Der letzte Dandy - Klaas Huizing - E-Book

Der letzte Dandy E-Book

Klaas Huizing

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Beschreibung

Der dänische Philosoph Sören Kierkegaard, der entscheidend das Denken des 20. Jahrhunderts beeinflusste, war eine schillernde Figur. Zeit seines Lebens spielte er mit dem Gedanken, mit einem autobiographisch gefärbten Roman die Kopenhagener Gesellschaft zu schockieren. Nun inspirierte dieses nie vollendete Projekt den Schriftsteller Klaas Huizing zu einem klugen, herrlich doppelbödigen und unterhaltenden Stück Literatur über Erotik, Eitelkeit und messerscharfe Ironie.
Zwei Herren lustwandeln an den Gestaden des Paradieses und plaudern in gepflegtem Ton. Sie lassen es an geistreichen Komplimenten füreinander nicht fehlen und insbesondere Thomas, einst im irdischen Dasein ein hochangesehener Literat, beklagt die himmlische Durchschnittsware, mit der man sich abgeben muss. Sören, empfindsam und stets in raffinierter Toilette, gesteht, dass er an einer Romanbiographie arbeitet. Thomas, erfahrener Wortkünstler, bietet seine Hilfe an. In langen Gesprächen taucht Sören in seine kurze intensive Erdengeschichte ein, erzählt von der erdrückenden Welt seiner dänischen Familie, aus der er einst auszubrechen versuchte. Als Dandy wurde er stadtbekannt. Aber konnte er sich aus dem Kokon des protestantischen Puritanismus befreien, erotische Gefühle und körperliche Lust nie wirklich auskosten. Alles geriet zur Inszenierung bis hin zu seinem frühen irdischen Tod.

