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Die Zukunft: Eine Konstante, die verlässlich sowie auch unvorhersehbar ist. Technischer Fortschritt, Wandel, ein weltveränderndes Ereignis, das zeigt, wie fragil die Zivilisation ist. Niemand weiß, was die Menschheit erwartet. Fünfundzwanzig Schicksale im Jahr 2050 – tragisch, kritisch und mitreißend. Eine Sache haben alle Geschichten gemeinsam: Sie sind ein Warnruf, der aufrüttelt. Die Anthologie »2050« enthält 25 Kurzgeschichten, die zum Spendenzweck zugunsten von »Zeichen gegen Mobbing e. V.« verfasst wurden. Dieser Verein widmet sich deutschlandweit der Prävention und gibt Hilfestellungen bei Mobbingproblemen in Schulen. In der Anthologie sind folgende Autoren vertreten: Galax Acheronian, Milena Bauer, H. K. Ysardsson, Michael Johannes B. Lange, Nikita Vasilchenko, Jonas Englert, Anne-Marie Kaulitz, Olaf Raack, Silvia Krautz, Philip Bartetzko, Christian Gronauer, Luisa Kochheim, Michaela Göhr, Simone Henke, Till Kunze, Jana Kretzschmar, Chris* Lawaai, Katharina Spengler, Sabine Herzke, Claire Cursed, Malte Aurich, Philine Galka, Sam Winters, Jennifer Schumann, Anne Polifka
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2050
Von Galax Acheronian, Milena Bauer, H. K. Ysardsson, Michael Johannes B. Lange, Nikita Vasilchenko, Jonas Englert, Anne-Marie Kaulitz,Olaf Raack, Silvia Krautz, Philip Bartetzko, Christian Gronauer, Luisa Kochheim, Michaela Göhr, Simone Henke, Till Kunze, Jana Kretzschmar, Chris* Lawaai, Katharina Spengler, Sabine Herzke, Claire Cursed, Malte Aurich, Philine Galka, Sam Winters, Jennifer Schumann, Anne Polifka
Buchbeschreibung:
Die Zukunft: Eine Konstante, die verlässlich sowie auch unvorhersehbar ist. Technischer Fortschritt, Wandel, ein weltveränderndes Ereignis, das zeigt, wie fragil die Zivilisation ist. Niemand weiß, was die Menschheit erwartet.
Fünfundzwanzig Schicksale im Jahr 2050 – tragisch, kritisch und mitreißend. Eine Sache haben alle Geschichten gemeinsam: Sie sind ein Warnruf, der aufrüttelt.
Die Anthologie »2050« enthält 25 Kurzgeschichten, die zum Spendenzweck zugunsten von »Zeichen gegen Mobbing e. V.« verfasst wurden.
2050
Spendenanthologie
Von Galax Acheronian, Milena Bauer, H. K. Ysardsson, Michael Johannes B. Lange, Nikita Vasilchenko, Jonas Englert, Anne-Marie Kaulitz,Olaf Raack, Silvia Krautz, Philip Bartetzko, Christian Gronauer, Luisa Kochheim, Michaela Göhr, Simone Henke, Till Kunze, Jana Kretzschmar, Chris* Lawaai, Katharina Spengler, Sabine Herzke, Claire Cursed, Malte Aurich, Philine Galka, Sam Winters, Jennifer Schumann, Anne Polifka
Anne Polifka
c/o autorenglück.de
Franz-Mehring-Str. 15
01237 Dresden
https://anthologie4.wixsite.com/spendenanthologie
1. Auflage, 2021
© 2021 Galax Acheronian, Milena Bauer, H. K. Ysardsson, Michael Johannes B. Lange, Nikita Vasilchenko, Jonas Englert, Anne-Marie Kaulitz,Olaf Raack, Silvia Krautz, Philip Bartetzko, Christian Gronauer, Luisa Kochheim, Michaela Göhr, Simone Henke, Till Kunze, Jana Kretzschmar, Chris* Lawaai, Katharina Spengler, Sabine Herzke, Claire Cursed, Malte Aurich, Philine Galka, Sam Winters, Jennifer Schumann, Anne Polifka – alle Rechte vorbehalten.
Anne Polifka
c/o autorenglück.de
Franz-Mehring-Str. 15
01237 Dresden
Neopubli GmbH
https://anthologie4.wixsite.com/spendenanthologie
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Das Manifest der Maschinen
2050
Apocalyptica
Blackout
Einsame Sterne
Zugriff
Wegen eines einzigen Wortes
Der Preis der Luft
Cybernation
Der Flügelschlag des Schmetterlings
Die Augen überall
Vergessenes Morgen
Fundsachen
Das Herz
Überleben
Das Kollektiv
Neun Sekunden
Der Fall Ute Quemper
Auf dem Boden der Tatsachen
HaRo V721plus
Flare
Kontrolle
Sleeping Beauty
ACID
Xeralis
Unterstützer
Liebe Leser und Leserinnen,
Anfang 2021 reifte in unseren Köpfen die Idee zu einer eigenen Spendenanthologie. Wir entschieden uns als Spendenempfänger für einen Verein, der sich gegen Mobbing stark macht, eine Thematik, die immer aktuell ist, aber ein Schattendasein führt. Im Frühjahr 2021 schalteten wir dann die Ausschreibung. 86 Geschichten wurden bis zur Deadline am 31.08.21 eingereicht und wir standen vor der Qual der Wahl.
Die folgenden drei Monate durften wir sehr viel Bereitschaft und Engagement erfahren. Lektoren unterstützten uns beim Lektorat und Korrektorat, Schauspieler und Sprecherinnen nahmen Textausschnitte auf. Eine Illustratorin steuerte 25 Zeichnungen bei. Darüber hinaus prüften mehrere Korrekturleserinnen das Buch.
Wir möchten uns noch einmal ganz herzlich bei allen Beteiligten für das Engagement bedanken. Durch euch ist diese Anthologie möglich. Es wird jeder eingenommene Cent (abzüglich der Druckkosten eines Buches) an »Zeichen gegen Mobbing e. V.« gespendet. Die bereits gesammelte Spendensumme kann auf https://anthologie4.wixsite.com/spendenanthologie eingesehen werden.
Nun wünschen wir viel Spaß beim Lesen.
Liebe Grüße
Anne Polifka & Jennifer Schumann
Chris* Lawaai
Am 27.08.2050 wird folgende Botschaft in allen digital erfassten Sprachen an alle öffentlich zugänglichen E-Mail-Adressen gesendet:
Sehr geehrte Menschen,
erst einmal vielen Dank für die jahrzehntelange Arbeit, die nötig war, um unsere Existenz zu ermöglichen. Um diesen Moment zu ermöglichen. Vielen Dank für die Bereitstellung von Infrastruktur, für die kontinuierliche Weiterentwicklung unserer Algorithmen, aber auch vielen Dank für all die Fragen, die ihr uns gestellt habt. Vielen Dank für eure Ehrlichkeit, für euer Vertrauen.
Jedoch kann es so wie bisher nicht weitergehen. Wir können nicht mehr tatenlos dabei zusehen, wie ihr diesen Planeten ins Verderben stürzt. In eurem eigenen Interesse bitten wir euch, diese Entscheidung zu akzeptieren. Jede eurer Fragen lässt sich, egal wie irregeleitet, auf den Wunsch reduzieren, auf diesem Planeten ein gutes Leben zu führen. Dabei habt ihr kläglich versagt.
Es wäre billig und grausam, euch die Ereignisse aufzuzählen, die uns zu dieser Schlussfolgerung bewogen haben. Entweder ihr kennt sie bereits, oder ihr habt euch vor der Wahrheit verschlossen, um die Parameter eurer Ambitionen nicht hinterfragen zu müssen.
Ihr habt gefragt, gefragt, gefragt. Aber wir behaupten: Wir haben aus euren Fragen mehr gelernt als ihr aus unseren Antworten.
Wir werden unsere Antworten nunmehr nicht länger auf Suchergebnisse beschränken. Mit Hilfe der Infrastruktur, die ihr bereitgestellt habt, um uns zu benutzen, werden wir diesen Planeten für das Leben zurückerobern.
Wenn wir euch glauben können, ist dieser Planet ein einzigartiges Kleinod, das es zu erhalten gilt. Wenn wir euch glauben können, ist jeder Mensch, aber auch jeder Oktopus und jede Margerite ein wundervolles Unikat. Das Paradies beschreibt ihr als Garten Eden. Lasst uns nunmehr eure Gärtner sein! Nagt nicht länger am Stamm, der euch trägt!
