Der Leichensee und andere Geister-Geschichten - Jodocus Temme - E-Book

Der Leichensee und andere Geister-Geschichten E-Book

Jodocus Temme

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  • Herausgeber: e-artnow
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2016
Beschreibung

Dieses eBook: "Der Leichensee und andere Geister-Geschichten" ist mit einem detaillierten und dynamischen Inhaltsverzeichnis versehen und wurde sorgfältig korrekturgelesen. Inhalt: Der Leichensee Schlom Weißbart Der gestohlene Brautschatz Das lebendig vergrabene Kind Weihnachts-Heiligerabend Auf der Eisenbahn Rosa Heisterberg Ein Gottesgericht Der erste Fall im neuen Amte Er betet Das Testament des Verrückten Volkesstimme Der Unheimliche Eine Brautfahrt Der Proceß Leuthold Die Geschwister Die schwerste Schuld Deutsche Herzen, deutscher Pöbel Ein Beamtenleben Ein Vertheidiger Ein Polterabend Der Zeuge Nobles Blut Pater Canisius Der Richter In der Propstei Der Teufel Auf Waltersburg Der alte Mann im Gollenberge Jodocus Temme (1798-1881) war ein deutscher Politiker, Jurist und Schriftsteller. Er verfasste u. a. zahlreiche Kriminalerzählungen, die zum großen Teil in Ernst Keils Familienzeitschrift Die Gartenlaube veröffentlicht wurden und wichtige Anstöße für die Entwicklung der deutschsprachigen Kriminalliteratur gaben.

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Seitenzahl: 2209

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Jodocus Temme

Der Leichensee und andere Geister-Geschichten

e-artnow, 2016 Kontakt: [email protected]
ISBN 978-80-268-6776-0

Inhaltsverzeichnis

Der Leichensee
Schlom Weißbart
Der gestohlene Brautschatz
Das lebendig vergrabene Kind
Weihnachts-Heiligerabend
Auf der Eisenbahn
Rosa Heisterberg
Ein Gottesgericht
Der erste Fall im neuen Amte
Er betet
Das Testament des Verrückten
Volkesstimme
Der Unheimliche
Eine Brautfahrt
Der Proceß Leuthold
Die Geschwister
Die schwerste Schuld
Deutsche Herzen, deutscher Pöbel
Ein Beamtenleben
Ein Vertheidiger
Ein Polterabend
Der Zeuge
Nobles Blut
Pater Canisius
Der Richter
In der Propstei
Der Teufel
Auf Waltersburg
Der alte Mann im Gollenberge

Der Leichensee

Inhaltsverzeichnis

Schlom Weißbart.

Ein Bild aus Litthauen.

Inhaltsverzeichnis

Im Jahre 184– traf ich in Litthauen einen Landsmann und Bekannten wieder, der vor länger als zwölf Jahren dahin versetzt war, und von dem ich seit jener Zeit nichts wieder vernommen hatte. Ich war begierig, von ihm über sein Leben in dem fremden Land selbst und dessen Bewohner Auskunft zu erhalten.

Ich werde Dir – sagte er – ein Abenteuer erzählen, das ich nicht lange nach meiner Ankunft in dieser Provinz zu bestehen hatte, und das vielleicht mehr als lange, ausführliche Beschreibungen im Stande sein wird, Dich dessen Menschen und Zustand kennen zu lehren. Er erzählte mir Folgendes:

Ich wurde im Jahre 183– als Kreisjustizrath nach Ragnit versetzt. Ich war damals Assessor bei dem Oberlandesgerichte in A., und bisher blos in meiner Heimath, der Provinz Westphalen, angestellt gewesen.

Als ich mit den Meinigen in Ragnit ankam, fanden wir ein freundliches Städtchen, hübsch gelegen in einer fruchtbaren Gegend, an einem hohen Ufer des schönen, breiten Memelstroms, der nicht weit unterhalb der Stadt eine große Krümmung machte, so daß man seinen Lauf mitten durch üppige Wiesen und Weiden beinahe eine halbe Meile weit deutlich verfolgen konnte, bis nach dem alten, kahlen Rambinus hin, dem alten Berge des Gottes Perkunos, an dessen Fuße er wieder eine andere Richtung nahm, nach der litthauischen Hauptstadt Tilsit zu, anderthalb Meilen von Ragnit gelegen.

In dem freundlichen Städtchen auf dem hohen Memelufer fanden wir allerdings nicht viel mehr als 3000 Einwohner; aber es war ein eben so tüchtiger und prächtiger deutscher Menschenschlag, wie man ihn nur irgend wo am Rhein und in Westphalen antrifft. Barbaren, wie sie mir geschildert waren, schienen mir die Leute nicht, und auch die Wölfe liefen in ihren Straßen nicht mehr herum, als anderswo, nämlich die in Schafspelzen; dies aber brauchten – wenigstens damals noch – eben keine russischen oder preußischen Wölfe zu sein. Dagegen fanden wir in Litthauen und Ragnit Etwas, was wir in unserm vielbewegten Leben später niemals in so hohem Grade wieder gefunden haben, eine offene, biedere, gastfreundliche Zuvorkommenheit. Sie lebt in unserem dankbaren Andenken.

Was eine Kreisjustizcommission sei, erfuhr ich sehr bald in vollem Umfange. Der Kreisjustizrath v. L., den abzulösen ich bestimmt war, hatte dem Gerichtsboten, der ihm zuerst die Nachricht meiner Ankunft und seiner Erlösung überbracht hatte, in der Freude seines Herzens einen harten Thaler geschenkt. Es war ein braver, aber kränklicher Mann, zwar ein tüchtiger Beamter, der aber gerade gegen die Art von Geschäften, wie sie bei der Kreisjustizcommission waren, vielleicht auch in Folge seiner Kränklichkeit, einen unüberwindlichen Widerwillen gefaßt, deshalb kaum einige Monate nach Antretung seines Postens, seine Versetzung nachgesucht und diese in einer untergeordneten Stelle in seiner Heimath angenommen hatte.

Das Institut der Kreisjustizcommission bestand nur in den Provinzen Preußen und Litthauen. Im Jahre 1839 haben sie einer veränderten Gerichtsorganisation Platz machen müssen. Sie waren Deputationen der Oberlandesgerichte zur Führung der schweren Criminaluntersuchungen, zur Führung und Entscheidung der geringeren Civilprozesse gegen die Eximirten (Adel, Geistlichkeit und Beamte) und zur Beaufsichtigung der Untergerichte. Sie bestanden aus einem Kreisjustizrath als Dirigenten, einem Assessor (auch Aktuar genannt) und dem nothwendigen Subalternpersonal an Gerichts- wie Gefängnißbeamten. Die Kreisjustizcommission zu Ragnit war eine solche Deputation oder Commission des Oberlandesgerichts zu Insterburg für die vier Landrathskreise Ragnit, Tilsit, Niederung, Heidekrug. Ihr Geschäftsbezirk berührte auf einer Länge von ungefähr zwölf Meilen die russische Grenze und außerdem noch auf mehreren Meilen die Grenze des unglücklichen Königreichs Polen.

Das gerade war es, was die Stellung bei der Commission für meinen Vorgänger zu einer unerträglichen gemacht hatte, was sie freilich für mich zu einer sehr mühsamen machen sollte. Wo die Regierungen den freien Verkehr sperren und hemmen, da erreichen sie wenigstens Eins sicher, Demoralisation des Volkes. An der preußisch-russischen Grenze wird vielfach gesperrt und gehemmt, diesseits wie jenseits. Nach Rußland darf aus Preußen nichts hineinkommen, was die Leute dort bedürfen und gebrauchen, nicht Fisch noch Fleisch, nicht Seide noch Zeug, nicht Kaffee noch Zucker, nicht Wein noch Schnaps, nicht Thee noch Civilisation. Und aus Rußland nach Preußen darf zweierlei nicht kommen. Eins nicht, das die Leute in Preußen gebrauchen: Salz. Und doch kaufen sie es in Rußland um das Doppelte wohlfeiler als in Preußen selbst, nämlich das Pfund für sechs Pfennige, wenn sie in Preußen dafür einen Silbergroschen bezahlen müssen. Und die Leute behaupten, das sei um so mehr ein unrichtiges Verhältniß, als es eben nur preußisches Salz, das gleiche preußische Salz sei, das sie so wohlfeil in Rußland kaufen können und so theuer in Preußen bezahlen müssen, Salz, das die preußische Regierung an die russische verkaufe und diese wieder an ihre Unterthanen mit Profit ablasse, und das so von den russischen Unterthanen nochmals mit einem Profit, und dennoch doppelt billiger, in das Land, aus dem es ursprünglich gekommen, zurückverkauft werden könne. Ob es wahr ist, müssen die Leute wissen, und die Nationalökonomen und die Regierung. Ein Anderes, das gleichfalls aus Rußland nicht nach Preußen kommen darf, brauchen die Leute hier zwar nicht, aber desto mehr bedarf man seiner in Rußland. Das sind die Russen selbst, die man – durch die Regierung – alljährlich zum Kriegsdienste einfängt und in die Montur steckt.

Wer will es den Unglücklichen verdenken, wenn sie sich zu retten suchen? Die preußische Grenze ist so nahe, der Grenzgraben so schmal, der Grenzwall so niedrig. Der Grenzkosack ist leicht zu täuschen, leichter zu überwältigen, noch leichter zu bestechen. Ein Satz, ein Sprung, und man ist gerettet in dem Lande der – Freiheit und Civilisation! Aber dieses Land der Civilisation hat einen Kartellvertrag mit Rußland geschlossen und garantirt diesem die militärische Sklaverei seiner Unterthanen.

Schmuggel, Grenzexcesse, Kampf und Blutvergießen, das sind die Bestandtheile des Verkehrs an der russisch-preußischen Grenze.

