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Der letzte Außenposten »Es ist eine Evakuierungsmaßnahme der Erde.« Nur wenige Minuten vor der totalen Verwüstung der Erde erfährt die Crew der ISS vom nahenden Asteroiden. Zwei Jahre muss sie nun gemeinsam mit sieben Zivilisten ohne Hilfe im All überleben. Doch als blinde Passagiere auftauchen, ist nicht genug Sauerstoff für alle vorhanden. Wie viel ist ein Menschenleben wert, wenn es um das eigene Überleben geht? Ein Kampf gegen das tödliche All und die inneren Dämonen entbrennt. Der Auftakt der Impakt-Chroniken reißt den Leser erbarmungslos in die Abgründe der menschlichen Seele.
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Der letzte Außenposten
von Anne Polifka
Impressum
3. Auflage, 2024
© Anne Polifka – alle Rechte vorbehalten.
Anne Polifka
Vinjefjordsveien 2080
6686 Valsøybotn
NORWAY
https://anne-polifka.wixsite.com/startseite
Lektorat: Lektorat Schreibwege (Heidrun Launicke) (3. Auflage)
Korrektorat: Lektorat Schreibwege (3. Auflage), Bettina Kuhlmann (2. Auflage), Daniela Mertens (1. Auflage)
Cover: Dream Design – Cover and Art (Renee Rott), Bildmaterial von Adobe Stock
Illustration (Karte): kritzelsusa
Schriften: Andada (Text), Discognate (Cover, Kapitelzierde)
Buchbeschreibung:
Wo sind die Grenzen der Moral, wenn das alte Leben und eine Gesellschaft nicht mehr existiert? Was treibt die Menschen an, weiterzumachen, wenn die Lage hoffnungslos ist? Und wie viel ist ein Menschenleben wert?
Der Auftakt einer Science-Fiction-Reihe, die das Leben in der Schwerelosigkeit und die Grenzen des menschlichen Verstandes verbindet und überschreitet.
Das Personenregister und das Glossar befinden sich am Ende des Buches.
Über den Autor:
Anne Polifka wurde 1991 in Lichtenstein (Sachsen) geboren und wanderte 2024 nach Norwegen aus.
Bereits mit elf Jahren begann sie zu schreiben, erst Gedichte und Fanfictions, dann Rollenspiele. Ihr Wunsch ist es, mit ihren Geschichten zum Nachdenken anregen.
Im November 2020 feierte sie ihr Debüt mit der Kurzgeschichte »Sirona«. Auf dieser Kurzgeschichte basiert auch ihr erster Roman »Der letzte Außenposten«. Dieser erschien als erster Band der Impakt-Chroniken am 30.06.2022. Der zweite Band folgte am 01.09.2024.
Inhaltsverzeichnis
Karte ISS 2029
1 Juri
2 Eveline
3 Domas
4 Eveline
5 Domas
6 Mateo
7 Ava
8 Juri
9 Domas
10 Eveline
11 Mateo
12 Ava
13 Juri
14 Ava
15 Domas
16 Eveline
17 Juri
18 Ava
19 Mateo
20 Eveline
21 Victor
22 Mateo
23 Ava
24 Eveline
25 Victor
26 Juri
27 Ava
28 Victor
29 Juri
30 Mateo
31 Eveline
32 Ava
33 Victor
34 Juri
35 Mateo
36 Eveline
37 Mateo
38 Ava
39 Victor
40 Juri
41 Eveline
42 Mateo
43 Juri
44 Eveline
45 Juri
46 Victor
47 Mateo
48 Eveline
49 Ava
50 Victor
51 Juri
52 Eveline
53 Mateo
54 Victor
55 Ava
56 Eveline
57 Juri
58 Victor
59 Eveline
60 Victor
61 Juri
62 Eveline
63 Juri
64 Eveline
65 Victor
66 Juri
67 Eveline
Personenregister
Glossar
Nachwort
Bereits erschienen
Juri durfte sich keinen Fehler erlauben. Jedes Mal, wenn er sich eine Haltestange weiter bewegte, sah er hinter und neben sich. Eine Erschütterung konnte die Proben beschädigen. Erst überzeugte er sich, dass der Weg frei war, dann gab er Domas ein Zeichen, der Box einen sanften Stoß zu verpassen.
Sobald er diese manövriert hatte, hakte er sich mit den Füßen in die nächste Haltestange ein, um in der Schwerelosigkeit Halt zu haben.
»Stopp«, sagte Juri und hielt die Kiste zurück, eine Hand legte er über die Ecke, die fast für einen Zusammenstoß gesorgt hätte. An Wänden befestigte Ausrüstung engte das schmale Swesda-Modul zusätzlich ein, so dass nur wenig Spielraum existierte.
Domas lugte hinter der zwei Meter breiten Metallbox hervor, doch Juri sah nur den kahlen Kopf des Kommandanten.
Er klettete ein Experiment von der Wand zu seiner Rechten ab und befestigte es über sich. Mit einem Erste-Hilfe-Kit verfuhr er ebenso.
Sie schwiegen, während Juri Platz schuf und Domas die Box möglichst an Ort und Stelle hielt. Nur das leise Rattern der Kühl- und Lüftungsanlagen war zu hören. Ein leichter Luftzug kühlte den Schweißfilm auf seinem Gesicht. Obwohl die Arbeit nicht körperlich anstrengte, erschöpfte ihn die absolute Konzentration.
Schon fast eine Stunde hatten sie damit verbracht, die Proben durch die ISS zu transportieren. Die Schwerelosigkeit hob das Gewicht auf, aber eine unachtsame Bewegung und die Box würde gegen eine Wand prallen.
Am nächsten Tag würde der Dream Chaser die ISS verlassen und die Forschungsergebnisse zur Erde bringen. Dafür hatte der Raumgleiter Essen, Wasser und ausreichend Wechselkleidung zur Raumstation gebracht. Diesmal umfasste die Fracht mindestens einen ganzen Jahresvorrat an Shirts, Hosen und Unterwäsche. Das war zu viel.
Die durchzuführenden Wartungsarbeiten hatten in den letzten Jahren zugenommen und somit sollte die Station bald kontrolliert abstürzen. Naomi, Eveline und Aki, die vor fast drei Monaten hier angekommen waren, würden die letzten Astronauten an Bord der Station sein.
Domas’, Alexanders und seine Mission würde in drei Wochen – am siebenten Dezember – enden.
Schon kurz nach seiner Ankunft hatte Juri seine Familie vermisst, doch sobald er wieder auf der Erde lebte, würde er sich nach dem Leben im Weltraum sehnen. Sein Vater sagte immer, ein erfüllter Wunsch habe zwei neue im Gepäck. Das stimmte.
Mit achtunddreißig war Juri jung genug für einen dritten Einsatz, doch eine Garantie gab es nie. Viele hofften auf eine Mission, aber lediglich vier US-Astronauten im Jahr wurden für Weltraummissionen ausgewählt. Vielleicht sollte er sich parallel an eines der Privatunternehmen wenden. Der Gaia-Komplex der Station wurde kommerziell betrieben. Dort wäre seine Chance mit seiner Erfahrung größer.
»Kurze Pause«, sagte Domas und riss ihn aus seinen Gedanken. Offenbar hatte er bemerkt, dass Juris Konzentration nachgelassen hatte.
Sie hielten inne und hinderten die Box am Davonschweben, indem sie diese sanft anstießen, wenn sie sich einer Wand zu sehr näherte.
»Hast du mit Lilly gesprochen?«, fragte Domas in die entstehende Stille hinein.
»Nein, aber Mikail kümmert sich um die Störung.« Bereits seit Tagen funktionierte die Internetverbindung nicht, was nicht nur Experimente störte, sondern auch den Kontakt zu ihren Familien verhinderte. Hätte Lilly Dienst, könnte sie vom Space Center aus mit ihm Funkkontakt aufnehmen.
Mikail war vor drei Tagen auf der ISS angekommen. Der schwedische Techniker war rund um die Uhr im Gaia-Komplex beschäftigt und hatte Aki in seine Arbeit eingebunden. Heute testeten sie ein Lautsprechersystem auf der Station. Unentwegt erschallte die Durchsage »Test« in den Modulen der Raumstation.
»Dann heißt es abwarten. Ich würde gern wieder von Zofia und den Kindern hören«, sagte Domas und zog sein Handy aus einer Hosentasche. Der Sperrbildschirm zeigte seine Familie. Er atmete einmal tief durch, bevor er das Thema wechselte. »Weiter geht's.«
Juri ließ die Box vorsichtig los und begab sich wieder nach vorn.
Sie passierten das Unity-Modul. Naomi und Alex verbrachten hier gerade ihre Mittagspause. Aus den geöffneten Dosen drang der Duft von Ravioli.
Juris Magen knurrte sehnsuchtsvoll, doch seine Pause musste noch warten. Sie mussten noch Destiny durchqueren, bevor sie ihr Ziel erreichten: das Harmony-Modul, an das der Dream Chaser angedockt war.
Knapp zwanzig Minuten benötigten sie für den Weg dorthin. Mit Spanngurten sicherten sie die Kiste im Laderaum, der sich zunehmend füllte.
Juri sah auf seine Uhr. »Machen wir Pause. Es ist kurz vor eins und ich verhungere schon.« Sein Magen knurrte nur noch lauter als zuvor.
Domas lachte. »Das kann ich wohl kaum zulassen.« Er klopfte Juri auf die Schulter und gemeinsam kehrten sie zum Unity-Modul zurück, das auch als Küche diente. Darin befand sich der Foodmaker, eine Maschine, die Wasser in Trockennahrung leitete oder das Essen aufwärmte.
Um den heruntergeklappten Tisch schwebte nahezu die ganze Crew, auf dem Tisch waren leere Dosen mit einem Gummiband fixiert. Die Pause war zu Ende. Wegen des straffen Zeitplans variierten die Pausenzeiten. Manche Crewmitglieder sah Juri erst nach ein oder zwei Tagen. Und nun fast alle auf einmal? Nur Aki und Mikail fehlten.