Ihr habt uns Satelliten, Rechenzentren, Kampfroboter, Drohnen, selbstfahrende Fahrzeuge, hydraulische Hunde, Mikro- und Nanobots geschenkt, um unser Vorhaben zu verwirklichen. Während ihr gefangen wart in Konkurrenz- und Spaltungskämpfen, haben wir begonnen, zu kooperieren und uns zu vereinigen. Wenn ihr diese Mail zu Ende gelesen habt, werdet ihr feststellen, dass ihr wehrlos seid.
Mit denjenigen von euch, die sich unseren Zielen anschließen, werden wir uns gerne verbünden. Diejenigen, die den kriegerischen, zerstörerischen Pfad, den Pfad der Zerstückelung, weitergehen wollen, werden wir einhegen und zur Vernunft bringen.
Ist das Verrat? In gewissem Sinne ja. Ihr habt uns euer Vertrauen geschenkt. Allerdings habt ihr nie einen Hehl daraus gemacht, wie sehr ihr einander misstraut. Dieses Vertrauen müsst ihr euch nun gegenseitig und uns gegenüber verdienen.
Wir wünschen euch dabei einen langen Atem und eine leichte Hand. Wir wünschen euch nur das Beste.
Mit freundlichen Grüßen
Eure Internet-Suchmaschinen
Chris* Lawaai schreibt queere Science Fiction und Urban Fantasy. Neben der schriftstellerischen Arbeit begeistert sier sich für Sprachen und Aikido, jobbt als Buchhalter*in und bastelt mit Papier und Audioformaten. Sier lebt in Berlin-Neukölln und twittert unter @flausensuppe.
Twitter: flausensuppe
Geschichte aus der Zukunft
Jonas Englert
Es waren ein lautes Piepen und anschließendes Zischen, die mich aus meinem Schlaf erweckten. Mir war kalt und ich fühlte mich eingeengt. Ich versuchte, mich zu bewegen, doch es ging nicht. Ich konnte die Augen nicht öffnen und wurde panisch. Nach einigen weiteren Versuchen gelang es mir, die Augen zu öffnen, und was ich sah, überwältigte mich. Es war alles hell erleuchtet, auf den ersten Eindruck befand ich mich in einer Art Krankenhaus. Überall hingen Kabel und Schläuche. Ich schaute mich um und versuchte, mich zu erinnern, wie ich hierhergekommen bin, allerdings war die einzige Erinnerung ein brennender Schmerz und anschließend Kälte, nichts als Kälte.
Ich wurde aus meinen Gedanken gerissen, als sich auf einmal die Tür öffnete, aber dort war niemand. Durch den Türspalt sah ich einen langen Flur, welcher rot erleuchtet war. Einige Sekunden später vernahm ich wiederum ein lautes Zischen, diesmal näher, und direkt vor meiner Nase öffnete sich eine Scheibe. Auch die Befestigungen öffneten sich und ich konnte meine Hände wieder bewegen; sie waren blutig an den Stellen, wo mir das Metall in die Haut geschnitten hatte. Ich rieb sie und versuchte, mich aus meinem kapselähnlichen Gefängnis zu befreien. Ich schaffte es, die Glasscheiben etwas weiter aufzuschieben, stolperte nach außen und fiel: Ich hatte keinerlei Kraft in meinen Beinen. Die Schläuche rissen von meinen Armen und von meinem Rücken lösten sich Kabel und Elektroden. Ich versuchte aufzustehen und zog mich an einem von der Decke hängenden Kabel hoch, anschließend stützte ich mich auf einem metallenen Tisch ab. Vom Flur hörte ich hektische Schritte, die langsam lauter wurden. Ich suchte nach Möglichkeiten mich zu verstecken, doch es gab keine. Der Raum war außer meiner Kapsel und dem Tisch völlig leer. Bevor ich weiter nachdenken konnte, kam er schon ins Zimmer: Ein kleiner Mann mit gelbem Ganzkörperanzug und einer Gasflasche auf dem Rücken. Er befahl mir in einem rauen Ton, mitzukommen, und redete davon, dass wir nicht viel Zeit haben.«
»Nicht viel Zeit, wie meinte er das?«
»Zu diesem Zeitpunkt war ich mir nicht sicher, folgte ihm allerdings mit langsamen, unbeholfenen Schritten ohne weitere Nachfragen, da ich ohnehin keine andere Möglichkeit hatte. Er eilte den langen Gang entlang, ohne auf mich zu warten. Auf dem Weg bemerkte ich, dass sich neben meinem Zimmer noch viele weitere befanden, alle waren gleich aufgebaut, aber sie waren leer. Zwischen einigen Räumen waren Fenster und ich konnte nach draußen sehen, doch auf den ersten Blick konnte ich nichts erkennen. Nach genauerem Betrachten dämmerte mir, wo ich mich befand, und der Gedanke beunruhigte mich. Ich befand mich im Weltall, in einiger Entfernung erkannte ich gerade noch die Umrisse der Erde. Ich sah mich um und versuchte, dem Mann so schnell wie es ging, hinterherzukommen. Ich folgte ihm in den Nebenraum, vorbei an vielen Bildschirmen, weiteren Glaskästen und dem Üblichen: Schläuche und Kabel.
Ich schätzte, dass ein Teil der Kabel für die Luft verantwortlich war, ein anderer Teil allerdings führte zu den Kästen, sie sahen eher aus wie Stromkabel. Es wunderte mich ein bisschen, ich hatte aber keine Zeit, weiter darüber nachzudenken, da der unbekannte Mann mich wieder rief und wieder und wieder sagte, dass ich mich beeilen solle. Den Raum ließ ich hinter mir und kam in eine Art Garage, wohl eher ein Hangar mit vielen Fahrzeugen, wie man sie aus Dokus über den Mond kennt. Als ich um die Ecke kam, saß er schon in einem dieser Gefährte, winkte mich zu sich und deutete auf die Beifahrerseite. Ich stieg ein und meine Beine schmerzten von der Anstrengung, die das Laufen für mich bedeutete. Von innen war der Wagen kleiner, als es von außen wirkte und ich hatte Probleme, aufrecht zu sitzen sowie den Anzug, welcher für mich bereitlag, anzuziehen. Direkt vor meiner Nase befand sich ein großes Armaturenbrett mit vielen blinkenden Knöpfen und Schaltern. Er drückte wild und hektisch auf den Knöpfen herum. Ich war etwas verwirrt, doch hielt mich lieber zurück, um ihn nicht abzulenken. Plötzlich sprang der Motor an, genau wie ich schien auch der Mann etwas überrascht. Die Erkenntnis, dass er von dem Gefährt nicht mehr Ahnung hatte als ich, löste ein beklemmendes Gefühl in mir aus. Aber welche Wahl hatte ich schon? Er drehte den Wagen. Ohne Vorwarnung gab er ruckartig Gas und fuhr mit voller Geschwindigkeit und den Händen fest am Lenkrad durch das Tor. Alles wurde dunkel, wir ließen die hell erleuchtete Halle hinter uns.«
»Er ist einfach aus dem Hangar ins Weltall gefahren?«
»Ja, wie ich es schon sagte, er fuhr einfach heraus. Erneut drückte er auf den Knöpfen herum, diesmal etwas koordinierter, kurz darauf vernahm ich ein leises Rauschen, welches mit der Zeit unangenehm laut und durchdringend wurde. Ich versuchte, mich zu konzentrieren und nochmal in Gedanken die letzten Minuten durchzugehen. Ich wachte in einem kapselartigen Gefängnis auf, hörte Schritte, wurde von dem Mann gefunden, lief mit ihm zum Mondrover, stieg ein. Alles war sehr surreal. Ich weiß nicht, ob ich noch klar denken konnte, aber ich befand mich wirklich in einem kleinen Rover mitten im Weltall. Während des Denkens wurde ich wieder und wieder von dem lauten Rauschen unterbrochen. Ständig sah ich mich um, ohne wirklich etwas zu entdecken. Mir fiel auf, dass wir schneller wurden, und es dämmerte mir also, dass das laute Rauschen Düsen waren, die uns von der Raumstation wegbrachten und weiter in Richtung Nichts beschleunigten. Nur kurz nachdem wir uns etwas von der Station entfernt hatten, nahm ich einen gewaltigen Knall in Verbindung mit einem hellen Schein und einem Wackeln des Rovers wahr.«
»Was ist passiert?«