Das einzige Schöne, was ich, nach Hübner’s Zeitungslexikon, in Ragnit hatte finden sollen, fand ich nicht. Das herrliche Comthurschloß der deutschen Herren war nur noch eine Ruine. Am 3. August 1829 schon war es abgebrannt, am Geburtstage des Königs Friedrich Wilhelm III. Es war das auch eine sonderbare Geschichte, die ich ein ander Mal erzählen werde. Und die Ruine des herrlichen Schlosses war nicht einmal schön. Die weiten, hohen und ungeheuer dicken und starken Mauern des äußerlich zerstörten Gebäudes umfaßten ein Zuchthaus und die Gefängnisse der Kreisjustizcommission. Diese Gefängnisse waren überfüllt mit den Verbrechern der Grenze und der Grenzbezirke aus Rußland wie aus Preußen.

Ueber anderthalb Hundert Untersuchungsgefangene saßen allein in den Gefängnissen der Kreisjustizcommission zu Ragnit, als ich mein Amt dort antrat. Alle warteten auf ihr Erkenntniß, das sie der Strafe oder der Freiheit zuführen, dem Zuchthause, Manche dem Henker oder wieder den Ihrigen, der Liebe und der Freude, freilich oft auch dem Jammer zerstörten Familienglückes, oder neuer Verbrechen überliefern sollte. Nicht Wenige warteten schon seit Jahren. In den Gerichtszimmern der Kreisjustizcommission warteten so die zahllosen, voll und dick geschriebenen Untersuchungsakten auf ihre Beendigung, um demnächst an das Oberlandesgericht zu Insterburg zum Spruch versandt zu werden. Wie Vieles aber war noch darin zu thun, bis sie beendigt und zum Spruch eingeschickt werden konnten. Mein Vorgänger hatte vermöge seiner Kränklichkeit mit Energie nicht eingreifen können. Dessen Vorgänger, früher ein Inquirent von der seltensten Befähigung und juristischer wie moralischer Tüchtigkeit, war in seinen alten Tagen völlig jenem Stumpfsinn verfallen, den man bei den ältern Dienern, gerade der preußischen Bureaukratie, so häufig antrifft; dabei aber auch jenem gleichen preußischen Beamteneigensinn, der nicht von seinem Posten weichen will. Die vorgesetzten Behörden hatten ihm junge Leute – Referendarien – zur Aushülfe geben müssen, die vielfach mit dem alten Manne spielten. Dabei war auch das zweite Mitglied der Kreisjustizcommission ein an Geist und Körper schwächlicher, kränklicher Mann. Kein Wunder, daß sich überall Rückstände in den Arbeiten fanden, daß die Akten sich gehäuft und die Gefängnisse sich überfüllt hatten. Indeß die Arbeit mußte bewältigt werden.

Unter den Gefangenen, die mir sogleich beim ersten Besuche der Gefängnisse am Meisten auffielen, war ein Jude, der mir als Schlom Weißbart benannt wurde. Er war in einem der tiefsten Keller des alten deutschen Herrenschlosses eingesperrt, einem Raume mit so dicken und festen Mauern und so schmalen und engen und durch schwere eiserne Stangen vergitterten Fenstern, daß an ein Entweichen aus diesem Gefängnisse gar nicht zu denken war. Er saß dort in Gesellschaft blos der schwersten Verbrecher, nur Räuber und Mörder, die man gerade hier, in der sichersten von allen Gefängnißzellen, zusammengebracht hatte. Er war dort der einzige Jude unter lauter Christen. Er war ein Mann von mittlerem Alter – vielleicht nahe an den Vierzigern – und von mittlerer Größe. Sein Gliederbau schien von mehr als gewöhnlicher Kraft zu sein. Seine Bewegungen verriethen es; es zeigte sich noch mehr, wenn der weite Pelz, den er trug, sich zufällig öffnete. Höchst interessant war sein Gesicht. Der Blick blieb unwillkürlich darauf haften; er verweilte mit Neugier darauf, ob auch mit Wohlgefallen oder aber mit innerer Wegwendung, darüber konnte man mit sich selbst nicht einig werden; desto größer war vielleicht gerade deshalb Interesse und Neugier. Der Schnitt des Gesichtes war völlig orientalisch, aber es war nur der feine orientalische Schnitt; die Nase lang und nur wenig gebogen, die Lippen nur wenig aufgeworfen, die Stirn hoch, die Augenbrauen stark und gewölbt, die Augen groß und rabenschwarz. Rabenschwarz und glänzend auch das Haar. Dagegen schneeweiß aber dicht und lang der Bart, der den unteren Theil des Gesichtes bedeckte. Das Gesicht war eingefallen; die Farbe war blaß, aber beides nicht so sehr, um ihm das Aussehen der Kränklichkeit oder Schwäche zu geben.

Auf den ersten Anblick fühlte man den Eindruck eines klaren, ruhigen, etwas melancholischen und beinahe edlen Gesichts. Sah man aber tiefer in das große schwarze Auge, so gewahrte man darin ein scheues, lauerndes Wesen, und man glaubte tief im Hintergrunde Hinterlist und Falschheit, jedenfalls Verschmitztheit zu sehen. Beachtete man den Mann genauer und länger, so sah man die Lippen manchmal plötzlich weiter vorgeworfen, wie unwillkürlich aufgezuckt, und dann heftig, fast gewaltsam zusammengekniffen, und wenn man dann schnell ihm wieder in die Augen blickte und das dunkle Aufblitzen in ihrem tiefsten Grunde mit dem gewaltsam zusammengekniffenen Munde verglich, so konnte man sich kaum des Gedankens erwehren, daß so ein Mensch aussehen müsse, der sich eben die Scene eines Mordes, den er verübt, in das Gedächtniß zurückrufe, oder dem plötzlich Gedanke und Plan eines zu verübenden Mordes ergreife und beschäftige. Das war Blutgier, Mordlust, was hier zuckte und blitzte.

Mein Vorgänger mußte mir die Geschäfte der Kreisjustizcommission übergeben. Dazu gehörte auch die Ueberweisung der Gefängnisse. Wir Beide besuchten gemeinschaftlich jede einzelne Gefängnißzelle, gefolgt von den Gefängnißbeamten und litthauischen und einem polnischen Dolmetscher. Mein Vorgänger bezeichnete mich den Gefangenen als seinen Nachfolger; ich trat darauf an jeden einzelnen Gefangenen heran und fragte ihn, ob er Klage über seine bisherige Behandlung in der Untersuchung und im Gefängnisse habe; er habe sie jetzt anzubringen. Mit den der deutschen Sprache Unkundigen wurde durch die Dolmetscher verhandelt. Nur wenige brachten Klagen vor. Was sie zurückhielt, zeigte der scheue Blick auf die anwesenden Gefängnißbeamten. Ich machte später meine Besuche stets ohne diese.

Zu jenen Wenigen gehörte Schlom Weißbart. Ich hatte ihn, eben weil er mir gleich bei meinem Eintreten aufgefallen war, schon vorher beobachtet, ehe ich in der Reihe des Fragens zu ihm kam. Er hatte vollkommen ruhig dagestanden. In dem Augenblick, als ich mich von seinem Nachbar zu ihm wandte, zuckte es heftig in seinem Gesichte. Sein Auge überflog die Beamten, die hinter mir standen. Die Lippen biß er zusammen. Ich sah zum ersten Male an ihm jenen unheimlichen Ausdruck. Aber kaum eine halbe Sekunde lang. Sein Wesen veränderte sich plötzlich in anderer Weise. Das Auge blieb unruhig, aber es nahm einen freundlichen Ausdruck an. Die Lippen öffneten sich, aber wie zu einer demüthigen Bitte. So beugte er, als ich unterdeß ganz vor ihn getreten war, seinen Körper tief vor mir nieder, mit einer Bewegung seiner Hände, als wenn er den Saum meines Rockes fassen und seinen Mund darauf drücken wolle.

Ich sollte ein solches hündisch-freundlich kriechendes Benehmen von russischen und polnischen Bündeljuden, aber auch Christen, später noch oft kennen lernen in seiner ganzen widerlichen Weise.

Ich trat entrüstet zurück, doppelt entrüstet durch den Kontrast dieses Betragens und jenes Aussehens des Mannes.

In strengem Tone richtete ich meine erste Frage an ihn: »Wie heißt Ihr?«

Er hatte rasch seinen Körper aufgerichtet. Sein Auge stach durchbohrend in das meinige; aber nur während des Aufrichtens. Gleich darauf blickte es mich wieder freundlich bittend an, zwar noch unruhig, aber nicht kriechend.

»Ich heiße Schlom,« antwortete er bescheiden, in dem tief gurgelnden, schnellen Tone, in welchem die Handelsjuden an jener Grenze das Deutsche sprechen.

»Wie weiter?«

»Schlom. Mein Vater hieß Aaron.«

»Ihr führt nur den Namen Schlom?«

»Nur diesen, Herr.«

Mein Vorgänger erläuterte: »In Rußland, wenigstens hier an der Grenze, führen die Juden selten einen Familiennamen. In den Acten heißt dieser Jude übrigens Schlom Weißbart. So nennen ihn auch seine Genossen nach seinem weißen Barte. Er wird dadurch unterschieden von einem anderen, eben so gefährlichen Verbrecher, der mit ihm aus demselben Orte ist, auch Schlom heißt und mit ihm die größte Aehnlichkeit hat, nur daß er einen schwarzen Bart trägt, und der daher Schlom Schwarzbart genannt wird.«

Ich wandte mich wieder zu dem Juden. Ich begegnete noch dem letzten Verfliegen eines listigen, höhnischen Lächelns in seinem Gesichte. »Woher seid Ihr?«

»Aus Russisch-Neustadt.«

»Welches Verbrechens seid Ihr angeklagt?«

Seine Freundlichkeit und Bescheidenheit gingen plötzlich in Heftigkeit über. »Gar keines, gar keines Verbrechens, Herr Kreisjustizrath. Ich bin unschuldig, völlig unschuldig.«

»Ich frage Euch nicht,« erwiederte ich ihm, »wessen Verbrechens Ihr schuldig, sondern wessen Ihr angeklagt seid?«

»Gar keines, gar keines, Herr Kreisjustizrath. Man kann mir nichts beweisen, man kann mir nichts vorwerfen, nichts, nichts.

