Der letzte Aufruf - Meinolf Bachmann - E-Book

Der letzte Aufruf E-Book

Meinolf Bachmann

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Beschreibung

Hauptfigur dieses Romans ist François Pupidu, teils wohl französischer Herkunft - aber manches liegt im Dunkeln, Familienvater Anfang Vierzig, begeisterter und ständig rumtüftelnder Chemiker – "wann sprengt der hier alles in die Luft". Es gibt kaum ein Thema, für das er sich nicht interessiert und einen kritischen Blick darauf wirft. "Du springst so schnell von einer Sache zur anderen, sprichst Dinge nur halb aus, …", aber andere finden es gut. In seiner Ehe ist die Zärtlichkeit verlorengegangen, ohne dass er genau sagen könnte, seit wann dies so ist oder ob es einen besonderen Grund dafür gab. Pupidu, "Pu" genannt, beginnt eine romantische Liebesbeziehung, "dann nenn mich doch C", mit einer alleinerziehenden Mutter. Damit fangen die Probleme an, denn er steht fortan zwischen Familie und neuer Liebe, wobei er bald nicht mehr weiß, wie er beides unter einen Hut bringen soll. Außerdem lockt da noch ein neuer, aber arbeitsintensiver Job. Es eröffnen sich Möglichkeiten, von denen er bisher nicht zu träumen gewagt hat. Pu muss sich entscheiden. "Wer zählt die Völker, nennt die Namen", ist ein spannender und zeitkritischer Roman, in dem Humor, Phantasie, Ironie, Kurioses und Unterhaltung nicht zu kurz kommen.

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Meinolf Bachmann

Der letzte Aufruf

2. Auflage

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Der letzte Aufruf

Abseits des Weges

Ich drehe nur eine Runde

Der Tagtraum lebt

Gefährliche Unterforderung

Bloß nichts Neues

Sanfte Berührung

Wann fliegt hier alles in die Luft

Das geht zu nahe

Auffällige Veränderungen

Das geht zu weit

Schweres Erbe

Abschied vom Elternhaus

Das Netz wird gesponnen

Kein Entkommen

Neue Verheißungen

Bodenlos

Nie gekannte Möglichkeiten

Neue Geheimnisse

Der Weg noch oben

Gutenachtgeschichte

Schlechte Nachtgeschichte

Neue werden eingweiht

Bettbezug kratzt

Begegnungen

Jetzt in Mode

Außergwöhnliche Vorstellung

Schlimmes Ende

Neue Fäden gesponnen

Fragen nach dem Weg

Höflich Grüßen

Abschied tut weh

Gemeinsam weinen

Archif: Ch. Dombrowski

Impressum neobooks

Der letzte Aufruf

R o m a n

Verfasser: Meinolf Bachmann

Mail: [email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Abseits des Weges

Bei seiner unnachahmlichen Art, nicht zu antworten, hm, äh, abweisender Blick, gab sie es auf, ihn danach zu fragen, wo er hinführe, ob er ihr vielleicht etwas aus der Stadt mitbringen könne. Sein ganz normales Verhalten, keine Rechenschaft abzulegen, sich nicht übermäßig kontrollieren zu lassen. Oder war das doch abweisender geworden, sogar unhöflich, nicht mehr zu tolerieren. Aber auch auf Fragen der Kinder reagierte er manchmal wortkarg, so schlimm war es vielleicht nicht, drückte Antworten in einsilbige Laute aus, piepste, grunzte, belustigte sie damit. War das miteinander zu vergleichen? Also nichts Besonderes, als er sich dann, wie meistens bei halbwegs erträglichem Wetter, mit dem Fahrrad aufmachte, in das nahegelegene Stadtzentrum fuhr oder ganz nach Lust und Laune, einen Weg durch die am Stadtrand gelegenen Felder und Wiesen einschlug. An Sonn- und Feiertagen genehmigte er sich schon mal beides, leistet sich einen größeren Bogen, was dann gut zwei bis drei Stunden dauern konnte. Nur selten gab es schon von Anfang an ein festes Ziel für seine Fahrten, war was in der Buchhandlung, Bücherei oder ein Einkauf zu erledigen, verstand die Fahrten viel mehr als sportliche Betätigung, Entspannung und Luftschnappen von seinem Job, bei dem er größtenteils am Schreibtisch saß, sich in geschlossenen Räumen aufhalten musste und ließ sich in dieser freien Zeit nicht gerne zusätzliche Pflichten auferlegen, die wiederum seine Bewegungsfreiheit eingeschränkt hätten. Oder war doch etwas anders, wurden seine Bögen größer, veränderten sich seine Gedanken, seine Aufmerksamkeit. Hatte er sich je näher für die Landschaft interessiert, wurde es später, erfand er Ausreden, belastet ihn nicht doch das Gewissen, suchten seine Blicke nach anderem, was sich mit der jetzigen Lebensweise nicht vertrug, alles sprengen konnte was im viel Wert war? Er erinnerte sich an die Diskussion zu Beginn eines Krimis beim Fernsehen: „Das ist doch total langweilig, wie das schon anfängt.“

„Warte nur ab, ich kenne das, meist wird es dann ganz schlimm – wenn es so anfängt.“

Tatsächlich war es dann ein „reines Abschlachten“, kaum mehr zu ertragen und er hätte beinahe gebeten, doch umzuschalten. Warum fiel ihm öfter diese Geschichte ein, beunruhigte ihn, so dass er seinen Weg doch manchmal abkürzte?

Karg wie ihre Böden und Landschaft waren die Menschen. Die harte Arbeit beugte früh ihre Rücken und bevor die Maschinen Einzug hielten, mussten die Kinder früh mit anfassen, für Mägde oder Knechte reichte es bei vielen nicht. Überflüssige Mäuler verließen bald das Haus, mussten sich schon früh als halbe Kinder für geringen Lohn oder nur Kost und Loggia anderswo verdingen, litten nicht selten unter der allzu zeitig erzwungenen Selbständigkeit, hatten Geborgenheit selbst nicht erlebt, konnten sie nicht weitergeben.