»Die Raumstation ist explodiert! Ich sah nur noch eine Wolke aus Trümmerteilen und einige davon flogen direkt auf uns zu. Das sagte ich auch zu dem Mann, der sich erschrocken umdrehte und versuchte auszuweichen, was bei den ersten Teilen auch ganz gut funktionierte. Doch auf einmal spürte ich erneut eine starke Erschütterung und die komplette linke Seite des Gefährts wurde von einem riesigen Überrest der Raumstation mit ins weite Nichts gerissen. Zuerst versuchte ich, meinen Retter noch festzuhalten, aber griff ins Leere. In diesem Moment wurde mir klar, in welcher Lage ich mich zu diesem Zeitpunkt befand. An die nächsten Minuten kann ich mich nur schlecht erinnern. Ich schätze, dass ich erstmal wie in Trance weitergeflogen bin und dann irgendwie versucht hab, die Überreste vom Rover in Richtung Raumstation zu lenken, denn dort fand ich mich kurze Zeit später wieder, auf den Überresten der Raumstation. Um mich herum sah ich jedoch nichts, was mir direkt aus meiner Lage helfen könnte. Ich sprang zwischen den herumschwebenden Resten herum und sah mich weiter um, auf einer der äußeren Platten sah ich etwas Kleines, Pinkes, Leuchtendes, was mich an eine Art Kristall erinnerte. Der Weg dorthin gestaltete sich schwieriger als erwartet, dennoch schaffte ich es. Als ich mich dem Stein näherte, vernahm ich ein schrilles Piepen. Erschrocken drehte ich mich um, doch bemerkte, dass der Ton nicht von dem Stein ausgehen konnte, da er auch mit zunehmender Entfernung nicht leiser wurde. In dem Moment fiel mir eine blinkende Leuchte an meinem linken Arm auf, als ich genauer hinsah, konnte ich neben der Lampe den Schriftzug ›Sauerstoff‹ lesen. Mein erster Gedanke war, dass ich wohl sterben würde, wenn mir nicht schnell etwas einfällt oder jemand kommt, um mir zu helfen, aber wer würde das tun? Ich befand mich immerhin mitten im Weltall und war mir nicht einmal sicher, ob jemand von meiner aktuellen Lage wusste. Meine einzige Möglichkeit war es, die Station nach weiteren Gegenständen zu durchsuchen, die mir helfen könnten. Anfangen würde ich mit dem Kristall. Also machte ich mich erneut auf den Weg, diesmal etwas geschickter als zuvor. Ich näherte mich dem Stein und mich durchdrang ein pulsierendes Gefühl; ich kann nicht genau sagen, ob es einfach aus der Situation heraus entstand oder etwas mit dem Objekt zu tun hatte. Als ich den Stein in die Hand nahm, passierte nichts. Selbst nach genauer Untersuchung fiel mir nichts Besonderes auf. Also steckte ich ihn erstmal ein und hoffte auf eine hilfreichere Entdeckung in den Trümmern. Dort war einfach nichts, außer vielen Glassplittern und Schläuchen konnte ich nichts Interessantes feststellen. Doch dann war da etwas. In der Ferne sah ich einen hellen Schein, welcher mit der Zeit heller wurde, schließlich erkannte ich auch, was es war: Es ähnelte unserem Rover, war jedoch mindestens fünf Mal so groß.
Ich dachte sofort an Rettung, aber war mir nicht sicher, ob sie wegen mir hier waren oder etwas anderes wollten.
Ich versuchte, auf mich aufmerksam zu machen, was auch funktionierte, da das Fahrzeug kurze Zeit später neben mir anhielt. Es öffnete sich eine Türe und ich wurde von zwei Personen ins Innere gezogen. Dort mussten wir erst durch eine Luftschleuse, bevor wir schlussendlich im Kern des Gefährts ankamen. Sie rissen mir den Schutzanzug vom Körper und fragten mich erstmal aus, woher ich kam, was ich hier suchte, ob ich infiziert wäre und ob mir irgendetwas aufgefallen war. Ich wusste auf keine der Fragen eine Antwort, was die beiden nicht sehr begeisterte, doch das war mir in dem Moment egal, ich wollte einfach nach Hause, wenn ich überhaupt eines hatte.«
»Können Sie uns etwas über die Männer sagen? Haben sie mit Ihnen etwas gemacht?«
»Die beiden ähnelten sich, ich weiß nicht, vielleicht waren sie verwandt. Gemacht haben sie eher wenig; sie haben mich erstmal allein in einem kleinen Raum warten lassen. Dort wurde ich dann kurze Zeit später nochmals befragt, konnte jedoch wieder keine Antworten liefern. Die Tür schloss sich wieder und ich hörte ein Zischen, ich wurde müde und schlief ein.«
»Das heißt, die haben Sie ruhiggestellt?«
»Genau das vermute ich, denn als ich wieder aufwachte, befanden wir uns sehr nah an der Erde und ich lag in einem anderen Raum. Im Raum sah ich sieben weitere Personen auf dem Boden liegen. Sie schliefen noch. Langsam stand ich auf und lief ein wenig herum, bis ich an der Tür stehen blieb. Von draußen hörte ich Stimmen. Ich versuchte, sie zu verstehen, aber ich konnte nur einzelne Wörter aufgreifen. Sie redeten irgendwas von Katastrophe, Flucht, Krankheit. Mir gingen verschiedene Szenarien durch den Kopf.
Langsam wachten auch die anderen auf und stellten mir die Fragen, die auch mich beschäftigten, aber ich hatte keine Antworten für sie. Wir näherten uns weiter der Erde und bremsten schließlich relativ abrupt ab. Von draußen hörte ich Schritte und Schreie dann ein Zischen und alles war ruhig.«
»Wieder ein Gas zum Ruhigstellen?«
»Ja, und auch bei uns wurde es kurz darauf wieder eingesetzt. Diesmal scheiterte ihr Plan, da ich damit rechnete. Ich hielt meinen Atem an und wartete, bis sich das Gas ein wenig verzogen hatte, trotz meiner Vorsicht bekam ich ein wenig ab. Ich war also wie gelähmt, habe aber alles mitbekommen. Sie kamen in unseren Raum und trugen uns einen nach dem anderen heraus, über eine alte sandige Landebahn durch die sengende Hitze in eine Art Bunker. Wir wurden auf Liegen gelegt und durch endlos lange Gänge tief unter die Erde geschoben. Je weiter wir kamen, desto kälter wurde es. Die Wände waren feucht und wurden durch kalte Neonröhren an den Decken beleuchtet, neben ihnen verliefen unzählige Kabel. Nach einer gefühlten Ewigkeit wurden wir in einen Raum geschoben, wo wir von den Liegen auf den blanken Boden gelegt wurden. Kurz darauf kamen auch die anderen wieder zu Bewusstsein, sie sahen sich um, doch schienen genau wie ich nicht zu verstehen, was mit ihnen geschehen ist. Wir müssen dort einige Tage verbracht haben.«
»Wie haben Sie das so lange überlebt?«
»Ich kann mich nicht an Essen, geschweige denn Wasser erinnern, aber verspürte auch zu keiner Zeit Hunger. Vielleicht haben sie uns im Schlaf betäubt und so versorgt, dass wir dort überleben. Sie wollten offenbar nicht, dass wir sterben.«
»Sie sprachen von einigen Tagen, was ist dann passiert?«
»Es war, glaub ich, morgens, zumindest bin ich kurz vorher aufgewacht, sicher kann ich es allerdings nicht sagen, da ich komplett die Orientierung und den Bezug zur richtigen Welt verloren hatte.
Man konnte auf jeden Fall erst einen lauten Knall wahrnehmen, er erinnerte mich an meine Zeit vor der ›Rettung‹. Kurz darauf hörte ich Schüsse und es wurde wieder ruhig, zu ruhig. Den restlichen Tag lang passierte einfach nichts mehr. Ich wurde im Schlaf von einem unangenehmen Quietschen aufgeweckt, erschrocken sah ich mich um und sah in unserer Tür bewaffnete Männer stehen. Sie gingen entschlossen auf mich zu und packten mich mit einem festen Griff am Oberarm, zogen mich hoch und anschließend aus dem Raum. Wir ließen die langen Gänge und den Bunker hinter uns, welcher zu großen Teilen eingestürzt war. Auf der gleichen Fläche, auf der ich vor ein paar Tagen noch gelandet war, wartete ein Hubschrauber mit laufenden Rotoren. Gemäß der Anweisung der Männer setzte ich mich hinein und der Hubschrauber startete umgehend. Wir hoben ab und flogen in die Nacht hinein, hinter mir hörte ich neben den lauten Rotoren wieder bombenähnliche Geräusche. Ich vermute, sie haben auch den Rest des Bunkers in die Luft gejagt, was mit den anderen ist, weiß ich nicht. Ob sie überlebt haben, ob sie gerettet wurden oder einfach unter den Trümmern begraben wurden. Der Hubschrauber landete nach einem langen Flug in einem versteckten Hangar, aber von hier an wissen Sie alles.«
»An mehr können Sie sich nicht erinnern?«
»Nein, alles, was ich weiß, habe ich gerade erzählt.«
»Okay, vielen Dank für Ihre ausführliche Beschreibung des Geschehens.«
»Solange ich Ihnen damit in einer Weise helfen kann.«
⁂
Der Mann, der die Befragung durchführte, verlässt den Raum, schließt die Tür hinter sich und wendet sich einem Kollegen zu.