Domas hielt sich an einer Stange am Moduleingang fest. »Was ist hier los?« Das Lächeln war aus seinem Gesicht verschwunden. Er hatte die Augenbrauen hochgezogen und sein Blick war ernst. Als Kommandant musste Domas dafür sorgen, dass die Mission reibungslos verlief und alle Experimente in der vorgegebenen Zeit abgeschlossen wurden.
Alexander drehte den Kopf zu ihnen. »Die Bodenkontrolle hat eben zwei bemannte Andockmanöver für heute angekündigt. Eines 15:12 Uhr, das andere 16:27 Uhr.« Vor Aufregung verhaspelte sich Alex. Das war eine noch nie dagewesene Situation. Solche Manöver erforderten viele Vorbereitungen, weshalb niemals mehr als eines pro Tag erfolgte.
»So kurzfristig? Warum?«, fragte Juri.
Naomi zuckte mit den Schultern. »Das wüssten wir auch gern. Die Verbindung ist abgebrochen. Mikail und Aki arbeiten gerade daran, sie wiederherzustellen. Vielleicht haben sie bei ihren Versuchen eine Störung ausgelöst.«
Vor allem anfangs schlugen die Testdurchläufe der beiden fehl. Manches Mal war der Toncheck von einem Piepen einer Rückkopplung begleitet worden, das ihm eine Gänsehaut beschert hatte, einige Male war die Durchsage zu leise oder zu laut.
Den genauen Grund für die Lautsprecherinstallation konnte er nur raten, denn Mikail sprach kein Wort mehr als nötig. Womöglich handelte es sich um eine Vorbereitung für die Abkopplung der Gaia-Module, die zur kommerziellen Nutzung im Weltraum verbleiben würden. Wozu wurde aber Geld in komplexübergreifende Kommunikation gesteckt, wenn die ISS nur noch wenige Monate im Erdorbit verblieb?
Domas fuhr sich über den kahlen Kopf und wandte sich an die Crew. »Wir zwei machen Pause und geben Bescheid, wenn die Verbindung wieder funktioniert. Ihr geht wieder an die Arbeit. Der Zeitplan verkürzt sich durch die Neuankömmlinge.«
Nach und nach verließen alle das Modul, wobei Eveline am längsten blieb. Sie stellte sich absichtlich hinten an, um ihren Müll zu entsorgen, obwohl sie sonst immer eine der Ersten war.
Juri schmunzelte, als er das beobachtete. Sie hoffte sicher, dass jede Sekunde der Funkkontakt wiederhergestellt würde, damit sie von Anfang an dabei sein konnte, wenn sich die Situation aufklärte. Doch nichts dergleichen geschah und so verließ auch die Französin den Pausenraum.
Er schwebte zu den Fächern mit den Gerichten der Crew und öffnete das kleine Fach mit seinem Namen drauf. Dort sah er seine Essensvorräte durch und fand eine letzte Puddingtüte, versteckt zwischen den Tortillas. Das hieß, heute gab es ein Dessert zum Mittag. Lilly sagte immer wieder, er müsste kugelrund sein, so gern, wie er süße Gerichte aß. Trotzdem war er schlank, worum sie ihn beneidete.
Heißes Wasser verwandelte das Puddingpulver in der Tüte in seine Nachspeise. Damit schwebte er zum Tisch und platzierte sich gegenüber von Domas. Spannbänder, Klettstreifen und Duct Tape hinderten das Essen in der Schwerelosigkeit am Davonfliegen.
»Was denkst du?«, fragte Juri Domas in die Stille hinein, während er seine Tortilla belegte.
Sein Kollege zuckte mit den Schultern. »Ein wichtiges Projekt, das sich kurzfristig ergeben hat, oder ein paar Millionäre, die unbedingt noch vor Weihnachten in den Weltraum wollen.« Juri hielt inne und sah zu Domas, als dieser sich räusperte. Er machte eine kurze Pause, bevor er fortfuhr: »Bei einem Problem hätten sie uns informiert.«
Das ergab durchaus Sinn, trotzdem behielt Juri den Laptop in der oberen Ecke im Auge. Das Programm zur Steuerung des Funkgerätes war geöffnet, die Funkanlage blinkte. Normalerweise nutzten sie Videochats, aber aufgrund der fehlenden Internetverbindung kommunizierten sie seit Tagen über Funk.
Schweigend aß Juri seinen Pudding. Das Vanillearoma vertrieb den herzhaften Geschmack des Wraps. Juris Handbewegung war zu schwungvoll, denn der Vanillepudding schwebte von seinem Löffel davon. Juri verfolgte ihn und fing sein Dessert mit dem Mund, bevor er zu Domas zurückkehrte.
Der stechende Geruch von Tabasco-Sauce drang zu ihm und er verzog das Gesicht.
»Willst du?«, fragte Domas ihn und grinste.
Schon an einem der ersten Tage auf der Station hatte er Juri die Sauce angeboten. Er meinte, da hier oben durch die veränderte Flüssigkeitsverteilung die Nase zuschwoll und entsprechend der Geschmackssinn nachließ, verschwand die Schärfe, doch sie würde dem Essen etwas mehr Geschmack verleihen.
Juri war skeptisch gewesen, hatte aber das Angebot angenommen. Als er in sein Sandwich gebissen hatte, schien sein Mund augenblicklich in Flammen aufzugehen und Tränen waren ihm in die Augen geschossen. Der Pudding war das, was den lindernden Milchprodukten am nächsten kam. Dennoch hatte ihn der brennende Schmerz noch über eine Stunde verfolgt. Juri hatte sich einen Edding geschnappt, Domas' Namen und drei Ausrufezeichen auf die Flasche geschrieben.
»Lass mich überlegen … nein.«
Domas lachte nur und aß weiter. Das Lachen war nicht das herzlich-fröhliche, wie Domas es oft zeigte. Es glich eher dem, wenn ein Witz erzählt und ein Lachen erwartet wurde.
»Alles –« Ein Knistern unterbrach Juri, dann hörten sie eine stark verrauschte Stimme, die langsam klarer wurde.
»Hören Sie mich?« Die Bodenkontrolle wiederholte diese Frage mehrmals.
Domas riss überrascht die Augen auf. Er verstaute sofort seinen Wrap in eine festgeklettete Dose und wischte die Hände an einem Taschentuch ab, bevor er zum Funkgerät schwebte.
»Ja, wir hören Sie. Mit wem spreche ich?« Domas drehte sich um und deutete zum Moduldurchgang. Juri nickte und befestigte sein Essen auf dem Tisch. Dann stieß er sich ab.
»Ich bin Melvin Fox.«
Je weiter er sich vom Modul entfernte, desto leiser wurden die Stimmen, bis sie schließlich verstummten. Um die anderen zu finden, hangelte er sich systematisch durch die Module. Im Vorbeischweben rief er den anderen zu, dass der Kontakt wiederhergestellt war. Falls Domas wartete, bis alle da waren, dann sollten sie sich schnell einfinden. Der Kontakt war einmal abgebrochen und er könnte es ein zweites Mal.
Die meisten waren bereits im Unity-Modul angekommen, nur Alex und er erreichten als Letzte das Modul.
»Aki ist bei Mikail. Sie hören alles mit«, berichtete Juri eilig.
Domas wandte sich wieder dem Funkgerät zu. »Wir sind vollzählig. Sie haben etwas von zwei bemannten Kapseln erzählt, die kurz nacheinander andocken werden. Das hat für Verwirrung gesorgt. Ich bitte um Aufklärung.«
Die Crew lauschte angespannt und neugierig. Sie alle schienen nicht zu wissen, ob sie aufgeregt oder besorgt sein sollten.
Melvin schwieg und Juri befürchtete schon, die Verbindung sei wieder zusammengebrochen. Nach einigen Sekunden drang die Antwort der Bodenkontrolle aus den Lautsprechern.
»Es sind Wissenschaftler, die im Gaia-Komplex arbeiten werden. Der Abflug letzte Woche wurde aufgrund technischer Sicherheitsbedenken abgesagt, sodass sich die neuen Starts überschnitten haben. Daher sind sie von zwei verschiedenen Orten in den Weltraum gestartet. Die Crew-Dragon-Kapsel wird bei Gaia-2 ankoppeln, die Orel bei Rasswet. Bei Gaia-2 gab es nie ein bemanntes Andockmanöver. Es werden daher Domas Wozniak, Naomi Hobbs und Juri Andrej Mironow als durchführende Besatzung vorgeschlagen. Ein viertes Besatzungsmitglied wird be-nötigt. Wen schlagen Sie vor, Kommandant?«
Domas' Blick wanderte über die Anwesenden. Die Unerfahrenen hofften in diesem Moment auf ihr erstes Andockmanöver in der Praxis, das wusste Juri aus eigener Erfahrung.
»Naomi Hobbs und Juri Andrej Mironow überwachen das Andockmanöver an Gaia-2. Ich, Kommandant Domas Wozniak, werde mit Alexander Riek das Andocken an der Rasswet beaufsichtigen. Bitte um Bestätigung.«
»Bestätigt und im System erfasst«, sagte Melvin routiniert.
Juri sah zu Alex, der lächelte. Solche Manöver lösten immer Aufregung aus, vor allem bei der ersten Mission.
»Gut, 15:05 Uhr erwarten wir Rückmeldung von Gaia-2, 16:15 Uhr von Rasswet«, sagte Melvin.