Vom Munde sparten sie sich den ersten Fortschritt ab, holten mit den neuen Maschinen und landwirtschaftlichen Hilfen das Letzte aus ihren Böden heraus, arbeiteten bis zum Umfallen.

Erst mal den richtigen Gang finden, zu groß ist inzwischen die Auswahl. Etwas rauf, runter, sind die Reifen zu schlapp, kommt der Wind von vorne, warum geht das heute schwerer oder sind die Muskeln schlaff, vom vielen Sitzen? Noch etwas runter mit der Übersetzung, langsam warm werden, so geht es. Ein gutes Radwegenetz zieht sich durch die Stadt, rot gefärbt sind die Überwege an den Kreuzungen, gegen rote Ziegel ausgetauscht sind die früheren grauen Platten auf den Gehwegen.

Mit der zunehmenden Wärme der Muskeln veränderte sich die Stimmung, sah man manches nicht mehr so eng, lösten sich Grübeleien auf. Warum hatte gerade er diese oder jene Arbeit machen müssen, warum mischte sich da jemand ein, konnte alles wieder nicht schnell genug gehen, drohte ein Auftrag ein Termin zu platzen und nicht mehr gefallen lassen, sich wehren, es denen zeigen, so nicht, waren die ersten Gedanken - war es doch nur das alltägliche Einerlei, musste einem nur erst wieder einfallen - nichts Besonderes, keine Katastrophe, nur der normale Existenzkampf. So sortierte er aus, bewertete neu. Wo musste tatsächlich Widerstand geleistet werden und in welcher Form, keine Überreaktion, aber das meiste konnte man ablegen, war es nicht wert, sich weiter Gedanken darüber zu machen.

Einen besseren Ort als das Fahrrad kannte er nicht, sich hier Klarheit, Entspannung zu verschaffen.

Auf dem Bürgersteig meditierte wieder die alte Türkin, im Schneidersitz hockte sie da auf der Erde, sah nicht die alten verbeulten Autos, das schäbige verlassene Fabrikgebäude, in der die Familie lebte, sah nur nach innen. Merkte nicht die Abgase, den Lärm, den Staub der Straße - wie eine Statur saß sie da, fast unwirklich, sah vielleicht grüne sanfte Hügel, ein schönes aber kärgliches Land, das die Menschen nicht ernähren wollte, alte wunderschöne Walnussbäume - vor ihrem inneren Auge, sah sie dies, nur das konnte noch weinen.

Zu den Stadtfahrten gehörte, in dieses oder jenes Schaufenster hineinsehen, kurz zu einem Stehkaffee anhalten, so entwickelte sich häufig erst während der Fahrt die genaue Route.

Hier in der Nebenstraße war weniger renoviert, die Schaufenster noch nicht bis zum Boden vergrößert, graue, weniger aufgetakelte Fassaden, Eingänge. Als wären nicht fast zwanzig Jahre vergangen, wirkte alles in der Gastwirtschaft noch so vertraut, dunkel, heimelig, kaum Licht drang durch die Schmalen Sprossenfenster , wie früher. Eine schmucklose Einrichtung, einfache dunkelbraune, durch den Laufe der Zeit und vorn Tabaksqualm fast schwarz gewordene Holztische, klobige Stühle, Ausgetretener Steinfußboden, richtige Furchen hatten sich an den viel begangenen Stellen eingegraben. Nach einigem Zögern setzte er sich an die Theke, ungewohnt war der Sitz auf dem abgewetzten Hocker, unsicher schlenkerte er mit den Beinen hin und her, hatte sich früher häufig da hinten an dem großen Tisch in der Ecke mit anderen getroffen, aber alleine wollte er sich dort nicht hinsetzen. Fing an, seinen Entschluss zu bereuen, Schnapsidee, was sollte er hier.

Hatte er etwa erwartet, hier noch jemanden zu treffen? Nur ein weiterer Gast saß dort, und er war froh, dass er sofort seine Bestellung aufgeben konnte. "Eine Tasse Kaffee."

Nein, nur Kännchen gab es. "Ja, dann bitte ein Kännchen", oh je. Nein das war nicht der frühere Wirt, der hier konnte sich mit seinem Leibesumfang kaum hinterm Tresen bewegen und überwiegend hatte damals eine Frau hier bedient.

Unmöglich, hier nicht an alte Zeiten zu denken, die viel geplagten Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre. Neuer Slogan aus Amerika dazu: "Let the sixties dy", was so viel hieß wie, lass die sechziger Jahre sterben, wir wollen davon nichts mehr hören, von diesen Heldentaten. Noch ziemlich jung war er, aber vielleicht hatte sich die Ereignisse dieser Jahre gerade deshalb so tief eingeprägt. Dies war ein besonderer Treffpunkt für Schüler und Studenten, die sich mit viel Engagement die Köpfe heiß redeten und so manch einen halben Liter dazu tranken. Beliebt waren die kalten Frikadellen, davon war nichts mehr zu sehen, höllisch scharfer Senf, ganz nach Bedürfnis ein Stück Weißbrot dazu und manch einer verpasste so den rechtzeitigen Heimweg. Einige begannen schon am frühen Tage mit der Weltverbesserung, andere kamen direkt nach der Schule, dem Besuch des Filmrings : Anti-Atom Film, der Versammlung für die Schaffung eines Jugendzentrums oder einfach so, Aufbruch selten vor Mitternacht und dann meistens noch die Frage, wo ist denn noch was los, auf irgendeiner Bude ging es weiter, wurde noch ein Schluck italienischer Landwein getrunken, diese großen Flaschen, warum nicht der Billigste, süßlich, höllisch unreines Zeug - arme Leber - wenn der Magen jetzt, nach den Bieren, Frikadellen mit dem scharfen Senf, Weißbrot, Rotwein, nicht ernsthaft rebellierte, den Körper wieder davon befreite und unvermeidlich die selbstgedrehten Zigaretten, nur einige .konnten das mit der bloßen Hand. Bei den anderen halfen die kleinen zigarettengroßen Geräte, in die man möglichst gleichmäßig den Tabak stopfte und das Papier hineinsteckte, anlecken nur noch drehen und ein bisschen Tabak wurde dabei immer auf den Matratzen verkrümelt, die schon aus Prinzip auf der Erde lagen: "Verdammt, wie soll ich da heute Nacht schlafen, passt doch mal auf und jetzt noch den Wein umgekippt?" Wenn es irgendwie finanziell hinhaute, wurde möglichst früh eine eigenes Zimmer genommen, der eigene Herr sein, keiner sollte einem mehr dreinreden, das war wichtig.

