er auch die letzte aufgegessen hatte Kurz darauf erreichten die Schmerzen und auch das Erbrechen einen noch höheren Grad Am nächsten Tag, am 28 Februar, erschien die Frau Geheimrätin wiederum und brachte Reis und Milch mit, wovon sie dem Hausdiener einen Löffel verabreichen wollte, damit er zu Kräften käme Benjamin aber verweigerte die Nahrung, und die Frau Geheimrätin entsorgte Reis und Milch sofort selbst in den Abfall
Benjamin, der inzwischen sehr hinfällig war, empfand die ganzen Abläufe als außerordentlich merkwürdig Aber nunmehr von seiner Herrin in Ruhe gelassen ging es ihm etwas besser Doch sein Argwohn war geweckt, und als er wieder auf den Beinen stehen konnte, beschloss er, sich in den Zimmern und Spinden seiner Herrschaft heimlich umzusehen Und am 2 März fand er in einem Schrank ein Tütchen Pulver mit der Aufschrift „Arsenik“
Am nächsten Tag bot ihm seine Herrin einige gebackene Pflaumen an, die er auch annahm Aber er verließ sogleich wieder das Zimmer, so dass Frau Geheimrätin nicht überprüfen konnte, ob er sie auch gegessen hätte
Es ist jetzt natürlich nicht überraschend, dass Benjamin sich hütete, sie in den Mund zu stecken Nein, er wandte sich an die Kammerjungfer Schley, die mit ihm in dem Haushalt arbeitete, schilderte ihr kurz seine Ängste, und diese brachte die Pflaumen auch gleich zu ihrem Bruder, einem Apothekerlehrling in der Flittnerschen Apotheke
Dort stellte sich bei einer Untersuchung sofort heraus, dass die Pflaumen Gift enthielten
Und dann ging alles ganz schnell:
Der „Prinzipal“ der Apotheke, Herr Flittner, unterrichtete seinen Vorgesetzten, den Obermedizinalrat Welper, der wiederum den Direktor Geheimrat Warsing der „Immediatkriminalkommission“ informierte Diese Kommission führte in Berlin die Aufsicht über alle Untergerichte Warsing vernahm Benjamin Klein, die Kammerjungfer Schley und die beiden Beteiligten in der Apotheke und veranlasste dann umgehend einen Haftbefehl gegen Frau Geheimrätin Charlotte Ursinus
Am Abend des 5 März 1803 befand sich Charlotte Ursinus in einer angeregten Gesellschaft Es wurde Karten gespielt, und Charlotte war gerade in einer Whistpartie, als ein Diener des Hauses an sie herantrat Er war etwas blass geworden: Im Flur und Vorzimmer stünden Polizeibeamte, die sie sprechen wollten
Die Frau Geheimrätin war die Ruhe selbst Sie legte ihre Karten hin, entschuldigte sich bei den Mitspielern für diese unerwartete Unterbrechung, die nur auf einem Missverständnis beruhen könne, und sie wäre gleich wieder zurück
Sie war aber nicht gleich wieder zurück Genau genommen war sie nie mehr „zurück“, ab jetzt lief alles ganz anders, als sie dachte
Natürlich ging es wie ein Lauffeuer durch die ganze Stadt Berlin, dass eine reiche und honorige Dame der oberen Gesellschaftsschicht verhaftet worden war Und für jeden war es nach dem, was an Informationen durchsickerte, selbstverständlich, dass es sich hier um eine „Giftmischerin“ handelte Es war eine so wunderbar gruselige Vorstellung, dass man eine solche Bestie in der Gesellschaft hofiert hatte