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Seitenzahl: 234

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Inhaltsverzeichnis
 
Widmung
Lob
PROLOG
 
Wanderungen in der Gehirnkammer und rosige Finger
 
Copyright
Für Gottfried Adam und Walter Dietz
Ich bin genau so wie das Lüneburger Schwein. Mein Denken ist eine Leidenschaft. Ich kann vortrefflich für andre Trüffeln aufwühlen, selbst habe ich an ihnen keine Freude. Ich nehme die Probleme auf meine Nase; aber ich vermag mit ihnen nicht mehr zu tun, als sie nach rückwärts über meinen Kopf zu werfen.
SÖREN AABYE KIERKEGAARD
PROLOG
Der Club der falschen Propheten
«Mein lieber Sören, lassen Sie uns bei diesem weichen Wetter einen Spaziergang an den Strand unternehmen. Er erinnert mich aufs Angenehmste an die Sommerfrische auf der Kurischen Nehrung. Wir hatten in Nidden, ich weiß nicht, ob Sie es von hier oben verfolgt haben, ein sehr kommodes Ferienhaus. Vielleicht verflüchtet sich bei unserem kleinen Wandel auch mein leichtes Sodbrennen, denn ich habe gestern sehr unbedacht meinen Nachmittag damit vertan, allerlei Beeren und Trauben zu essen. Meine leichte Luftröhrenaffektion meldet sich zudem zurück. Und heute Abend erwartet mich der Heidenlärm eines Mozart-Konzertes. Der Maestro persönlich spielt auf seinem albern-mattweißen Flügel. Dieses genialisch-neckische Spiel! Wie er seine Leidenschaften ausstellt! Erschreckend!
Darf ich Ihnen eine Zigarre anbieten? Irdische Importware aus Bremen, Maria Mancini, meine kleine Favoritin, natürlich handgedreht, mausgraues Deckblatt, mit einem kräftigen blauen Leibring. Die Zigarre entfaltet eine gepflegte Blume, würzig, aber sehr fügsam auf der Zunge, nur gelegentlich gegen Ende etwas launisch. Ein kleiner Tipp, streifen Sie sie allenfalls zweimal ab, sie liebt es, wenn man sie wenig ascht. Bitte sehr.
Unsere Promenaden, die wir manches liebe Mal unternommen haben, sind mir sehr teuer geworden. Ich fühle mich hinterher aufgeräumt und von großem Tatendrang erfüllt. Sie, mein lieber Sören, sind so ganz anders als die himmlische, leider milde-überalterte Durchschnittsware, in deren Begleitung ich mich häufig durch den Tag quäle und gähne: Diese jugendlich-weiche Glätte Ihrer Wangen, Ihre melancholischverschatteten und doch Ironie signalisierenden Augen, das lebendige Muskelspiel Ihres gepflegt-verwöhnten Mundes, die gleichmäßig-maßvolle Nase, diese kühne und so kraftvolle Haartolle, die Ihre empfindlichen Schläfen betont und einen Blick freigibt auf Stellen, wo man die zartrosa Kopfhaut glaubt durchschimmern zu sehen und wo das Geistige so aufregend pocht! Dazu Ihre gewählte Toilette: die spiegelnden Lackstiefel, die raffiniert-einfache Frackhose, die perlmutterglänzenden Pailletten Ihres Hemdes, durch Ihren gemessenfedernden Schritt zum Tanzen verführt und choreographiert vom üppigen Gestenspiel Ihrer schmalen Hände - Sie spüren, wie Sie mich begeistern und eine irdisch-bezaubernde Sehnsucht in mir wecken! Sie sind nicht nur ein Aristokrat des Geistes, sondern auch der ungekrönte König der Mode. Sie sollten mehr Menschen mit Ihrer febrilen Geistesgegenwart beglücken! Sie leben so unnatürlich zurückgezogen! Man kann Ihnen kaum habhaft werden, dabei sind sie eine stolze Zierde für unseren Club! Weil ich nicht so eifersüchtig bin, Sie ganz für mich allein besitzen zu wollen, möchte ich Ihnen den Vorschlag unterbreiten, sich in den Vorstand wählen zu lassen, um den demnächst turnusmäßig frei werdenden Posten des Kassenwartes zu bekleiden.»