Die Lehrer hatte man schon im Griff, die trauten sich nicht mehr so streng zu sein, richtig büffeln war out, sportliche Betätigung sogar verdächtig - sah nach Streber, zu angepasst aus.

Wozu das denn gut sein sollte, mit Fragen nach der Anwendung für die Praxis, begannen die meisten Debatten und die Antworten ausnahmslos hilflos, die wussten keine größeren Zusammenhänge herzustellen, die Formel war eben die Formel. Aus Amerika kam der eine, sollte in Forschungsvorhaben für den Vietnamkrieg verstrickt gewesen sein, geriet schwer in Bedrängnis und immer mehr setzten sich auf seine Fährte. Hatte angeblich nur Grundlagenforschung betrieben, fühlte sich völlig unschuldig. Die Aufsässigkeit sei eine Folge der nach wie vor zu autoritären Gesellschaft, Erziehung, sagte gerade der, hätte eine zu geringe oder zu starke Identifikation mit den sozialen Normen zur Folge. Keine Ausflüchte halfen ihm, die Fragen wurden drängender und die Versammlungen größer, in denen er sich rechtfertigen sollte. Dubiose Vorlesungstechniken wurden aufgedeckt, hatte angeblich Seiten aus einem Buch her- ausgerissen, auf neutrales Papier aufgeklebt und daraus vor- gelesen. Allerdings lasen viele aus überall käuflichen Büchern vor, und wenn sie eine Pause machten oder einmal stockten, las ein Student dann zum Spott laut weiter und niemand wusste, wozu diese Vorlesungen gut sein sollten. Er sah ihn auf dem Weg zu der letzten Auseinandersetzung, nach der er freiwillig das Handtuch warf, im Fahrstuhl, wie er mühsam Luft in seine Lungen presste, am Ende seiner Kraft war.

Selten konnte von denen mal jemand erklären, warum er was machte, über das eigene Sachgebiet hinausschauen war geradezu ein Tabu, Visionen gab es nicht. Unsicherheit im Lehrgebiet, die sich vor allem darin zeigte, dass kaum einer was mit eigenen Worten ausdrückte oder gar einen Scherz machte, war vorherrschend. Fast jeder hatte einen großen Guru in Übersee, der schon alles vorgedacht hatte, dessen Thesen man vertrat und zu bestätigen versuchte. Einer der Hochschullehrer über- reichte ihm mal ein Buch mit den Worten: Da steht schon alles drin, das brauchen wir nur noch zu untersuchen", und uralt war das auch noch. So blieb er morgens lange im Bett, hielt die für besonders reaktionär, hinterhältig, die schon ganz früh Vorlesungen anboten. Ging hohe Risiken ein, in dem er oft erst wenige Tage vor den Prüfungen mit den Vorbereitungen, manchmal Tausende von Seiten Literatur zu lesen, anfing, oder bei Kommilitonen im letzten Augenblick Zusammenfassungen schnorrte. Im Notfall musste dann das Prinzip wirksam werden, tust du mir nichts, tue ich dir nichts, was aber nur in mündlichen Prüfungen funktionierte und worauf sich nur wenige Rädelsführer verlassen konnten.

Aber das Diskutieren und ständige Hinterfragen war wichtig, nicht alles schlucken, als gegeben hinnehmen, der Obrigkeit nicht blind vertrauen. Unterdrückende, sinnlose Autorität ließ sich so abbauen, hatte in der alten Form lange Zeit keine Chance mehr, hoffentlich nie wieder.

Jetzt war es ganz still hier, wahrscheinlich waren andere Lokale in, die Weltverbesserung machte Pause oder fand an anderen Orten statt. Sein Nachbarhocker, den er zunächst für frei gehalten hatte, wurde wieder besetzt, als ein, etwa Ende vierzig jähriger, einfach, um nicht zu sagen, vernachlässigt gekleideter Mann, von der Toilette kam. Die geringe Distanz zu dem Mann irritierte ihn, und er rückte unauffällig ein Stück zur Seite. Dieser stierte ihn jedoch ohne Scheu direkt an, deutet mit einer Kopfbewegung auf den älteren Wirt: "Das war einer von denen, ist als junger Mann noch bei den Nazis gewesen, wohl das letzte Aufgebot?, wollte die Welt erobern, da steht er nun, in dieser schäbigen alten Kneipe, hat bis heute nichts gelernt, gehört dieser Nationalen Bewegung an oder wie heißt ihr jetzt?"

Der Wirt nur mäßig ärgerlich, mit einem etwas gequältem Lächeln: "Das geht dich überhaupt nichts an, lass bloß deine Sprüche sein" und zu Pupidu gewandt, der noch keine Meinung dazu hatte, sich hier in ein Gespräch verwickeln zu lassen, "das ist unser Hausphilosoph, der kostenlos Vorträge hält, hören sie besser gar nicht hin."

Pupidu sah seinen Thekennachbarn nun doch genauer an: Ein noch Jugendlichkeit ausstrahlendes schmales Gesicht, hellblonde, etwas rötliche Haare, aufgedunsen, unnatürlich rötlich braun gefärbte Hautfarbe, die Augen einen eigenartigen Glanz, als ob sie durch einen tiefen Schleier, einem dichten Nebel, aus einer größeren Entfernung blickten. Die Kleidung ziemlich heruntergekommen, gräuliches, farbig kaum mehr zu identifizierendes verschossenes Jackett, die Seitentaschen weit ausgebeult, die dunkelbraune Hose, verschmutzt, staubig und die arg mitgenommenen Schuhe hatten schon lange keine Pflege mehr abbekommen.

Nun mischte sich der Gast auf der anderen Seite seines Nachbarn, "der hat studiert, Geschichte, Politik oder?", mit schwerfälliger Zunge ein, ebenfalls schon gehörig angetrunken.