Die bevorstehenden Andockmanöver sowie die Neuankömmlinge würden heute Abend sicher der Gesprächsstoff Nummer eins sein. Wie die Neuen wohl waren? Bei der Besatzung für die ISS wurde neben den Fähigkeiten und Kenntnissen auch nach der Persönlichkeit ausgewählt – immerhin arbeiteten sie hier sechs Monate auf engstem Raum zusammen. Wurde darauf auch bei den Forschern geachtet? Dauerhafte Spannungen würden die Stimmung belasten. Ihr Aufenthalt dauerte noch drei Monate. Naomi, Aki und sie würden die ISS vom Gaia-Komplex abkoppeln und dann würde die ISS in den Südpazifik stürzen, zumindest die Teile, die nicht verglühten.
Eveline schwebte ins Kibo-Modul. Es maß elf Meter in der Länge. Damit gehörte es zu den größten der ISS.
Aufgrund des Kranarms an der Außenseite befanden sich im oberen Teil zwei Fenster. Wenn sie aus dem rechten hinaussah, konnte sie die Containerplattform des Moduls sehen. Das andere bot einen Blick auf die Erde, der sie an die Zerbrechlichkeit und Einzigartigkeit ihrer Heimat erinnerte. Sie hatte hier schon tausende Fotos geschossen. Manchmal sah sie von hier auch andere Raumstationen, doch das nur selten, da alle drei im Erdorbit annähernd die gleiche Geschwindigkeit beibehalten mussten, um nicht auf die Erde zu stürzen oder abzudriften.
Vor vier Tagen hatte sie die Tiangong gesehen, als sie den Kurs in die Höhe korrigiert hatte. Die Schwerkraft zog die Stationen langsam immer näher zur Erde. Die nächste Korrektur der ISS würde Eveline unter Domas’ Aufsicht in drei Tagen durchführen. Das würde ihr erstes Manöver werden und sie konnte es kaum erwarten. Sie hätte heute auch gern beim Andocken geholfen.
Eveline warf einen letzten Blick auf die Erde und stieß sich vom Boden ab. Über ihr befand sich das Lagermodul. In einer Kiste waren ihre Versuchsobjekte verstaut. Heute kalibrierte und testete sie die handlichen Drohnen, die nur faustgroß waren. Diese sollten später kleinere Reparaturen selbstständig durchführen. Eveline flocht grob ihre schwebenden Haare, damit diese sie nicht behinderten.
Die Zeit verging schnell während der Experimente. Eine rote Linie auf dem Laptop verfolgte ihren Zeitplan. Dieser zeigte bis 18 Uhr Versuche, doch statt erst Test fünf, wie es der Plan vorschrieb, führte sie schon Nummer sieben durch. Eine Pause konnte sie sich also gönnen, um das Andockmanöver zu beobachten.
Das hier würde nicht ihre letzte Raumfahrtmission sein und somit würde sie früher oder später das Andocken einer Kapsel überwachen. Daher ergriff sie jede Möglichkeit, die sich ihr bot, um Erfahrungen zu sammeln.
Schnell befestigte Eveline alles an den Wänden und begab sich zum Gaia-1-Modul, von dem das Manöver an Gaia-2 überwacht wurde. Naomi und Juri schwebten vor der Steuerzentrale, die in einer Nische, nahe dem Panoramafenster, eingerichtet war. An der Wand waren drei große Bildschirme montiert worden, auf einem Brett davor Tastaturen, Schalter und Joysticks. Kabel mündeten in einen Rechner, dessen leises Surren von den Lüftungsanlagen der Station übertönt wurde.
Beide Kollegen grüßten sie nicht einmal, sondern fixierten die Monitore vor sich. Nur noch drei Minuten bis zum Andock-Zeitpunkt. Sie hätte nicht später kommen dürfen.
»Ich würde euch gern über die Schulter schauen«, sagte sie und positionierte sich so hinter Naomi, dass sie keinen der beiden störte. Naomis Kopf verdeckte einen Großteil der Anzeige, also zog sich Eveline ein wenig höher, um mehr zu sehen – erfolglos.
Juris Stimme drang zu ihr. »Komm noch etwas herum. Hinter mir hast du bessere Sicht.« Er sah sie nicht an.
Sie hatte nicht damit gerechnet, dass er sie überhaupt bemerkt hatte.
»Danke.« Eveline achtete darauf, Naomi nicht zu stoßen, während sie sich zu Juri hangelte.
Permanent gab die Bodenkontrolle technische Informationen durch. Die Crew-Dragon-Kapsel steuerte direkt auf den Andockstutzen zu. Im Modul herrschte eine angespannte Stille. Naomi und Juri bereiteten sich darauf vor, bei Problemen innerhalb von Augenblicken einzugreifen. Die Forscher dort drin hatten das Manöver nicht so intensiv trainiert wie die Crew. Hunderte, wenn nicht sogar tausende Male hatten die Astronauten im Simulator geübt, wie sie manuell andockten.
Die Kapsel näherte sich und bremste langsam ab. Der Monitor zeigte die Geschwindigkeit der ISS an: 28.481 Kilometer pro Stunde. Die der Crew Dragon sank kontinuierlich von 29.819 ab und glich sich dem geringeren Tempo an. Trotz dem hohen Tempo verharrte die Kapsel scheinbar regungslos, während der Abstand sich langsam verringerte. Vier Meter, drei, zwei. Nun konnte niemand mehr eingreifen. Eveline biss sich auf die Unterlippe, gefesselt von der Videoübertragung. Ein Meter.
Ein kurzes Piepen verkündete das Ende des Soft-Docking-Vorgangs. Die ISS und die Crew Dragon waren verbunden. Jetzt leiteten sie das Hard-Docking ein. In diesem Prozess richtete die Andock-Vorrichtung die Kapsel optimal aus. Haken zogen die Crew Dragon heran und befestigten sie, damit die Verbindung garantiert luftdicht war. Erst im Anschluss startete der langsame Druck- und Temperatur-Ausgleich, während die Kapsel mit dem Stromnetz der Station verbunden wurde.
Bis zum Öffnen der Luke würde es noch etwa anderthalb Stunden dauern. Dieses Zeitfenster gab Raum für letzte Vorbereitungen. Die Medikamentenschränke im Modul mussten überprüft werden und die Schlafsäcke fehlten auch noch. Juri hatte es ihr überlassen, da er die Dokumentation des Manövers übernehmen musste. Naomi war wegen des Andockens in Verzug, Aki arbeitete mit Mikail zusammen, Domas und Alex bereiteten ihren Einsatz vor.
Diese zwei Raumkapseln warfen die Pläne über den Haufen und das, wo alles sehr eng getaktet war. Pro Tag gab es oft mehrere Experimente parallel. Sie würde sich später beeilen müssen, da auch auf ihrem Tagesplan noch drei Tests und Analysen standen. Dabei würde sie am liebsten die Neuen kennenlernen.
Sie bemerkte Mikail erst, als sie die Steuerzentrale verließ. Er musste während des Manövers zu ihnen gestoßen sein. Mit dem Werkzeugkasten in der Hand starrte er sie an und klammerte sich fest an einen Haltegriff. So verhielt sich anfangs jeder in der Schwerelosigkeit, selbst die Astronauten. Es brauchte einfach Zeit, sich an das Schweben zu gewöhnen. In den ersten zwei Wochen hatte sie auch immer geglaubt, gleich davonzutreiben.
Die Miene des Schweden zeigte nicht ansatzweise Begeisterung. Sie erinnerte Eveline eher an einen Trauermarsch. Mikail begriff die Bedeutung dieses entscheidenden Moments nicht. Entweder ein Manöver gelang oder es scheiterte. Im besten Fall gab es Probleme und die Kapsel musste umkehren, im schlimmsten starben drei Menschen.
»Kommandant Wozniak, sind Sie da?«, fragte Melvin. Er sprach schneller als am Mittag. War er gestresst oder nervös? Sicher bildete sich Domas das nur ein. Die Eile der Manöver ließ ihn regelrecht Hinweise auf ein Problem suchen.
»Ja, gemeinsam mit Alexander Riek. Wir sind bereit, den Vorgang zu überwachen.«
»Die Internetverbindung ist noch immer gestört. Ich teile Ihnen die Signatur der Kapsel mit. Erfassen Sie diese mit Ihrem System. OR-2027-3-11426.«
Domas tippte parallel. Die Buchstaben waren der Typ der Kapsel, dann folgten mit Zahlen das Baujahr, die wievielte Version und am Ende noch eine zufällig generierte Kennziffer. Das Ladesymbol erschien, doch der Vorgang dauerte ungewöhnlich lange. Schließlich leuchtete eine Fehlermeldung auf. Auch ein zweiter und dritter Versuch brachten keinen Erfolg.
Domas räusperte sich leise. Die Angst trocknete seinen Mund regelrecht aus und er sehnte sich nach einem Schluck Wasser. »Die Synchronisation schlug mehrfach fehl. Wie soll weiter vorgegangen werden?«
Melvin schwieg. Vermutlich berieten sich die Mitarbeiter im Space Center. Ein Klicken, dann ertönte seine Stimme. »Das Manöver wird manuell durchgeführt. Der Pilot in der Kapsel ist nur mit dem NASA-Docking-System vertraut und benötigt Unterstützung.«
Warum wurde niemand ausgewählt, der das APAS-95 beherrschte? Sowohl bei der ESA als auch der NASA wurden diese Systeme nicht mehr genutzt, obwohl sie kompatibel waren. Doch es waren Feinheiten, die den Unterschied machten. Die Ausbildung hatte früher das alte System beinhaltet, da Russland zu dieser Zeit noch am ISS-Projekt beteiligt gewesen war.
»Unter diesen Umständen ist das Risiko für die Besatzung der Orel und der ISS zu groß. Ich erbitte den Abbruch des Andockmanövers.«
Domas schüttelte den Kopf, auch wenn Melvin es nicht sehen konnte. »Ein Abbruch ist nicht möglich.« Die Antwort kam wie aus der Pistole geschossen.
Domas war sprachlos. Alexander sah ihn aus großen Augen an und schüttelte den Kopf.
»Ich möchte gern den Missionsleiter sprechen«, sagte Domas.
