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Polizeiliche Beweistätigkeit unterstützt den Strafanspruch des Staates in einem rechtstaatlichen Verfahren. Sie gewährleistet darüber hinaus die Schutz- und Sicherungsverpflichtungen staatlicher Organe gegenüber dem Bürger, zu denen die Polizei im besonderen Maße aufgerufen ist. Die professionelle Beweisführung selbst ist Aufgabe des Kriminalisten. Sie erfordert sowohl Grundlagen- und spezielles Wissen, sowie methodisch strukturiertes Vorgehen und praktische Erfahrung. Dieser Studienbrief vermittelt dem Leser die dazu notwendigen rechtlichen und kriminalistischen Bezüge. Die interdisziplinäre Kriminalistenausbildung verzahnt die strafprozessualen mit den polizeilichen Aspekten. In jedem Fall verläuft eine zielführende polizeiliche Aufgabenwahrnehmung immer unter der juristischen Wächterrolle. Daher erörtert der Autor im ersten Teil dieses Buches die erforderlichen juristischen Grundlagen. Im anschließenden zweiten Abschnitt stellt er die praktischen Bezüge der kriminalistischen Beweisführung dar. Inhaltlich ist der Abschnitt gekennzeichnet durch Informationsverarbeitungsprozesse und Berührungspunkte zur Kriminaltechnik, zur Fallanalyse und zur Vernehmung. Die reale Umsetzung der kriminalistischen Beweisführung stellt der Autor zudem an konkreten Beispielen und Fallgestaltungen dar.
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Seitenzahl: 253
Veröffentlichungsjahr: 2013
Lehr- und Studienbriefe Kriminalistik / Kriminologie
Herausgegeben von Horst Clages, Leitender Kriminaldirektor a.D. Klaus Neidhardt, Präsident der Deutschen Hochschule der Polizei
Band 14Der kriminalistische Beweis
VonNorbert Westphal
VERLAG DEUTSCHE POLIZEILITERATUR GMBHBuchvertrieb
Forststraße 3a • 40721 Hilden • Telefon 02 11 / 71 04-212 • Fax -270 E-Mail: [email protected] • www.vdpolizei.de
1. Auflage 2010 © VERLAG DEUTSCHE POLIZEILITERATUR GMBH Buchvertrieb; Hilden/Rhld., 2010 E-Book © VERLAG DEUTSCHE POLIZEILITERATUR GMBH Buchvertrieb; Hilden/Rhld., 2013 Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden. Satz und E-Book: VDP GMBH Buchvertrieb, Hilden ISBN 978-3-8011-0642-3 (Buch) ISBN 978-3-8011-0694-2 (E-Book) Besuchen Sie uns im Internet unter:www.VDPolizei.de
Vorwort
Der vorliegende Band der Reihe „Lehr- und Studienbriefe Kriminalistik/Kriminologie“ befasst sich mit der kriminalistischen Beweislehre. Er ist inhaltlich und didaktisch auf die Lehrinhalte der Fachhochschule für Öffentliche Verwaltung, aber auch auf den Bedarf des Streifen- und Ermittlungsdienstes abgestimmt. Der Studienbrief gliedert sich in zwei Abschnitte (1, 2), die die rechtlichen und kriminalistischen Bezüge aufeinanderfolgend vermitteln.
Im ersten Teil werden juristische Grundlagen erörtert, weil eine Abhandlung über den „kriminalistischen“ Beweis ohne Betrachtung der juristischen Beweislehre nicht denkbar ist. Die interdisziplinäre Kriminalistenausbildung verzahnt die strafprozessualen mit den polizeilichen Aspekten, eine zielführende polizeiliche Aufgabenwahrnehmung verläuft immer unter der juristischen Wächterrolle. Beweismittel, die ihren Anforderungen nicht genügen, haben einen geringeren oder im Zweifelsfall keinen Beweiswert. Allerdings werden bei differenzierender Betrachtung auch Unterschiede zwischen der kriminalistischen und strafprozessualen Beweisführung deutlich, die der organisatorischen Entwicklung der verschiedenen Organisationen, namentlich der Staatsanwaltschaften und der Polizeien, aber auch rechtlichen Entwicklungen,1 geschuldet sind.
Polizeiliche Beweistätigkeit unterstützt den Strafanspruch des Staates in einem rechtstaatlichen Verfahren. Sie gewährleistet darüber hinaus auch die Schutz- und Sicherungsverpflichtungen staatlicher Organe gegenüber dem Bürger, zu denen die Polizei im besonderen Maße aufgerufen ist.
Sowohl die prozessuale Beweisführung als auch die kriminalistischen Grundlagen basieren auf den gleichen Überlegungen der Wahrscheinlichkeits- und Plausibilitätsprüfung, auf direkten und indirekten Beweiserkenntnismöglichkeiten (Indizien), sowie streng logischer Schlussfolgerungen. Die Beweisbewertung sollte sich überdies, bei der Berücksichtigung von Aussagen, der Grundlagen der Wahrnehmungspsychologie und professioneller Vernehmungstechniken bedienen. Befinden und bedauern manche Autoren2, dass „künftige Richter und Rechtsanwälte noch immer nur Rechtsanwendung, nichts als Rechtsanwendung“ lernen und die Vermittlung elementarer Kenntnisse über Techniken der Beweiswürdigung defizitär ist, so sieht die Ausbildung von Kriminalisten eine inhaltlich und didaktisch geradezu konträre Schwerpunktsetzung vor: Alle kriminalistische Tätigkeit und Ausbildung dient letztlich dem Zweck, Tatsachen über Personen, deren Verhalten und Beziehungen untereinander zu beleuchten und Lebenssachverhalte so zu reproduzieren, dass außerhalb der Handlung stehende Personen ein nachvollziehbares Abbild der dargestellten Realität erhalten.