»Die gewöhnliche Sprache aller Verbrecher,« nahm mein Amtsvorgänger das Wort. »Jeder will unschuldig sein.«

»Aber, Herr, Herr – « rief der Jude heftiger, lauter, und in seiner Heftigkeit mehr und mehr in die gewöhnliche jüdische Redensweise fallend. »Den Andern kann man doch werfen etwas vor. Man kann ihnen nennen ein Verbrechen, das sie sollen haben begangen. Nennen Sie mir eins. Habe ich gestohlen, habe ich gemordet, habe ich begangen einen Raub? Nicht Sie haben gekonnt, es mir sagen, nicht die Herren Referendarien, Gott stehe mir bei, diese Herren.«

Die Bemerkung des Juden war wichtig. Keiner von den Gefangenen, die ich bisher gefragt, hatte sich eines Verbrechens schuldig bekannt, aber Alle hatten ein bestimmtes Verbrechen, dessen man sie anklagte, zu benennen gewußt. Eine gewisse Verlegenheit in den Gesichtern der Beamten zeigte mir auch, daß außer der Beantwortung des Juden noch etwas Anderes richtig oder vielmehr nicht richtig sein müsse.

Ich unterbrach diesen. »Ruhig, Mann! Beantwortet mir meine weiteren Fragen, aber ohne Heftigkeit.«

Er verbeugte sich tief und demüthig, und stand dann völlig ruhig vor mir. Es war ein wildes Wesen in dem Manne, aber eine eiserne Gewalt, die es zu beherrschen wußte.

»Wie lange seid Ihr hier in dem Gefängnisse?«

»Vor drei Tagen ist es geworden ein Jahr und drei Monate.«

»Habt Ihr Klage über Eure bisherige Behandlung zu führen?«

»Ich bitte, Herr, daß Sie mich bald verhören.«

»Das wird geschehen. Jetzt habt Ihr meine Fragen zu beantworten.«

»Ob ich habe eine Klage?«

»Ueber Eure Behandlung hier in der Haft und in der Untersuchung, in Euren Verhören.«

»Verhören?« platzte es wieder heftig aus ihm heraus. Aber schnell sich fassend, fuhr er fort: »Hier habe ich keine Klagen. Hier nicht. Aber Sie verhören mich bald? Recht bald?«

»Noch in dieser Woche.«

»Gewiß, Herr? Gewiß?«

»Gewiß.«

Er hatte, bevor ich es ihm wehren konnte, den Saum meines Rockes ergriffen und an seine Lippen gedrückt.

Ich setzte den weiteren Umgang in den Gefängnissen fort.

Ueber die vielfachen, mitunter tief erschütternden Eindrücke dieses ersten Besuches jener Gefängnisse hatte ich den Juden Schlom Weißbart nicht vergessen. Ich ließ mir alsbald seine Untersuchungsacten vorlegen. Sie bestanden aus einem einzigen sehr dünnen Heftchen. Aber sie gehörten zu desto zahlreicheren und dickeren Actenbänden. Schlom Weißbart war in eine weitläufige Untersuchung gegen eine große Bande von Dieben verwickelt, die ihre Verbrechen gewerbmäßig zu beiden Seiten der preußisch-russischen Grenze verübt hatte. Die Bande bestand aus einigen zwanzig Köpfen, theils preußischen, theils russischen Unterthanen. Der zur Untersuchung gezogenen Diebstähle waren aber vierzig. Die Diebe hatten ihre Verbrechen mit eben so großer Verwegenheit als List ausgeführt, besonders zahlreiche Pferdediebstähle. Die in Rußland gestohlenen Pferde waren nach Preußen geschafft und hier verkauft; umgekehrt, die in Preußen gestohlenen nach Rußland. Sie hatten so ihr Handwerk lange und um so geschützter vor Verfolgung treiben können, als die Grenzsperre eben nur den ehrlichen Leuten und deren Verkehr die Grenze sperrte. Die Grenzsperre und die Schwierigkeit des Verhandelns mit unwillfährigen, russischen Behörden hatte auch eine unverhältnißmäßige Verzögerung der Untersuchung herbeigeführt. Freilich hatte auch einiges Andere hierzu beigetragen. Die Acten waren sehr voluminös geworden, und die Inquirenten - jene Referendarien - hatten mehrfach gewechselt. Es ist aber keine mühelose Arbeit, vierzig bis fünfzig dicke Bände von Untersuchungsacten durchzufahren, zu prüfen, was Alles noch darin geschehen muß, welche Zeugen noch darin zu vernehmen, welche Confrontationen zu veranstalten, welche Thatbestände sogar noch festzustellen, sodann die articulirten Verhöre abzuhalten und so weiter.

Die Untersuchung hatte schon seit länger als zwei Jahren gedauert. Ich mußte mehrere Tage und Nächte die Acten durchstudiren, um dem Juden mein Versprechen halten zu können, ihn noch in dieser Woche zu verhören. Schlom Weißbart war erst im Laufe der Untersuchung eingeliefert. Sein Name kam jedoch schon im Anfange derselben vor. Er wurde immer als einer der gefährlichen Diebe und zugleich Diebeshehler an der Grenze genannt. Aber er war so benannt nur von den Beamten, den Gensd’armen, den Dorfrichtern, den Polizeischulzen an der Grenze. Von den in der Untersuchung befangenen Verbrechern wollte keiner auch nur seinen Namen wissen. Und auch jene Beamten konnten kein einziges Verbrechen bezeichnen, das er selbst begangen oder zu dem er mitgewirkt haben sollte. Es hieß nur immer, das gefährlichste Mitglied der ganzen Bande sei der Jude Schlom Weißbart aus Russisch-Neustadt. Freilich wohl nicht minder gefährlich sei ein anderes Mitglied der Bande, der Jude Schlom Schwarzbart, dessen man aber bisher nicht habe habhaft werden können. Dabei war die Vermuthung ausgesprochen, Schlom Weißbart und Schlom Schwarzbart müßten Brüder sein, wegen ihrer Aehnlichkeit sowohl im Aeußern als in verbrecherischer Frechheit und Verschmitztheit. Etwas Bestimmtes könne man darüber nicht ermitteln, weil beide Juden nicht ohne Vermögen sein sollten, und daher von den bestechlichen russischen Beamten keine Auskunft über sie zu erhalten sei. Deshalb sei auch an eine Verhaftung des Schlom Schwarzbart oder an eine in Rußland gegen ihn einzuleitende Untersuchung gar nicht zu denken. In der That fand sich in den Acten ein Schreiben der russischen Behörde, wonach ein Schlom Schwarzbart in Neustadt sowohl als Umgegend gar nicht existire. Gegen diesen Schlom Schwarzbart lagen übrigens mehrere bestimmte Zeugenaussagen vor, nach denen er an einer Menge in Preußen verübter Vebrechen unmittelbar Theil genommen und namentlich viele gestohlene Pferde in Rußland verkauft hatte.

Schlom Weißbart war in Preußen arretirt. Zufällig, wie es in den Acten nach einer Anzeige des Dorfgerichtes des Grenzortes Mädischkehmen hieß, hatte man ihn diesseits der Grenze auf einem Pferde reitend, angetroffen, erkannt und sofort verhaftet. Das Pferd war später als ein in Preußen gestohlenes ermittelt worden. Der Diebstahl war schon vor langer Zeit verübt, und gar nichts stand darüber fest, daß Schlom Weißbart daran Theil genommen habe. Und dieser Ritt auf einem gestohlenen Pferde war das einzige Bestimmte, was man dem Juden hatte vorwerfen können. Auch in seiner Haft hatte er sich stets ruhig und ordentlich betragen. War seine Bemerkung oder vielmehr sein Vorwurf im Gefängnisse nicht gewesen?

Gleichwohl wurde von sämmtlichen Beamten der Kreisjustizcommission fortwährend versichert, der Jude Schlom Weißbart sei einer der verwegensten und gefährlichsten Verbrecher, welche auf beiden Seiten der Grenze leben.

Ich ließ ihn zum Verhöre vorführen.

Er erschien ruhig, bescheiden. ohne eine Spur jenes kriechenden Wesens, das ich im Gefängnisse entrüstet zurückgewiesen hatte. Hatte er auch mich studirt?

»Ich habe Euch vorführen lassen, Schlom Weißbart,« redete ich ihn an, »um das versprochene Verhör mit Euch abzuhalten.«

»Lohne es Ihnen Gott, Herr!«

»Zuvor beantwortet mir jetzt die Frage, ob Ihr eine Klage über Eure Behandlung habt?«

»Eine Klage, Herr Kreisjustizrath? Gott behüte. Nicht eine, aber zehn, zwanzig, hundert.«

Er antwortete nicht aufgeregt, im Gegentheil mit derselben Ruhe, mit der er eingetreten war.

»Und wie lauten diese Klagen?«

»Traurig lauten sie. Sie zerreißen mein Herz, möchten sie doch auch zerreißen das Ihrige.«

»Nun?«

»Herr, ich sitze hier seit fünf Vierteljahren. In dem Keller da unten. In dem dunkelen Loche unter der Erde. Fünf Vierteljahre. Soll ich Ihnen sagen, wie oft ich in dieser Zeit gesehen habe die Sonne und geathmet habe die frische Luft? Ich will es Ihnen sagen. Zwei Mal. Zwei Mal, als ich wurde geführt aus dem Keller zum Verhöre.«

Nur zwei Verhöre waren in der That bisher mit dem Juden abgehalten.

»Aber,« warf ich ihm ein, »Ihr seid doch regelmäßig täglich eine halbe Stunde an die frische Luft geführt worden.«

»Daß sich Gott erbarm! Es war ja keine Zeit dazu übrig für die Herren Wachtmeister.«

Ich sah fragend den Secretär an, der mir das Protocoll führte. Er bestätigte mit einem Achselzucken.

Die Gefängnisse und das Gefängnißpersonal sind auf funfzig Gefangene berechnet. Einhundert und funfzig sind da. Da bleibt keine Zeit für die allerdings vorgeschriebenen Spaziergänge der Gefangenen.