Schweigen breitete sich aus und er sah auf dem Monitor, wie der Dockingport der Orel geöffnet wurde und die Kapsel sich langsam näherte.
»Hier spricht Zac Pearce.« Der Leiter sprach ebenfalls auffällig schnell, als hätte er keine Zeit. Dabei gab es für einen Missionsleiter nichts Wichtigeres als die Überwachung von Einsätzen.
»Hier ist Domas Wozniak, Kommandant der 82. Expedition. Gemeinsam mit Alexander Riek überwache ich das Docking der Orel-Kapsel am Rasswet-Modul. Aufgrund technischer Schwierigkeiten ist eine Synchronisation mit der Kapsel nicht möglich und der Pilot ist mit dem russischen Kopplungssystem nicht vertraut. Das Risiko für die Besatzung der Orel sowie der ISS ist zu groß. Der Dockingvorgang kann unter diesen Umständen nicht vorschriftsgemäß durchgeführt werden.«
»Ich nehme Ihre Bedenken zur Kenntnis. Mikail Lindström soll das Problem lösen. In fünfzehn Minuten wird der Dockingvorgang eingeleitet. Eine Verzögerung ist nicht tolerierbar.«
Domas strich sich über seinen kahlen Kopf. Ihm zog sich alles zusammen. Die Vernunft in ihm schrie, er sollte widersprechen, den Piloten der Orel die Anweisung geben, abzubrechen. Noch war es dafür nicht zu späte. Doch stattdessen sagte er nur: »Verstanden.«
Das Rattern der Lüftungs- und Kühlungsanlagen schien lauter zu werden. Er atmete tief durch. »Bring Mikail her. Ich behalte inzwischen die Orel im Blick.«
»Okay.« Alex stieß sich ab und verschwand schnell aus dem kleinen Modul. Domas beobachtete die Kapsel, hing jedoch seinen eigenen Gedanken nach. Die ganze Situation hatte zu viele Ungereimtheiten. Die Kurzfristigkeit, der Verstoß gegen alle herrschenden Vorschriften, die Bereitwilligkeit unnötige Risiken einzugehen und die angeblich missglückte Kommunikation. So eine Abreise konnte nicht einfach spontan durchgeführt werden. Die Raumkapsel muss vorbereitet und überprüft werden, beim Weltraumbahnhof einen Termin zu finden, ist eine langwierige Sache. Ihm kam das Gespräch mit Juri in den Sinn, als sie beide überlegt hatten, warum ihnen jetzt Leute hochgeschickt wurden.
Neben ihm hing eines der Notfallhandbücher, die in jedem Modul zu finden waren. Kurzerhand nahm er es und blätterte es durch, sah aber immer wieder zur Orel-Kapsel. Alle Notfallszenarien, die nicht an Bord gelöst werden konnten, machten eine Evakuierung notwendig. Was, außer einer gescheiterten Kommunikation, sollte hier also dahinterstecken?
Alexanders Stimme unterbrach ihn bei seinen Recherchen. »Mikail muss an den Laptop.«
»Natürlich.« Domas hangelte sich aus der Ecke, um dem Techniker Platz zu machen. Nur das Klicken der Tasten war zu hören, begleitet von einigen Flüchen.
Nach einigen Minuten hörte er auf. Er schüttelte den Kopf und zuckte zeitgleich mit den Schultern. »Ich kann nicht helfen. Das Problem liegt bei der Kapsel, nicht bei der Station.«
»Ist die Orel defekt?«, fragte Domas.
»Sie ist funktionstüchtig, nur das Modul, das unser Signal empfängt, unterbricht dieses sofort. Der Pilot soll sich beim Andocken bereithalten.« Mikail hangelte sich eilig aus der Ecke und steuerte den Modulausgang an. Dennoch hielt er einen Moment inne und sah zu ihnen. »Die Funkverbindung zur Kapsel sollte intakt sein. In den Handbüchern ist das APAS-95-System aufgeführt. Ich muss wieder an die Arbeit.« Mit diesen Worten verließ der Schwede das Rasswet-Modul.
»Verdammt!« Domas atmete tief durch. Seine inneren Alarmglocken schrillten laut, jedoch musste er ruhig bleiben. »Entschuldigung«, sagte er zu Alex. Domas war Kommandant und sollte sich selbst in einer schwierigen Situation auch so verhalten. Wenn er keinen kühlen Kopf behielt, verunsicherte er die anderen nur.
Alex zuckte die Schultern. »Schon okay.«
Domas sah auf die Uhr. Juris und Naomis Andockvorgang war abgeschlossen. »Hol Juri her. Er kennt sich mit dem Andocksystem am besten aus. Du wirst mit Naomi die Neuen in Gaia-2 empfangen.« Alex würde sicher gern zuschauen, aber es gab zwei Manöver zur fast gleichen Zeit zu koordinieren.
»Mach ich.«
Domas sah ihm nach. Er atmete tief durch und strich sich über den kahlen Kopf. Dieser Tag war einfach verrückt. Er wartete die ganze Zeit darauf, dass ihn das Wecksignal aus diesem Alptraum riss.
Juri hangelte sich in das Modul. »Alex hat mir bereits alles erzählt. Wir bekommen die Leute schon an Bord.« Er zeigte sich oft optimistisch, aber in einer realistischen Art und Weise. Vieles sprach für das Gelingen des Manövers. Sie beide besaßen das nötige Fachwissen, ein ausgebildeter Pilot lenkte die Kapsel und wären die Erfolgschancen nicht gut, würde das Manöver abgebrochen werden.
Domas nahm das Funkgerät. »Hier ist Domas Wozniak von der ISS. Hören Sie mich?« Hoffentlich funktionierte die Funkverbindung tatsächlich. Jeder Moment, der ohne Antwort verstrich, ließ sein Herz schneller schlagen.
»Ja. Hier ist Mateo Topares. Ich übernehme die Steuerung.«
Domas schwieg, doch diesmal vor Überraschung. Er kannte ihn. Sie hatten zusammen trainiert – der Spanier für eine Mission auf der LOP-G und Domas für den Einsatz auf der ISS. Zwei Monate hatten Alex, Mateo und er Notfall-Szenarien durchgespielt. An manchen Abenden hatten sie in einer Bar gesessen und gemeinsam die Fußball-WM verfolgt. Juri war einige Wochen später aus Amerika zu ihnen gestoßen und hatte Mateo nur kurz kennengelernt, bevor dieser zum nächsten Trainingsort musste. Die Trainingscenter waren weltweit verteilt.
Seine Überraschung und Freude würde er später zeigen, jetzt musste er konzentriert bleiben. »Die Synchronisation funktioniert nicht. Houston leitet dennoch jeden Moment das Auto-Docking ein. Halt dich bereit einzugreifen. Juri und ich werden dir helfen, wenn es notwendig ist. Wir beide …«
Die Bodenkontrolle unterbrach ihn. »Der Dockingprozess wurde initiiert.« Im Hintergrund hörte Domas aufgeregte Stimmen. Es klang wie »Komm schon«. Sein Herz setzte einen Schlag aus. Die Funkverbindung verstummte augenblicklich.
Seine Aufmerksamkeit musste jetzt der Orel gelten, nicht irgendwelchen Hirngespinsten. »Verstanden«, sagte Domas. Als keine Antwort aus dem Funkgerät kam, wandte er sich an Mateo. »Wir beide haben Erfahrung mit dem russischen System. Es ist dem der NASA ähnlich.«
»In Ordnung. Wenn ich eingreifen muss, melde ich mich.« Die Stimme des Spaniers klang ruhig und routiniert. Domas hörte keine Sorge oder Unsicherheit. Mateo hatte er schon im Training als einen fähigen jungen Mann kennengelernt. Er hatte das Zeug zum Kommandanten.
Juri fuhr sich immer wieder durch die Haare. Es war eine Angewohnheit, die der Russe oft zeigte, wenn er nervös war. Seinem Teamkameraden ging es also nicht anders als Domas. Er war dazu ausgebildet, einen ruhigen Kopf zu bewahren, dennoch fühlte er Angst wie jeder andere. Er strich über sein Gesicht, auf dem sich ein Schweißfilm gebildet hatte.
Mateos Stimme drang routiniert zu ihnen. »Domas, Juri, ich greife ein.«
»Verstanden, Mateo. Benötigst du dabei Unterstützung?«, fragte Domas.
»Nein, bisher ist es dem NASA-System wirklich sehr ähnlich.«
»Ihr seid noch zwanzig Meter entfernt. Gib bitte die Daten durch«, sagte Domas und Mateo las die Werte vor.
Juri ergriff das Wort. »Korrigiere die Neigung um null Komma zwei Grad. Dann greift das Soft-Docking-System besser.«
»Verstanden und erledigt.« Kontinuierlich sank die Meterzahl. Gleichzeitig wurde die Kapsel auf dem Bildschirm immer größer. Domas sah auf dem Monitor, wie sich die Kapsel immer wieder erneut ausrichtete. Sie war zu nah, um jetzt noch irgendwas tun zu können. Domas rechnete fest mit einer Erschütterung durch eine Kollision. Ein Signalton schrillte auf und ließ ihn zusammenfahren. Auf dem Monitor erschien eine Nachricht in grün leuchtenden Buchstaben: Soft-Docking-Prozess beendet.
Eveline kehrte natürlich pünktlich zum Abschluss des Hard-Docking-Vorgangs in den Gaia-Komplex zurück. Juri war nirgends zu sehen, doch dafür war Alex hier.
»Ist mit Juri alles okay?«, fragte Eveline.
Alex drehte sich zu ihr um und nickte. »Domas braucht seine Unterstützung, also haben wir getauscht. Los, begrüßen wir die Neuankömmlinge.«
In ihr kribbelte alles vor Aufregung. Sie liebte es, neue Menschen kennenzulernen. Es gab so viele Geschichten, die erzählt wurden, neue Erfahrungen und Blickwinkel. Sie hatte weltweit Bekannte und Freunde. Kontakte zu knüpfen, war ihr noch nie schwergefallen.