Im Abschnitt 2 des Studienbriefes werden ferner vertiefend die praktischen Bezüge der kriminalistischen Beweisführung erarbeitet und dargestellt. Der „kriminalistische Beweis“ bzw. die „kriminalistische Beweislehre“ ist ein Querschnittsthema mit Bezügen in alle Bereiche der operativen Kriminalistik. Inhaltlich ist das Thema durch Informationsverarbeitungsprozesse und Berührungspunkte zur Kriminaltechnik, zur Fallanalyse und zur Vernehmung gekennzeichnet. Die kriminalistische Beweislehre geht über den durch die Straf- oder Zivilprozessordnung gesetzten Rahmen deutlich hinaus: Sie kann, darf und muss schon früher und umfassender einsetzen, als dies nach der Strafprozessordnung (Anfangsverdacht) geboten und rechtlich zulässig erscheint. Der kriminalistische Beweisprozess dauert über das Ende des Strafverfahrens hinaus an und ist auf Nachhaltigkeit angelegt. Ein weiteres Feld, das ebenfalls nicht unerwähnt bleiben darf, ist die „kriminaltaktische Beweisführung“, die nicht rein reaktiv vorhandene Beweise erhebt, sondern in konkreten Ermittlungsverfahren zukunftsorientiert Beweismittel erarbeitet. Die reale Umsetzung der kriminalistischen Beweisführung an konkreten Beispielen und Fallgestaltungen soll dem Leser des Studienbriefes helfen, die Theoriebezüge in einen praktischen Handlungsmehrwert für das eigene berufliche Tätigwerden einbinden zu können. Dem Leser soll bewusst werden, dass die Beweisführung in der Hauptverhandlung, obwohl rechtlich entscheidend, ganz überwiegend in einem durch das Ermittlungsverfahren vorgezeichneten Rahmen verläuft. Die dynamischen Elemente der Beweisführung vom Prozess der Verdachtsschöpfung bis zum Abschluss der Ermittlungen sind, unter der Leitung der Staatsanwaltschaften, der Kriminalpolizei überantwortet, die damit entscheidend zum Prozess der Wahrheitsfindung beiträgt.
Weil darüber hinaus die Polizei an den Rahmenbedingungen der Wahrheitsfindung z. B. durch Zeugenschutzmaßnahmen oder den Schutz der Hauptverhandlung intensiv beteiligt ist, müssen konzeptionelle und taktische Überlegungen auch diesen Bereich betrachten.
Im kriminalistischen Teil des vorliegenden Studienbriefes werden die Ausführungen durch Fallbeispiele unterlegt. Die Fortschreibung und Abwandlung der Fälle soll, auch über mehrere thematische Abschnitte hinweg, didaktisch die vielen Querbezüge und erforderlichen Neuorientierungen innerhalb des Beweisprozesses verdeutlichen.
Der begrenzte Schreibumfang für ein derartig komplexes Querschnittsthema erforderte Schwerpunktsetzungen und viele Quellenverweise, deren Lektüre zur vertiefenden Erarbeitung des und Befassung mit dem Thema sinnvoll erscheinen. Eine wesentliche Grundaussage des Studienbriefes spiegelt sich in der nachfolgenden Empfehlung wieder:
Eine professionelle polizeiliche Beweisführung erfordert Grundlagen- und spezielles Wissen, methodisch strukturiertes Vorgehen und praktische Erfahrung.
Norbert Westphal
Senden, Juli 2010
1 Siehe zum Beispiel unter dem Stichwort „Vorfeldermittlungen“ oder dem als historischen Ausgangspunkt neuer Entwicklungen bekannt gewordenen Volkszählungsurteil (Mikrozensus): BVerfG, 15.12.1983, 1 BvR 209 209/83.
2 Bender/Rolf/Nack/Arnim 1995, Vorwort.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
1
Der Beweis im Strafprozess
1.1
Definition und Inhalt - der juristische Beweisbegriff
1.2
Beweisarten und Beweismittel
1.3
Grundprinzipien und Prozessmaximen
1.4
Der Erkenntnisprozess im Strafverfahren
1.4.1
Grundsätze der Beweiserhebung im Ermittlungsverfahren
1.4.2
Die Rolle von Polizei und Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren
1.4.3
Ermittlungs-/Untersuchungsgrundsatz und Verfolgungszwang (Legalitätsprinzip)
1.4.3.1
Verdachtsstufen und Eingriffsintensität
1.4.3.2
Die Unschuldsvermutung im Ermittlungsverfahren
1.4.4
Rechtseingriffe und -grundlagen im Ermittlungsverfahren
1.4.4.1
Die Einbindung in die Verfahrensgrundsätze
1.4.4.2
Fortentwicklung des Rechts
1.4.4.3
Vorfeldermittlungen (Initiativermittlungen, Strukturermittlungen)
1.5
Das Beweisverfahren in der Hauptverhandlung
1.5.1
Der Ermittlungsgrundsatz
1.5.2
Beweiserhebung auf Antrag
1.5.3
Die Prinzipien der Unmittelbarkeit, Öffentlichkeit und Mündlichkeit
1.5.4
Richterliche Beweiswürdigung und Überzeugungsbildung
1.6
Die Beweismittel
1.6.1
Der Beschuldigte im Strafverfahren
1.6.1.1
Beschuldigter – Begriff
1.6.1.2
Duldungspflichten/Maßnahmen gegen Beschuldigte
1.6.1.3
Rechte des Beschuldigten
1.6.1.3.1
Abwehrrechte
1.6.1.3.2
Anspruchsrechte
1.6.2
Der Zeuge im Strafverfahren
1.6.2.1
Pflichten des Zeugen
1.6.2.2
Rechte des Zeugen
1.6.2.2.1
Zeugnisverweigerungsrechte
1.6.2.2.2
Aussageverweigerungsrecht des Zeugen
1.6.2.2.3
Rechtsbeistand
1.6.2.3
Öffentlicher Dienst
1.6.2.4
Besondere Fragestellungen im Zusammenhang mit dem Zeugenbeweis
1.6.2.4.1
Zeugenschutz
1.6.2.4.2
Verdeckte Ermittler
1.6.2.4.3
Kinder und Personen mit mangelnder Verstandesreife
1.6.3
Sachverständige
1.6.4
Augenschein und Urkunden
1.7
Folgen von Verstößen gegen Beweisvorschriften - Beweisverbote (BV)
1.7.1
Spannungsfeld
1.7.2
Definition und Strukturierung von Beweisverboten
1.7.3
Fallbeispiele von Beweisverboten
1.7.3.1
Verfahrensfehler bei der Beweiserhebung
1.7.3.1.1
Gesetzliche Beweisverwertungsverbote
1.7.3.1.2
Nicht im Gesetz geregelte Beweisverwertungsverbote
1.7.3.1.3