»Aber das ist ja eine Grausamkeit. Ich habe Gefangene angetroffen, die seit länger als drei Jahren saßen. Auch diese sind nie an die frische Luft gekommen?«

»Zum Verhöre!« war die entschuldigende Antwort.

»Grausamkeit!« sagte der Jude. »Was heißt Grausamkeit? Weiß der Herr, daß ich in den fünf Vierteljahren nicht habe sehen dürfen meine Frau und mein Kind, und sie waren hier, fünf Mal, alle Vierteljahre ein Mal.«

Auf meinen fragenden Blick antwortete der Secretär: »Der Jude hätte collidiren können.«

Der Jude fuhr fort: »Grausamkeit? Und weiß der Herr, was man mir hat gegeben zu essen und zu trinken? Brot zu essen, nichts als schwarzes Brot und Wasser zu trinken. Nichts als das, gar nichts.«

»Jude,« fiel ihm der Secretär ein, »belüge den Herrn Kreisjustizrath nicht.«

»Habe ich bekommen etwas Anderes? Einen Mund voll? Einen halben Mund voll?«

»Du hast freiwillig Brot und Wasser gewählt. Gieb den Grund an, warum.«

»Ich soll Ihnen sagen, warum, Herr Kreisjustizrath. Durfte ich denn essen die Gefangenkost? Sie war nicht kauscher. Das Gesetz verbietet sie.«

Ich musste mit einer Art von Bewunderung den Juden ansehen, der fünf Vierteljahre lang, um einem von Tausenden seiner Glaubensgenossen nur noch verspotteten Gesetze nicht entgegen zu handeln, nichts als Wasser und Brot genossen hatte, und dessen Aussehen doch bezeugte, dass ihm früher der Genuß einer wohlbesetzten Tafel, wie die vermögenden Juden an der russischen Grenze sie bekanntlich lieben und führen, nicht fremd gewesen war.

Er fuhr fort: »Aber das war nicht die Grausamkeit, Herr. Auch nicht einmal einen Hering ließen sie mir zukommen. Ich hatte gebeten darum, nur einmal in der Woche, am Schabbes. Meine Frau sollte ihn bezahlen, doppelt, dreifach. Ich bekam ihn nicht. Die Herren Referendarien lachten mich aus.«

»Warum das?« fragte ich den Secretär.

»Das Reglement schreibt genau die Gefangenkost vor. Ein Hering wird nicht erwähnt.«

»War das in der That ein Grund?«

Der Secretär zuckte wieder die Achseln: »Die Herren Inquirenten ordneten es so an. Ausnahmen können nur vergünstigungsweise gestattet werden. Der Jude leugnete hartnäckig.«

»Gottes Wunder, ich sollte lügen, ich sollte mich lügen auf das Zuchthaus, an den Galgen, um einen Hering zu verdienen.«

Ich unterbrach ihn. »Legt Ihr Gewicht auf den Hering, Schlom?«

»Gewicht, Herr? Ich lege Gewicht nur auf das Recht, auf meine Freiheit. Lassen Sie mich gehen nach Hause, zu meiner Frau und meinem Kind; ich will keinen Hering.«

»Ihr täuscht Euch über Eure Lage; Ihr seid in eine weitläufige Untersuchung verwickelt, die noch Jahr und Tag dauern kann.«

»Das haben sie mir gesagt alle, alle die Herren Referendarien. Aber Sie sind der Herr Kreisjustizrath, der Herr Rath des Rechtes. Sie werden mich lassen frei. Was geht mich die Untersuchung an? Was habe ich denn verbrochen? Sie haben gelesen die Acten. Sagen Sie es mir.«

»Man hat Euch mit einem gestohlenen Pferde ertappt.«

»Ertappt? Wunder Gottes! das steht in den Acten? Die Acten lügen, Herr.«

»Der Dorfrichter von Mädischkehmen hat die amtliche Anzeige gemacht.«

»Gott strafe ihn, den Hund! Gott hat ihn schon gestraft.«

Der Jude war plötzlich in große Aufregung gerathen. Sein bleiches Gesicht röthete sich. Sein Blick sprühte Wuth. Doch wußte er sich bald zu mäßigen.

»Verzeihen Sie," fuhr er ruhiger fort. »Aber die Acten lügen, dabei bleibe ich. Das war eine schändliche Geschichte. Ertappt? Ich will Ihnen erzählen, Herr, wie man mich hat ertappt, hier in Preußen. Herüber gelockt hat man mich über die Grenze, hinterlistig herüber gelockt. Was sage ich? Gelockt? Hinterlistig? Gewalt hat man mir angethan!. List und Gewalt! Der Dorfrichter von Mädischkehmen und noch Einer. Einen Brief ließen sie mir schreiben, ich solle kommen an die Grenze, nur bis an den Grenzgraben, nicht herüber nach Preußen. Es würden Preußen da sein, aus Tilsit, die wollten machen ein Geschäft mit mir in Seidenwaaren, ein erlaubtes Geschäft, ein reelles Geschäft. Ich ritt hin, ohne Arg. Des Morgens um vier Uhr war ich da, wie geschrieben stand in dem Briefe. Es war noch dunkel. Die Kosacken an der Grenze schliefen. Zwei Männer waren da, ich kannte sie nicht. Sie sahen aus, wie Herren, wie Herren aus der Stadt. Sie hatten bei sich die Seide. Schöne Seide, preiswürdig. Aber es war alles Betrug. Auf einmal springen vier Kerle heraus aus dem Grenzgraben, fallen über mich her, als ich besehe die Seide, fassen mich, schleppen mich über die Grenze, mit meinem Pferde, nach Preußen. Da steht der Dorfrichter von Mädischkehmen, und wartet schon, und wirft mir um einen Strick um den Hals und die Arme, und bindet mich auf mein Pferd, und führt mich zum Herrn Landrath und sagt, ich sei gekommen über die Grenze, und so habe er mich arretirt. Arretirt? Ertappt? Ich will sterben, wenn mich hat ertappt der Hund.«

Es ermittelte sich erst später, nach Jahr und Tag, daß Schlom Weißbart, auf den die Polizei in Preußen fahndete, und der dies wohl wußte und sich daher hütete, die Grenze zu überschreiten, in der That auf solche Weise theils durch List, theils durch Gewalt auf preußisches Gebiet gebracht und hier verhaftet war. Damals ging aus den Acten nichts darüber hervor. Ich bemerkte dies dem Juden. Ich fragte ihn, ob er Beweise habe für seine Behauptung gegen die amtliche Anzeige des Dorfrichters.

»Der Dorfrichter ist todt,« antwortete er. »Strafe Gottes.«

»Habt Ihr Niemanden von den Leuten gekannt, die Euch überfielen?«

»Niemanden.«

»Auch keinen von denen, die mit Euch handelten?«

»Keinen.«

»Ihr werdet einsehen, daß Eure bloßen Behauptungen eine amtliche Anzeige nicht entkräften können.«

»Es ist mein Unglück.«

»Zudem kommt am Ende wenig darauf an. Der Euch beschwerende Umstand bleibt: Ihr seid mit einem gestohlenen Pferde ergriffen.«

»Gottes Wunder, ist es ein Verbrechen, zu reiten auf einem gestohlenen Pferde, so muß in’s Zuchthaus halb Litthauen und Szamaiten. Ich habe geritten auf dem Pferde, aber ich habe es nicht gestohlen.«

»Ihr seid bekannt als Pferdedieb.«

»Kennt mich der Herr?«

»Sämmtliche Beamte an der Grenze bekunden es.«

»Hat Einer gesehen, daß ich habe gestohlen?«

»Sie bekunden das allgemeine Gerücht.«

»Was heißt Gerücht? Die Polizei kann machen das Gerücht. Sie sprechen, Herr, daß ich bin verwickelt in eine große Untersuchung von vielen Spitzbuben. Hat gesehen ein Einziger von diesen, daß ich habe gestohlen?«

»Sie würden dadurch sich selbst angeklagt haben.«

»Also nur die Polizei hat mich angeklagt. Die Polizei hat gemacht das Gerücht, und auf dieses Gerücht sitze ich hier seit länger als einem Jahre.«

Die Rollen des Inquirenten und Inquisiten waren beinahe vertauscht.

»Ihr sagtet, Schlom Weißbart, außer dem Dorfrichter von Mädischkehmen habe noch Einer Euch an die Grenze gelockt. Wer war dieser Eine?«

»Erlassen Sie mir das, Herr!«

»Ich frage in Eurem Interesse.«

»Gott behüte mich vor solchem Interesse. Kennen der Herr Kreisjustizrath das Essen von Kirschen mit großen Herren?«

Beim Durchlesen der weitläufigen Acten war ich auf einen Umstand aufmerksam geworden, über welchen Schlom Weißbart noch nicht vernommen war, welcher gleichwohl etwas mehr Thatsächliches, als bloßes allgemeines Gerücht zum Inhalte hatte. Ein Zeuge, der in Russisch-Neustadt Geschäfte gehabt, wollte dort gesehen haben, wie Schlom Schwarzbart eines Morgens früh drei braune Pferde zum Stalle des Schlom Weißbart gebracht habe. In derselben Nacht waren einem preußischen Gutsbesitzer in der Nähe von Laugallen, also nicht sehr weit von Neustadt, drei braune Pferde von der Weide gestohlen. Freilich stand die Identität der von dem Zeugen nur flüchtig in der Morgendämmerung gesehenen Pferde mit den gestohlenen in keiner Weise fest. Um so mehr konnte der Verdacht gegen Schlom Weißbart nur ein so entfernter sein, daß er juristisch kaum in Betracht kam. Ich glaubte indeß, an diesen Umstand anknüpfen zu dürfen.

»Schlom Weißbart,« fragte ich den Juden, »kennt Ihr den Schlom Schwarzbart?«

Sein Gesicht durchflog wieder dasselbe höhnische Lächeln, wie im Gefängnisse bei Nennung des Namens Schlom Schwarzbart. Ruhig entgegnete er. »Giebt es doch viele Schlome in der Welt.«

»In Russisch-Neustadt«, ergänzte ich meine Frage.