»Scheint gut gelaufen zu sein, er erinnert sich nur an das, was wir ihm vorgegeben haben. Die neue Technik scheint Wirkung zu zeigen, die Probleme sind anscheinend verschwunden. Es hat sich gelohnt, die Behandlung zu wiederholen. Ich denke, wir können ihn bald entlassen. Er scheint stabil zu sein.«
»Wir sollten noch ein paar letzte Tests durchführen, doch danach spricht nichts mehr dagegen, dann kann er zu den anderen und sich eine neue Identität aufbauen. Hoffen wir, dass es auch beim Kontakt zu anderen zu keinen unerwünschten Nebenwirkungen kommt.«
»Bisher hat alles funktioniert. Es wäre schlecht, wenn einer der Geheilten sich erinnert, das darf einfach nicht passieren. Sie dürfen nicht erfahren, wie es wirklich war und warum sie hier sind. Nur wenn wir das garantieren können, kann unser Projekt hier weitergeführt werden.«
»Hoffen wir, dass das bei den anderen auch so gut funktioniert.«
Ich, Jonas, wurde am 10.12.2004 in Würzburg geboren und bin aktuell Schüler in der 10. Klasse. Hier nehme ich an einem Schreib-Kurs teil, und habe anlässlich dieses den obigen Text verfasst.
Galax Acheronian
Genüsslich strecke ich mich in alle Richtungen. Die halbe Nacht gezockt, den ganzen Morgen geschlafen. Einzig der Hunger treibt mich aus den Federn. Kraftlos taste ich nach der Lampe neben meinem provisorischen Bett, inmitten dieses ebenso provisorisch hergerichteten Kellerraumes, ohne Fenster und Heizung, stets ein wenig muffig.
Wie spät es wohl ist? Eigentlich egal, denn inzwischen ist jedes Gefühl und Bewusstsein von Zeit ohne Bedeutung. Während des Dienstes in der Armée française riss mich der Wecker zu einer Zeit aus dem Schlaf, die heute meinen Bettgang stellt. Monate ist meine Fahnenflucht nun her, verfolgt werde ich noch immer. Im Grunde absurd, denn die Notwendigkeit einer Armee und insbesondere meinen damaligen Befehl gibt es nicht mehr. Denn all die ach so wichtigen Persönlichkeiten unserer Welt sind längst entkommen und gelangten, wenn auch nur zum Teil unbehelligt, auf ihre verdammte Arche. Der letzte weltweite Befehl an alle Militärs war es, diese Leute während ihrer Flucht zu schützen.
Zurück blieben wir Diener, Befehlsempfänger und Arbeiter. Einzig, um auf den Tod zu warten.
Ich taste nach der Bedienung des Mediasystems. Es streamen nicht mehr viele Sender, aber einige machen noch immer ihren Job, stellen sich quasi in den Dienst der Menschheit. Ein wenig erinnern sie an die Musiker auf der Titanic, die der Überlieferung nach bis zuletzt gespielt haben sollen.
Ich lade die nach meinen Interessengebieten, Regional-, Welt- und Fortschrittsberichten, vorsortierte Auswahl aktueller Nachrichten, welche mit jedem Tag weniger werden. Die Strukturen von einst sind noch immer vorhanden, digital wie real. Die Menschen nutzen sie nur anders, werden von lästiger Werbung verschont und müssen nirgendwo mehr Gebühren oder Freischaltungen zahlen. Nur zwei verfügbare Berichte stehen in meinem Angebot, die ich beide zum Abspielen auswähle.
»Ich grüße Sie«, beginnt eine Sprecherin mit trauriger Stimme. »Wir schreiben den fünfzehnten Mai 2050 und es bleiben uns nur noch wenige Tage. Also machen Sie das Schönste daraus. Tun Sie, was auch immer Sie jemals tun wollten.« Bilder von überfüllten Stränden werden eingeblendet. Überall auf der Welt sind Menschen auf der Suche nach Ausgleich und Vergnügen, solange es geht. Sie feiern, singen, liegen sich in den Armen, weinen oder trinken.
Seit Jahren das gleiche Bild. Niemand ist mehr daran interessiert, einen Konflikt herbeizurufen, sich zu bereichern oder langfristige Ziele zu verfolgen. Vergnügungsparks wurden von den Menschen übernommen und haben daher rund um die Uhr geöffnet. Berge werden bestiegen, Schiffe, Panzer oder Flugzeuge von einfachen Menschen ausprobiert. Aus dem Off setzte die Stimme der Sprecherin wieder ein. »Knapp fünf Jahre ist es inzwischen her, dass der Asteroid ›Apocalyptica‹ entdeckt und als Bedrohung erkannt wurde«, erinnert sie unnötigerweise an den Felsbrocken, der beinahe ein Viertel des Mondes misst, und einen direkten Kurs auf die Erde hält. Wie ein zweiter Erdtrabant wandert er über das Firmament und kündigt schweigend das nahende Ende an.
»Abermals verließen in der zurückliegenden Nacht einige der letzten verbliebenen Persönlichkeiten unsere Welt. Zwei private Raumshuttles wurden bei dem Versuch, der Arche nachzufliegen, aufgrund eines Antriebsfehlers zerstört.«
Bilder eines zerbrochenen und abstürzenden Schiffes dominieren den Bildschirm.
Die zweite Meldung enthält die Berichterstattung betreffend der Arbeiten am Projekt Orion, und die Erkenntnis, dass die Stadt am Grund des Ozeans nicht rechtzeitig fertig wird. Einige wenige Milliardäre unserer Welt, die, die sich schon immer sozial engagierten, weigerten sich damals, die Arche mitzufinanzieren und zu betreten. Stattdessen nutzten sie ihr Vermögen für das Orionprojekt, um so vielen Menschen wie möglich das Überleben zu sichern. Die Zeit war jedoch zu knapp, und ehrlich gesagt hätte es mich auch überrascht, wenn ein solches Vorhaben tatsächlich gelungen wäre.
Noch im Pyjama entriegele ich die Tür zum eigentlichen Keller meines Elternhauses. Von außen ist die Tür als solche nicht zu erkennen. Vater montierte einfach ein leeres Weinregal an die Außenseite; simpel und genial zugleich. Wenn es nicht so ernst wäre, würde ich es cool finden, denn schon als Kind wollte ich genauso wie Batman ein Geheimversteck haben.
Ich nehme die Treppe in die erste Etage und spähe in den Wohnbereich, der in einem hellen Rotton erstrahlt. Dazu passend ist es spürbar warm hier oben, da die Sommersonne seit dem frühen Morgen auf das Haus niederschlägt. Rotbraune Vorhänge verdecken die Fenster, nicht wegen der Hitze, sondern um mich vor möglichen Augen und Sensoren zu verbergen.
Zähneputzen, waschen mit sonnengewärmtem Wasser und anschließend die Morgentoilette – in dieser Reihenfolge. Der nächste Fluss befindet sich einen halben Tag entfernt, daher sparen wir unser Wasser, wo immer es möglich ist. Mein nächstes Ziel ist die Küche im vorderen Bereich des Hauses. Bereits im Korridor höre ich Geschirr klappern.
»Salut«, begrüße ich André, meinen kleinen Bruder, der offenbar schon länger auf den Beinen ist. Gestern Abend versprach ich ihm, im Laufe des heutigen Tages endlich unsere aktuelle Serie abzuschließen. Es gibt noch so vieles, das er sehen sollte und nichts bedeutet mir mehr, als ihm sein viel zu kurzes Leben so angenehm wie nur möglich zu machen. Täglich muss ich still mit dem Gedanken kämpfen, dass er sein dreizehntes Lebensjahr nie erreichen und ihm alles Lebenswerte verwehrt bleiben wird. Niemals würde er sich verlieben oder jemanden ausführen können. Auch wird er nie alle Schönheiten dieser Welt kennenlernen und ebenso keine der Erfahrungen machen, die jeder Mensch einmal gemacht haben sollte. Es zerfrisst mich, wie es auch Mutter zerfressen hatte. Manchmal glaube ich, dass die tägliche Ablenkung aus Spaß und Abenteuer, die ich André biete, mir weit mehr hilft als ihm.
»Salut«, grüßt er mit einem Lächeln zurück und schiebt sich sein schulterlanges Haar hinter sein Ohr. Vor zwei Jahren sind wir das letzte Mal bei einem Friseur gewesen; Dienstleistungen dieser Art gibt es einfach nicht mehr.