Das Leben dieser Geheimrätin Charlotte Ursinus wurde jetzt durchleuchtet, und zwar von zwei Seiten Zum einen von der Polizei, dann aber auch von der Gesellschaft Es sickerte natürlich auch einiges der polizeilichen Ermittlungen durch Das fand dann seinen Weg in die gierig sie aufsaugende Presse Ein besonderes Beispiel dafür ist das Buch „Bekenntnisse einer Giftmischerin – von ihr selbst geschrieben“, Erstausgabe 1803 bei Johann Friedrich Unger, Berlin Es war natürlich, entgegen des Titels, überhaupt nicht von ihr selbst geschrieben, sondern eine Mischung Ein Konglomerat aus einigen Tatsachen, die durchgesickert waren, vielleicht auch wenigen eigenen Nachforschungen und vor allem von viel bis sehr viel Phantasien, was alles gewesen sein könnte Um es deutlich zu sagen: Fake News von vor über 200 Jahren, mit einer Sensationsgier und Beigabe von sexuellen Darstellungen, wie wir sie ähnlich in unserer heutigen Boulevardpresse finden, nur mit – das muss man anerkennen – einer sehr viel ausgefeilteren Sprache Aber das Buch war in Berlin ein absoluter Verkaufsschlager, und es kam ja wirklich in bemerkenswerter Schnelligkeit auf den Markt Sogar Goethe hatte es gefallen, aber ob wegen der Sprache oder wegen des Inhaltes hat er nicht gesagt Übrigens hat keine dieser Spekulationen Eingang hier in dieses Buch gefunden, auch nicht andeutungsweise
Sorgfältiger als es in den Gesellschaftsschichten lief waren die polizeilichen Ermittlungen Die Aussagen von Benjamin Klein wiesen überdeutlich auf einen Mordversuch hin, und die vorliegenden Tatsachen stützten diese Aussagen, sie waren also keine Hirngespinste Es bestand die Notwendigkeit zu ermitteln und das Leben der Charlotte Ursinus nachzuzeichnen
Dem schließe ich mich jetzt ebenfalls an, möchte es aber mit eigenen Rechercheergebnissen anreichern und auch mit Inhalten aus Berichten über persönliche Gespräche, die sie viele Jahre nach diesem ereignisreichen Jahresanfang 1803 hatte
Auf den ersten Blick schien Charlotte Ursinus, geb von Weiss aus gutem Hause zu kommen Der Vater war adelig, die Mutter die Tochter des Bürgermeisters von Charlottenburg, und geheiratet hatte Charlotte einen höherrangigen preußischen Beamten, der akademisch gebildet war Das alles klingt sehr wohlsituiert und angepasst
Nachdem wir aber heute auch in Akten der damaligen Zeit schauen können, zu denen die Öffentlichkeit seinerzeit – und „seinerzeit“ bedeutet immerhin den Zeitraum von über 100 Jahren von 1803 bis 1914 – keinen Zugang hatte, sieht ihre Herkunft keineswegs mehr so geschmeidig aus
Charlottes Vater war Maximilian Baron von Weingarten, ein österreichischer Beamter, der seinen Vorgesetzten, den Habsburger Gesandten am preußischen Thron, ca 1746 als dessen Sekretär nach Berlin begleitete Das Verhältnis zwischen Preußen und dem Habsburger Reich war zu dieser Zeit sehr angespannt, Friedrich der Große und Maria Theresia hatten heftige, auch kriegerische Auseinandersetzungen insbesondere um Schlesien, die in den Siebenjährigen Krieg (1756 - 1763) mündeten
Maximilian von Weingarten war also als diplomatischer Bediensteter in Feindesland tätig
Aber so ziemlich das Erste, was er unternahm, als er in Berlin angekommen war, war ein Anschreiben an den preußischen König Friedrich II den Großen Darin bot er seine Dienste als Spion an! Inzwischen liegen umfangreiche Akten vor, die aber für die Aufklärung des Falles „Geheimrätin Ursinus“ nicht relevant sind, so interessant sie auch sein mögen (sie sind es wirklich) Hier ist nur von Bedeutung, dass Maximilian ziemlich hohe finanzielle Forderungen als Gegenleistung verlangte Zudem forderte er für seine Enthüllungen ein „Patent als Legationsrath“, in dem „der Platz vom Namen frei sein muss, welchen er selbst einsetzen will“