Der Wirt, ohne besonderen Nachdruck: "Wenn ihr beide euch nicht benehmen könnt, fliegt ihr auf der Stelle raus."

Kichern, "Unterschreibst du endlich?", wieder hämischeres Kichern auf der anderen Seite. Dabei klopft sich der eine auf die Brusttasche, tut so, als wolle er etwas hervorholen.

"Du kannst mich mal", der Wirt, wehrt mit der Hand entschieden ab, geht zur anderen Thekenseite, beschäftigt sich intensiv mit den Gläsern.

Nimmt seine Hand wieder aus der Jacke, hilflose Geste: "Bisher ist mir niemand begegnet, dem persönlich etwas leidgetan, der sich persönlich schuldig bekannt hätte, bei alledem, was geschehen ist."

Alle sahen nun auf ihn, der sich nur einiges zusammenreimen konnte, worum es hier ging, wie er reagieren würde.

"Geschweige denn, allzu viele hätten etwas daraus gelernt, hätten je einen eigenen Bezug zur Demokratie gefunden, vermittelten außer den offiziellen Phrasen Toleranz und Verständnis für Andersdenkende und Minderheiten. Schon dieses Abwägen, es sei auch etwas gut gewesen und von wann an sie denn verbrecherisch gewesen sei, diese Diktatur. Als könne es in einer Diktatur überhaupt Gerechtigkeit geben, schlösse sich das nicht gegenseitig aus. In meinem Bekanntenkreis ist mir ebenfalls niemand begegnet, der persönliche Trauer empfunden hätte, es sei denn, wegen des verlorenen Krieges, der negativen allgemeinen und persönlichen Folgen und Beeinträchtigungen.

" Oh je", der Wirt schaut halb erschrocken, halb amüsiert herüber, "da haben sich die richtigen getroffen."

Der Philosoph schien seine Äußerungen weniger als Bestätigung, vielmehr als Herausforderung anzusehen, es dem Jüngeren nun zu zeigen, ihm in nichts nachzustehen und ereiferte sich: "Das Gefühl, Herrenmenschen zu sein, haben die meisten doch nie aufgegeben, haben ihre Frustrationen dann an ihren Kindern ausgelassen und rassistische Studien in ihrer näheren Umgebung, in ihren eigenen Familien weitergeführt."

Pupidu erinnerte sich daran, dass zumindest noch in den fünfziger, sechziger Jahren, die Menschen viel über die Kopfformen, das Aussehen, des Nachwuchses diskutierten, wobei die äußeren Merkmale überhaupt einen großen Stellenwert einnahmen. Was hat denn der für einen Hinterkopf, so ein Monds Gesicht, sieht ja fast aus wie ein ..., unglaubliche Kommentare waren da zu hören. Kleine Kinder, die völlig normal waren, wurden gnadenlos abqualifiziert. Entgegen seiner ursprünglichen Absicht, ließ er sich dann noch zu einem Bier einladen, das heißt, der andere bestellte einfach für ihn mit, "gib dem auch eins", ließ sich die drei Biere großzügig auf seinen schon beinahe kreisrund gefüllten Deckel schreiben. "Was machst du denn?", fragte er dann.

"Chemie", antwortete Pupidu, "arbeite in der Chemischen Industrie, Herstellung von Grundstoffen", ohne sich daran zu stören, dass er geduzt wurde.

"Und sie?", sagte er aber.

Der andere murmelte fast unverständlich, "schon einmal bessere Zeiten gesehen, zur Zeit Hochbau." Dabei starrte er in sein Glas, redete zunächst mehr zu sich selbst, starrte auf den Tresen, fuhr dabei mit den Fingern durch die kleinen Wasserlachen, die sich neben seinem Bierdeckel gebildet hatten: "Chemie", wenn Größe relativ ist, dann könnte sich doch in einem Glas Bier, einem Tropfen Wasser hier oder in einem Atom noch ein ganzer Kosmos befinden?" und schaute ihn jetzt mit einem schon beinahe aggressiven Blick an.

Pupidu hatte die Zeit jedoch längst überschritten, die er bleiben wollte und konnte sich vorstellen, dass die Atmosphäre mit der Zeit ungemütlicher werden konnte. Sein Gesprächspartner war mit diesem abrupten Ende aber nicht einverstanden, hielt ihn plötzlich am Ärmel fest, griff in die Innentasche seines Jacketts und überreichte ihm mehrere zusammengefaltete, ziemlich speckige vergilbte Papiere: "Ist von mir selbst geschrieben, wenn du mal Zeit hast, reden wir darüber - nimm mit", sagte er sehr bestimmt, als der andere zögerte.

Ziemlich verwirrt steht Pu, wie er oft gerufen wird, dann wieder vor der Tür der Gastwirtschaft, spürt die leicht benebelnde Wirkung des Alkohols, vertrage doch nichts mehr und vermisst im ersten Augenblick sein Fahrrad, das ihm Halt und Sicherheit bieten kann. Erinnert sich dann daran, dass er es in einem Fahrradständer auf der gegenüberliegenden Straßen-seite abgestellt hat, wo im Augenblick eine größere Menschentraube aus der Volkshochschule quillt.

Ich drehe nur eine Runde

Die Dämmerung ist bereits angebrochen, sein üblicher alltäglicher Trott ins Wanken geraten. Eine Lücke im Verkehr abwartend, steht er in dem Getümmel der heimwärts strebenden Schulbesucher und ist endlich an der Stelle angekommen, wo er ungefähr sein Gefährt vermutet. Hat er jemanden angerempelt?, sieht sich um, da steht ihm plötzlich eine etwa gleichaltrige Frau, Anfang bis Mitte vierzig, wie er nur vermuten kann, gegenüber, die er schon seit vielen Jahren flüchtig kennt, für die er sich schon lange interessiert, die er aber nur aus der Entfernung bewundert, sich ihr lediglich in der Phantasie, im Tagträumen nähert.