»Auch da.«

»Und Einer von ihnen hat den Zunamen Schwarzbart!«

»Ich weiß es nicht.«

»Wie man Euch Weißbart nennt?«

»Gottes Wunder, so nennt mich die Polizei in Preußen.«

»Zur Unterscheidung von Schlom Schwarzbart.«

»Aber ich kenne keinen Schlom Schwarzbart. Auch in Rußland kennt man nicht einen Schlom Schwarzbart, und auch nicht den Schlom Weißbart.«

Ich weiß nicht, warum plötzlich der Verdacht in mir aufstieg, Schlom Weißbart und Schlom Schwarzbart seien ein und dieselbe Person. Rasch stellte ich dem Juden die Frage: »Seid Ihr selbst der Schlom Schwarzbart?«.

Ein Blitz der Wuth schoß aus seinem Auge auf mich. Aber er antwortete mit seinem freundlichen Lächeln: »Dann müßte ich ja kennen den Schlom Schwarzbart.«

»Gewiß werdet Ihr ihn kennen. Er soll gestohlene Pferde in Euren Stall gebracht haben.«

»Haben der Herr Zeugen?«

Auch diese Richtung des Verhörs führte nicht weiter. Ich hatte schon vorher meinen Plan gefaßt und schritt sofort zum Schlußverhör. Ich eröffnete ihm das. Er mußte sich Gewalt anthun, seine laute Freude zurückzuhalten.

»Sie lassen mich frei? Heute?«

»So nicht, Schlom. Ich schicke nur Eure Acten noch heute nach Insterburg zum besonderen Spruch über Euch ein.«

Er wurde niedergeschlagen. »Gott behüte, da sind viele Herren Referendarien, das wird lange dauern, ehe sie kommen zurück.«

»Ihr sollt bis dahin jeden Schabbes Euren Hering haben, und wenn Ihr wollt, täglich.«

Etwas richtete ihn das Versprechen wieder auf. »Nicht täglich. Aber die Woche zweimal, wenn der Herr erlauben.«

»Ich erlaube es.«

»Und,« fuhr er fort, plötzlich zögernd, mit beinahe ängstlich angehaltenem Athem. »Und erlauben der gnädige Herr, daß ich kann sprechen meine Frau und mein Kind?«

»Auch das.«

Er stürzte vor mir nieder, meine Stiefel zu umfassen. Ich mußte mich fast gewaltsam von ihm losreißen.

»Das ist ein großer Bösewicht,« sagte, als der Jude abgeführt war, der Secretair, wie mit erleichtertem Herzen. »Ein gleißnerischer Bösewicht, den alle Welt fürchtet, in Preußen wie in Rußland.«

»Und dennoch,« erwiederte ich, »kann Niemand in Preußen oder in Rußland ihn eines bestimmten Verbrechens auch nur anklagen, geschweige überführen. Sollte den Menschen nicht das unverschuldete Unglück eines allgemeinen Vorurtheils verfolgen, das sich so oft, ohne alle Veranlassung, in wahrhaft unbegreiflicher Weise klettenartig an manche Menschen anheftet?«

»Umgekehrt möchte ich glauben, daß seine ebenso große List wie Frechheit seine Verbrechen nur zu sehr zu verdecken weiß –«

»Aber der arme Mensch sitzt ja seit beinahe anderthalb Jahren gefangen zwischen den stärksten Gefängnißmauern, und er hatte nicht einmal Geld, um zu seiner Nahrung sich mehr als Wasser und Brot zu verschaffen.«

»Er hat zu Hause Vermögen, und ein Weib, ebenso boshaft und ränkesüchtig wie er, dabei bildschön.« –

Gegen den Juden Schlom Weißbart lag nach meinem Erachten kein Beweis eines Verbrechens vor, der eine Strafe gegen ihn hätte begründen können. Nach der ganzen Lage der Untersuchung gegen die Bande war auch keine Bezüchtigung irgend eines Verbrechens, kein weiterer Beweis gegen ihn zu erwarten. Es erschien mir daher völlig ungerechtfertigt, den Juden in fernerer Gefangenschaft bis nach Abschluß der, vielleicht noch ein Jahr dauernden Untersuchung gegen die Bande zu behalten. Andererseits, nachdem die Criminaluntersuchung gegen ihn wegen Theilnahme an den Diebstählen einmal eingeleitet war, konnte er, zumal als Ausländer, ohne ein Urtheil nicht entlassen werden; dieses Urtheil war von dem Oberlandesgerichte in Insterburg zu ertheilen. Dem letzteren sandte ich daher die – dünnen – Akten gegen den Juden, mit den betreffenden Bemerkungen zum Spruche ein.

Unterdessen machte ich noch einen letzten Versuch, um über den Juden eine bestimmte nähere Auskunft zu erhalten. Die russischen Behörden hatten, auf die sämmtlichen vielen amtlichen Ersuchungsschreiben der Kreisjustizcommission zu diesem Zwecke, gar nicht geantwortet. Wenige Tage nach meiner Ankunft in Ragnit erfuhr ich, daß einer meiner Universitätsfreunde, ein Livländer, einen höhern Posten in der russischen Zollparthie an der Grenze bekleide. An ihn wandte ich mich um Auskunft.

Es war ein seltsames Zusammentreffen von Umständen, unter denen ich einige Zeit nachher die Antwort erhielt. Es kam damals täglich nur eine Hauptpost nach Ragnit. Sie kam des Morgens um acht Uhr von Tilsit; sie brachte die sämmtliche Correspondenz aus Deutschland, Preußen und Rußland. Die Briefe für die Kreisjustizcommission sowohl als die Privatbriefe für mich wurden bald nach Ankunft der Post durch meinen Boten des Gerichtes eingeholt und in das Gerichtslokal gebracht, wo ich mich jeden Morgen einfand.

Etwa vierzehn Tage seit Absendung der Akten gegen Schlom Weißbart nach Insterburg mochten verflossen sein, als der Bote, der die Correspondenz von der Post abgeholt hatte, mit dieser mir auch einen Privatbrief aus Rußland an mich überbrachte. Ich eröffnete ihn zuerst. Er war von meinem Freunde. Er betraf den Schlom Weißbart und bestätigte alles Schlechte, was das Gerücht von dem Juden ausgebreitet hatte.

Der Jude Schlom aus Russisch-Neustadt, der seit länger als einem Jahre in den Gefängnissen der Kreisjustizcommission zu Ragnit sich befinde, sei in der That einer der gefährlichsten Verbrecher an der Grenze. Er stehe mit allen Räuber- und Diebesbanden der Grenze in Verbindung, und mache ebensowohl ihren Anführer als Hehler. Man fürchte ihn allgemein wegen seiner Verwegenheit und Grausamkeit. Durch seine Verbrechen habe er sich ein nicht unbedeutendes Vermögen erworben. Dieses gewähre ihm die Mittel, die bestechlichen Beamten von sich abhängig zu machen. Um so mehr sei er von Jedermann gefürchtet, und Niemand wage gegen ihn aufzutreten. Alle Versuche, amtliche Auskunft über ihn zu erhalten, werden vergeblich sein. Das allgemeine Gerücht bezeichne ihn sogar als den Mörder seiner ersten Frau; seine jetzige Frau, gleichfalls eine abgefeimte Verbrecherin, solle ihm bei der That geholfen haben. Seine Tochter, sein einziges Kind aus der ersten Ehe, zur Zeit des Mordes etwa zwölf Jahre alt, sei durch einen Zufall Zeugin des Verbrechens geworden; sie sei seitdem periodisch von Wahnsinn befallen, in dessen Krisen sie furchtbare Sachen spreche. Trotz alledem habe Niemand gewagt, ihn oder seine zweite Frau wegen der That anzuklagen.

Mein Freund schloß seine Nachrichten mit der Bemerkung, daß er begreiflich nur, freilich sorgfältig aufgesuchte Gerüchte mittheile, deren weitere Verfolgung unter den erwähnten Umständen unzweifelhaft ohne alles Ergebniß bleiben werde, die aber schon dadurch eine erhebliche Bestätigung finden müßten, daß während der Haft Schlom’s gerade derartige Grausamkeiten, die ihm Schuld gegeben wurden, bei Diebstählen und Räubereien in der Gegen nicht mehr vorgekommen seien.

Auch dies war wiederum mehr Gerücht, als Auskunft über bestimmte Thatsachen. Aber es war mit so vielen Gründen unterstützt, daß ein großer Theil meiner Zweifel gegen ein so wieder und wieder bestätigtes, allgemein verbreitetes Gerücht verschwinden mußte. Und hatte nicht auch mein erster Blick in den Augen des Juden neben hoher Verschmitztheit jene Blutgier und Mordlust gesehen?

Indeß für die Zwecke der Criminaluntersuchung war von weiteren Nachforschungen augenscheinlich nichts zu gewinnen, der Brief konnte mich daher zu ferneren Schritten nicht veranlassen, und ich beschloß, die Ankunft des Erkenntnisses von Insterburg abzuwarten, es dem Juden zu publiciren und ihn alsdann, da ich nur seine Freisprechung erwartete, sofort der Haft zu entlassen.

Eins der ersten eingegangenen amtlichen Schreiben, die ich darauf eröffnete, brachte das Erkenntniß des Juden. Es lautete gegen alle meine Erwartung nicht freisprechend. Der Angeschuldigte sei im Besitze eines erwiesen gestohlenen Pferdes ergriffen; der Besitz des gestohlenen Gutes bilde nach der Criminalordnung eine nahe Anzeige. Der Angeschuldigte habe bei seiner Verhaftung sich widersetzt, um die Flucht zu ergreifen; Flucht oder Versuch derselben bilde ein zweites Indicium. Der Angeschuldigte werde allgemein als ein Mensch von ebenso schlechtem Charakter als verbrecherischer Lebensweise, besonders auch als Mitglied einer Bande von Dieben bezeichnet. Nun verordne aber der Paragraph 405 der Criminalordnung wörtlich: »Wenn mehrere Anzeigen in einem Falle zusammentreffen, welche mit einander übereinstimmen, und durch den schlimmen Charakter des Verdächtigen und die bisherige schlechte Lebensweise desselben unterstützt werden, so ist ein hoher Grad von Wahrscheinlichkeit vorhanden, bei dem eine außerordentliche Strafe in der Regel kein Bedenken haben kann.« Der Angeschuldigte sei mithin außerordentlich wegen Pferdediebstahls zu bestrafen. Die ordentliche Strafe des Pferdediebstahls bestehe nach der Verordnung vom 28. September 1808, §. 18 in einer »scharfen Züchtigung von Einhundert Peitschenhieben.« Es werde deshalb eine außerordentliche Strafe von fünfundzwanzig Peitschenhieben gegen den Angeschuldigten hiermit festgesetzt und erkannt.