Verwertungsverbote trotz ordnungsgemäßer Beweiserhebung
1.7.4
Fernwirkung von Beweisverwertungsverboten
1.8
Das Prinzip der Legalität und seine Grenzen
1.8.1
Verhältnismäßigkeit
1.8.2
Prinzip der Ökonomie und Rationalität (Ressourcenbindung)
1.8.3
Beweisführung in Verfahren der Massenkriminalität
1.8.4
Gesetzesförmige Absprachen im Strafrecht
2
Der Beweis in der Kriminalistik – Grundlagen
2.1
Ziel und Inhalt der kriminalistischen Beweisführung
2.2
Das Beweisverfahren als dynamischer Stufenprozess
2.3
Das Beweisverfahren als Informationsverarbeitungsprozess
2.4
Allgemeine Erkenntnistheorie
2.4.1
Beweis in der Erkenntnistheorie
2.4.2
Ideenfindung und Kreativitätstechniken zur Thesenbildung
2.4.3
Heuristische Methoden zur Beweisführung
2.4.4
Schlussfolgerndes Denken
2.4.5
These/Hypothese
2.4.6
Verifikation/Falsifikation
2.4.7
Die Aufbereitung komplexer Informationen
2.4.7.1
Die Analyse
2.4.7.2
Die Synthese
2.5
Kriminalpolizeiliche Strukturen zur Beweisführung
2.5.1
Methodenstruktur
2.5.2
Einsatz von Experten
2.5.3
Die Kriminalistische Fallbeurteilung (Fallanalyse)
2.5.3.1
Die Erweiterung der Fallanalyse
2.5.3.2
Der Einstieg in die Fallanalyse als Beweisprozess
2.5.3.3
Beweisrelevante Fragestellungen des Kriterienkataloges der Fallanalyse
2.5.4
Der Erste Angriff unter Beweisaspekten
2.5.5
Arbeiten in Ermittlungskommissionen
2.6
Kriminalistische Beweisstrategien
2.6.1
Beweistheorem A: „Der Täter war zur Tatzeit am Tatort“
2.6.2
Beweistheorem B: „Das Opfer und/oder die Folgen Tat müssen identifiziert und dokumentiert werden“
2.6.3
Beweistheorem C: „Die äußere und innere Tathandlung“
2.6.4
Beweistheorem D: „Die Identifizierung und Ergreifung des (unbekannten) Täters“
2.6.4.1
Die Kumulation von Beweisindizien
2.6.4.2
Die Gegenüberstellung
2.6.4.3
Die daktyloskopische Beweisführung
2.6.4.4
Die DNA-Analytik und ihr Beweiswert
2.6.4.5
Der Beweiswert der Telefonüberwachung, hier: „Standortfeststellung“
2.7
Einzelne kriminalistische Handlungsfelder unter Beweisgesichtspunkten
2.7.1
Die Anzeigenerstattung
2.7.2
Vernehmungen
2.7.3
Tatortarbeit – Sachbeweise, Kriminaltechnik
2.7.4
Aktive Beweiserhebung
2.7.5
Verdeckte Beweiserhebung
2.7.6
Einsatz polizeilicher Erkenntnisquellen zur Beweisführung
2.8
Der Abschluss des polizeilichen Beweisverfahrens
2.8.1
Der Beweiskreislauf
2.8.2
Schlussberichte
2.8.3
Einbringen vor Gericht
2.8.3.1
Polizeibeamte als Zeugen und Sachverständige vor Gericht
2.8.3.2
Umgang mit Beweismitteln
2.8.4
Aufgabenüberhänge
3
Schlussbemerkung
Anlage:
Zeugenschutz – Schematische Darstellung der Vertraulichkeitszusage (zu 1.6.2.4.1)
Zum Autor
Literatur- und Quellenverzeichnis
1 Der Beweis im Strafprozess3
1.1 Definition und Inhalt – der juristische Beweisbegriff
Ein Beweis ist in der Mathematik die als fehlerfrei anerkannte Herleitung der Richtigkeit oder auch Unrichtigkeit einer Aussage aus einer Menge von Axiomen4, die als wahr vorausgesetzt werden, und anderen Aussagen, die bereits bewiesen sind.5 Eine einheitliche dogmatische oder gesetzliche Definition des Beweisbegriffes ist juristisch nicht ersichtlich. Vielmehr wird in einer Vielzahl von Rechtsvorschriften zur Beweisfindung, -würdigung und -bewertung der formale Prozess der Sachverhalts- und Tatsachenfeststellung beschrieben, der letztlich in die richterliche Überzeugungsbildung mündet. Faktisch wohnt damit dem juristischen Beweisprozess, trotz des Bemühens um analytische Logik und Widerspruchsfreiheit, immer ein subjektives Element inne, das die Prägnanz mathematischer Beweisführung nicht erreichen kann. Der Bundesgerichtshof befindet:
„... freie Beweiswürdigung bedeutet, dass es für die Beantwortung der Schuldfrage allein darauf ankommt, ob der Tatrichter die Überzeugung von einem bestimmten Sachverhalt erlangt hat oder nicht, diese persönliche Gewissheit ist für die Verurteilung notwendig, aber auch genügend ... Ohne Bindung an gesetzliche Beweisregeln und nur seinem Gewissen verantwortlich hat der Tatrichter zu prüfen, ob er die an sich möglichen Zweifel überwinden und sich von einem bestimmten Sachverhalt überzeugen kann oder nicht.“6
In späteren Urteilen stellt der BGH dabei auch auf Tatsachengrundlagen ab, die objektive, rational einleuchtende und nachvollziehbare Erwägungen erkennen lassen:
„Die zur richterlichen Überzeugung erforderliche persönliche Gewissheit des Richters setzt objektive Grundlagen voraus. Diese müssen aus rationalen Gründen den Schluss erlauben, dass das festgestellte Geschehen mit hoher Wahrscheinlichkeit mit der Wirklichkeit übereinstimmt.“7
Demzufolge liegt das Hauptanliegen des gesamten Strafprozesses in der Ermittlung der (materiellen) Wahrheit.8 Beweis ist geführt, wenn in einem Gerichtsverfahren aufgrund richterlicher Überzeugungsbildung die Darstellung eines Sachverhaltes als Tatsache festgestellt ist.
a) Der zugrunde liegende Sachverhalt ist dabei die Summe der juristisch festgestellten und relevanten Fakten, ohne dass damit schon eine rechtliche Bewertung verbunden ist.
b) Sind alle festgestellten Fakten, Darstellungen und Behauptungen verifiziert oder verifizierbar, so können sie als „wahr“ festgestellt werden und der Beweis ist erbracht.
c) Kommt auch das Gericht im Wege der freien Überzeugungsbildung zu dem Ergebnis, dass die Beweisbehauptungen richtig sind, so mündet die abschließende Bewertung in einer Tatsachenfeststellung.