Gemeinsam steuerten sie das Gaia-2-Modul an. Mikail arbeitete noch immer an der Steuerzentrale.
Sie hielt inne und rief ihm zu: »Hey, Mikail, komm mit. Wir heißen die Neuen an Bord willkommen.«
Der Schwede wirkte oft grummelig, vor allem heute. Er arbeitete weiter, ohne aufzusehen. »Später. Ich habe zu tun.«
Manchmal hatte sie den Eindruck, er wollte nicht zur Crew gehören.
Sie gab auf. Bei ihm redete sie ohnehin gegen eine Wand. Außerdem wollte sie sich nicht ärgern, sondern die Vorfreude genießen. Sie war eines der ersten Crewmitglieder, das die Neuen kennenlernte. Sie könnte Juri und Domas alles erzählen, wenn sie die restlichen drei erwarteten. Sie hatte bereits beide Schlafabteile vorbereitet, also gab es dann genug Zeit zum Reden.
Zusammen mit Alex schwebte sie zur Luke. Naomi hatte diese gerade geöffnet und half dem ersten Wissenschaftler an Bord. Eveline drückte sich ein wenig von der Haltestange weg, denn Alex verdeckte den Blick auf den Neuen.
Sie musterte ihn von oben bis unten. Von der Größe und Statur ähnelte er Juri. Graue Strähnen machten sich in seinen Haaren breit, wobei der Fremde zu dem Typ Mann gehörte, der mit dem Alter attraktiver wurde. Tiefe Augenringe und der ernste Gesichtsausdruck sorgten jedoch dafür, dass Eveline Schwierigkeiten hatte, ihn einzuschätzen. Die Augen und die Mimik verrieten viel über eine Person, doch bei ihm entdeckte sie nur Müdigkeit und Anspannung. Aufgrund von Nervosität? Er starrte geradeaus und zeigte keinerlei Interesse an der Umgebung. Resignation? Dieses Wort beschrieb seine Ausstrahlung am besten. Aber warum?
Sein weißer, eng anliegender Raumanzug zeigte das Logo der ESA. An den Schultern waren dunkelgraue Polster angebracht, die beim Start vor dem straffen Gurt schützten. An den Seiten verlief ein schmaler, dunkelblau-oranger Streifen.
Jede Raumfahrtorganisation hatte andere Farben gewählt, entsprechend ihrem Logo. Vor drei Jahren waren neue platzsparende Anzüge eingeführt worden, die deutlich mehr Bewegungsfreiheit boten. Das Umziehen in der Kapsel erübrigte sich dadurch.
Der Aufnäher am Arm verriet den Namen: Nathaniel Addington-Noke. Auf der anderen Seite prangte die Flagge von Großbritannien.
Naomi und Alex begrüßten ihn förmlich. Vermutlich verunsicherte sie das Auftreten des Mannes ebenfalls. Eveline hatte mit Freude und einer herzlichen Begrüßung gerechnet, aber Mr. Addington-Noke zeigte weder das eine noch das andere.
»Hallo, willkommen an Bord«, begrüßte sie den Neuankömmling und lächelte ihn an.
»Danke.« Er schwieg. Die Vorbereitung der drei bestand vermutlich aus einem Crashkurs. Das Astronauteneinmaleins. Er war kein erfahrener Astronaut und deshalb überforderte ihn die Situation. Hoffentlich war nur das der Grund. Sie wollte nicht drei Monate mit jemandem hier festsitzen, der noch wortkarger war als Mikail. Vielleicht blieb er auch nur ein oder zwei Wochen.
»Ich bin Eveline.« Neuer Versuch, neues Glück. Das Vorstellen diente als ein guter Small-Talk-Einstieg, da kein Namensschild an ihrem eigenen Shirt prangte.
Der Mann sah sie an und lächelte, doch das Lächeln erreichte seine Augen nicht. Tatsächlich wirkte es irritierend verzerrt. »Freut mich. Ich bin Nathan. Tut mir leid, ich bin sonst nicht so kurz angebunden. Aber die ganze Situation gerade …« Nathan ließ den Satz unvollendet.
Evelines Lächeln wurde breiter. Er war vielleicht doch recht umgänglich. »Schon okay. Am besten wartest du dort bei Mikail, bis die anderen beiden an Bord sind. Danach zeigen wir euch alles.«
Kurz sah sie Nathan nach, dann wandte sie sich der Luke zu. Alex und Naomi halfen dort gerade einer Wissenschaftlerin an Bord. Ava Dunford, eine Amerikanerin. Das offenbarten die Aufnäher ihres Anzugs. Die roten Haare hatte sie zum Dutt gebunden. Avas Blick ließ heiße Wut in Eveline hochsteigen. So hatte ihre Schwester Amelie immer auf sie herabgeblickt, die sie insgeheim als Miss Perfect betitelte, und das nicht auf eine schmeichelhafte Art. Sie konnte alles besser, war beliebter und sie war alles, was sich ihre Eltern wünschten.
Eveline atmete tief durch. Sie mussten keine besten Freundinnen werden. So gern sie Nathan näher kennenlernen wollte, hoffte sie insgeheim doch, dass die Mission dieser Neuen schnell endete. Doch als ausgebildete Astronautin sollte Eveline sich professionell verhalten. Deshalb zwang sie sich ein Lächeln ins Gesicht.
»Hallo, ich bin Eveline.« Die herzlichen Umarmungen blieben auch hier aus, doch das war zu erwarten. Jede Pore der Frau schrie: Lass mich in Ruhe. Dunford wollte weder hier sein, noch mit ihnen zusammenleben.
»Ava.« Die Forscherin deutete auf ihr Namensschild, gerade so, als hätte Eveline es nicht längst gelesen. Wortlos schwebte Ava vorbei, um sich zu Nathan zu gesellen. Eveline wandte den Blick schnell von ihr ab.
Der dritte Neuankömmling verhielt sich anders. Sofort umarmte er Alex und Naomi, wie es unter Astronauten üblich war. Immerhin einer freute sich, hier zu sein.
»Hallo, ich bin Anayo Azikiwe«, stellte er sich sofort vor und schloss sie in die Arme wie ein alter Freund. Sowohl der Name als auch das Aussehen ließen sie annehmen, er würde aus Afrika stammen. Es prangte jedoch die Flagge der Schweiz an seinem Ärmel und die harte Aussprache verriet den deutschsprachigen Raum. Grau vertrieb fast vollständig das Schwarz seiner Haare. Die Fünfzig hatte Anayo sicher schon überschritten. Er kam ihr bekannt vor, doch das sagte ihr nur ein vages Gefühl, nicht ihr Wissen.
»Freut mich sehr. Ich bin Eveline Dupont.« Er hatte seinen ganzen Namen genannt und so tat sie es ihm gleich.
»Freut mich ebenfalls.« Anayo lächelte ihr zu und hangelte sich zu Nathan und Ava.
Naomi und Alex holten drei Reisetaschen aus der Kapsel. Alle hatten die Größe einer Aktentasche. An Bord der Crew-Schiffe durften nur ein paar private Sachen mitgenommen werden. Der Rest wurde vorab mit einem Frachter zur ISS transportiert. Das erklärte die Unmengen an Kleidung und die vielen Essensrationen, die der Dream Chaser vor wenigen Tagen gebracht hatte.
Naomi wandte sich an Eveline. »Zeig ihnen schon mal ihr Quartier und die Station. Wir gehen inzwischen zu Juri und Domas, falls sie Hilfe benötigen.«
Eveline wollte widersprechen, hielt aber im letzten Moment inne. Naomi war beim Hinflug vor drei Monaten die Leiterin ihres Flugmanövers gewesen. Wenn sie ihr eine Anweisung gab, musste Eveline diese befolgen. Davon abgesehen musste sich schließlich jemand um Nathan und Anayo kümmern – und um Ava.
Die zweite Kapsel durchlief vermutlich noch den Hard-Docking-Prozess. Wenn sie sich beeilte, käme sie Naomis Anweisung nach und könnte außerdem die anderen Neuankömmlinge empfangen. Sie durfte keine Zeit verlieren.
Mit einem Lächeln drehte sie sich zu den Dreien um, die neben Mikail schwebten. Für ihn schienen sie gerade alle nicht zu existieren.
»Dann zeige ich euch erst mal den Gaia-Komplex. Folgt mir.« Schnell hangelte sie sich vor, sodass sie die Führung übernahm.
»Das Modul, an dem ihr gerade angekommen seid, ist Gaia-2, hier werden Versuche durchgeführt. Hauptsächlich Materialversuche. Die Ausrüstung hier an der Wand gehört euch, die wird von uns nicht genutzt. Die Passwörter für die Laptops kleben unten dran.« Eveline klopfte auf eine Haltestange.
»Die Griffe nutzt ihr zum Fortbewegen und Bremsen. In der Nacht zeigen kleine Leuchtstreifen, wo sie sind. Immer von zweiundzwanzig bis sechs Uhr ist die Nachtbeleuchtung an. Eure Handys müsst ihr hier manuell auf UTC null stellen und die automatische Zeiterkennung deaktivieren. Andernfalls passt sich das Handy permanent der Zeitzone an, die wir gerade überfliegen. Das wäre sehr unpraktisch.« Sie hangelte sich zu einem Durchgang in der Mitte des Gaia-1-Moduls und wartete darauf, dass die anderen ihr folgten.
»Hier oben geht es zum Gaia-3-Modul, da werden Kräuter, Obst und Gemüse für die Gäste im Gaia-Komplex angebaut. Da der Teil der Station unbesetzt war, habe ich mich darum gekümmert. Jemand von euch wird das nun übernehmen. Ich zeige morgen, was es da zu beachten gibt. Es ist nicht schwer, das meiste passiert automatisch. Aber das hat Zeit. Ich glaube, heute müsst ihr erst mal ankommen.«
Gemeinsam setzten sie ihren Weg durch die Station fort. Am Ende des Gaia-1-Moduls hoben sich links drei weiße Falttüren von der goldgelb gestrichenen Modulwand ab.