Nach den Worten des Gesetzes war diese Entscheidung überall gerechtfertigt. Für meine Erwartung eines anderen Ausfalles derselben mochte mich wohl jene Theilnahme für den Juden eingenommen haben, die seitdem durch die Mittheilungen meines Freundes mindestens sehr verkaltet, wenn nicht in ihr Gegentheil umgeschlagen war. Die Beamten der Kreisjustizcommission jubelten, daß der verbrecherische Jude, trotz alles Leugnens nicht ohne einen »preußischen Denkzettel« nach Rußland zurückkehren solle.

Ich ließ sofort den Juden vorführen, um ihm das Urtheil zu publiciren.

Er trat mit dem Ausdrucke großer Spannung in das Gerichtszimmer. Er sah unruhig darin umher.

Es ist erklärlich, daß das Schreiben meines Freundes mich veranlaßte, ihn mit scharfem Mißtrauen zu betrachten. Ich sah gleichwohl nur diese Spannung in den Zügen, die ich auch jetzt noch schön und edel geformt finden mußte; keine Tücke, keine Blutgier. Stand wirklich ein furchtbarer Mörder vor mir?

Sein Blick war unterdeß mit steigender, fast zur Aengstlichkeit sich steigernder Spannung auf einer Thür haften geblieben, die in eines der Bureauxzimmer führte. Das fiel mir auf.

»Sucht Ihr Etwas, Schlom Weißbart?«

»Nein Herr. Haben Sie mich doch lassen rufen.«

Er antwortete zögernd. Er schien zu zittern, während er antwortete.

Was konnte er haben? Ich hatte allerdings in einem andern Tone, als früher, kalt, strenge zu ihm gesprochen. Einen Menschen wie ihn konnte das aber nicht zittern machen.

»Erwartet Ihr hier Jemanden?«

»Wer sollte kommen zu mir?«

»Wenn nun etwa Zeugen Eurer Verbrechen? Aus Rußland?«

Hatte ich ihn wollen in Angst setzen, so hatte ich das Gegentheil erreicht. Er athmete auf. Sein Gesicht nahm einen Ausdruck jener ruhigen, bescheidenen Freundlichkeit der früheren Begegnungen mit ihm an.

»Der Herr ist so gnädig, zu scherzen mit mir,« sagte er. »Aber,« fuhr er anscheinend in unbefangener Offenheit fort, »weil der Herr sind so guter Laune, so kann ich sagen, was ich habe auf dem Herzen. Ich erwartete, daß meine Frau sei hier.«

Daß seine Unbefangenheit eine gemachte war, zeigte die Aengstlichkeit, die ihn unwillkürlich wieder ergriff´, während er die letzten Worte sprach.

Seine Frau war noch nicht da gewesen, seitdem ich in dem letzten Verhöre ihm erlaubt hatte, sie zu sprechen.

»Eure Frau ist nicht hier,« erwiederte ich ihm.

Er wurde nicht ruhiger.

»Stehe mir Gott bei. Sie hätte hier sein müssen schon vor acht Tagen. Es wird passirt sein ein Unglück.«

»Ihr könnt Euch morgen davon überzeugen.«

»Was, Herr?« fuhr er auf.

»Euer Erkenntniß von Insterburg ist angekommen.«

»Gott ist barmherzig. Mein Erkenntniß! Morgen? – Ich bin frei?«

»Seid ruhig, und hört den Inhalt des Urtheils.«

Ich las ihm das Erkenntniß vor.

Ich hatte einen fast entsetzlichen Anblick, als ich geendigt hatte und wieder zu ihm aufblickte. Tödtende Bosheit und Rache sprachen sich in seinen dunkel glühenden großen Augen, in seinen zusammengepreßten Lippen aus.

»Strafe?« stammelte er mit bebender Stimme. »Das Erkenntniß ist gekommen von Insterburg?«

»Ihr habt es gehört.«

»Von Insterburg? Auf die Akten, welche haben hingeschickt der Herr Kreisjustizrath?«

»So ist es.«

»Und auf den Bericht, den haben gemacht der Herr Kreisjustizrath?«

»Auch das ist so.«

Der tödtende Blick traf mich von Neuem, ich möchte sagen, mich jetzt besonders allein. Er sah in mir die Ursache des Straferkenntnisses.

»Ihr könnte appelliren,« fuhr ich fort, »wenn Ihr der Meinung seid, daß Euch Unrecht geschehe.«

»Ich appellire, Herr, sogleich. Ich bin unschuldig. Unschuldig, und fünfundzwanzig Hiebe! Ich appellire. Nehmen Sie zu Protocoll meine Appellation.«

Auf einmal schien er sich zu besinnen. Langsamer setzte er hinzu: »Und wenn ich appellire?«

»Wie so, wenn Ihr appellirt?«

»Werde ich kommen frei?«

»Nicht vor Rückkehr des Appellationsurtheils.«

»Und das kann dauern wie lange?«

»In den nächsten vier Wochen dürft Ihr nicht darauf rechnen.«

Er wurde nachdenklicher. Er war so sehr mit seinen Gedanken, mit dem Suchen nach einem Entschlusse beschäftigt, daß er darüber ganz die Beachtung seines Aueßeren vergaß. Sein Gesicht bekam den Ausdruck der Gemeinheit, und, was ich bisher an ihm noch nicht beobachtet hatte, jener eigenthümlichen Feigheit des gewöhnlichen Juden, die sich besonders einem körperlichen Schmerze gegenüber äußert. Das sonst so schöne Gesicht des Menschen wurde dadurch ungemein häßlich. Ich hatte mich in meiner Wahrnehmung nicht getäuscht.

»Fünfundzwanzig Hiebe?« sagte er nach einer Pause. »Steht es so im Urtheil?«

»Fünfundzwanzig.«

»Mit der Peitsche?«

»Mit der Peitsche.«

»Auf den Rücken?«

»Auf das Gesäß.«

»Auf das – ?«

Er vollendete die Frage nicht. Er kniff wüthend die Lippen zusammen.

Nach einer Weile fragte er weiter: »Heute noch?«

»Ihr appellirt ja.«

»Wenn ich aber nicht appellire?«

»Dann noch heute.«

»Und das Urtheil, sagen der Herr, auf meine Appellation kann noch dauern vier Wochen?«

»Mindestens.«

»Und wenn ich nehme die Hiebe, komme ich frei?«

»Sogleich.«

»Morgen?«

»Noch heute, sobald die Züchtigung vollstreckt ist.«

»Ganz frei?«

»Man wird Euch bis zur russischen Grenze transportiren. Von da könnt Ihr gehen, wohin Ihr wollt.«

»Nach Hause? Zu meiner Frau? Zu meiner – ? Morgen?«

Auf einmal fuhr er wieder auf. Jene Furcht vor dem körperlichen Schmerze spiegelte sich wieder in seinem Gesichte. »Fünfundzwanzig Hiebe? Auf das – ? Herr, kann ich sehen die Peitsche?«

»Sie ist im Gefängnißhause.«

»Der Lemkat hat bekommen zwanzig Hiebe mit der Peitsche. Au wai, wie hat er geschrieen. Gebrüllt hat er; wie ein Ochse, den der Schlächter hat getroffen falsch. Es waren nur zwanzig.«

Er sprach mehr mit sich selbst als zu mir. Die Angst vor der Züchtigung erfüllte ihn ganz und gar.

»Fünfundzwanzig,« fuhr er fort, aber für sich. »Gott, sei barmherzig. Vier Wochen! Meine Frau! Das Kind! Was macht mein Kind! Habe ich nichts von ihr gehört in so langer Zeit. Heute frei! Fünfundzwanzig – ! Barmherzig, Herr! Barmherzig!«

Auf einmal sagte er entschlossen, mit lauterer Stimme: »Ich appellire, Herr! Schreiben Sie es zu Protokoll, ich appellire.«

In diesem Augenblicke trat ein Gerichtsdiener ein, der mir leise mittheilte, die Frau des Schlom Weißbart sei im Vorzimmer, und bitte, ihren Mann sprechen zu dürfen.

Ich konnte mir denken, daß die Unterredung mit seiner Frau einen entscheidenden Einfluß auf den Entschluß des Juden, in Betreff seiner Appellation ausüben werde. Ich beschloß daher, die Frau sofort vorzulassen, zumal da vorschriftsmäßig die Unterredung nur in meiner Gegenwart stattfinden durfte. Ich leugne nicht, daß es mir zugleich interessant war, den Juden bei diesem Wiedersehen zu beobachten, bei der ersten Begegnung mit seiner Frau, die er seit beinahe anderthalb Jahren nicht gesehen, zudem der Genossin eines schweren Verbrechers, bei dem ersten Empfange von Nachrichten über die Seinigen, über deren Schicksale er in der ganzen langen Zeit seiner Gefangenschaft gar nichts vernommen hatte.

»Schlom Weißbart,« sagte ich zu ihm, »Euere Frau ist hier, um Euch zu sprechen.«

Die unerwartete Nachricht machte einen furchtbaren Eindruck auf ihn. Sein Gesicht wurde leichenblaß, die kräftige Gestalt begann zu zittern, er taumelte beinahe. Zu sprechen vermochte er nicht.

»Wollt Ihr sie jetzt gleich sehen?« fuhr ich fort.