Dabei liegen dem Gericht zur Überzeugungsbildung überwiegend keine physikalischen Messungen oder reproduzierbaren Handlungsabläufe zugrunde, sondern lediglich die durch eigene Wahrnehmung der Beweismittel, logisches Schließen und relationale Verknüpfungen hergestellten, individuellen Schlussfolgerungen. Das Ergebnis der Beweiswürdigung des Gerichtes mündet in zwei Feststellungen: Entweder ist der Beweis zur eigenen Überzeugung geführt und damit eine Tatsache festgestellt, oder es bleiben Zweifel (des Gerichtes) an der Richtigkeit der behaupteten Tatsachen, dann gilt der Beweis als nicht erbracht. Die zweite genannte Alternative stellt den Angeklagten frei von belastenden Rechtsfolgen,9 bzw. muss in jedem Fall die für ihn günstigere rechtliche Alternative gewählt werden.10 Das Gericht ist dabei nicht an feste Beweisregeln gebunden, sondern frei in der Überzeugungsbildung.
1.2 Beweisarten und Beweismittel
Zumindest für die gerichtliche Hauptverhandlung ist ein Strengbeweisverfahren unter Beachtung der Mündlichkeit und Öffentlichkeit der Hauptverhandlung (§§ 261 StPO, 169 GvG) für alle Tatsachen vorgeschrieben, die die Schuld- und Straffrage betreffen. Strengbeweis meint dabei die Beachtung der in den §§ 244–257 StPO niedergelegten Formalgrundsätze und die ausschließliche Berücksichtigung der dort aufgeführten Beweismittel Reine Verfahrensfragen hingegen sind nicht an formelle Beweiserhebungsregeln gebunden. So kann das erkennende Gericht das Alter eines Zeugen durch Anruf bei der Meldestelle klären, oder Verwandtschaftsfragen von Zeugen im Standesamt erheben lassen. Ferner könnte z. B. die Frage, ob ein Beweisverwertungsverbot wegen einer unterlassenen Belehrung oder der Nichtbeachtung eines Richtervorbehaltes vorliegt, im Wege des Freibeweises durch Einholen schriftlicher Stellungnahmen geklärt werden.
• Zeugen (§§ 48–71 StPO),
• Sachverständige (§§ 72–85 StPO)
• Augenschein (§§ 86–93 StPO)
• Urkunden (§§ 249–256 StPO)
sowie
• Einlassungen und Geständnisse des Angeklagten (z. B. § 254 StPO).
Rechtlich weniger ausdifferenziert ist die Unterscheidung in unmittelbare und mittelbare Beweise11 (Indizienbeweise). Der 3. Zivilsenat des BGH führt dazu 1970 aus: „Bei einer Beweisaufnahme unterscheidet man den unmittelbaren Beweis und den mittelbaren (indirekten) Beweis (Indizienbeweis). Der unmittelbare Beweis hat tatsächliche Behauptungen zum Gegenstand, die unmittelbar und direkt ein gesetzliches Tatbestandsmerkmal als vorhanden ergeben sollen; der Indizienbeweis bezieht sich auf andere, tatbestandsfremde Tatsachen, also Hilfstatsachen, die erst durch ihr Zusammenwirken mit anderen Tatsachen den Schluss auf das Vorliegen des Tatbestandsmerkmals selbst rechtfertigen sollen. Diese Hilfstatsachen – meist Indiz oder Indizientatsachen, aber auch Anzeichen genannt – sind also Tatsachen, aus denen auf andere erhebliche Tatsachen geschlossen wird.“12
Aus einem unmittelbaren Beweis folgert somit die rechtserhebliche Tatsache direkt, während sie beim Indizienbeweis aus anderen Tatsachen rückgefolgert wird. Der unmittelbare Beweis im engeren Sinne ist nur dann gegeben, wenn sich der Tatrichter aufgrund eigener (Sinneswahrnehmungen) von der Tatsache überzeugen kann. Werden ihm Eindrücke nur vermittelt und er muss sich von der Richtigkeit der Darstellung überzeugen (lassen), so liegt immer ein mittelbarer Beweis vor. Daraus folgt, dass auch das Geständnis des Angeklagten oder die Aussage des unmittelbaren Tatzeugen nur mittelbare Beweise darstellen, von deren Richtigkeit der bewertende Richter sich überzeugen muss.13
Unmittelbare Beweise können z. B. die sichergestellte Waffe, das Rauschgift oder Falschgeld sein, die bei einem Beschuldigten sichergestellt werden, weil und insoweit der Besitz allein die Strafbarkeit begründet.
Beispiel: Hat der Beschuldigte 15 Gramm Heroin bei sich, so beweist dies den rechtswidrigen Drogenbesitz. Wird daraus gefolgert, dass der Betreffende mit Drogen handelt, so kann die Menge, die über den normalen Tagesgebrauch hinausgeht, lediglich aus dieser Schlussfolgerung heraus ein Indiz für den Handel sein. Sind die 15 Gramm in die üblichen Verkaufsportionen einzeln verpackt, wäre dies ebenfalls ein weiteres Indiz, trägt der Beschuldigte darüber hinaus Bargeld in „handelsüblicher Stückelung“ bei sich, ergäbe sich ein weiterer mittelbarer Beweis. Als unmittelbarer Beweis für den Handel könnte jedoch eine (verdeckte) Ton- und Bildaufzeichnung gelten, die die Abgabe der Verkaufsportionen und die Entgegennahme von Kaufgeld darstellt. Der so gefertigte Film wäre Gegenstand des Augenscheins in der Gerichtsverhandlung. Der direkte und/oder unmittelbare Beweis stellt in der forensischen Praxis eher die Ausnahme dar, Indizienbeweise sind die Regel.14 Insbesondere wenn auch die inneren Befindlichkeiten (subjektive Tatbestandsmerkmale), Antriebe und Motive des Angeklagten eine Rolle spielen, sind überwiegend durch Indizien erbrachte Beweise Grundlage der richterlichen Überzeugungsbildung. Direkte Beweise sprechen im Rahmen der Beweiswürdigung für sich, über Indizientatsachen erbrachte Beweise bedürfen in der Hauptverhandlung auch der Darstellung, aus welchen Tatsachen diese gefolgert wurden.