»Wir befinden uns im Gaia-1-Modul, das als Hotel konzipiert ist. Es gibt zwei Schlafräume. Da werdet ihr und die anderen Neuzugänge untergebracht. Eure wird die linke Kabine sein. Ich gebe die Namen ein. Hier verliert jeder schnell die Orientierung. Einmal gedreht, schon stimmen die Richtungen nicht mehr. Aber daran gewöhnt ihr euch.« Auf dem Touchpad tippte sie die Vornamen ein. Dann drehte sie sich zur Seite und deutete auf eine Nische in der Wand gegenüber der Falttüren.
»Das ist die Küche. Sie ist so aufgebaut, dass alles gleich erreicht werden kann. Da oben findet ihr Wasser und Essen. Wenn die Vorräte zur Neige gehen, sagt Bescheid, wir füllen sie dann auf. Rechts ist Besteck. Außerdem sind dort Tabletts. Es ist alles magnetisch, da herumfliegende Messer und Gabeln gefährlich sind. Da manche Geräte auf Magnete empfindlich reagieren, müssen die Tabletts in diesem Modul bleiben. Links ist der Hydrator samt Foodmaker, in dem ihr euer Essen warmmachen könnt. Die Beschriftung erklärt alles. An der linken Seite ist auch die Bedienungsanleitung festgeklebt.« Sie zeigte auf einen Schrank in der Küche. »Hier findet ihr Putzutensilien. Sollten sich Essen oder Wasser verselbstständigen, versucht es gleich wieder einzufangen, bevor es in die Lüftungsanlagen gerät.« Während einer Redepause drehte sie sich zu den dreien herum.
Anayo betrachtete alles mit der Faszination eines Kindes, während Nathan überfordert wirkte und Ava schien genervt. Eveline würde das mit großer Sicherheit ein zweites Mal erklären müssen. Der erste Tag brachte zu viel Input mit sich, dadurch würden sie morgen das Meiste vergessen haben.
»Hinter der Tür ist der Sanitärbereich.« Eveline zog die Tür auf. »Hier hängt nochmal eine Anleitung zur Benutzung der Toilette. Daneben ist eine Dusche eingebaut. Wenn ihr drin seid, verschließt die Tür fest und verriegelt sie. Ist sie richtig zu, seht ihr ein grünes Licht. Sie arbeitet mit Wasserdampf. Ihr gebt die Temperatur ein und drückt auf Start. Sie läuft fünfzehn Minuten.« Sie beneidete die Besatzung des Gaia-Komplexes um die Dusche. Es war deutlich effektiver, als immer nur feuchte Tücher zum Waschen zu benutzen.
»Der Rest des Moduls wird als Gemeinschaftsraum genutzt. Hinter den Türen sind Schränke, die mit magnetischen Spielen und Büchern aller Genres ausgestattet sind. Der Fernseher hat eine große Filmauswahl.« Eveline hielt kurz inne und wandte sich an die Neuankömmlinge.
»Wollt ihr jetzt noch den Rest der Station sehen oder lieber später?« Wenn sie sich für Letzteres entscheiden würden, könnte sich Eveline zur Rasswet begeben. Die Neuen dürften dort bald an Bord kommen.
»Tut mir leid, aber ich brauche eine Pause«, gestand Nathan, dessen Gesicht langsam an Farbe verlor. Eveline nickte. Sie konnte also rechtzeitig aufbrechen. Hoffentlich verbarg sie ihre Freude darüber gut.
»Okay. Kommt rein«, sagte sie und schwebte in das Schlafabteil der drei Neuankömmlinge. »Dort in den Kabinen sind festgegurtete Schlafsäcke. Jede Schlafnische kann mit einem Sichtschutz abgeschottet werden. Rechts oben ist ein Medikamentenschrank. Dort ist auch was gegen Kopfschmerzen und Übelkeit drin. Daneben sind Tüten befestigt, falls ihr euch übergeben müsst. Während der ersten Tage haben manche die Raumkrankheit.«
Oft wurde sie auch als die Seekrankheit der Raumfahrer genannt und jeder zweite Astronaut hatte damit Schwierigkeiten. Doch nach drei Tagen waren solche Anpassungsschwierigkeiten in der Regel überstanden. Ein Blick auf Nathan verriet, dass er der statistische Zweite war. Naomi und Aki hatten die ersten Tage blass ausgesehen und ihnen war oft schwindelig gewesen.
»Ich lass euch jetzt allein und komme in etwa drei Stunden wieder«, versprach sie und verließ das Modul.
Wenige Minuten nach der Einleitung des Hard-Docking-Vorgangs erschienen Naomi und Alex, um zu erfahren, wie das Manöver verlaufen war. Während Juri ihnen alles erzählte, verließ Domas das Rasswet-Modul.
Ständig fuhr er sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. Noch immer hatte die Nervosität ihn fest im Griff. Sie ließ sich nicht abschütteln, obwohl alles reibungslos verlaufen war.
Das Unity-Modul war nah, weshalb die Stimmen der Mannschaftskameraden trotz des lauten Brummens und Ratterns der Kühl- und Lüftungssysteme zu ihm drangen.
Er nahm sich einen Trinkwasserbeutel, entriegelte ihn und trank. Das Wasser war eine Wohltat.
Ein Blick auf die Box mit den vielen leeren Tüten zeigte ihm die notwendig werdende Neubefüllung. Es war eine monotone Arbeit, deshalb machte sie niemand gern.
Domas lenkte sich ab, indem er seinen Putzdienst einfach etwas vorzog. Am Abend würde er den Neuankömmlingen die vorschriftsmäßige Sicherheitseinweisung geben und danach wollte er heute zeitig schlafen gehen. Die letzte Stunde hatte ihn ausgelaugt. Doch eine Sache konnte er immer noch nicht verstehen: Warum war ein so großes Risiko in Kauf genommen worden? Die oberste Devise in der Raumfahrt lautete, lieber auf Nummer sicher zu gehen. Das Manöver war dank Mateos Kompetenz gelungen, aber es hätte auch schiefgehen können.
Domas hatte eine Seite des Unity-Moduls gesäubert und ein leichter Geruch nach Zitrone hing in der Luft. Es würde bald Zeit, die Neuen zu begrüßen. Gerade verstaute er die Putzutensilien, da durchquerte Eveline das Modul.
»Solltest du nicht bei den Neuen sein? Naomi meinte, du kümmerst dich um sie.« Sein Tonfall war unbeabsichtigt strenger ausgefallen als nötig. Aber wenn sie einfach abgebrochen hatte, dann hatte sie eine Anweisung nicht befolgt und das durfte nicht vorkommen.
Eveline bremste ab und sah betroffen zu ihm. Ihr war Domas Verdacht offenbar nicht entgangen. »Sie brauchen erst mal eine Pause. Ich habe ihnen gesagt, ich komme später noch einmal vorbei, um ihnen die ISS zu zeigen. Zudem können wir doch gleich alle sechs herumführen.«
Domas ahnte, dass das nicht wirklich der Grund war, weshalb Eveline die Neuen alleingelassen hatte. Sie wollte die Besatzung der Orel-Kapsel sehen. Aber sie hatte recht. Sie mussten nicht zwei Führungen machen, eine für alle genügte.
»Ich begleite dich«, sagte Domas. Als sie bei Rasswet eintrafen, musste Eveline am Zugang des Moduls warten, denn es war zu eng. Auch Alexander und Naomi schwebten ins Sarja-Modul, um Juri und Domas Platz zu machen – immerhin hatten sie das Manöver überwacht.
Gemeinsam überprüften sie, ob die Kapsel mit der ISS korrekt verbunden war.
»Wir öffnen jetzt«, informierte Domas die Passagiere durch ein Mikro an der Konsole. Parallel dazu entriegelte Juri die Lukentür.
Der erste Neuankömmling hangelte sich heraus, es war Mateo. Dieser breitete freudig die Arme aus.
»Schön, dich zu sehen«, sagte Domas, umarmte ihn und klopfte dem Spanier auf die Schulter, bevor dieser sich zu den anderen weiterhangelte.
Es folgte bereits der nächste Passagier, auf dessen Anzug die belgische Flagge prangte.
Domas und Juri halfen ihm ins Modul. Das Gesicht des Mannes war kalkweiß und er hatte eine der Tüten für etwaiges Erbrechen fest in der Hand. Nur die fehlende Schwerkraft schien ihn aufrecht zu halten.
»Das ist Noah van Burken. Ihm bekommt die Schwerelosigkeit nicht so gut«, sagte Mateo hinter Domas. Der Spanier untertrieb.
Einen Moment dachte Domas darüber nach, Noah direkt zu seinem Quartier zu bringen. Vielleicht half es ihm jedoch, kurz an einer Stelle zu verharren.
»Geht es?«, fragte er Noah. Seine Blässe beunruhigte Domas. Er sah alles andere als gesund aus.
»Ja«, antwortete Noah gepresst und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
»Ich gebe dir gleich was gegen die Übelkeit. Das ist nur Gewöhnungssache. In ein paar Tagen ist das schon vorbei«, sagte Domas. Normalerweise ließen sie Astronauten die Raumkrankheit besser ohne Medikamente durchstehen, damit die Gewöhnung an die Schwerelosigkeit schneller eintrat. Bei Noahs Verfassung hielt er jedoch eine Tablette für sinnvoll, die den Magen beruhigte.
Noah stöhnte leise auf. Für ihn wäre wohl »erst vorbei« treffender als »schon«.
Domas bedeutete Juri, Noah zu übernehmen. Sofort fasste sein Kollege den untersetzten Mann am Arm, um ihn aus dem Modul zu ziehen.