Was er an die preußische Regierung berichtete, war eine Art Gemisch aus Halbwahrheiten und erfundenen Gegebenheiten Aber – und das war wirklich ein Schaden für das habsburgische Reich – er verriet den De chiffrierschlüssel für geheime Schreiben, und erst jetzt gelang es den preußischen Geheimdiensten, die abgefangenen Kassiber auch tatsächlich zu lesen In der „aktiven“ Zeit des von Weingarten wurde der Schlüssel mehrfach geändert, aber stets von ihm wieder an die Preußen weiterverraten
Der Gesandte, also der Chef von Maximilian, wechselte Der neue Botschafter, General de Puebla, war misstrauisch, und von Weingarten setzte sich deswegen lieber ab Kurz zuvor hatte er Ernestine Witte geheiratet, ein preußisches Mädchen, Tochter des Bürgermeisters von Charlottenburg, das er nach eigenen Worten verführt hatte
Der Gesandte von Puebla setzte in Preußen eine Fahndung nach dem österreichischen Landsmann durch, der für Preußen spionierte Die Österreicher hätten dann die Auslieferung gefordert, und es kann kein Zweifel bestehen, dass der Spion, einmal ausgeliefert an Österreich, hingerichtet worden wäre Allein, die Polizei konnte bei all der Suche keinen von Weingarten finden
Maximilian nutzte nämlich sein wie oben beschrieben verlangtes „Patent als Legationsrath“ und war nunmehr in Stendal, wo er untergetaucht war, nur noch unter dem selbst erdachten Namen „von Weiss“ bekannt Es entsteht der Eindruck, dass die Polizei es seinerzeit auch gar nicht so genau wissen wollte, sie suchten – gemäß Auftrag des habsburgischen Gesandten (der ja einem feindlichen Land angehörte) nach einem Maximilian von Weingarten – und den gab es ja nun sonderbarerweise gar nicht
Maximilian von Weiss starb 1781 Er hatte für seine „Dienste“ zwar viel Geld erhalten, aber er hatte zu Lebzeiten noch mehr Geld durchgebracht Die Witwe mit ihren Kindern stand völlig mittellos da Vom preußischen König Friedrich dem Großen wurde eine kleine Pension gewährt, damit sie ihrem Sohn (bei Mädchen kam es nicht so darauf an) eine Ausbildung, natürlich eine militärische, ermöglichen konnte
Am 1 Mai 1760 wurde Charlotte geboren Sie muss eine Reihe von Geschwistern gehabt haben, sie selbst gab die Zahl von „etwa 15“ an, wobei, wir werden es noch sehen, solche Angaben aus Charlottes Mund mit sehr viel Misstrauen aufgenommen werden müssen Jedenfalls haben viele der Geschwister nicht das Erwachsenenalter erreicht
Interessant ist, wie sie selbst die Geschichte ihrer Eltern und ihrer Kindheit erzählte Ihr Gesprächspartner war C F Stephany, der, nach seinen Angaben, gegen Ende ihrer Festungshaft dort „Platzmajor“ war, also eine Art Edel-Gefängniswärter Ihm hat die Ursinus mangels anderer Zuhörer vieles erzählt Stephany veröffentlichte 1866 sein in der Einleitung erwähntes Buch „Charlotte Ursinus, die Giftmischerin“ und versuchte sich darin auch mit einer Ausdeutung ihrer Psyche Letzteres blieb doch recht laienhaft Aber er hat viele Gespräche aufgeschrieben, und die Geschichte ihrer Jugend aus dem eigenen Munde klingt sehr viel anders als das, was in den Akten vermerkt war:
„Anfangs habe ihre Mutter als damalige Braut des Weingarten ihn durchaus nicht vermögen können, gewisse wichtige, in seinem Schreibspinde unter Verschluß befindliche Papiere auszuliefern. Sie veranstaltete dann eine Spazierfahrt mit ihrem Geliebten, zugleich während derselben durch einige in das Geheimniß eingeweihte Personen das Oeffnen seines Schreibspindes und die Wegnahme der bezüglichen Papiere. Es fand sich jedoch, daß die wichtigsten davon in Chiffren abgefaßt waren. Der Beraubte, durch diese Gewaltthat in der größten Verlegenheit, ließ sich endlich durch Versprechungen und Drohungen, so wie aus gerechten Besorgnissen, sich von allen Seiten, besonders bei dem Oesterreichischen Gesandten verdächtigt zu sehen, zur Enträthselung der Chiff ren bereden.“