Er hat zeitweise mehrere solcher Phantasiegestalten, die mit der realen Person aber nur wenig gemeinsam haben müssen, und seit er verheiratet ist, hat er keinen wirklichen Versuch unternommen, so jemanden kennen zu lernen, seine Eindrücke zu überprüfen oder sich überhaupt darüber zu äußern. Dennoch hat ihn schon öfter die Frage beschäftigt, ob das Interesse gegenseitig sei. Vom Namen her kannte man sich und hatte bei gemeinsamen Freunden ein paar Worte miteinander gewechselt und bei anderen Begegnungen flüchtige Blicke ausgetauscht.

Stimmte es, dass man dabei einmal den Blickkontakt ungewöhnlich lange festhielt, ein auffällig freundliches Lächeln austauschte? Das musste nichts heißen, er konnte sich täuschen.

Dann hatte er das Gefühl gehabt, dass sie wegschaute, als sie in einem Laden direkt nebeneinander standen, wo er allerdings zu befangen war, sie anzusprechen, nicht mal etwas Belangloses sagte. Hinterher dachte er, gut, dass er es nicht getan hatte und legte sich für solche Ereignisse den Spruch zu Recht, die verpassten Chancen seien vielleicht doch die Besseren. Fehlte ihm da eine Leichtigkeit, war er zu schüchtern, ärgerte er sich dann doch öfter. Zu leicht befürchtete er, aufdringlich zu sein, war vielleicht gerade diesen Personen gegenüber besonders zurückhaltend, wollte sich nicht verraten und wozu sollte eine Annäherung führen?

Sie lebte allein mit ihrem Kind, und er hatte sie in den ganzen Jahren seltsamer Weise nie mit einem anderen Mann zusammen gesehen oder ignorierte er das geschickt, wusste außerdem,- dass sie aus einem sehr wohlhabenden Elternhaus stammte, was sie eher noch interessanter erscheinen ließ, ihn gleichzeitig verunsicherte und befangen machte, aber in keinem Fall den starken Anreiz auslöste, den er bei jeder Begegnung verspürte. In dieser Situation musste man schon irgendetwas sagen, so dicht standen sie beieinander und schauten sich an.

"Verzeihung", sagte er und hatte schon vor, es bei diesem einen Wort zu belassen und sich wieder abzuwenden, als sie ihn ansprach: "Waren sie auch in diesem fürchterlichen Vortrag?"

Pu meinte, ihr schlecht von dem Gaststättenbesuch erzählen zu können und flüchtete in ein kaum vernehmbares, näh, gewissermaßen", ganz falsch war das ja nicht.

Sie war von seiner Unsicherheit kaum beeindruckt und gab, mit ihrer, ihm schon bei früheren Begegnungen aufgefallenen klaren festen Stimme, einige Eindrücke zu dem vermeintlich gemeinsam erlebten Bildungsereignis wieder. Es war der Situation nicht unangemessen, für ihn aber völlig überraschend, als sie dann den Vorschlag machte, noch kurz einen Kaffee miteinander zu trinken, da man sich so kaum unterhalten könne.

Er kämpfte gegen den Gedanken an, dass möglicherweise die Phantasie mit ihm durchgegangen sei, aber er fühlte sich wie- der völlig nüchtern - an diesem Tag lief eben alles anders. Wegen des Vortrags machte er sich keine Sorgen, inzwischen konnte er sich in etwa vorstellen, worum es gegangen war. In der Zeitung musste er eine Notiz darüber gelesen haben und irgendwie hatte er die Ahnung, dass es nicht unbedingt darum ging. Ohne länger zu zögern willigte er ein, kam damit das zweite Mal heute von seinem gewohnten Weg ab und sie schlenderten, die Fahrräder schiebend, um die nächste Ecke in das Stadt Café. Es fiel ihnen leicht, sich dabei zu unterhalten, sogar schweigend fühlten sie sich miteinander wohl, tauschten dabei immer wieder sympathisch prüfende Blicke aus.

"Besuchen sie öfter diese Vorträge?"

"Eigentlich nicht, aber wo soll man als Frau alleine hingehen?" "Meinen Sie, dass Männer es da leichter hätten? Na ja, vielleicht in die Kneipe gehen. Nach fast zwanzig Jahren war ich mal wieder in meiner Jugendkneipe, wissen sie, da in der Hohenzollern Straße - habe sie da früher nie gesehen."

"Wäre ich ihnen denn aufgefallen?", beide lächeln, aber so leicht kann man ihn nicht überlisten. "War früher noch eine Mädchenschule, da, hätten uns nicht reingetraut, in diese Kneipe, muss einiges los gewesen sein - wilde Gerüchte kursierten und sie - waren da mittendrin? Ich kann mich noch erinnern, das sich im strömenden Regen mal dort vorbeikam, überlegte ob ich es nicht riskieren sollte, reinzugehen und sah einen jungen Mann davor stehen, pitschnass, völlig aufgeweicht, nicht mal ein Regencape oder so etwas, hat mir richtig leidgetan, aber er war total unbekümmert, als sei nichts, das waren sie."

"Hm, schade dass sie nicht reingegangen sind, aber es ist nicht ihr Ernst, dass ich das gewesen sein soll.

„Hatten sie mal einen, hm, hellbeigen oder so ähnlich farbenen

BMW?"

"Das kann nicht sein, woher wissen sie das, hellrot war er, mein erstes Auto, gehörte allerdings meiner Schwester und mir gemeinsam, lange, lange ist das her, unmöglich, dass sie sich daran erinnern wollen, bestimmt eine Verwechslung, ein Zufall- kann ich mir nicht vorstellen. Bin ganz sicher, dass sie der im Regen waren, aber nicht allein standen sie da. Habe sie selten …" - verschluckt den Rest

„Fanden sie es wirklich schade?“

"Das hört sich fast so an als ob wir uns beide nie ganz aus dem Auge verloren hätten, eigenartig."

"Ja, merkwürdig", sagt sie, sieht ihn sehr zugewandt und gleichzeitig fragend an.

"Allzu oft sind wir uns nicht begegnet, nicht allein, so wie jetzt. Sie müssen, Entschuldigung, ein, zwei Jahrgänge über mir sein?"

"Wegen so was müssen sie sich nicht entschuldigen. Das kann schon stimmen mit den zwei, drei Jahren. Macht ja nichts, dass ich etwas älter bin? Wo haben sie mich denn gesehen mit dem Auto, aber wie konnten sie sich das bloß merken mit dem Wagen, hätte selbst Mühe gehabt mich daran zu erinnern."