«Ach, verehrter Herr Thomas! Sie sind in Ihrer Aufmerksamkeit nahezu unerschöpflich, überaus zuvorkommend, machen mir immer alles so angenehm wie möglich, verwöhnen mich mit köstlichem Räucherwerk, überhäufen mich mit recht artigen Komplimenten, es ist wohltuend und erheiternd, und ich bin versucht einzustimmen. Sie vernehmen auf meinem Gesicht eine flüchtige Röte, aber mich quält die Vorstellung, über Stunden in einem geschlossenen, schlecht gelüfteten Raum zu debattieren über Gegenstände, die ich am liebsten mit einem Bäh! quittieren würde. Das muss sorgfältig bedacht werden. Zudem bin ich uneins mit mir selbst, ob ich zu Recht vom Junior Ihrem Club zugeteilt worden bin. Der Junior belustigt sich gerne über das, was uns auf Erden oft das Heiligste war. Es entbehrt nicht feiner Ironie, wenn Der Junior alle Buchmenschen, die länger gelebt haben, als sie ein wenig hochmütig glaubten vorhersagen zu können, als irdische Longseller oder Backlist verspottet und dazu verdammt hat, Mitglied im Club der falschen Propheten zu werden. Die sattsam bekannten Gerüchte über meine Biographie erwecken zwar den flüchtigen Anschein, als gehörte auch ich in der Tat jener Spezies an, die den Zeitpunkt ihres vorlaut verkündigten eigenen Todes sehr deutlich überlebt hat, aber vielleicht hat Der Junior in meinem Lebensbuch nur oberflächlich gelesen …»
«Je, den Düwel ook! Sie machen mich neugierig, mein Freund. Lassen Sie uns diese Dünung hinaufsteigen, wenn es Ihnen nicht zu viel Mühe bereitet. Von diesem mürben Sandgletscher aus haben wir einen herrlichen Ausblick!»
«Gern. Fürs Erste möchte ich bekennen, dass ich zunächst mit einigem Erstaunen meinen Vater überlebte, mein Vater, der, auch nachdem wir uns etwas läppisch überworfen hatten, stets die Reling meiner stürmischen Jugend war - wir hielten auch später Beziehungen miteinander, lebten aber nicht mehr unter einem Dach. Aber noch größer war meine Verwirrung, als ich den vierunddreißigsten Geburtstag feiern musste, obwohl ich stets davon ausgegangen war - und es leider öffentlich kundgetan habe -, dieses Datum nicht zu erleben. Wahrhaftig, ich hätte meine Seele verwetten mögen, so sicher war ich mir, mit spätestens dreiunddreißig wie unser Heiland aus dem Leben abgerufen zu werden. Ja, ja, wir beide, teurer Herr Thomas, sind Überlebenskünstler, weil, das ist bekannt, das von Ihnen verkündete Ende mit immerhin stolzen siebzig Jahren ebenfalls verstrich und vertagt werden musste. Erst jüngst wurde dieses Gerücht wieder in der irdischen Presse lanciert.»
«Mein lieber Sören, ungern unterbreche ich Sie, aber ich darf doch mit einigem Nachdruck erinnern, dass ich mit siebzig sehr ernstlich an der Lunge erkrankte, und beinahe wäre mein Operationshemd mein Totenhemd geworden, wenn nicht professorale Kunst in der neuen Welt ein Wunder vollbracht hätte! Wenn ich recht unterrichtet bin, plagte Sie mit dreiunddreißig nicht einmal ein Katarrh.»
«Pardon, mein Herr! Ich war seit Geburt von zartester Konstitution!»
«Aber natürlich! Aber natürlich! Das ist doch bekannt. Ich wollte Sie nicht kränken. Entschuldigen Sie. Wir verstehen uns! Perfekt! Erledigt! Ein warmer Seewind kommt auf. Wir sollten das Schuhwerk ablegen, um den intimen Kontakt mit den Elementen zu genießen.»
«Der eigentliche Genuss liegt in der Vorstellung, verehrter Herr Thomas, aber ich will gerne mich bequemen und mich von meinen Stiefeln erleichtern. Wenn Sie mich vielleicht etwas abstützen würden?»
«Darin bin ich geübt!»
«Danke ergebenst. Ich möchte, wenn es erlaubt ist, noch einmal auf den soeben reflektierten Gegenstand zurücklenken. Meine erste Todeserwartung war die Folge einer weichen und verdorbenen Psychologie. Meine zweite Prophetie habe ich dann, so darf ich doch mit einigem Stolz bekennen, auf den Tag genau eingehalten.»
«Sie spannen mich richtig auf die Folter, lieber Sören. Ihre Biographie ist eine nie versiegende Quelle süßester Verwirrung. Geben Sie mir die Hand, dann geht der beschwerliche Anstieg etwas leichter. Ich möchte alle Termine verwünschen, um heute in Ihrer Nähe zu bleiben.»
«Ach, auch ich habe meine Händel.»
«Wie aufregend! Gestehen Sie!»
«Unter dem Pseudonym Victor Emeritus veröffentliche ich wöchentlich fromme Satiren. Ich lese dem deutschen Volk - Dänemark schien mir auf die Dauer doch etwas zu übersichtlich - die Leviten am Tag des Herrn, übrigens in einer Sprache, die auch die Halbgebildeten unter den Verächtern wohl oder übel verstehen.»