Hier wird plötzlich der Ablauf, wie der Vater zum Geheimnisverrat gekommen sei, als eine Intrige der Mutter dargestellt, in die der harm- und arglose Vater hineingeschlittert sei Die Aktenlage, siehe die vorhergehenden Seiten, ergibt aber ein komplett anderes Bild Charlotte hat, wie man so schön sagt, was vom Pferd erzählt
Hier folgt ihre persönliche, von Stephany aufgezeichnete Darstellung (der manchmal etwas unvollständig erscheinende Satzbau wurde original übernommen):
Der Oesterreichische Gesandte, Graf v. Puebla, trug - mit, Berufung auf das Völkerrecht - bei dem Berliner Hofe darauf an: „daß sein entflohener Secretair ausfindig gemacht, verhaftet und nach Wien ausgeliefert werde.“ Durch diese Requisi tion bewogen, erließ der König an den Magistrat zu Stendal folgende Cabinets-Ordre:
„Da Sr. Königlichen Majestät allerunterthänigst gemeldet worden ist, wie der jüngere von Weingarten, Secretaire des Römisch-Kaiserlichen Königlichen Gesandten zu Berlin, Grafen v. Puebla, jüngsthin heimlich von Berlin entwichen und nach Stendal zu seinen Verwandten daselbst gegangen sey; so befehlen Se. Majestät Dero Magistrat zu Stendal hierdurch so gnädig als alles Ernstes, vorgedachten von Weingarten, dafern derselbe sich zu gedachtem Stendal befindet, allsofort arretiren und zum sichern Verhaft bringen zu lassen, und sodann sogleich an Se. Königliche Majestät davon zu berichten, damit zur sichern Abholung des erwähnten von Weingarten sogleich das Weitere verfügt werden könne. Wonach erwähnter Magistrat sich eigentlich und allerunterthänigst zu richten hat. Potsdam, den 19. Juny 1756. (gez.) Friedrich.“
Frau und Kinder des Entflohenen wollte übrigens der Monarch nicht ausliefern, und in Stendal fand sich Niemand jenes Namens: denn der „von Weingarten“ ließ sich hier „von Weiß“ nennen. Es heißt, er habe sich auf höheren, in heiterer Laune gegebenen Befehl so umtaufen müssen, wegen seiner sehr gebräunten Gesichtsfarbe [eine schon in sich widersprüchliche und auch ziemlich alberne Erklärung].
Die Verhaftung des Andersbenannten unterblieb nicht nur, er lebte sogar nach dem wirklichen Ausbruche des siebenjährigen Krieges ganz ruhig, ohne irgendeine Anfechtung, in jener Stadt, und starb dort erst in der Mitte der neunziger Jahre des 18. Jahrhunderts.
Das geheime verwegene Spiel konnte jedoch später in Berlin nicht länger fortgesetzt werden; heimlich entwich das Ehepaar (1756) nach Stendal Doch auch dort zog sich bald über ihren Häuptern, die wahrscheinlich in Wien dem Schwert verfallen wären, ein drohendes Ungewitter zusammen
Charlotte hat also offensichtlich Anleihen gemacht bei Pippi Langstrumpf: „Ich mache mir die Welt, wie sie mir gefällt “
Mit 12 Jahren kam sie zu der verwandten Familie Haack in Spandau, wo sie erzogen wurde Die junge Frau Haack war ihre Schwester Mit dem ihr eigenen Selbstbewusstsein beschrieb Charlotte es so:
„Hier erhielt ich in vielen Wissenschaften, Sprachen und Künsten den besten Unterricht. Selbst höhere Wissenschaften, zum Beispiel Philosophie, Chemie und Physik, waren nicht davon ausgeschlossen.“
Es kam dort zu einer Liebschaft, näheres ist nicht zuverlässig bekannt, und an Spekulationen wollen wir uns nicht beteiligen, so reizvoll sie auch gewesen sein mögen Jedenfalls holten die Eltern daraufhin Charlotte wieder nach Hause, und sie werden ihre Gründe gehabt haben