1.3 Grundprinzipien und Prozessmaximen
Die Durchführung des Strafprozesses ist von Grundsätzen geprägt, die zum Teil gesetzlich normiert sind, andererseits aus dem Rechtsstaatsprinzip, Art. 20 (3) GG, abgeleitet werden können oder sich direkt aus dem Grundgesetz – den Grundrechten oder sonstigen Normen – ergeben und in viele einfachgesetzliche Regelungen eingeflossen sind. Ein grundlegendes Verständnis für die Beweiserfordernisse im deutschen Strafprozess ist ohne Kenntnis dieser Verfahrensgrundsätze kaum möglich. Verstöße dagegen können z. B. ein Revisionsrecht begründen oder Beweisverbote nach sich ziehen.
Zunehmend gewinnt auch internationales Recht, wie etwa Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), an Bedeutung.15 Soweit der EGMR einen Menschenrechtsverstoß in der Bundesrepublik feststellt, sind Gerichte gehalten, die Entscheidungen zu berücksichtigen. Zwar sind die Urteile und Beschlüsse des EGMR unterhalb des Grundgesetzes auf der Ebene einfachgesetzlicher Vorbehalte anzusiedeln, gleichwohl entfalten sie Befolgungswirkung. Wird, wie im Fall „Jalloh“16, ein Verstoß gegen das Folterverbot und das Verbot der Selbstanklage (Art. 3 und 6 EMRK) resümiert, entstehen dadurch weitreichende Konsequenzen auch für die deutsche Strafrechtsprechung.17 Verfahrengrundsätze unterliegen deshalb einem Wandel durch Rechtsfortbildung.
Die folgenden Prinzipien und Verfahrensgrundsätze stehen im unmittelbaren Zusammenhang mit der Erhebung und Verwertung von Beweisen im Strafprozess:
1.4 Der Erkenntnisprozess im Strafverfahren
Der Beweis oder präziser: Die Beweisführung im Strafprozess ist ein Prozess der Informationsverarbeitung, der auf der rationalen Fähigkeit, Lebenssachverhalte in einen logisch verknüpften Kontext zu axiomatischen Regelungen (strafrechtliche Tatbestände und Formalregeln) zu stellen, beruht. Dies setzt bei allen handelnden Personen – Richtern, Staatsanwälten, Strafverteidigern, Polizeibeamten – eine intensive, zumindest in den Grundaussagen übereinstimmende Kenntnis der relevanten Regelwerke voraus, auf deren Basis erst die Subsumtion der in Rede stehenden Handlungen unter die Normen des Strafrechtes erfolgen kann. Ganz praktisch bedeutet dies, dass Personen, die im strafrechtlichen Sinne „Verdacht“ schöpfen können, über die reine Laiensphäre hinaus erkennen können müssen, wann überhaupt strafrechtlich relevante Sachverhalte20 vorliegen.
Der „Beweis“ steht als bewertende Endaussage logischerweise nicht zu Beginn eines solchen Informationsverarbeitungsprozesses, sondern markiert dessen Ende.
Das Fern- und Endziel des Beweisens eines Lebenssachverhaltes/der „Realität“ ist deshalb regelmäßig ein aus verschiedenen Informationen und Bewertungen entstehender intellektueller Prozess, der Vor- und Zwischenstufen aufweist. Vorstufe oder Eintritt in die Darlegung einer Kette von Informationen, die später Beweis erbringen sollen, ist der Verdacht21, der begrifflich im Strafprozess unterschiedlich verwandt wird. Das Beweisverfahren im Strafprozess knüpft an Verdachtsstufen an, die je nach Schwere des Rechtseingriffes und Verfahrensstand unterschiedlich stichhaltig sein müssen. In diesem Stadium (Vor- oder Ermittlungsverfahren) ist im gerichtlichen Sinne noch kein „Beweis“ geführt, da dies der Hauptverhandlung überlassen bleibt. Gleichwohl ist der Eintritt in den Tatverdacht der erste prozessuale Schritt, strafrechtlich relevantes Handeln aufzuklären, wie im Weiteren noch auszuführen sein wird.
1.4.1 Grundsätze der Beweiserhebung im Ermittlungsverfahren
Für das der Hauptverhandlung vorgelagerte Ermittlungsverfahren, in dem auch schon richterliche Anordnungen oder Untersuchungshandlungen (s. z. B. die §§ 81a, 94 und 98 StPO, 100a/b StPO, 102, 105 StPO, 127 (2) / 128 StPO) vorgenommen werden können oder gesetzlich zwingend vorgesehen sind, gilt das Freibeweisverfahren.
1.4.2 Die Rolle von Polizei und Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren
„Das gesamte Ermittlungsverfahren (...) besteht aus der Suche nach Beweisen, der Erhebung der Beweise, ihrer Würdigung und aus dem Ziehen von Konsequenzen aus den Beweisergebnissen in der Form von Entscheidungen.“22
Mithin sollten schon alle Beweise im Ermittlungsverfahren in Form und Inhalt den Anforderungen der späteren Hauptverhandlung entsprechen und dort nach dem Prinzip der Öffentlichkeit und Mündlichkeit im Zuge der Beweiserhebung eingebracht werden können. Dies geschieht dadurch, dass Zeugen vernommen, sächliche Beweise für den richterlichen Augenschein sichergestellt und vorgelegt, Sachverständige benannt und Urkunden eingebracht werden. Es darf nicht verkannt werden, dass das Ermittlungsverfahren die Grundlage für die spätere Hauptverhandlung ist und auf dem Weg dahin die Staatsanwaltschaft alleine (gebunden an das Legalitätsprinzip), aber auch durch Urteilsabsprachen mit dem Gericht und/oder der Verteidigung, über die späteren Sanktionsfolgen entscheidet. Die Vernehmung des Beschuldigten im Ermittlungsverfahren, ggf. sein Geständnis, ist die Grundlage für die spätere Vernehmung in der Hauptverhandlung, ohne dass der Beweis dort durch reines Verlesen polizeilicher Vernehmungsprotokolle erhoben werden könnte.