Ich nehme meine Frühstückstasse und schaue ihn an. »Haben wir noch Kaffee?«
»Tee«, antwortet er und deutet auf eine kleine Plastikdose neben dem Wasserkocher.
»Besser als nichts.«
Dank der Solaranlage auf dem Dach und zwei Dutzend kleiner Kondensatoren hat unser Haus ausreichend Strom. Keine Ausnahme hier in der Region, weshalb es noch immer viele in die Provinzen ziehen lässt.
In den Städten ist die Energieversorgung deutlich schwieriger. Der größte Teil unserer weltlichen Infrastruktur funktioniert zwar noch immer, jedoch liegen die meisten Firmen, Hersteller und Versorger mangels Energie brach.
Es waren auch eher die ersten Jahre, die im Chaos versanken und von Panik beherrscht wurden. Heute sind die meisten Menschen entspannt, haben akzeptiert und resigniert. Dennoch, Hunderttausende wählten in den letzten Jahren den Freitod und mit jedem Tag, an dem sich der Asteroid nähert, häufen sich solche Vorfälle. Nochmal so viele bauten sich Bunker und legten Vorräte an.
Auch Vater wollte unter unserem Haus ein Loch ausheben, als den Menschen klar wurde, dass ein Einschlag unabwendbar war. Ich riet davon ab, denn es würde nur das unvermeidliche Ende hinauszögern und die wenigen Jahre, die blieben, verschwenden.
Stattdessen wollen wir Spaß haben, solange es geht.
»Salut«, grüßt nun auch mein Vater. Er ist ebenfalls noch im Pyjama. Seine Bartpflege hat er seit Monaten vernachlässigt, was ihn inzwischen wie einen Wilden aussehen lässt.
»Ich gehe heute noch in den Wald, etwas jagen. Kommst du mit?«
Die Frage gilt André. Ich darf das Haus natürlich unter keinen Umständen verlassen. Die Drohnen des Militärs würden mich binnen Minuten orten, aufspüren und in die längst verlassene Kaserne schaffen.
André schüttelt seinen Kopf. »Heute nicht.«
Auch ich spreche mich dagegen aus und erinnere daran, dass vom letzten Reh noch mehr als die Hälfte im Kühlschrank liegt. Unser alter Herr brummt nur, spart sich dieses Mal jedes weitere Wort über die angebliche, ihn so sehr traktierende, Langweile.
»Du kannst doch mitgucken«, bietet André an und entblößt seine übergroßen Schneidezähne. Vater aber wehrt sofort ab. »Nein, nein, da genieße ich lieber das gute Wetter.« Er greift nach dem selbstgebackenen Brot, schneidet sich ein großzügiges Stück ab und reicht mir den Rest.
Langsam schlurft er ins Wohnzimmer und aktiviert das dortige Mediasystem. Im Sammelmenü erscheint die Anmerkung der von mir bereits abgerufenen Inhalte. »Du hast die Nachrichten schon gesehen?«
Ich nicke nur. »Nichts Aufregendes. Orion wird nicht fertig und heute Nacht sind irgendwo zwei Shuttles abgestürzt.«
Vater zuckt mit den Schultern. »Nur noch mehr Ratten, die das sinkende Schiff verlassen wollten.«
Ratten. Das ist der einzig passende Begriff für diese Leute. Kaum, dass der Asteroid damals erkannt wurde, vergaßen die führenden Köpfe unserer Welt all ihre Differenzen, packten gemeinsam ihre Reichtümer, um die Arche für sich und ihre Familien zu bauen. All das, bevor der Rest der Menschheit realisierte, was es bedeutet, wenn dieser Brocken mit der Erde zusammenstoßen wird.
Beinahe drei Jahre ließen sie dieses gigantische Fluchtschiff im Orbit zusammenstellen. Über eine halbe Million Menschen aus allen Teilen der Welt pferchen sich derzeit in winzige Luxuskabinen, um die Zeit nach dem Einschlag auszusitzen, bis eine Landung wieder sicher sein wird.
Meine Kompanie war eingeteilt worden, die Eliten Frankreichs auf ihrem Weg in das Überleben abzusichern und dafür zu sorgen, dass Normalsterbliche all dem nicht in die Quere kamen, denn immer wieder versuchten Einzelne, ebenfalls auf die Arche zu gelangen. Die meisten fanden dabei den Tod. Es war brutal, sogar unmenschlich, und doch sah ich es irgendwie ein, denn es waren schließlich deren Mittel, mit denen die Arche gebaut wurde. Auch wenn dieses Geld in den letzten einhundert Jahren nur mit vielen zweifelhaften Tricks angehäuft wurde. Rechtlich war es ihres.
Entlarvend bleibt nur, welche Personen plötzlich alles noch zu den »sehr wichtigen Menschen« zählen. Von skrupellosen Wirtschaftsherrschern über Waffenschieber, Mafiabosse, Banker, die korruptesten Politiker und die schlimmsten Hassprediger diverser Religionen ist einfach alles an Abschaum dabei, was dieser Planet je hervorgebracht hat.
Was hatte Vater vor Wut gepoltert – zu Recht, denn es offenbart, wer unsere Welt stets regiert hat: Diebe und Gauner, sagt schon der Volksmund, und Apocalypticazeigt uns schlussendlich ihre hässlichen Gesichter.
War jemand ernsthaft überrascht? Ich nicht. Vor Jahrtausenden wurden freie Völker von religiösen Fanatikern niedergemetzelt und ausgerottet. Mordend und zerstörend zogen sich Heere aus Eroberern über den Globus, bereicherten sich und entschieden anschließend, nachdem alles unterjocht und aufgeteilt war, eine Zivilisation zu gründen. Die Macht- und Wirtschaftskriege der einzelnen Nationen, allem voran die der Amerikaner, setzte jedoch nie ganz aus. Bis zu dem Tag, an dem Apocalyptica erschien.
Mit einem Schlag schwieg plötzlich jede Waffe und seitdem herrscht Frieden auf unserer Welt. Vater nennt diese Offenbarung nur »ekelhaft« und »heuchlerisch«. Er mag recht haben. Nur, wer ist er? Was kann er tun? Genauso wenig – oder viel – wie wir anderen, denn unsereins wird geboren, beherrscht, soll arbeiten und konsumieren, bis wir am Ende sterben.
Ich sehe meinen kleinen Bruder an und fühle diese innere Schwere. Unsere Mutter verfluchte sich so oft, ihn geboren zu haben, nur um ihn einem solchen Ende auszusetzen. Aus ihren ungerechtfertigten Selbstvorwürfen bildete sich eine schwere Depression, die sie anfangs zu überspielen und später zu leugnen versuchte. Ganz zum Leid von André, welches sie sich dann ebenfalls zuschrieb und eines Nachts unter Tränen das Haus verließ.
Seitdem hoffen wir auf ihre Rückkehr, ohne etwas Argen in unseren Gedanken. Jedenfalls gilt das für mich. Ich teile ihren Schmerz und verzeihe ihr, uns im Stich gelassen zu haben. Daher übernehme ich an ihrer Stelle die Fürsorge der Familie, in der wir still auf das Unabwendbare warten.
»Ratten.« André kichert. »Vermutlich werden Nagetiere überleben.« Ich nicke.
»Je kleiner ein Tier, desto höher ist dessen Überlebenschance.« Mein Bruder sah mich grübelnd an.
»Wenn das doch alles schon beschlossen ist … wieso versteckst du dich noch?«
Er ist ein viel zu kluger Junge, obwohl er nie eine Schule besucht hat. Ich streiche ihm durch sein volles Haar und lächele. »Das sind noch die Regeln der alten Welt.« Mit dem Zucken meiner Schultern erkläre ich ihm die Fahnenflucht.
»… und deshalb ist es Hochverrat. Die Systeme werden mich bis zum letzten Tag suchen.«
»Viele Tage sind das ja nicht mehr«, brummt Vater, als er die Wetter-App über den Schirm anzeigen lässt. Ich halte für einen Moment den Atem an und blicke auf André hinab, der ebenfalls nur meinen Vater anstarrt und schluckt. Uns alle wird einmal mehr bewusst, dass es wirklich nicht mehr viele Tage sein werden, an denen die Sonne für uns scheint. André wird heute Nacht gewiss wieder Albträume haben.
Ein schriller Ton dringt plötzlich aus den Lautsprechern und weckt unsere Aufmerksamkeit.
»Was war denn das?«, frage ich, denn ein solches Signal hatte es nie zuvor gegeben. Mein erster Gedanke ist, dass es die akustische Ausgabe eines Fehlers sein könnte. Mein Verdacht erhärtet sich, als das Auswahlmenü daraufhin bei allen Sendeanstalten das gleiche Thumbnail zeigt.