«Reizend. Ganz reizend. Wie fühle ich mich geehrt, dass Sie ausgerechnet mir das Geheimnis preisgeben. Übrigens: Auch Martin glaubte, Sie als Autor erkannt zu haben, obwohl Ihre Sprache in diesen schmalen Texten betont dem Zeitgeist entspricht, aber selbstredend doch geübt satirisch daherkommt.»
«Sie sagten: Martin? Den etwas barocken …»
«Nein, nein. Ich meinte nicht den Wittenberger, bei Gott, dieses genitale Kraftgenie ist mir verdächtig. Heute kann ich es mir gar nicht mehr erklären, warum ich lebenslang mich mit einem Plan trug, eine Novelle über Luther zu schreiben! Nein, ich sprach darüber mit dem gebürtigen Schwarzwälder Martin Heidegger, nicht urban, aber von gutem Wuchs und mit einem gottgleichen Schalk im Blick. Er ist hier oben bei der Führung sehr beliebt, weil er vor dem irdischen Ende altersstarrsinnig wiederholte: Nur ein Gott kann uns noch retten!»
«Ich will Heidegger weder schmähen noch preisen, aber ich bin auf ihn nicht gut zu sprechen, verehrter Herr Thomas, kennt er sich doch zeilengenau in meinen Werken aus, ohne sich jemals öffentlich zu mir bekannt zu haben.»
«Sie haben ja so Recht, lieber Sören. Öffentliche Bekenntnisse, wenn sie nicht gefallsüchtig und schmeichelnd-katzbuckelnd Gott persönlich betrafen, waren seine Sache, wie wir wissen, leider nicht.»
«Das ist gewisslich wahr. Darf ich gestehen - ich getraue mich kaum -, dass ich mir erlaube, nun endlich eine Romanbiographie erscheinen zu lassen, die einige törichte Fehler, die über meinen Lebenslauf kursieren, berichtigt?»
«Sie haben aber doch nicht etwa einen groben Missgriff getan und aus Gewohnheit ein latinisiertes Pseudonym gewählt? Latein ist völlig aus der Mode!»
«Aber nein! Wo denken Sie hin! Ich entschied mich für ein holländisches Pseudonym. Holländer sind beim großen Publikum ganz unverdächtig. Holländer üben sich meistens in der Kunst des Eisschnelllaufs und des Balltretens. Sehr elegant, dieses Volk, sehr elegant!»
«Köstlich, köstlich, mein lieber Sören. Sie sollten noch einen Belgier, einen Franzosen, einen Spanier und einen Engländer in Ihr Buchprojekt einschmuggeln, um die Kultivierung der ehemaligen Kolonialmächte voranzutreiben. Das rechnet sich in jeder Hinsicht. Ich habe übrigens jüngst mein Leben verfilmen lassen. Das mit langem Fleiß produzierte Kunstwerk wurde mit sehr honorigen Einschaltquoten belohnt. Von meinem Double war ich äußerst angetan, ein heiter-tiefsinniges Spiel, allenfalls das Klacken der Teilprothese empfand ich als störend. Lassen Sie uns hier Platz nehmen und von der Düne aus aufs Meer hinausschauen. Manchmal sieht man den Heiligen Geist dort schweben - gleichermaßen faszinierend wie erschreckend. Wenn er bei Laune ist, zeigt er sogar einige seiner aparten Kunststückchen.»
«Hoffentlich keinen Salto mortale. Gerne wäre ich Zeuge seiner Darbietungen. Pardon, ich möchte mir mit einer Socke den leidig störenden Sand zwischen den Zehen entfernen, wenn es erlaubt ist!»
«Mit welcher Grazie Sie es tun! Man traut sich nicht zu fragen, ob man assistieren darf.»
«Aber vielleicht, lieber Thomas, wollen Sie mir beistehen in der aufreibenden Arbeit am Roman, der bald in Druck gehen soll? Also, ich empfände es als außerordentliche Höflichkeit Ihrerseits, wenn ich Sie mit einigen Fragen behelligen dürfte.»
«Es wäre mir ein Fest. Es wäre mir ein Fest. Ich liebe bekanntlich Geschichten, die mit historischem Edelrost überzogen sind. Und erfahre ich dann endlich, warum Sie glauben, unrechtmäßiges Mitglied im Club der falschen Propheten zu sein?»
«Es ist so!»
Wanderungen in der Gehirnkammer und rosige Finger
«Er verstand es durchaus, verehrter Thomas, die Zeit auszufüllen, zumal wenn ein Gast erschien, mein Vater, der sich früh von allen Geschäften aus der Strumpf- und Kolonialwarenbranche zurückgezogen hatte. Dann kam eine frische Lebendigkeit in seine Züge, dann kehrte der Witz zurück, die Zunge erinnerte sich der Bildung, hören Sie …»
 