»Ja, Herr,« stammelte er, die Sprache wieder gewinnend.

»Wenn der Herr wollen sein so gnädig,« fuhr er fort. – »Aber ich bitte den Herrn noch um einen Augenblick. Will der Herr erlauben, daß ich mich darf setzen?«

Er bedurfte in der That einer Erholung. Ich gab ihm einen Stuhl. Er setzte sich, den Kopf tief niedergebeugt, das Gesicht mit den Händen bedeckt.

So saß er mehrere Minuten, ohne eine Bewegung, ohne einen Laut. Als er aufstand, schien er ein ganz anderer Mensch zu sein. Keine Spur von Furcht oder Aengstlichkeit mehr in seinem Gesichte. Man sah darin vielmehr den Ausdruck eines festen, fast gebieterischen Stolzes.

»Wollen der Herr jetzt sein so gnädig?« sagte er.

Ich gab dem Gerichtsdiener einen Wink, die Frau des Juden herein zu führen.

Eine Frau in der Kleidung der wohlhabenderen Jüdinnen von der russischen oder polnischen Grenze trat ein. Diese Kleidung war eine halb europäische, halb orientalische, jedenfalls eine sehr kleidsame. Die Frau trug ein ziemlich eng anliegendes Kleid von schwarzer Seite, nicht so lang, um einen kleinen Fuß und zart geformte Knöchel zu verbergen. Brust und Schultern verhüllte ein, allerdings etwas sehr bunter Shawl von feinstem, weichstem Kashemir. Den Kopf bedeckte ein zierlicher Turban von rother Seide, mit gelber Seite durchwunden.

Es war eine überraschend schöne Frau; der Körper schlank und schmiegsam gebaut, von nicht zu hoher Gestalt. Das Gesicht von außerordentlicher reiner südlicher Bildung; die Haut blendend weiß und durchsichtig; das Auge, merkwürdigerweise bei einer Jüdin, zumal in jener Gegend, dunkelblau. Dieses blaue Auge und eine fast kindliche Schüchternheit, die über Gesicht und Wesen der Frau ausgebreitet lag, gaben ihr zugleich ein sehr jugendliches Aussehen. Dem Juden mit dem weißen Bart gegenüber glaubte man nicht die Frau, sondern die Tochter zu sehen. Sie trat in demüthiger Haltung ein. Ihr etwas verwirrter, ängstlicher Blick suchte angelegentlich, unzweifelhaft ihren Mann. Sie stand unschlüssig, als sie ihn sah.

Der Gerichtsdiener, der sie herein gebracht hatte, ein alter, an den Dienst gewöhnter Unteroffizier, gab ihrem Auge eine andere Richtung.

»Dort sind der Herr Kreisjustizrath,« sprach er strenge zu ihr, indem er auf mich wies.

Der ängstliche Blick der Frau wandte sich bittend zu mir.

»Sie können Ihren Mann sprechen,« sagte ich ihr.

Es entwickelte sich eine merkwürdige Scene.

Schlom Weißbart hatte seine Gestalt hoch aufgerichtet. Die Arme hatte er auf der Brust übereinander geschlagen. Das Auge blickte strenge. Er sah aus, wie ein Herr, der seinen Sclaven empfängt.

Wie eine Sclavin nahete sich ihm die Frau; zögernd, leise, die Arme wie zum Zeichen der Unterwürfigkeit unter der Brust gekreuzt. Etwa drei Schritte vor dem Manne blieb sie stehen. Ein Blick von ihm schien sie festgebannt zu haben.

Er stand unbeweglich. Den strengsten, den durchbohrendsten Blick, dessen dieses dunkle, durchbohrende Auge fähig war, hatte er auf die zitternde Frau gerichtet. Wie viel fragte dieser Blick? Wie viel wollte er erforschen, ergründen, erpressen? Sein Glück, seine Ehre!

Sein Glück? Seine Ehre? Der Verbrecher? Der Räuber? Der Mörder?

War er Verbrecher? War er Räuber und Mörder? Dieser stolze, dieser strenge Blick, dieser Blick der Ehre zeigte das nicht. Wenn aber auch Verbrecher und Mörder, wer will dem größten Verbrecher alles menschliche Gefühl, alle Menschenwürde absprechen? Der Mensch verdamme den Menschen nicht.

Die Frau ertrug den strengen, durchbohrenden Blick des Mannes. Auch sie richtete sich auf, mehr und mehr, je länger und fester er sie ansah. Ihr Auge begegnete klar dem seinigen.

Er war zufrieden. Er reichte ihr die Hand. Sie küßte sie. Dann küßte er sie auf die Stirn.

»Was macht die Sara?« war sein erstes Wort.

Seine Tochter hieß so.

Die Frau antwortete ihm nicht. Schon während er sie küßte, hatten sich plötzlich ihre Augen mit Thränen gefüllt. Durch die Thränen blickte sie zu ihm auf.

»Wie seid Ihr so mager geworden, Herr,« sagte sie.

»Laß das. Antworte mir. Wie geht es Euch?«

Seine Stimme wurde freundlicher. Er nahm die zitternde Hand der Frau.

»Wie es uns geht?« erwiederte sie. »Wie es uns hat ergangen? Schlecht. Ihr könnt es Euch denken, Herr. Wir sind geworden arm, seit Ihr fort waret.«

»Arm? Arm?«

»Die Beamten –«

»Die Schufte, sie haben Dir genommen Alles?«

»Beinahe Alles. Wenn Ihr doch nur bald zurückkehren möchtet nach Hause.«

»Ich komme; ich komme.«

»Bald, Herr?«

»Was macht die Sara? Du hast mir nicht beantwortet meine Frage.«

Die Frau bedeckte ihr Gesicht, mehr nachdenklich, wie es schien, als weinend.

Er wurde dringender, ängstlicher. »Du antwortest mir nicht?«

»Lieber Herr Schlom, wie soll ich Euch sagen?«

»Gott sei barmherzig! Sprich. Was macht das Kind? Die Sara?« Eine große Angst hatte sich seiner bemächtigt.

»Herr, die Sara –«

»Gott sei barmherzig! Sprich. Rede. Lebt sie?«

Die Frau schwieg.

»Lebt sie? Ist sie todt?«

»Sie ist es!« sagte die Frau leise, indem sie den Mann umfing, um ihn zu halten.

Er schwankte, sie ließ ihn auf dem Stuhle nieder. Er drückte seine beiden Hände in das Gesicht. Die Thränen drangen zwischen den Fingern hindurch.

»Meine Sara! Todt! Meine Sara! Mein einziges Kind! Gestorben! Im Wahnsinn! Auf den Lippen den Fluch gegen – Wahnsinn! Fluch! – Und ein Bettler! Arm! Alles genommen. Ein armer Bettler, ohne Kind, ohne Alles, Alles haben sie mir genommen. Die Schurken! Aber die sollen – Fort, fort nach Hause.« Er sprang auf. Sein Blick war Rache, Wuth. Der wüthende Blick fiel auf die still weinende Frau.

»Warum trägst Du den rothen Turban?« fuhr er sie an. »Warum trauerst Du nicht? Willst Du höhnen meinem Schmerz mit den rothen Lappen?«

»Herr,« antwortete die Frau demüthig, »durfte mein Anblick schon Euch bringen die Trauerbotschaft?«

Welch’ ein richtiges Gefühl verrieth diese Antwort. Darum auch, um den Schmerz um die Tochter zu mildern, hatte sie ihm zuerst den Verlust des Vermögens gemeldet. Und auch diese Frau war eine verworfene Verbrecherin, eine Mörderin und die Genossin eines Mörders?

Ihr Antwort besänftigte ihn. Er suchte sich zu sammeln.

»Wann ist sie gestorben?« fragte er.

»Vorgestern. Gestern haben wir sie begraben. Darum konnt ich nicht früher zu Euch kommen.«

Er trat auf mich zu, gesammelt, entschieden. »Herr, ich nehme zurück meine Appellation. Ich muß nach Hause. Lassen Sie mir geben noch heute –«

Er stockte, mit einem Blicke auf seine Frau.

»Wann kann ich verlassen das Gefängniß?« fragte er.

»Um fünf Uhr heute Abend.«

»Der Herr will mich lassen transportiren bis zur Grenze?«

»Durch die Gensd’armerie. Ich gebe Euch an das Landrathsamt ab.«

Er wandte sich an die Frau. »Hast Du mitgenommen Geld?«

Sie zögerte mit der Antwort, einen mißtrauischen Blick auf mich und die anderen Beamten werfend.

Er machte ihr ein Zeichen, das uns unverständlich war. Sie antwortete mit einem ähnlichen Zeichen.

Er trat wieder zu mir.

»Kann ich werden transportirt für meine Kosten?«

»Gewiß.«

»Auf einem Wagen?«

»Auch das.«

»Heute Abend um fünf?«

»Ich werde beim Landrathsamte dafür sorgen.«

»Bis zur Grenze?«

»Bis zur Grenze hinter Laugszargen.«

»Gehe jetzt,« befahl er seiner Frau. »Bestelle einen Wagen nach Laugszargen. Um fünf Uhr bin ich bei Dir im Kruge.«

Die Frau ging.

»Verlaß nicht den Krug,« rief er ihr noch nach. »Ich komme dorthin. Gehe nicht zu dem Gefängnisse.«

Erst als er hörte, daß die Frau auch das Vorzimmer verlassen hatte, wandte er sich zu mir. »Lassen Sie mir jetzt geben die Hiebe,« sagte er. »Aber gleich, wenn der Herr mir will thun einen großen Gefallen.«

Man hätte unter anderen Umständen vielleicht lachen können über die dringende Bitte um eine solche Gefälligkeit. Das Bestreben des Juden, die bevorstehende Züchtigung vor seiner Frau zu verbergen, gewann Achtung ab. Ich ließ ihn alsbald zu der Vollstreckung der Strafe abführen.