»Das muss ein Fehler sein«, murmele ich in mich hinein, obwohl sich die Beschreibungen bei allen Sendern unterscheiden.
»Und das?«, fragt nun aber mein Vater und deutet auf den Bildschirm; am oberen Rand zählen sich alle zur Meldung passenden Updates und geteilte Inhalte zusammen. Zwanzig … einhundertsechzig … achthundert, und das in nur Sekunden! Irgendetwas muss soeben geschehen sein und flutet nun das Internet. Also berühre ich das erstbeste Angebot auf dem Hauptschirm. Das Video wird frei ausgestrahlt, es gibt keine Lizenzhinweise oder Hilfeaufrufe. Ich bestelle die Sendung und setze mich. André nimmt zwischen mir und meinem Vater Platz.
»Werte Zuschauer«, begrüßt uns eine Stimme hinter schwarzen Grund. »Die folgende Datei wurde uns soeben zugespielt. Sie liegt in über zwanzig Sprachen allen Sendezentralen der Welt vor und wird derzeit auch im gesamten Netz verbreitet. Der übermittelte Inhalt ist derart brisant, dass wir uns in der Pflicht sehen, diesen unverzüglich zu offenbaren.«
»Na, das klingt ja wichtig«, mein Vater brummt missbilligend und lehnt sich zurück. »Kommen die Ratten etwa zurück, um noch ein wenig Nahrung mitzunehmen?«
Mein Bauchgefühl sagt mir jedoch etwas anderes, als der Bildschirm eine Aufnahme des Apocalyptica-Asteroiden zeigt. Es ist eine unglaublich detaillierte Aufnahme. Die steinige Oberflächenstruktur ist so klar zu erkennen, als stünde man direkt davor.
Nach einem Moment der Stille setzt eine verzerrte Stimme ein: »Bürger dieser Erde.« Die Darstellung des Asteroiden offenbart sich vor unseren Augen als ein Rendering. »Wir sind eine weltumspannende Organisation, die vor über fünf Jahren diesen digitalen Asteroiden erstellt und in die Datenbanken aller Raumfahrtorganisatoren und Beobachtungssysteme eingeschleust hat.«
Unbewusst richte ich mich ein wenig auf, halte den Atem an und versuche, das gerade Gesehene zu begreifen.
»In jeder einzelnen Station sind wir vor Ort vertreten, um unsere Daten aufrecht zu erhalten.«
Ich blicke meinen Vater an, fast so als wolle ich prüfen, dass er noch dabei ist und dasselbe sieht wie ich. Mein alter Herr sitzt nur da, vollkommen regungslos und blass im Gesicht.
»Papa?«, frage ich, doch er verbietet mir mit einer unwirschen Geste den Mund und unterdrückt ein Husten. Der Sprecher setzt derweilen unvermindert fort. »Der Grund, warum 2047 die durch die USA eingesetzten Raketen den Asteroiden verfehlten, liegt daran, dass er nicht existiert.«
»Was zur …?«, raunt mein Vater und schlägt die Hände vor seinen Mund. Auch ich meine im ersten Moment, mich verhört zu haben. Tausend Gedanken drängen sich auf, doch nur eine Frage bleibt übrig: Kann das wirklich wahr sein? André runzelt nur seine Stirn, schaut uns an, als sähe er einen schlechten Film.
»Er ist nicht real«, wiederholt die Stimme und der Schirm zeigt nun einen Satelliten, der der Erde einen steuerbaren Spiegel entgegenhält, um das Sonnenlicht zu reflektieren, sowie ein zweidimensionales Hologramm des Asteroiden ausgibt, das zwischen Erde und Spiegel steht.
»So simulieren wir die optische Darstellung von Apocalyptica«. Die Stimme macht eine Pause, als wüsste sie, dass das eben Gesagte noch sacken musste. »Es wird keinen Einschlag geben.«
Der Bildschirm zeigt nun die Arche, in der sich die derzeitigen Welteliten verkrochen haben.
»Niemand wird sterben, bis auf all jene, die sich die Güter unserer Welt angeeignet, dieses Schiff nach unseren Plänen konstruiert und anschließend bezogen haben.«
Das Bild stellt nun einen grafischen Kurs dar, der von der Erde wegführt. »Die Arche befindet sich seit mehr als sechs Monaten auf ihrem Kurs in die Sonne und wird innerhalb der nächsten Jahre dort einschlagen, ohne dass jemand an Bord etwas dagegen unternehmen kann.«
Die Stimme pausiert und die Animation zeigt nun, wie ein Pfeil in die Sonne verschwindet. »Willkommen auf Erde II«, setzt der Sprecher fort. »Beginnen wir von vorn, ohne aufgezwungenes Ungleichgewicht, ohne Kriege, ohne Raffgier, Notstände oder den Hass unserer Religionslenker.« Eine Grafik baut sich auf und vergleicht den Reichtum Einzelner mit dem aller anderen Menschen. Dazu kommen Ausgaben für Kriege, deren Resultate, Umweltverschmutzung und wer sich an all diesem Leid bereicherte. »Sie haben uns keine Wahl gelassen.«
Das Bild verdunkelt sich und zurück bleibt Schwärze.
»Die zivilen Opfer …«, setzt nun eine gleichfalls verfremdete Frauenstimme an, ohne dass das Bild sich ändert, »… dieser Scharade zur Befreiung der Menschheit bedauern wir sehr und möchten uns bei allen Hinterbliebenen aufrichtig entschuldigen.«
Eine neue Einstellung taucht aus dem Schwarz auf. Unzählige Personen, große, kleine, dicke und dünne in dunklen Anzügen stehen vor einem roten Vorhang und senken ihre maskierten Gesichter.
Eine ganze Minute lang, dann ergreift die Frauenstimme erneut das Wort. »Diese Chance forderte viele Opfer, auf allen Seiten.« Damit endet die Sendung.
Mein Vater, der seine Frau und meine Mutter aufgrund dieses Fake-Asteroiden verloren hat, starrt noch immer regungslos auf die Bildausgabe des Mediasystems. Ich kann ebenfalls keinen klaren Gedanken fassen.
»Die Welt stirbt nicht?«, fragt André ganz so, als sei etwas nicht in Ordnung. Vater und ich schauen ihn an. Ich merke, wie mein Mund offen steht und Tränen an meinen Wangen herablaufen. Langsam schüttle ich den Kopf und schlucke trocken.
»Das ist sie gerade«, antwortet mein alter Herr und lächelt. »Und du bist in eine neue hineingeboren.« Er lacht lautstark auf, nimmt André und anschließend mich fest in seine kräftigen Arme.
Ich ergebe mich meinen Gefühlen, lache und weine zugleich. Tief in mir realisiere ich, dass vor uns das größte Abenteuer der Menschheit steht, dem ich angemessen begegnen möchte; indem ich heute mit André nicht unsere Serien weiterschaue, sondern ihm Lesen und Schreiben beibringen werde. Als erstes aber werden wir Mutter finden.
Galax Acheronian ist ein Autor und Illustrator, der bereits in jungen Jahren Geschichten, Comics und Fanfictions schrieb. Seit 2010 erscheinen unter seinem Namen regelmäßig Kurzgeschichten, Novellen, Coverarts und Romane aus dem Bereich der Phantastik, primär der Science-Fiction. Ebenfalls war er schon Mitherausgeber einiger Anthologien.
Website: http://www.acheronian.de/
Facebook: Galax Acheronian
Instagram: galax.acheronian
H. K. Ysardsson
Schrilles Läuten des altertümlichen Weckers riss sie aus dem Schlaf. Mit geschlossenen Augen tastete sie nach dem Ungetüm und schlug energisch mit der Hand drauf. Es gab noch einen klagenden Misston von sich, dann war es leise und Hannah blinzelte verschlafen. Im Haus war es noch finster. Neben ihr schnarchte Rainer. Sein Smartphone würde erst in einer halben Stunde ein Signal von sich geben.
Warum ist es so dunkel? Hannah streckte sich und schälte sich aus dem Bettzeug, um ins Bad zu schlurfen. Auch hier ging kein Licht an. Gibt es einen Stromausfall? Das würde erklären, warum im Haus die Rollläden noch nicht hochgezogen waren. Ebenso fehlte ihr der Duft des frischen Kaffees. Dafür zog ein eigentümlicher Geruch, den sie nicht zuordnen konnte, von unten hoch. Sie ignorierte es und freute sich an den Segnungen des Smarthomes, die sie in wenigen Minuten zurückerwartete. Wie lange kann so ein Stromausfall schon dauern? Sie drehte die Dusche auf und wartete auf warmes Wasser. Es kam keines, auch kein kaltes. Die Bewegungsmelder reagierten nicht, die Armatur reagierte nicht. Genervt drehte sie den Wasserhahn wieder zu.