1.4.3 Ermittlungs-/Untersuchungsgrundsatz und Verfolgungszwang (Legalitätsprinzip)
Die Staatsanwaltschaft und die Polizei sind gemäß §§ 152 (2), 160 (1) 163 (1) StPO verpflichtet, wegen aller verfolgbaren Straftaten einzuschreiten. Dieser Grundsatz soll im Rahmen des Möglichen den Gleichheitsgrundsatz aus Art. 3 GG verwirklichen, dem Willkürverbot entsprechen und auch dem allgemeinen Gerechtigkeitsstreben dienen. Das Legalitätsprinzip erfordert deshalb, dass schon im Ermittlungsverfahren alle tatsächlich und rechtlich verfügbaren Beweise erhoben werden und gegen jeden Verdächtigen eingeschritten wird.23 Demzufolge sind auch die Staatsanwaltschaft und die Polizei (namentlich die Ermittlungspersonen der StA24 ) verpflichtet, die materielle Wahrheit zu erforschen, be- und entlastende Umstände eigenständig zu ermitteln und (zumindest) für die Erhebung der Beweise Sorge zu tragen, deren „Verlust" ansonsten zu besorgen wäre.
Daraus folgert unmittelbar, dass nach der Strafprozessordnung oder anderen Rechtsnormen (z. B. dem WaffG, OWiG) zulässige und vorgesehene Beweiserhebungs- und Sicherungsnormen anzuwenden sind, soweit die rechtlichen Voraussetzungen vorliegen.
Ein absichtliches und wissentliches Unterlassen dieser Verpflichtungen mit dem Ziel, die Bestrafung einer Person zu vereiteln, ist gemäß §§ 258, 258a StGB für entsprechend verpflichtete Amtsträger mit einer Freiheitsstrafe von 6 Monaten bis 5 Jahren bedroht.
In diesem Zusammenhang spielt das Beweisantragsrecht auch schon im Ermittlungsverfahren eine Rolle. So können Verdächtige und Beschuldigte in jeder Phase des Verfahrens „einzelne Beweiserhebung“ verlangen. Dies ergibt sich aus dem § 163 (1) StPO für die richterliche Vernehmung im Ermittlungsverfahren, wie auch aus § 163a (3) S. 2 StPO für die staatsanwaltschaftliche und gemäß § 163a (4) S. 2 StPO für die polizeiliche Vernehmung. Aus § 163 (2) StPO folgt schließlich die gesetzliche Verpflichtung, Beweise, die für das Verfahren von Bedeutung sind, zu erheben. Die Regelungen haben deshalb für die polizeiliche Ersterhebung praktische Bedeutung. Zeugen, deren Personalien vor Ort, möglicherweise auf eigenen oder sogar auf Wunsch von Beschuldigten, nicht festgestellt, oder Spuren, die nicht gesichert werden, sind zugunsten (oder Lasten) späterer Angeklagter häufig nicht wiederbringbar. Wird eine Beweisaufnahme durch die ermittelnden Beamten abgelehnt, bietet es sich an, Begründungen an den §§ 244 (3–5), 245 (2) StPO zu orientieren. Dabei ist stets zu berücksichtigen, dass eine unterlassene Beweiserhebung bei der späteren Beweiserhebung im Hauptverfahren die Überzeugungsbildung des Richters nachhaltig negativ beeinflussen kann. Im Zweifelsfall sind deshalb Beweise durch die Polizei, auch wegen ihrer nur eingeschränkten Entscheidungskompetenz, vorsorglich zu sichern.
1.4.3.1 Verdachtsstufen und Eingriffsintensität
Verdacht bedeutet ganz allgemein die Annahme – nicht Gewissheit – dass ein gedachter oder vorgestellter Geschehensablauf zutrifft. Dieser gedankliche Schluss kann sich sowohl auf bereits geschehene, wie gegenwärtige oder zukünftige Handlungen beziehen. In der allgemeinen Wissenschaftstheorie ähnelt der strafrechtliche oder kriminalistische Verdacht einer Ausgangsthese oder einfach These, also einer Behauptung, die bewiesen werden muss. Im strafrechtlichen Kontext ist der Begriff „Verdacht“ allerdings besetzt und bedeutet, dass ein strafrechtlich relevantes Handeln vorliegen und/oder eine Person eine solche Handlung begangen haben könnte.
Das Ermittlungsverfahren dient lediglich dazu, die entsprechenden Fakten zusammen zu tragen. Dabei kann je nach Schweregrad des Verdachts und der untersuchten Straftat mit unterschiedlicher Intensität in die Rechte des Verdächtigen, bzw. Beschuldigten, aber auch des Unverdächtigen eingegriffen werden. Verdachtsstufen beziehen allerdings auch eine prognostische Bewertung von Beweisen mit ein, wie zu zeigen sein wird:
a) Der Anfangsverdacht
Der Anfangsverdacht ist initialer Auslöser eines Ermittlungsverfahrens, §§ 160–177 StPO, und korrespondiert direkt mit dem Legalitätsprinzip, § 152 (2) StPO. Danach sind die Strafverfolgungsbehörden zur Aufnahme von Ermittlungen bei Vorliegen eines Anfangsverdachtes verpflichtet. Der Anfangsverdacht beschreibt die Möglichkeit des Vorliegens einer strafbaren Handlung. Die Möglichkeit des Vorliegens kann sich allein aus kriminalistischen Erfahrungstatsachen, aus einer Anzeige (auch anonym) oder sonstigen Tatsachenfeststellungen (öffentliche Bekundungen Dritter, z. B. in den Medien, verdeckte Quellen) ableiten lassen. Das Spektrum der Möglichkeiten ist breit und entzieht sich dem Versuch, enumerative oder strukturierte Fallgestaltungen aufzuzeigen. In jedem Fall setzten schon diese ersten Überlegungen und Bewertungen faktisches Sachverhalts- und juristisches Wissen, nämlich die Subsumtion unter einen strafrechtlich relevanten Tatbestand, voraus. Der Anfangsverdacht als strafprozessuale Einstiegsschwelle findet sich in folgenden Schlüsselbestimmungen der StPO:
§ 160 (1) (Ermittlungsverfahren) „Sobald die Staatsanwaltschaft durch eine Anzeige oder auf anderem Wege von dem Verdacht einer Straftat Kenntnis erhält, hat sie zu ihrer Entschließung darüber, ob die öffentliche Klage zu erheben ist, den Sachverhalt zu erforschen.“
§ 163 (1) (Polizei als Ermittlungsbehörde) „Die Behörden und Beamten des Polizeidienstes haben Straftaten zu erforschen und alle keinen Aufschub gestattenden Anordnungen zu treffen, um die Verdunkelung der Sache zu verhüten.“
§ 152 (2) (Anklagebehörde, Verfolgungszwang) „Sie ist (die Staatsanwaltschaft, Anm.), soweit nicht gesetzlich ein anderes bestimmt ist, verpflichtet, wegen aller verfolgbaren Straftaten einzuschreiten, sofern zureichende tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen.“
b) Hinreichender Tatverdacht
Auch der hinreichende Tatverdacht ist gesetzlich nicht normiert, sondern ergibt sich aus dem § 170 (1) StPO (Abschluss des Ermittlungsverfahrens).