"Habe eher Schwierigkeiten mit Frauen, die jünger sind, weiß nicht woran das liegt. War an diesem Firmengebäude in der Nähe des Güterbahnhofs, könnte ihnen noch die Stelle zeigen, rechts vom Eingang."

Da habe ich öfter gestanden, meine Schwester aber ebenfalls und jede Menge andere Leute. "Na gut", sagt er spöttisch, dann war es vielleicht die Schwester, äh, sieht die auch so gut aus?"

Ist sie etwa leicht rot geworden, beide lächeln, als hätten sie jetzt ein Geheimnis miteinander. "Und der junge Mann, wie können sie da so sicher sein?"

"Wer beantwortet uns bloß all diese Fragen - mal sehen, beim Kaffee - finden wir eine Antwort."

Der Tagtraum lebt

War das ein verschenkter Abend, hatte sie mehr, zu viel erwartet? Machte es nur keinen Spaß, da alleine zu sitzen, plötzlich war ihr das Zuhören schwer gefallen, und sie hatte schon überlegt, vorzeitig zu gehen, nur wäre das Gefühl dann im nachhinein noch schlechter gewesen. Tief atmete sie nun aus, hatte wenigstens durchgehalten. Diese Vorträge dachte sie, ließ sich von der Mutter leicht dazu überreden, "hört sich doch sehr interessant an, musst doch mal raus, wo gehst du denn noch hin, passe gerne auf das Kind auf?" Routiniert hatte der Mann sein Referat abgelesen, kurze Diskussion, kaum Nachfragen, aber so viele, dass es nicht peinlich war und viele müde Gesichter im hellen kalten Licht des Klassenzimmers.

Warum fiel es ihr so schwer dieser Stimme zu folgen, war das Gehör nicht mehr daran gewöhnt, so lange einer natürlichen, nicht durch Technik vermittelten, Sprache zu folgen?, vor dem Radio- oder Fernsehgerät hatte sie nicht die geringsten Probleme. Oder lag es nur daran, dass sie es zu wenig gewohnt war, unter so vielen Menschen zu sitzen, und sie befürchtete schon, ihre Unruhe würde auffallen, störe die anderen, was sie noch weiter verunsicherte.

Als sie das Schulgebäude verlassen hatte, sah sie ihn schon von der anderen Straßenseite herüber kommen und konnte ein leichtes Herzklopfen kaum unterdrücken, als er plötzlich direkt auf sie zukam, sie fast zusammenstießen und dann die ersten Worte fielen. Er überragte die meisten Leute bei weitem, hatte ein auffallend schmales, längliches Gesicht, eine leichte Adlernase, hervorstehende Backenknochen, eine gleichzeitig hohe und breite Stirn. Die dichten dunkelblonden, fast schwarzen Haare hatten, vor allem an den Seiten, erste graue Strähnen; trotz seiner breiten Schultern und seiner athletischen Erscheinung, ging er leicht gebückt, zog sich zusammen, als wolle er den Größenunterschied ausgleichen, wirkte sogar etwas trottelig, versponnen. Waren es besonders diese Gegensätze, die sie so anziehend fand, und er ihr schon häufig aufgefallen war? Sie wusste es nicht. Sie hatte mal darüber nachgedacht, wie oft sie sich begegneten, vielleicht einmal pro Woche sauste er mit seinem Fahrrad an ihr vorbei, sah sie ihn im Auto, ganz selten kamen sie sich näher, standen im La- den nebeneinander. Dabei stellte sie schon früh fest, dass sie ihn gerne sah, er sie verunsicherte, sie ihn kaum richtig ansehen konnte, wenn sie sich gegenüber standen. Er schien unbefangener zu sein, oder hatte sie sich nur eingebildet, dass er sie beim Brötchen holen ziemlich ungeniert musterte? Traute sie ihrer eigenen Wahrnehmung nicht mehr?

Er hatte eine tiefe, etwas kratzige Stimme, die leicht abbrach, so, als höre ihm niemand zu oder er würde sich nur ungern festlegen. Im Café' saßen sie sich zum ersten Mal direkt gegenüber, und, ohne dass sie noch ein Wort darüber verlieren mussten, war auf einmal für beide klar, dass sie sich nicht gleichgültig waren. Ihr Gespräch blieb zunächst belanglos, so beschäftigt waren sie damit, sich mit diesem stillen Einverständnis gegenüber zu sitzen und sich anzusehen.

"Trinken sie den Kaffee immer schwarz?"

"Ist wohl mehr aus Bequemlichkeit so geworden, macht im Büro zu viel Arbeit, die anderen Utensilien da zu haben." Typisch Mann, hätte sie beinah gesagt, aber lächelte nur.

In seinem Kopf hatte es unablässig gearbeitet, doch eine Antwort auf die Frage zu finden, was mit ihnen sei. Es reizte ihn, eine möglichst einfache, aber nicht unbedingt eindeutige Aussage darüber zu machen, was sie miteinander verband. Ob man sich über so viele Jahre interessant finden konnte, ohne sich je näher gekommen zu sein - bis heute? Die richtigen Worte fielen ihm nicht ein. Sie schon früher nett, attraktiv, gut aussehend, empfunden zu haben - zu banal, dachte er, das trifft es irgendwie nicht. Andere Dinge fallen ihm spontan ein: Flucht in Träume, Flucht vor der Realität. Aber der Traum verflog nicht, im Gegenteil, die Wirklichkeit war noch schöner, aufregender als die reine Vorstellung. Ihre klar gezeichneten Gesichtszüge, den Wunsch verspürte er, sie mit seinen Fingern zu berühren, sie nachzuzeichnen. Oberhalb der Lippen entlang zu fahren, wo die schärfsten Konturen waren, dann an den Wangen entlang, unter den Augen vorbei bis zu den dunkel glänzenden Haaren, die locker sanft herunterhingen, öfter von ihr mit der Hand zurückgestreift wurden, was sehr elegant, weiblich wirkte.

"Gab wohl früher keine Gelegenheit, sich anzusprechen, sich näher kennen zu lernen - hätte es wohl nicht gewagt."