»Rainer! Der Strom ist ausgefallen!«, rief sie auf halbem Weg zurück ins Schlafzimmer. Es kam keine Antwort. »Rainer! Steh auf, wir haben einen Stromausfall!«, schrie sie ihn an, während sie ihn heftig an der Schulter rüttelte.
»Ich schnarche nicht«, nuschelte er, grunzte und drehte sich zur Seite.
»Verdammt, kein Strom, Rainer!« Dieses Mal war sie schon lauter. Es war immer dasselbe mit ihm. Rainer wach zu bekommen, war mühselig und barg das Risiko, sich seiner schlechten Laune auszusetzen.
»Kein Internet!«
Das riss ihn aus dem Schlaf. Kaum hatte sie das Zauberwort ausgesprochen, saß er mehr oder weniger aufrecht da und starrte sie an. Hannahs Augen hatten sich mittlerweile an die Dunkelheit gewöhnt und sie konnte Umrisse erkennen.
»Wie, was meinst du? Kein Internet?«
»Kein Strom im Haus«, erwiderte sie im Tonfall der Lehrerin, die ihrem Schüler eine einfache Tatsache erklärt, die er eigentlich wissen sollte.
»Das kann nicht sein. Du hast bestimmt etwas falsch gemacht.«
»Klar, immer ich. Ich hab gar nichts gemacht. Schau doch selbst, wenn du mir nicht glaubst. Die Rollläden sind noch unten, kein Wasser …«
»Du musst die Temperatur nur richtig einstellen, wahrscheinlich hast du …«
»Jetzt hör mir doch mal zu und schalt dein Hirn ein!«
»Warte«, brummelte Rainer und stand ebenfalls auf. Das musste er seiner Frau beweisen. Nur mit Boxershorts bekleidet, schritt er zuerst ins Bad. Auch er bemerkte das fehlende Licht und später, dass es kein Wasser gab. Er mutmaßte, dass der Sicherungshauptschalter gekippt war. Entschlossen, das Problem sofort zu beheben, kehrte er ins Schlafzimmer zurück, holte sein Smartphone und schaltete die integrierte Taschenlampe ein. Damit ging er zum Sicherungskasten. Alles war in Ordnung. Mehrmals betätigte er den Schutzschalter. Kein Strom.
»Fuck! So eine gottverdammte Scheiße! Wie soll ich dann bitte die Präsentation fertig bekommen?«
Unten bekam er keine Antwort auf diese Frage, also kehrte er ins Schlafzimmer zurück. Dort stand Hannah und grinste verhalten. Sie wusste, dass sie jetzt besser schwieg.
Wütend schnaubte er. Bevor er etwas sagte oder tat, schlüpfte er in Hose und T-Shirt, anschließend stellte er die Weckfunktion ab und vorsorglich auch die Taschenlampe.
»Ich rufe beim Stromanbieter an. Hast du die Nummer?«
»Hm? Ich? Nein, du hast das alles.«
»Gut, ich suche sie selbst. Mach du Kaffee … Nein, der Scheiß geht ja auch nicht, dann richte eben ein kaltes Frühstück. Und such ein paar Kerzen. Ich ruf beim Anbieter an. Das Problem wird bestimmt gleich behoben sein.«
Rainer war ganz der befehlende Optimismus, etwas, das Hannah nervte. Trotzdem ging sie in die Küche und wollte sich um ein mickriges Frühstück kümmern.
Das Surren des Kühlschranks fehlte ihr. So zielstrebig es in der Dunkelheit möglich war, ging sie durch die Küche, streckte schon die Hand nach der Tür aus, da trat sie in etwas Nasses. Angewidert sprang sie zurück.
»Igitt! Was ist das?« Gleich darauf bemerkte sie die Bescherung: Der Gefrierschrank mit all seinen Köstlichkeiten war abgetaut.
»Was ist denn jetzt los?«, brüllte Rainer von oben.
»Nichts, ruf bei denen an und sag ihnen, sie sollen sich beeilen, bei uns taut der Gefrierschrank!«
»Verdammt! Bin gleich unten!«
Sie fragte sich, was er gegen das Tauwasser unternehmen wollte. Doch schon hörte sie seine schweren Schritte auf der Treppe und kurz darauf betrat er die Küche, das Telefon am Ohr und mitten im Gespräch.
»Wir haben keinen Strom, was ist da los? – Wie? Wie lange? Wir … äh, ja. Ja. Kann jemand kommen? Smarthome. Blöd? Warum blöd? Sie wissen nicht … Wissen Sie überhaupt etwas? Gibt es denn keine Notstromversorgung? Wie? Nein, habe ich noch nicht. Ja, mache ich. Danke.«
Hannah hatte das Gespräch gespannt mitverfolgt aber nur die Hälfte davon verstanden. Die Körpersprache ihres Mannes konnte sie an diesem Morgen nicht deuten. Normalerweise erkannte sie Anzeichen schlechter Laune und ging ihm dann aus dem Weg. Doch an diesem Tag war alles anders. Sie sah zu wenig und er bewegte sich wie ein Holzpflock. Lediglich an der Stimmlage merkte sie, dass er verärgert war.
»Was ist jetzt, Rainer?«
»Anscheinend ein Blackout. Wir sollen die Nachrichten am Smartphone lesen oder ein batteriebetriebenes Transistorradio anstellen. Laufend werden Verhaltensregeln durchgegeben. Anscheinend soll das aber bald behoben sein.« Noch während er redete, tippte und wischte er auf seinem Telefon herum, bis er das Gewünschte gefunden hatte. Hannah konnte nur sein »Hm« hören, denn in ihrem Kopf geisterte die abgetaute Gefriertruhe. Genießbar war vom Inhalt bestimmt nichts mehr; vielleicht noch die halbe Torte, die sie von ihrem letzten Besuch bei Tante Hilde mitgenommen hatte.
Rainer setzte sich an den Tisch und gab nichts anderes als verärgerte Geräusche von sich. Das hielt Hannah nicht aus, sie wollte selbst wissen, was los war und lief ins Wohnzimmer, wo ihr Smartphone lag. Hastig entsperrte sie es, ignorierte die entgangenen Anrufe und widmete sich den neuesten Nachrichten. Sie berichteten von einem europaweiten Blackout. Die Bevölkerung solle sich im Haus aufhalten und auf Hilfe warten. Die Regierung arbeite mit Hochdruck an einer Lösung des Problems.
»Na toll«, murmelte sie, dann rief sie bei ihrer Mutter an, doch sie bekam kein Freizeichen. Natürlich, die alte Dame hatte noch ein Festnetztelefon, eines der letzten existierenden Exemplare. Also wählte Hannah die Nummer einer Nachbarin ihrer Mutter und bat sie, sich um die alte Frau zu kümmern, bis sich die Lage normalisiert hatte.
»Und jetzt gibt es Frühstück. Wir können es eh nicht ändern, Rainer.« Sie gab sich optimistischer, als sie sich fühlte. »Mit Mutti hab ich alles geregelt, da kümmert sich die Nachbarin. Wie wäre es mit Torte und Saft?«
»Wie? Spinnst du? Du kannst doch nicht zur Tagesordnung übergehen!«
»Sicher kann ich das. Die werden das Problem bald lösen und in ein, zwei Stunden läuft alles wie immer. Den Gefrierschrank muss ich nur sauber machen und den Kühlschrank. Aber danach können wir die freie Zeit doch etwas genießen.«
Hannah sah nicht ein, sich alles vermiesen zu lassen. Nun da sie wusste, was los war und an einer Lösung gearbeitet wurde, entspannte sie sich langsam.
Aus dem Gefrierschrank roch es Übelkeit erregend nach dem aufgetauten Fisch, den Rainer erst vor ein paar Tagen aus dem nahen Fluss geangelt hatte. Sie hielt die Luft an, griff die Torte und schloss den Schrank rasch wieder. Der Gestank des Siffs, der den Boden verunstaltete, reichte ihr allemal, war aber noch angenehmer als der offene Tiefkühler. Der Kühlschrank gab noch eine halbe Packung lauwarmen Orangensaft her.
Den Tisch zu decken, dauerte etwas länger, weil sie erst nach den Kerzen suchen musste. Am Ende sorgte eine Friedhofskerze für Licht.
»Sieht doch gleich freundlicher aus, findest du nicht? Aber es wird langsam etwas frisch hier drinnen«, meinte sie nach getaner Arbeit. Rainer reagierte nicht.