„Bieten die Ermittlungen genügenden Anlass zur Erhebung der öffentlichen Klage, so erhebt die Staatsanwaltschaft sie durch Einreichung einer Anklageschrift bei dem zuständigen Gericht.“
Ein solcher hinreichender Tatverdacht liegt vor, wenn die Beweisfähigkeit des Tatvorwurfs den Grad der Wahrscheinlichkeit erreicht.25 Von der Anklagebehörde, überwiegend der Staatsanwaltschaft, wird zu diesem Zeitpunkt also eine prognostische Befassung mit der Frage der Verurteilungswahrscheinlichkeit erwartet. Dazu müssen die vorhandenen Beweismittel erfasst, gewichtet und auf ihrer Zulässigkeit hin geprüft werden. Dieser dynamische Prozess des ständigen Abgleichs zwischen den prozessualen Erwartungen, den tatbestandlichen Erfordernissen und den real vorhandenen Beweismitteln macht den Kern des (kriminalistischen) Beweisprozesses aus. Das Ermittlungsverfahren ist insoweit zwar zielorientiert, aber ergebnisoffen zu gestalten, weil die Auswertung und Verknüpfung von Beweisaussagen immer wieder Anlass zur Neuorientierung geben kann. Auch im Zwischenverfahren prüft der Richter, ob die Beweise ausreichen, um eine Hauptverhandlung zu eröffnen, zu diesem Zeitpunkt muss ebenfalls „hinreichender Tatverdacht“ vorliegen.26 Der hinreichende Tatverdacht enthält somit eine qualitative Wertungsaussage im Hinblick auf eine spätere Verurteilung.
c) Dringender Tatverdacht
Der dringende Tatverdacht wird bei der schwerwiegenden Maßnahme der Festnahme nach § 127 StPO zwingend geprüft. Die vorläufige Festnahme setzt neben einem dringenden Tatverdacht das Vorliegen eines Haftgrundes aus den §§ 112, 112a StPO (Fluchtgefahr, Verdunklungsgefahr, Wiederholungsgefahr) voraus. Anders als der hinreichende setzt der dringende Tatverdacht nicht die vorweggenommene Überzeugung einer ausreichenden Beweislage voraus, die sich auch mit den materiellen Rechtsfragen der Straftatbestände befassen muss, sondern spiegelt lediglich einen hohen Grad der Wahrscheinlichkeit wider, dass der Täter die Tat rechtswidrig und schuldhaft begangen hat. Der dringende Tatverdacht und die vorläufige Festnahme haben sichernden und schützenden Charakter im Gang des Ermittlungsverfahrens, während der hinreichende Tatverdacht frei von zeitlichen Zwängen das Ausreichen der Beweislast dokumentiert.
1.4.3.2 Die Unschuldsvermutung im Ermittlungsverfahren
Die Unschuldsvermutung ist gesetzlich nach deutschem Recht nicht definiert, gleichwohl erfährt sie, als verfassungsrechtlicher Ausfluss des Rechtsstaatsprinzips, in verschiedenen rechtlichen Bestimmungen auch eine sprachlich-inhaltliche Ausprägung:
Schon in der Menschenrechtserklärung vom 10. 12. 1948 ist in Artikel 11 (1) niedergelegt:
„Jeder, der einer strafbaren Handlung beschuldigt wird, hat das Recht, als unschuldig zu gelten, solange seine Schuld nicht in einem öffentlichen Verfahren, in dem er alle für seine Verteidigung notwendigen Garantien gehabt hat, gemäß dem Gesetz nachgewiesen ist.“
Auch die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK)27 befindet in Artikel 6 (2):
„Jede Person, die einer Straftat angeklagt ist, gilt bis zum gesetzlichen Beweis ihrer Schuld als unschuldig.“
Der Pressekodex28 erklärt in Ziffer 13:
„Unschuldsvermutung
Die Berichterstattung über Ermittlungsverfahren, Strafverfahren und sonstige förmliche Verfahren muss frei von Vorurteilen erfolgen. Der Grundsatz der Unschuldsvermutung gilt auch für die Presse.“
Prägnant erläutert das BVerfG in einem Beschluss des Zweiten Senats vom 26.03. 198729 :
„Die Unschuldsvermutung ist eine besondere Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips und hat damit Verfassungsrang. Sie ist auch kraft Art. 6 Abs. 2 EMRK Bestandteil des positiven Rechts der Bundesrepublik Deutschland im Range eines Bundesgesetzes.30 ... Dem Täter müssen deshalb Tat und Schuld nachgewiesen werden. Bis zum gesetzlichen Nachweis der Schuld wird seine Unschuld vermutet.“31
„Die Unschuldsvermutung verwehrt es den Strafverfolgungsorganen allerdings nicht, verfahrensbezogen den Grad des Verdachts einer strafbaren Handlung eines Beschuldigten zu beurteilen und – im Urteil – Festlegungen zur Schuld des Angeklagten zu treffen, Schuld auszusprechen und Strafe zuzumessen ...“32
Die Unschuldsvermutung ist danach erst durch Ausspruch einer Verurteilung widerlegt. Gleichwohl sind ganz offensichtlich im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Maßnahmen gegen den Verdächtigen und Beschuldigten zulässig, die in der öffentlichen Würdigung einer „Verurteilung“ gleichkommen. Hier steht jedoch der sichernde und vorläufige Charakter im Vordergrund. Letztlich sind deshalb auch gravierende Einschnitte und Eingriffe wie die vorläufige Festnahme, die Anordnung der Untersuchungshaft u.ä. darauf gerichtet, die Feststellung der Schuld in einer späteren Hauptverhandlung erst zu ermöglichen. Eine negative Absicherung der Unschuldsvermutung erfolgt zum Beispiel über verfahrenssichernde Maßnahmen (Öffentlichkeitsfahndung, §§ 131, 131a StPO, Nr. 40 und Anlage B RiStBV33 ), über die erforderlichen Verdachtsgrade im Ermittlungsverfahren, die strafrechtliche Ahndung von falscher Verdächtigung und übler Nachrede, §§ 164, 186 StGB, sowie die Strafandrohung bei der „Verfolgung Unschuldiger“, § 344 StGB. Daneben können Schadensersatzansprüche aus dem Strafprozess selbst und zivilrechtlich erwachsen.