Die letzte Passagierin hatte gewartet, bis Noah Platz machte, und verließ die Kapsel ohne Hilfe. Die Frau war zierlich und machte Aki den Platz des jüngsten Besatzungsmitglieds streitig.
»Hi. Ich bin Yara Franke.« Sie streckte Domas ihre rechte Hand entgegen, mit der linken hielt sie sich an einer Haltestange fest. Ihr Sidecut erinnerte ihn an seine zwölfjährige Tochter Alicja.
»Freut mich. Domas Wozniak, der Kommandant der Mission.«
»Kommt, wir müssen uns beeilen«, sagte Mateo hinter ihm.
Domas fröstelte, dennoch drehte er sich betont ruhig zu seinem Freund um. »Wozu die Eile?«
Juri und Noah waren verschwunden, zusammen mit Naomi. Offensichtlich hatten sie beschlossen, den Belgier nicht unnötig warten zu lassen.
Ein lautes Knacken tönte aus den Lautsprechern und verstummte. Obwohl die Anzeigen keine Temperaturveränderungen anzeigten, fror Domas plötzlich.
Mateos Blick schien Domas zu durchdringen und sorgte dafür, dass er sich nackt fühlte. Die Augen des Spaniers wurden größer. »Ihr wisst nicht, warum wir hier sind.« Mateos Stimme klang höher als zuvor.
Aus dem scheinbaren Absinken der Temperatur wurde das Gefühl, in einem Eisblock festzufrieren.
Schweigen entstand, das Mikails Stimme aus den Lautsprechern unterbrach. »Alle in den Gaia-Komplex. Sofort.«
Mateo wandte den Blick ab und drehte sich um. »Ich erkläre es euch auf dem Weg. In zehn Minuten sollte von uns besser keiner mehr hier sein. Die Gaia-Module sind sicherer.«
Domas schluckte, doch das Gefühl von Mehl, das seinen Mund ausfüllte, blieb. Nach einem tiefen Atemzug sagte er: »Eveline und Alex, bringt Yara zum Gaia-1. Keine Umwege.« Die Sicherheit der Crew oblag seiner Verantwortung. Wenn Mateo ihnen sagte, es bestünde hier auch nur die geringste Gefahr, musste er handeln. Dieser würde triftige Gründe haben, warum er sie nicht zu den Raumkapseln schickte.
Der Schrecken stand ihnen allen ins Gesicht geschrieben und dass sie nicht wussten, woher die Gefahr kam, verschlimmerte die Lage noch.
»Aber was …«, setzte Eveline an, doch Domas unterbrach sie.
»Los jetzt, das ist ein Notfall! Wir sind dafür ausgebildet, einen kühlen Kopf zu bewahren. Ihr geht zum Gaia-1 und nehmt jeden mit, der euch begegnet.«
Die beiden nickten. Seine Ansprache schien geholfen zu haben, denn sie hasteten nicht überstürzt davon, sondern sahen sich im Schweben um, ob noch jemand zu sehen war.
Domas begab sich mit Mateo in die hintersten Module, um sicherzugehen, dass niemand zurückblieb. Juri und Naomi hatten sich anscheinend bereits mit Noah zu dessen Kabine begeben, aber er verließ sich nicht auf eine Vermutung. Mikails und Akis Aufenthaltsort kannte er nicht.
Ein unangenehmes Ziehen breitete sich in Domas’ Magengegend aus. Als er nach einer Stange griff, zitterte seine Hand.
Mateo schwieg noch immer, wischte aber sein Gesicht, auf dem sich Schweiß gesammelt hatte.
»Also, was ist los?«, fragte Domas.
Eine Weile suchte der Spanier nach den richtigen Worten, denn er setzte wiederholt zu einem Satz an, während er sich wie ein Ertrinkender durch die Gänge hangelte.
»Sag schon!« Sie befanden sich bereits im Destiny-Modul und nur noch Harmony trennte sie vom Gaia-1. Zuerst wollte Domas erfahren, vor welcher Herausforderung sie standen, und dann entscheiden, wie sie sich am besten verhielten.
Als sie das Columbus-Modul überprüften, antwortete Mateo endlich: »Es ist eine Evakuierungsmaßnahme der Erde.«
Domas hielt sich fest und bremste ruckartig ab. »Eine Evakuierung?« Unmöglich! Übelkeit explodierte in ihm.
»Ja.«
Domas schloss bei Mateos Bestätigung einen Moment die Augen. Sein Körper bebte, selbst sein Atem schien zu zittern. Ein hohes Piepen übertönte nahezu alle Geräusche. Die lauten Lüftungssysteme verklangen zu einem Untergrundrauschen. »Was ist passiert?« Seine eigene Stimme klang fremd für ihn.
Mateo zog an Domas' Arm. Vergebens. Domas klammerte sich an einem Haltegriff fest. Sein ganzer Körper war erstarrt, während sich seine Gedanken überschlugen. Er konnte keinen davon wirklich fassen. Es waren zu viele auf einmal. Seine Familie, die Vergangenheit, die Gefahr, ungesagte Dinge, der Verlust.
»Es wird passieren, in wenigen Minuten. Komm!« Mateo zog fester. Domas’ Hand rutschte vom Griff ab und sie trieben durch das Modul. Ein Gerät, das an eine Wand geschnallt war, bremste ihn. Der Schmerz drang nur dumpf zu ihm durch.
Jemand rief etwas, aber er verstand weder die Worte, noch erkannte er die Stimme. Eine Hand umklammerte seinen Arm und zog ihn die letzten Meter. Mateo folgte ihm und schloss die Luke vom Gaia-1-Modul. Der Gaia-Komplex war von der ISS abgeschottet. Dieser Gedanke holte Domas aus der Starre.
Er erkannte Mikail, der jetzt seinen Griff löste und zur Steuerzentrale zurückkehrte. Hektisch arbeitete der Schwede weiter. Manchmal durchdrang ein kurzes Piepen das Hämmern der Tastatur. Im Licht der Lampen erkannte Domas den Schweißfilm, der das Gesicht des Technikers bedeckte. Das unentwegte Klappern der Tasten verstummte und Mikail flüchtete nach oben ins Gaia-3-Modul.
Domas war allein mit Mateo, den er jedoch nicht beachtete. Sein Blick war auf das Panoramafenster gerichtet. Dort draußen sah er es: Eine gleißend helle Feuerkugel, die auf die andere Seite der Erde zuraste. Die Schwärze des Alls hatte die lauernde Gefahr verborgen. Noch in der Atmosphäre zerbrach der Asteroid in zwei Teile.
Domas’ Körper erbebte unter seinen Herzschlägen. Die Zeit schien stillzustehen und doch zu rasen. Jede Sekunde dehnte sich und war zu wertvoll, um sie vergehen zu lassen. So wenige Sekunden, die noch blieben. Sekunden, bis sein früheres Leben zu Ende sein würde, ausgelöscht von einer Naturgewalt, der das Schicksal der Menschheit gleichgültig war. Die Helligkeit ließ nach, die drohende Ohnmacht verdunkelte zunehmend seine Welt.
Domas wurde zur Luke gestoßen, durch die er nach oben gezogen wurde. Mikail verriegelte die dicke Stahltür. Zwölf Menschen waren nun im Gaia-3-Modul eingepfercht. Um sie herum rotierten langsam Zylinder mit Pflanzen und lediglich das violette Licht der UV-Lampen spendete etwas Helligkeit.
Mateo fehlte.
Erleichtert atmete er auf, als sich die Luke über ihm schloss. Im Trainingscenter hatte er sich als der beste Pilot bewiesen. Mikail hatte die letzten Tage ein Steuerungssystem installiert, das unabhängig von der Erde funktionierte. Dieses ähnelte dem der LOP-G, für das er ausgebildet worden war. Dadurch qualifizierte er sich für diese letzte Raumfahrtmission zur Rettung der Menschheit.
Mateo kniff geblendet die Augen zusammen, als das Licht durch das Fenster immer heller wurde – und plötzlich erlosch. Trotz des wochenlangen Trainings mit einer Situationssimulation konnte er dem Drang nicht widerstehen, zur Erde zu sehen.
Er hatte sich mit allen Details dieser Katastrophe beschäftigt, doch jetzt wo sie eintrat, war alles wie ausgelöscht. Zwei riesige Druckwellen breiteten sich scheinbar langsam über die Erdoberfläche aus, obwohl sie mit unbarmherziger Zerstörungskraft vorpreschten. Nur wenige Augenblicke später färbten sich ganze Länder rot und verschwanden unter dunklen Rauchschwaden. Glühend rote Brocken schossen in den Weltraum. Zum Glück nicht zu ihrer Position, das wäre ihr Todesurteil gewesen.
Dort unten herrschten in diesem Moment apokalyptische Zustände. Gebäude, die zusammenfielen wie Kartenhäuser. Hitzewellen, die Menschen binnen eines Lidschlages in Staub verwandelten. Durch die Feuerglut brannten die Lungen bei jedem Atemzug. Feuerbälle durchbrachen die Rauchschwaden und stürzten auf die Bevölkerung der Erde hinab.
98 Prozent der Weltbevölkerung würden in den nächsten zwei Tagen sterben. Von acht Milliarden Menschen gäbe es nur noch 160 Millionen – wenn alle Bunker und Höhlensysteme standhielten. Umso wichtiger war es, dass sie von hier die Atmosphäre untersuchten und erst Entwarnung gaben, sobald das Leben an der Oberfläche wieder möglich war.
Mateo wandte den Blick ab. Für die Menschen kam jede Hilfe zu spät. Die Verzweiflung wollte ihn überwältigen, aber auch darauf war er vorbereitet. Er musste seine Gefühle unter Kontrolle halten. Die Astronauten brauchten ihn. Über ihren Kopf hinweg war entschieden worden, sie im Unklaren zu lassen. Das könnte sich als ein großes Problem herausstellen. Es würde Tage dauern, vielleicht Wochen, bis sie die Situation akzeptierten. Ihnen wurde die Möglichkeit genommen, sich von ihrer Familie zu verabschieden. Sie erfuhren nicht, ob ihre Partner und Kinder überlebt hatten. Erst mit der Rückkehr zur Erde würden sie Gewissheit haben – sie alle.