"Warum nicht gewagt?", ging sie sofort auf seinen Vorstoß ein.

Die erste etwas umständliche Aussage brachte ihn aber weiter. Jetzt hatte er ungefähr, was er sagen wollte: "Fand Sie, glaube ich, zu attraktiv."

"Kann ich mir nicht vorstellen", sagte sie ehrlich erstaunt, "dass sie da Komplexe gehabt haben, sie doch nicht, oh nein", schaute sie ihn skeptisch an. Oder, warten sie, ging es mir ganz ähnlich? Darf ich das ganz offen sagen?

"Ja, auf jeden Fall, ohne Scheu."

"Sie sind mir so arrogant vorgekommen, unnahbar."

"Wer weiß immer, wie er auf andere wirkt?"

"Hatte aber später gar nicht mehr das Gefühl", schickte sie schnell hinter her, als sie sein zweifelndes, bedauerndes Gesicht sah.

Pu wusste nun, dass an diesem Tag wirklich alles anders war, er sich auf eine sehr riskante Sache einließ, alle bisherigen Grenzen überschritt, aber nun nicht mehr zurück wollte oder konnte.

Es war ihr in diesem Augenblick gleichgültig, welche Konsequenzen diese Begegnung mit sich brachte, gab sich ganz einem Hochgefühl hin, das sie so schon lange nicht mehr erlebt hatte. Sie konnte seine abtastenden neugierigen Blicke regelrecht körperlich spüren, bot sich ihm an und spürte seine unterschiedlichen Regungen, je nachdem, wie sie sich setzte, ihre Schenkel leicht öffneten, die Beine übereinander schlug oder ihr Rückgrat durchdrückte und sich ihre Brüste leicht anhoben oder senkten. Wahrnehmung und Gestik verhielten sich wie in einem berauschenden Tanz und keiner von ihnen konnte genug davon kriegen, zu schauen und angeschaut zu werden.

Sie hatte sehr ebenmäßige Gesichtszüge, und er mochte ihre Frisur, die ihr Gesicht so gleichmäßig umrahmte, sehr glatte Ränder warf, sehr exakt geschnitten sein musste. Es störte ihn nicht im Geringsten, dass sie keine Mannequin-Figur hatte, in den Hüften breiter, weiblicher, nicht völlig schlank war.

Als er sich leicht vorbeugte, um seine Sitzhaltung zu verändern, spürte er ein Knistern in der linken Innentasche seines Blousons und erinnerte sich an die Papiere, die er dort in der Kneipe provisorisch verstaut hatte. Es passierte leicht, dass sich seine Aufmerksamkeit abrupt veränderte, holte ohne eine Erklärung die Blätter hervor, war auf einmal gespannt, was sie enthielten.

Zu seinem Erstaunen war das erste Blatt keine Kopie, sondern eine Originalschrift, wie man es deutlich an den ausgestanzten und verschmierten Buchstaben einer wohl schon älteren Schreibmaschine feststellen konnte. Es waren mehrere Dokumente, zum Teil mit der Hand geschrieben und unterschiedlich alt, wie es an dem Papierzustand und teilweise angebrachten Datierungen abzulesen war.

"Haben sie etwas geschrieben?", fragte sie und wunderte sich etwas über sein Verhalten.

Er leicht verlegen: "Hm, von einem Bekannten, bin noch nicht dazu gekommen, es mir anzuschauen, ist wohl gar ein Gedicht dabei?"

"Wenn du willst, lies doch laut, vielleicht passt es zu dem Vortrag?"

Pu, der nicht gerne laut vorliest, schon gar keine Gedichte, liest aber nur für sich ein paar Worte, überfliegt schnell den Text. „Vorlesen war leider nie meine Stärke. Aber es geht wohl um die Bürgerkriege, über die jeden Tag im Fernsehen berichtet wird. Schlimm, wie viel heute noch mit Gewalt geregelt werden soll -kann ich selbst auch nicht mehr sehen“, letzteres etwas heftiger.

„Mudidingo“, „Dingomudi“, das sind wohl die Parteien, die miteinader im Krieg liegen.“

Und nur zu sich selbst: Muss die Sachen wohl gut aufheben (s. Archiv 1, letzte Seite des Buches), der war vielleicht zu betrunken und weiß heute nicht mehr, wo seine Aufzeichnungen geblieben sind.

Pu schaut auf, " was machen wir nun, wie geht es weiter?" Sie weiß, dass er nicht den Text meint, sagt dennoch: "Es interessiert mich, wie das Gedicht weitergeht - sollen wir nicht Du sagen?"

"Mein Vorname, François, ist etwas schwierig auszusprechen, ich mag ihn auch nicht, so dass mich alle Pu nennen."

"Ich finde das originell - dann sag doch einfach C zu mir, dann haben wir etwas gemeinsam", erwidert sie ganz ernsthaft.

"Gut, C", die Zeit drängt und beide fürchten sich davor, die Situation abzubrechen, wissen nicht, was dann passieren soll.

Geht man jetzt auseinander, lässt alles wie es war, trifft sich so nicht wieder, sondern nur in Tagträumen? Täuscht man sich in seinen Gefühlen, ist alles nur Einbildung? Nein, das ist keine flüchtige Bekanntschaft mehr - keiner will das. Sie zahlen und draußen, sie steht ganz dicht neben ihm, leicht berühren sich ihre Arme - "vielleicht kannst du mich morgen anrufen, dienstlich, im Büro, sagt er endlich die befreienden Worte und denkt gleichzeitig, nie geht das gut, niemals.

"Die Nummer?" "Warte!"

"Ja, fahr du nur, ich habe es nicht so eilig."

Gefährliche Unterforderung

Am nächsten Morgen hat er wie fast jeden Tag Schwierigkeiten, aufzustehen. Der Gedanke an die Arbeit, das schmucklos kühle Büro, an die schlechte Atmosphäre im Betrieb, bedrückt ihn jeden Tag aufs Neue; warum kann er sich bloß nicht an diesen Alltag gewöhnen, geht es anderen auch so? Ein ständig wachsender Berg von Routinearbeit, diese Regelmäßigkeit, ist es das? Protokolle lesen, die gleichen Begriffe, Sachverhalte, diktieren, kontrollieren, abzeichnen.