1.4.4 Rechtseingriffe und -grundlagen im Ermittlungsverfahren
1.4.4.1 Die Einbindung in die Verfahrensgrundsätze
Im Rahmen des Ermittlungsverfahrens sind eine Vielzahl von Untersuchungshandlungen möglich und im Hinblick auf das Legalitätsprinzip auch erforderlich, die der Suche, Sicherung und Dokumentation von Beweismitteln dienen. Viele der aufgeführten – s.o. 1.3 Grundprinzipien und Prozessmaximen – finden sich kodifiziert in den speziellen Eingriffsnormen der StPO wieder. Eingriffsnormen sind dabei solche gesetzlichen Tatbestände, die bei ihrer Anwendung in die Grundrechte Betroffener eingreifen. Die unrechtmäßige Anwendung kann dazu führen, dass Beweismittel einem Verwertungsverbot unterfallen, weil sie in dieser Form gar nicht hätten erhoben werden dürfen.
Im Hinblick auf das hier in Rede stehende Thema ist also nicht so sehr die formell oder materiell rechtliche Definition und Interpretation der Normen von Bedeutung, als vielmehr die Folgen, die eintreten, wenn eine rechtswidrige Anwendung zu einer Un-verwertbarkeit der Beweise führt. Darüber hinaus können entsprechende Rechtsbrüche die anordnenden oder ausführenden Beamten in die Gefahr der strafrechtlichen Ahndung bringen. So könnte z. B. eine Wohnungsdurchsuchung, die von einem Ermittlungsbeamten unter bewusster und absichtlicher Umgehung der einschlägigen Vorschriften und Normen nach den §§ 102, 105 StPO (Richtervorbehalt, Tatverdacht) etc. vorgenommen wird, den Straftatbestand eines Hausfriedensbruches, § 123
StGB, erfüllen.
1.4.4.2 Fortentwicklung des Rechts
Die Eingriffsnormen der StPO unterliegen einer ständigen Entwicklung. Eine Strukturierung der Normen kann unter methodologischen, historischen und rechtlichen Gesichtspunkten vorgenommen werden. Dabei ist jeweils auf den Entstehungszusammenhang und die systematische Einordnung Bezug zu nehmen.
Historisch kann z. B. nach klassischen Eingriffsbefugnissen der StPO – Durchsuchung, Beschlagnahme, Postbeschlagnahme, Telefonüberwachung, Festnahme –und solchen Normen unterschieden werden, die nach dem nach dem Volkszählungs urteil vom 15. 12. 198334 durch Fortentwicklung des Datenschutzrechtes in die StPO eingeführt wurden. Das Volkszählungsurteil hat jedoch nicht nur Einfluss auf die Definition des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung genommen, sondern auch neue Maßstäbe für die Normenklarheit und Zweckbestimmung von rechtlichen Eingriffen gesetzt.
Neben dem Datenschutz sind auch technische Möglichkeiten und Entwicklungen der Ermittlungsorgane in Eingriffsnormen eingeflossen. Ihre Entstehung ist durch technische Entwicklungen forciert worden, (DNA-Analytik35, Ausweitung der elektronischen Kommunikationsformen via Internet oder Mobiltelefonie). Daneben haben auch „neue“ Verbrechensformen, insbesondere die Organisierte Kriminalität, Terroristische Gewalttaten, wiederum Straftaten im Internet, eine Reihe von Eingriffsnormen in die StPO eingeführt (OrgKG und VerbrBeKG sowie das TBG36 ), die am Bedarf der Ermittlungsbehörden entlang definiert worden sind, aber auch immer Gegner „einer ausufernden Sicherheitspolitik“ auf den Plan gerufen haben.37
Zunehmend in den Fokus ober- und höchstrichterlicher Rechtsprechung gerieten „heimliche Ermittlungsmethoden“, die die Polizei nahe an geheimdienstliche Tätigkeit rücken. Immer wieder wird hierbei der „Fair Trail“ ins Spiel gebracht, der Staat, der mit „offenem Visier“ handeln muss. Dabei darf jedoch nicht verkannt werden, dass auch eine wirkungsvolle Strafrechtspflege38 Verfassungsrang hat und den grundgesetzlichen Rechtsstaat bewahren hilft.
Im Rahmen der aufgezeigten Rechtsdiskussionen sind in den 2000er-Jahren im Wesentlichen zwei Gesichtspunkte in den Blickpunkt der Öffentlichkeit gerückt:
• Der Schutz des Kernbereichs der privaten Lebensführung und damit der Menschenwürde wurde präzisiert. Zum Kernbereich gehören jedoch niemals Erörterungen über strafbare Handlungen, egal wo und wann diese passieren. (Gerichtsurteil) Ausdruck des „keine Strafverfolgung um jeden Preis“.
• Die Frage verfahrensrechtlicher Schutzbestimmungen, namentlich des Richtervorbehaltes, z. B. bei Wohnungsdurchsuchungen und der Anordnung von Blutproben.
1.4.4.3 Vorfeldermittlungen (Initiativermittlungen, Strukturermittlungen)
Ein weiterer Bereich an Beweissicherungsmaßnahmen, der nicht so sehr im Erkenntnisverfahren der Strafprozessordnung, sehr wohl aber bei der polizeilichen Erkenntnisgewinnung einer herausragende Rolle spielt, sind die sogenannten Vorfeldermittlungen39, die Beginn der 90er-Jahre die Polizeigesetze der Länder, letztlich auch in das BKA-Gesetz40 Einzug gefunden haben. Gegen diese Informationserhebungsnormen, die unterhalb der klassischen Schwelle des Anfangsverdachtes der StPO Datenerhebungen, Speicherungen und Verarbeitungen legitimieren, wird dogmatisch häufig eingewandt, dass sie die rechtsbegründende Schwelle der staatlichen Eingriffsmaßnahmen in einen Bereich „vorverlagern“, der verfassungsrechtlich bedenklich ist.41