Bis zum Jahre 1848 bestand in Preußen die Strafe der körperlichen Züchtigung. Gegen Personen des Soldatenstandes wurde sie mit dem Stocke, gegen »Civilisten« mit der Peitsche vollstreckt, gegen Knaben und Weiber mit der »Ruthe,« d. h. mit Haselstöcken. Das System der Centralisation hatte sich auch dieses Prügelsystems bemächtigt. Wie bis zum Jahre 1806 die Zöpfe der Soldaten strenge und genau gemessen wurden, damit keiner einen längern trage als der andere, so wurden in den zwanziger Jahren eine Menge von Verordnungen erlassen, um eine Einheit in das Prügelsystem zu bringen. Normalpeitschen wurden von Berlin aus in die Provinzen geschickt. Den Peitschen folgten »Prügelmaschinen,« nicht Maschinen nach Art der Dresch- oder Nähmaschinen, die das Prügeln verrichten sollten, sondern Maschinen, auf welche die armen Sünder gelegt und festgeschnallt wurden, um so mit desto größerer Muße, freilich aber auch mit desto geringerer Gefahr für ihre Gesundheit, die Strafe an ihnen vollstrecken zu können. Bei Gelegenheit der ersten Veröffentlichung des Entwurfes eines neuen Strafgesetzbuches für die preußischen Staaten kam die Rechtfertigung der körperlichen Züchtigung vielfach in Frage. Ich erklärte schon damals (im Jahre 1843) in meiner Kritik des Entwurfes wörtlich: »Eine Strafe, durch welche das gebrochene Recht gesühnt werden könnte, ist die körperliche Züchtigung nach dem gegenwärtigen Standpunkte des allgemeinen Rechtsgefühles nicht mehr. Ein Besserungsmittel? - Auf der Züchtigungsmaschine mögen viele gute Vorsätze gefaßt sein. Aber es mag wohl wenige gute Vorsätze geben, die so schnell wieder vergessen wären. Sie verschwinden mit dem Aufhören des körperlichen Schmerzes.«

Durch den Erlaß vom 6. Mai 1848 wurde diese Strafe endlich aufgehoben. Die Junkerpartei und ihre Laufburschen wollen sie jetzt wieder einführen. Zur Feier der Wiedereinführung der Patrimonialgerichte und der Umkehr der Wissenschaft? –

Nach der Criminalordnung sollte der Vollstreckung der körperlichen Züchtigung der Inquirent selbst beiwohnen; er sollte aber auch das Recht haben, sie durch einen Actuar dirigiren zu lassen. Ich hatte von jeher zu vielen Abscheu vor dieser Strafe, um nicht, so oft ich es konnte, von jenem Rechte durch Substituirung eines zuverlässigen Actuars Gebrauch zu machen. So that ich auch jetzt. Ich hatte wohl daran gethan.

Die Execution war eine doppelt widerwärtige gewesen. Der Jude mit dem kräftigen Körperbau, dem fast edel geformten Gesichte, hatte mit der vollen Schwäche und Feigheit, die schon früher seine Furcht vor der Strafe angezeigt, dem körperlichen Schmerze erlegen. Dennoch nicht so ganz, daß mit diesem körperlichen Schmerze nicht noch auch der Seelenschmerz gerungen hätte. Mit dem Geschrei »Auwai, Auwai, ich halte es nicht aus, ich sterbe,« - hatte sich der Ruf vermischt: »Mein armes Kind, meine Sara, mein Kind; ich komme zu dir, ich komme auf dein Grab, zu zerreißen meine Kleider, zu reißen mir aus die Haare, den Bart.« Dann hatte er wieder Auwai geschrieen, und um jeden Hieb handeln wollen mit Rubeln und Dukaten, seine Frau habe Geld bei sich. Nach Beendigung der Exekution hatte er eine volle Stunde gewinselt wie ein gezüchtigtes Kind. Dann hatte er sich plötzlich gefaßt, und gebeten, daß man ihn jetzt transportiren möge.

Mit Drohungen, besonders gegen die Beamten der Kreisjustizcommission, war er abgefahren, Gott werde ja wohl so barmherzig sein, Einen derselben einmal in seine Hände fallen zu lassen.

Etwa ein Jahr war seitdem verflossen. Die weitläufige Untersuchung gegen die Bande, deren Mitglied Schlom Weißbart hatte sein sollen, war noch immer nicht beendigt. Sie war durch mancherlei neue Ermittelungen, und besonders durch Geständnisse einzelner Angeschuldigter, immer verwickelter und weitläufiger geworden. Ueber Schlom Weißbart war dabei nichts Näheres zum Vorschein gekommen. Wohl aber stellten sich vielfach neue Verbrechen und Grausamkeiten gegen den Juden Schlom Schwarzbart aus Russisch-Neustadt heraus, der danach als die eigentliche Seele und zugleich als eines der verwegensten Mitglieder der Bande erschien. Dafür, daß Schlom Schwarzbart und Schlom Weißbart eine und dieselbe Person seien, ermittelte sich dabei gar nichts. Für das Gegentheil sprach vielmehr der Umstand, daß eine neue Bande von Verbrechern durch Diebstähle und Räubereien die Grenze seit kurzem wieder beunruhigte, und dabei jener Schlom Schwarzbart wieder seine alte Rolle spielte, über Schlom Weißbart alle Zeugnisse sich dahin vereinigten, daß er seit seiner Rückkehr aus Preußen ein durchaus stilles und eingezogenes Leben führe und zu keinem Verdachte irgend eine Veranlassung gebe.

Gleichwohl konnte ich mich noch immer nicht ganz des Gedankens erwehren, daß jene beiden Verbrecher nur eine Person seien, daß der listige Schlom Weißbart, um desto sicherer unentdeckt zu bleiben, bei seinen Verbrechen die Maske des frechen Schlom Schwarzbart spiele, der in Wirklichkeit nirgends existirte. Zumal bei der Bestechlichkeit der russischen Behörden ging dies leicht an. Meine Requisitionsschreiben an die russischen Behörden bezüglich des Schlom Schwarzbart waren nicht einmal beantwortet worden. Mein Freund war bald nach meiner Ankunft in Litthauen nach Odessa versetzt. Ich gab dennoch die Hoffnung näherer Ermittelungen nicht auf. Von einer mündlichen Besprechung mit russischen Beamten erwartete ich Resultate. Die Grenze nach Preußen durfte zwar ohne Befehl oder Erlaubniß unmittelbar aus Petersburg kein russischer Beamter überschreiten. Desto häufiger führten mich meine Amtsgeschäfte nach Rußland hinüber. Aber immer waren es nur Untersuchungen über Grenzexcesse, die ich bisher dort zu führen gehabt hatte. Sie wurden nur mit den russischen Zollbeamten gemeinsam geführt. Und diese Zollbeamten hatten mit der übrigen Rechts- oder Polizeipflege nichts zu schaffen. Sie wußten daher auch nichts von einem Schlom Schwarzbart oder Schlom Weißbart, oder wollten nichts davon wissen.

Endlich traf es sich, daß in einer Untersuchung gemeinschaftlich mit einem Kommissarius des Landesgerichtes in Rossiena verhandelt werden mußte. Ein junges Mädchen aus einer angesehenen Bauernfamilie in der Nähe von Neustadt hatte ihr neugeborenes Kind ermordet, aus Wuth, weil ihr Verführer sie nicht heirathen wollte. Sie war in Neustadt verhaftet. Sie sollte an das Landesgericht in Rossiena abgeliefert werden. Der Weg von Neustadt nach Rossiena führte nahe an der preußischen Grenze vorbei. Hierauf hatten die Verwandten des Mädchens einen Befreiungsplan gebaut. Sie hatten sich mit preußischen Unterthanen an der Grenze vereinigt. Als der Wagen, auf dem das Mädchen, mit der Kindesleiche transportirt wurde, in die Nähe der Grenze kam, wurde er von einer großen Menge überfallen, und die Mörderin mit der Leiche nach Preußen geschafft. Die Transporteure waren freilich mit im Einverständnisse gewesen. Die Verbrecher wurden ermittelt, sowohl in Rußland als in Preußen. Es entspann sich eine verwickelte Untersuchung, die mehrfach, um der vorzunehmenden Lokalbesichtigungen, Confrontationen u. s. w. willen, von den preußischen und russischen Behörden gemeinschaftlich geführt werden mußte. Die Verhandlungen wurden in Russisch-Neustadt aufgenommen. Der erste Termin war auf einen Tag im Anfang October verabredet.

Am frühen Morgen dieses Tages ereignete sich ein Vorfall, den ich hier ausführlicher erzählen muß, weil er von wesentlichem Einfluß auf die weiteren Thatsachen dieser Geschichte ist.

Es war noch dunkel, als heftig an meine Hausthür geklopft wurde. Gleich darauf wurde mir angezeigt, daß ein Beamter aus den Gefängnissen da sei, der mir eine eilige Meldung zu machen habe. Ich stand sofort auf und ließ den Beamten eintreten. Er kam mir mit der Nachricht entgegen, daß in der Nacht zwei der gefährlichsten Verbrecher ausgebrochen und entkommen seien, der Räuber Friedrich Victor, ein Deutscher, und der Raubmörder Armons Trinkat, ein Litthauer.

Trinkat war ein Genosse des berüchtigten Räubers und Mörders Merczus Lattukat. Er war mit diesem vor wenigen Monaten beinahe auf frischer That ergriffen, als Beide einen Pferdehändler, der von dem Jahrmarkte in Heidekrug zurückgekehrt war, erschlagen und beraubt hatten. Merczus Lattukat war auf dem Transporte nach Ragnit entsprungen und nach Rußland entkommen. Trinkat hatte in der Untersuchung sich als einen versteckten, scheinheiligen Bösewicht bewiesen. Er leugnete Alles ab, auch die erwiesensten Thatsachen. Im Gefängnisse las er stets die Bibel. In den Verhören weinte er über die Sündhaftigkeit der Menschen, die es wagten, einen so unschuldigen Mann wie er sei, anzuklagen und zu verleumden, und mit ihren Lügen noch sogar durch einen Eid unmittelbar vor das Angesicht des himmlischen Vaters, des Gottes der Wahrheit und Gerechtigkeit, zu treten.