Manchmal arbeitet er hektisch, nur weg damit, weg, obwohl ihn nichts treibt, - dann sitzt er stundenlang da, tut nichts, träumt vor sich hin, geht auf und ab, möchte einfach nach Hause, die Arbeit ist doch getan, mehr wollten sie heute nicht von ihm. Aber die Rituale sind wichtig, festgelegte Zeiten, Arbeit als Götze. Vorschriften ersetzen Sinn: Produzieren, wegwerfen, recyceln, produzieren. Viele ruinieren nach wie vor ihre Gesundheit, verschleißen sich, bauen auf Verschleiß, gehorchen der Mode und verbrauchen dabei wichtige unersetzbare Vorräte an Rohöl und anderen Stoffen auf der Welt, während ein großer Teil der Menschheit nicht mal das Nötigste hat. Working for Nonsens, hat jemand an die Fabrikmauer gepinselt. Der Götze Arbeit lässt nicht los, hört der Fortschritt da auf, wo der Mensch krank, die Umwelt zerstört wird, es nicht für alle reicht?

Ständiger Blick zur Uhr, noch ein paar Minuten sind drin, aufstehen erst sieben nach sechs, das ist seine magische Zahl. Ist die Erde eine Frucht, die irgendwann reif ist, zerplatzt, ihre Samen auf den Weltraum verteilt, um irgendwo anders eine ähnliche Entwicklung hervorzurufen? Aber noch ist es nicht so weit, sondern es ist gleich sieben nach sechs.

Etwas als sinnlos oder unnatürlich zu bezeichnen, ist viel- leicht nur ein Anhaltspunkt für mangelnde Erkenntnis? Überhaupt findet er es mehr als erstaunlich, dass die Menschen fast alles, was sie zusammenbrauen als unnatürlich empfinden, sich selbst außerhalb der Ordnung stellen. So als sei eine Frucht von Würmern befallen und die Würmer seien nicht Teil des Ganzen, hätten keinen Sinn, keinen Auftrag zu erfüllen.

Es hilft alles nichts, vor allem den Kindern kein schlechtes Vorbild sein, zusammenreißen, den Widerwillen bekämpfen. Morgens spricht er noch eine Art Gebet, in dem er um Schutz für die Kinder bittet, dass sie durch den mörderischen Straßenverkehr, den gnadenlosen Konkurrenzkampf in der Schule keinen Schaden nehmen und bei seiner teilweise sehr brisanten Arbeit keine gravierenden Fehler passieren, die andere gefährden könnten. Für sich selbst wünscht er sonst nichts, glaubt, dass solche Gebete keinen Sinn haben. Nachdem wieder Rassismus, Fremdenfeindlichkeit gegenüber anderen Menschen, Religionen, aufgeflammt sind, hat er sich entschlossen, seine kurze Andacht an alle guten Götter zu richten.

Die Gedanken an C lassen sich nicht länger zur Seite schieben und er versucht, seine Gefühle ihr gegenüber zu überprüfen.

Nein, die Nacht, die bei ihm oft eine starke innere Erneuerung bewirken kann, Entschlüsse revidiert oder ins Wanken bringt, hat seine Gefühle eher bestärkt. Er spürt noch die Faszination ihrer Nähe, und die Wünsche oder besser Träume, die vorher schon da waren, lassen sich jetzt verwirklichen?

Will er das und wie weit kann er gehen, tiefe Zweifel überkommen ihn. Den Kindern eine halbwegs normales Familienleben bieten, das ist ein ganz wichtiges Ziel und so viel verlangen die gar nicht, haben eine erstaunliche Toleranz, bevor sie etwas als bedrohlich oder unnormal wahrnehmen. Diese klischeehafte Partnerschafts- und Familienidyll, was einem überall vorgegaukelt wird, hat es doch nie gegeben.

In der letzten Zeit hat ihn öfter die Frage beschäftigt, wann das intensivere Gespräch, die Zärtlichkeit aus seiner Ehe verschwunden sind, ob es ein besonderes Ereignis dafür gab?

Nichts lässt sich genau festmachen, weder Zeitpunkt noch Beweggründe, wie ist das möglich? und nur schwer erinnert er sich an die Zeit, als es noch anders war, sogar Kosenamen existierten, kaum noch vorstellbar. War es manchmal alleine die Zeit, die verlorene Gefühle zurückbrachte, es Phasen der Annäherung und Distanz geben musste? aber allmählich fehlt ihm die Vorstellungskraft, da könnte sich noch etwas bewegen.

Beim Aufstehen, nun hat er doch die Zeit überschritten, mehr Zeit zum Nachdenken müsste man haben, kommen ihm seine Bewegungen noch fahriger, hektischer vor als sonst. Bloß jetzt keinen Fehler beim Rasieren machen, elektrisch reicht ihm nicht, zu schnell machen sich da einzelne Haare selbständig, sind dann vom Rasierer nicht mehr zu erfassen. Lieber kein neues Messer für die anschließende Nassrasur nehmen, zu leicht schneidet man sich damit, verliert dann kostbare Zeit. Dick trägt er den Rasierschaum auf, betrachtet sich kritisch im Spiegel, schabt vorsichtig alles wieder ab. Erleichterung beim Nachspülen mit kaltem Wasser, soll die Poren wieder schließen, erfrischt, noch so eine Fuhre, noch eine über das ganze Gesicht. Allmählich fühlt er sich frischer, abrubbeln mit dem Handtuch, Leben kommt in das Gesicht, in den Körper.

Ständig zerreißen ihm die Strümpfe, sind schon nach ein paar- Mal waschen hinten durch oder hat er zu wenig Geduld; diese Mordende sollte man abschaffen - sich abends alles zurecht legen? Nein, das Hemd passt nicht zur Hose oder doch dieses Hemd und eine andere Hose, es ist zum Verzweifeln. Manchmal geht eine bestimmte Farbe überhaupt nicht, zurzeit ist es blau, kommt sich völlig albern vor bei dieser Prozedur, nur gut, dass einen dabei keiner beobachtet.