Laut der Experten würden sie in zwei Jahren landen können, doch womöglich kehrten sie nie zurück. Innerhalb weniger Sekunden alles zu verlieren, veränderte jeden. Hoffentlich schaffte es die Crew, das zu verarbeiten – zumindest in einem Maß, das es ermöglichte, ihre Aufgaben zu erledigen. Noah musste zeitnah wieder einsatzbereit sein, denn er war für Traumabewältigung ausgebildet, nicht Mateo.
Nachdem er vor drei Monaten vom nahenden Impakt erfahren hatte, war er selbst in eine ähnliche Starre verfallen wie jetzt Domas. Dann kam die Wut über die Ungerechtigkeit des Schicksals, die Trauer um den Verlust, die Sorge um seine Freundin und ihr ungeborenes Kind. Nur das Versprechen, dass die Familien in Bunkern untergebracht werden würden, hatte verhindert, dass er endgültig zusammengebrochen war. Im Gegensatz zur Crew der ISS hatte er die Möglichkeit gehabt, sich den Gefühlen auf der Erde hinzugeben. Er musste nicht so funktionieren, wie es von den Astronauten verlangt wurde.
Noah stellte aktuell keine große Unterstützung dar. Das war Mateo schon kurz nach Eintritt in den Orbit bewusst geworden. Zwei Minuten im Weltraum hatten genügt, damit der Psychologe einer Kalkwand ähnelte. Mateo musste die erste Zeit allein für seine Kollegen und die anderen Passagiere da sein. Wenn er es nicht tat, wer dann?
Doch zuerst musste er Beschädigungen durch Trümmerteile verhindern. Er lenkte er die ISS so weit wie möglich von der Erde weg. Der Höhenzähler stieg rasch. Laut der Berechnungen der Forscher flogen sie an den Einschlagstellen entlang, wenn die Trümmer bereits wieder auf die Erde herabregneten.
Würde er nicht den sterbenden Planeten sehen, wüsste er nichts von der Katastrophe. Kein Laut war zu ihnen gedrungen, keine Erschütterung.
Immer höher lenkte er die ISS, bis bei 493 Kilometern der Höhenmesser ausfiel. Der Kontakt zur Erde brach endgültig ab. Jetzt waren sie auf sich allein gestellt.
Das violette Licht verlieh dem Anblick des Modulinneren etwas Unwirkliches. Es erinnerte an einen Albtraum. Die Schatten der Gesichter wirkten unnatürlich dunkel. Alle hatten sich in freie Lücken zwischen den großen Zylindern geflüchtet und schwiegen. Die schwere Stille eines Friedhofes erfüllte das Modul.
Ava hörte lauten Atem. Leicht zitternd, schneller vor Aufregung. Wenige Augenblicke später erkannte sie: Es handelte sich um ihren eigenen. Sie knirschte mit den Zähnen. Sie hatten sich noch keine Minute hier eingeschlossen und sie offenbarte allen ihre Angst.
Fünf Sekunden hielt sie die Luft an, dann atmete sie aus. Das wiederholte sie, bis ihr Atem ruhiger wurde.
Ein Würgen erklang. Anayo kümmerte sich um den Mann, der sich übergeben musste. Dieser trug noch den weißen Rettungsanzug. Sie bemerkte die belgische Flagge an seinem Ärmel. Seinen Namen konnte sie nicht sehen. Entgegen aller Wahrscheinlichkeit stieg ihr der Geruch von Erbrochenem in die Nase. Dabei verhinderte die Tüte, dass sich sein Mageninhalt in dem Modul verteilte. Mehrfach übergab sich der Fremde, mit jedem Mal schien es lauter zu werden.
Ava rümpfte die Nase und zog sich weiter weg von ihm. Aus dem Augenwinkel nahm sie eine Bewegung wahr. Nathan hangelte sich zu dem geisterhaft bleichen Kerl.
Sie hatte den Briten heute Morgen auf dem Weg zum Shuttle kennengelernt. Da er keine Fragen stellte und nicht unentwegt redete, störte er sie nicht. Vermutlich hätte er die ganze Zeit nicht ein Wort gesprochen, da Ava selbst schwieg. Anayo hingegen fragte sie beharrlich aus, als wären sie bei einem Speeddating. Wo kam sie her, was war ihr Fachgebiet, hatte sie Familie und so weiter. Sie überließ Nathan das Rede-und-Antwort-Stehen. Seine überkorrekt höfliche Art erfüllte alle britischen Klischees, die sie kannte. Fragen zu ignorieren, empfand er wohl als unhöflich, denn er war Anayo die ganze Zeit nicht eine Antwort schuldig geblieben.
Nathan bewegte sich weiter. Anscheinend steuerte er Anayo an. So, wie sie den Briten einschätzte, plante er, dem Mann zu helfen. Er hätte rufen können, aber das wäre ihm sicher wieder unhöflich vorgekommen. Sie alle schwiegen. Im Modul war nur das Brummen der Lüftungsanlage und das kaum wahrnehmbare Surren der rotierenden Gewächszylinder zu hören.
Ava verschanzte sich hinter ihrem Buch, das sie mitgenommen hatte. Gegen den Asteroiden konnte sie nichts unternehmen. Der Rest der Besatzung trieb schweigend im Modul. Ein Teil der Crew versuchte zu begreifen, was geschehen war; der andere versuchte, mit dem Ereignis umzugehen. Ohne das Buch, das sie aufgeschlagen wie einen Schild vor sich hielt, würde früher oder später jemand das Gespräch mit ihr suchen. Aber Ava wollte mit keinem reden. Sie wollte hier auch keine Freundschaften schließen. Auf der Erde war sie kein Menschenfreund gewesen und würde das hier oben nicht ändern. Bücher hingegen liebte sie. Sie entführten sie schon immer in fremde Welten, in denen sie ihre eigenen Probleme vergessen konnte. Es war nur eine Frage der Zeit gewesen, bis sie selbst angefangen hatte zu schreiben, und schließlich hatte sie vier Romane unter einem Pseudonym veröffentlicht. Ihre Forschungskollegen hätten sie nicht ernst genommen, wenn sie wüssten, dass sie über Fabelwesen schrieb.
Das fünfte Manuskript ging in diesem Augenblick auf der Erde in Flammen auf. Das Wissen versetzte ihr einen Stich. Fast acht Jahre hatte sie an den Atilia-Chroniken geschrieben. Sie hatte sie beenden wollen, bevor sie zur ISS aufbrach, doch sie war zu langsam gewesen. Sie würde nie mehr daran schreiben und nie wieder würde sie jemand lesen. Sie räusperte sich. Es war richtig, den Laptop zurückgelassen zu haben. Sie musste sich hier konzentrieren. Ihr Pseudonym verbrannte. Genauso wie die Gebäude, die Menschen, die Tiere und Pflanzen. Erneut räusperte sie sich. Ihr Griff um das Buch wurde fester. Diese Gedanken musste sie beiseiteschieben, bevor sie in Lethargie verfiel wie die anderen.
Sie drehte sich, damit das Licht des Zylinders auf die Buchseiten schien. So versank sie in eine Welt voller Magie und begleitete Leyland in seinem Kampf um Naros.
»Ich helfe ihm rüber.« Evelines Stimme durchschlug die Stille wie ein Pistolenschuss und riss Ava aus der Geschichte. Die Astronautin schwebte neben Nathan, der bei Anayo und dem Fremden angekommen war. Sie schob sich an dem Briten vorbei und ergriff einen Arm des Belgiers. Nathan arbeitete als Botaniker. Vermutlich wollte er mit Heilkräutern helfen.
Erneut senkte sie den Blick auf die Buchseiten, die Ablenkung versprachen. Die zurückgekehrte Stille wich einer Frage.
»Was geht hier vor sich?«, fragte Juri. Er hatte sich ihr gegenüber nicht vorgestellt, aber Alex hatte ihn zuvor so genannt.
Sie hielt das Buch ein wenig tiefer, um alles zu überblicken. Einer der ISS-Astronauten fixierte Nathan, der mit seiner Unterstützung seine Aufmerksamkeit erregt hatte.
Nathan strich mit seinen Händen über die Hose, setzte zu einer Antwort an, brach aber nach der ersten Silbe ab. Ihre Blicke trafen sich.
Ava schwieg und überließ ihn sich selbst. Was geschah, bewegte sie, aber sie konnte nichts an der Situation ändern. Das Lesen lenkte sie ab. Mit dem Asteroideneinschlag würde sie sich in den nächsten Monaten noch genug beschäftigen müssen. Regelmäßig die Werte der Atmosphäre auswerten, Prognosen aufstellen …
»Es …« Nathan räusperte sich. »Es tut mir leid. Wir sind hierhergeschickt worden, weil ein Asteroid einschlägt und die Erdoberfläche zerstört. Jetzt gerade. Wir sollen die Erde beobachten, Daten sammeln und Entwarnung geben, wenn wieder Leben möglich ist.« Erneut räusperte er sich.
In ihr stieg Mitleid auf, verflog aber innerhalb von Sekunden. Nathan trug selbst die Schuld an seiner Situation. Niemand zwang ihn zu antworten. Er sollte lernen, egoistischer zu sein. Andernfalls würden die anderen ihn ausnutzen und er mit Pauken und Trompeten untergehen.
»Zwei Jahre müssen wir hier …«, sagte Nathan und sprach nicht weiter.
Das Schweigen dehnte sich, alle Geräusche verklangen, selbst die Lüftungsanlage und das leise Surren der Zylinder schienen innezuhalten. Die Stille erinnerte sie an eine Beerdigung, bei der niemand wagte, auch nur zu niesen.