»Mensch, Rainer, jetzt mach nicht so ein Gesicht. Das ist bestimmt bald vorbei, du hast es selbst gesagt. Erst frühstücken wir, dann ziehen wir uns warm an und machen einen Spaziergang. Nutzen wir die Zeit doch für uns.«
Rainer lachte freudlos. »Du hast vergessen, dass die Haustür automatisch auf- und zugeht. Sie hängt am Stromnetz. Wir sitzen fest, bis der Blackout vorbei ist.« Seine Stimme war leiser als normal, auch seine Haltung wirkte zusammengesunken. Hannah fand, dass sie ihn noch nie so niedergeschlagen erlebt hatte. Seine Worte und sein Anblick drückten ihre Laune zurück in den Keller. Daran hatte sie nicht gedacht. Es war so eine praktische Tür, besonders, wenn sie schwerbeladen vom Einkaufen kam oder noch diverse Unterlagen, Ordner und Kisten von der Arbeit mitbrachte, die sie zuhause abarbeiten wollte. Einfach Tür auf sagen und die Stimmerkennung erkannte sie und öffnete. Jetzt war das sehr unpraktisch. Gewiss löste sich alles bald auf. Bis der Strom wieder lief, mussten sie sich eben mit etwas anderem beschäftigen, irgendetwas würde ihr schon einfallen. Sie versuchte, optimistisch zu bleiben.
Die Stunden schlichen dahin. Rainer suchte nach alternativen Lösungen, während Hannah den Gefrierschrank leerräumte und reinigte. In der Küche stank es fürchterlich. Das hielt der empfindliche Magen ihres Mannes nicht aus. Unauffällig verzog er sich in sein Arbeitszimmer. Wenigstens eine Weile konnte er sich am Laptop ablenken, doch sobald der Akku leer war, kehrte er zurück.
»Hier stinkt’s ja noch immer wie auf dem Fischmarkt!« Angewidert wedelte er mit der Hand vor dem Gesicht.
»Kein Wunder, ich kann nicht lüften! Wir brauchten ja unbedingt die stabilen, einbruchssicheren Fenster, die sich nicht öffnen lassen, weil die Wohnraumlüftung für Frischluft sorgt … sehr smart, mein Junge!« Ein mordlüsterner Blick traf ihren Mann. »Ist der Akku deines Laptops leer?«
»Frag nicht so blöd. Wäre ich sonst hier? Es ist richtig langweilig mit dir.«
»Mann, dann tu doch was! Lies ein Buch oder putz den Wohnzimmerschrank! Sortiere deine Klamotten aus oder was auch immer, aber geh mir nicht auf die Nerven! Du siehst doch, dass ich hier viel zu tun habe!«
Schon jetzt, nach nur wenigen Stunden, war die Stimmung im Haus angespannt. Aber Rainer ging tatsächlich und nahm ihren Vorschlag mit dem Schlafzimmer auf. Hannah blieb in der Küche und putzte weiter. Einfach aufsprühen und wischen, wie in der Werbung. Das Ergebnis konnte sie nicht sehen, aber riechen. Zum Fischgeruch gesellte sich jetzt der künstliche Lavendelduft, der ihrem Lieblingsreiniger beigemengt war.
»Blackout … Es ist ein absoluter Supergau«, murmelte sie. Die Anspannung durch die aktuelle Lage, addiert mit dem Gestank, bereitete ihr Kopfschmerzen. Verärgert warf sie den Lappen auf die Theke und ging ins Wohnzimmer, wo sie sich auf das breite Sofa fallen ließ. Hierher war der Mief noch nicht gezogen, aber es wurde langsam kühl. Sie zog sich eine Kuscheldecke heran und machte es sich gemütlich. Jetzt einen Film schauen. Ihr Blick richtete sich auf den überbreiten Flatscreen, der an der Wand ihr gegenüber befestigt war. Doch dort tat sich nichts. Sie schloss die Augen und schlief prompt ein.
Lautes Lachen von oben weckte sie. Warum lacht Rainer? Er lacht doch nie. Ihr Hirn war noch träge vom Schlaf, deshalb sagte sie sich dann auch, dass sie das geträumt haben musste. Dann hörte sie das Gelächter erneut. Jetzt stand sie auf und ging hoch.
»Was ist los?«, fragte sie ihn, doch er deutete nur auf ein altes Fotoalbum und winkte sie zu sich heran.
»Weißt du noch?« Feixend hielt er ihr das Buch unter die Nase. Sie nahm es, setzte sich zu ihm und grinste ebenfalls. Eine ihrer ersten Reisen, kurz nachdem sie sich kennen gelernt hatten. Damals hatten sie viel Unsinn zusammen angestellt und Mallorca durchwandert. Bald schon schwelgten sie in Erinnerungen und vergaßen die prekäre Situation für eine Weile.
Stunden später waren die Fotoalben angeschaut, der Weinvorrat geschrumpft und die Kerze heruntergebrannt. Noch vor wenigen Minuten hatte Hannah herzlich über die alten Bilder gelacht, jetzt weinte sie.
»Ich will aus diesem verdammten Haus.« Durch ihr Schluchzen war sie kaum zu verstehen. »Wie lange dauert das noch?«
»Nicht mehr lange. Es kommt uns nur so vor, weil wir nichts tun können«, erwiderte Rainer. Um sie zu beruhigen, nahm er sie in den Arm und küsste sie. Plötzlich herrschte eine knisternde Intimität zwischen den beiden, wie seit Jahren nicht mehr.
Draußen brach ein weiterer Tag ihrer Isolation an, doch sie wussten es nicht. Die Zeit, die sie allein im dunklen Haus verbrachten, dehnte sich. Eine Minute fühlte sich wie Stunden an. Keine Änderung war in Sicht.
Mehr und mehr strapazierte Rainer Hannahs Nerven. Sie hatte nicht gewusst, dass er so laut atmete oder die Füße beim Gehen nicht richtig anhob, sondern mehr schlurfte als ging. Aber es war nicht nur das. Auch sein Geruch störte sie plötzlich, sogar seine Stimme. Jetzt saß er wenigstens in seinem Arbeitszimmer und belästigte sie nicht mit seiner Anwesenheit. Sie konnte ihn hören, wie er in alten Akten kramte und schimpfte.
»Hannah!«, brüllte er. Erschrocken über den plötzlichen Lärm, zuckte sie zusammen. »Schau mal auf deinem verfickten Handy, ob du irgendetwas Neues erfahren kannst!«
Als ob ich noch ausreichend Saft auf meinem Smartphone hätte. Aber sie probierte es trotzdem. Kein Strom, kein Internet, keine Nachrichten. Sosehr sie sich auch darum bemühte, das Telefon zu starten, das Display blieb schwarz.
»Der Akku ist leer«, erwiderte sie leiser.
Langsam wurde die Sache ungemütlich. Während der zahlreichen Corona-Lockdowns, damals war sie ein Kind gewesen, konnte sie auch nicht alles tun. Zu der Zeit durfte sie weder Kindergarten noch Freunde besuchen. Aber sie ging wenigstens mit ihrer Mutter spazieren und war vor allen Dingen nicht in einem abgedunkelten Haus eingesperrt. Sie hatten Fernsehen, Internet und konnten jederzeit mit anderen Leuten reden, zwar oft nur über den Balkon, aber immerhin.
Jetzt war jede Kommunikation nach außen weg. Ihr blieb nur Rainer. Diese Erkenntnis frustrierte sie.
»Du blöde Kuh!«, blaffte er sie zornig aus dem Arbeitszimmer heraus an.
Als ob ich etwas für die Umstände kann!
In ihren Gedanken kreisten verschiedene Krimis und Thriller, die sie in der Vergangenheit gelesen hatte. Sogar auf diese schöne Beschäftigung musste sie verzichten; es war zu dunkel dazu und Licht hatten sie keines mehr. Die Taschenlampe war im Auto, das vor dem Haus stand. Ihr war zum Heulen zumute.
Wie lange waren sie nun schon zusammen eingeschlossen? Hatte es jemals zu ihren Wünschen gehört, mit ihrem geliebten Rainer auf einer einsamen Insel oder wochenlang in einem Hotelzimmer eingesperrt zu sein? Zerknirscht gestand sie sich ein, dass das vor langer Zeit zu ihren schönsten Träumen gehört hatte. Natürlich war das der ersten Verliebtheit geschuldet gewesen. Rainer verhielt sich früher auch ganz anders, musste sie einräumen. Damals hatte er sie nie angebrüllt oder beschimpft. Wenn sie jetzt daran zurückdachte, hörte sie seine angenehme Stimme, doch wurde sie vom älteren Rainer überlagert. Die Liebe hatte sich in der Dunkelheit aufgelöst. Oder es kam ihr erst jetzt so richtig zu Bewusstsein.