… die Zunge erinnerte sich der Bildung, man sah ihm an, wie er die Gedanken formte, erwog und abschmeckte, bedächtig, ohne Hetze; erst dann wurden sie mit Liebe aufgetragen, so wie ein Koch seine Gerichte zubereitet und zunächst sein eigener strenger Richter ist, der auf einen anderen Richter trifft, den Gast, dessen Mienenspiel ein erstes Urteil fällt, manchmal Begeisterung, manchmal Reserve, selten Ablehnung signalisiert, und Sören verhielt sich still in einer Ecke des Zimmers, vergaß sein Spielzeug, sah sich satt an den Trüffeln, die sein Vater aus der Gehirnkammer hervorholte und seinem Gast vorsetzte.
Diese Gehirnkammer schien nie leer zu werden, spendete auch überreichen Trost, wenn sein Vater ihm untersagte auszugehen, entschieden Tändeleien und Ablenkungen unterband. Dann nahm er ihn, um die Stimmung zu retten, an die Hand und ging mit ihm auf der Diele spazieren, fragte freundlich, wohin es gehen sollte. Bettelte Sören: zum Lustschloss, dann sagte Michael Pedersen Kierkegaard: Es werde ein Lustschloss!, und es ward ein Lustschloss vor Augen gemalt, bevor sie die Diele halb durchschritten hatten. Sören erkannte das gusseiserne Tor mit dem fein ziselierten Wappen. Sie gingen über den knirschenden Kies. Sören stellte sich auf die Zehenspitzen und riskierte einen verstohlenen Blick auf den festlich gedeckten Tisch, zählte die Kronleuchter, entdeckte einen Sprung in einem Weinglas, rügte kopfschüttelnd die schlampige Dienerschaft, fragte nach der Bedeutung des abgetrennten Kopfes auf dem mächtigen Wandgemälde. Sie umkreisten mehrmals das geheimnisvolle Schloss mit den vielen Fenstern und Türen. Sören grub mit den Händen einen vermutlich von einem Hund ausgebuddelten Rosenstock wieder ein und grüßte am Tor freundlich einen Mann, den sie für den Gärtner hielten. Auf dem Rückweg wäre der vor Aufregung tänzelnde Sören beinahe unter eine Kutsche geraten; das Rattern der Räder war so laut, dass er den warnenden Ruf seines Vaters überhörte und nur knapp einem Unglück entging. Um den Schrecken zu lindern, durfte er bei der Kuchenfrau, die in der Nähe des Hafens ihren Stand betrieb, kandierte Früchte kaufen, die ihm so gut schmeckten, dass er beim Mittagessen keinen Hunger verspürte. Nach einer halben Stunde war Sören von den phantastischen Abenteuern, die er erlebt hatte, ohne einen Schritt vor die Tür gemacht zu haben, so erschöpft, dass er sich für den Rest des Tages erholen musste.«Nächstens gehen wir zum Strandweg», sagte Sören, wie um seinen Vater zu trösten.
Oft aber saß sein Vater zusammengekauert am Fenster und starrte stundenlang nach draußen. Sören erkannte zwar die an den Schläfen ergrauten Haare, die, sorgfältig gekämmt, die Geheimratsecken verdeckten, die großen, mächtig hervortretenden Augen, die dem Gesicht ein leichtes Staunen auferlegten, den dünnlippigen Mund, der Sören auf den Spaziergängen verzaubern konnte, aber alle Energie war aus dem Gesicht gewichen; die Augen wirkten müde, die Wangen waren eingefallen, die Blässe und Schlaffheit des Gesichts zog alle Kraft aus dem Raum. Nur gelegentlich rollte sein Vater mit dem Kopf, als könne er sich nicht entschließen, auf seine eigenen forschenden Fragen mit einem Ja oder einem Nein zu antworten.
Sein Vater hatte sich zurückgezogen, ging in seinem Innern durch die Räume, erprobte die Fundamente und die Substanz, klopfte, horchte, bohrte, lüftete das Dachgeschoss, prüfte Herz und Nieren, tastete die Milz ab, das kleine, von Alkohol nahezu unbeschwerte Pankreas, stieg ab in die Kanalisation, kletterte wieder zurück, warf einen verstohlenen Blick in sein Lustschlösschen, machte kehrt, kam noch einmal zurück, trat über die Schwelle, schlenderte durch den Spiegelsaal, hielt sein Antlitz bedeckt. Angst schwoll an, er hastete durch die Räume, sperrte ab, sprang über den Graben, Wasser spritzte auf, er spielte mit dem Schlüssel, schüttelte den Kopf, wollte ihn in den Burggraben schleudern, holte weit aus, aber seine Faust verkrampfte, hielt den Schlüssel fest umschlossen, gab ihn nicht frei, ein Krampf, der ein Beben auslöste, wie Sören feststellte, weil der Kopf seines Vaters jetzt leicht zitterte und die Zähne knirschten. Sprach Sören ihn dann leise an, dann bewegte sein Vater wie unter großer Anstrengung den Kopf, seufzte und nickte.
Der Vater.
Sören hing an seiner Mimik, studierte den Kanon der kleinen und kleinsten Regungen: Wie er bei einem Gespräch vornehm nickte; wie er den Kopf zweifelnd wiegte (mit geringen Neigungsgraden, die nur Sören messen konnte); wie er die linke Augenbraue leicht anhob, um Erstaunen zu signalisieren (heimlich übte Sören, bis er den Muskel entdeckte, der die Augenbraue, ausschließlich die linke Augenbraue, in Bewegung setzte); wie plötzlich eine Falte, die Missfallen bedeutete, zwischen den Augenbrauen auftauchte (als Sören einmal ein Salzfass umwarf, erschien diese energische Furche wie ein Ausrufezeichen auf der Stirn, dann fiel der dunkle Satz: Du bist ein verlorener Sohn); wie - endlich - das Grübchen auf der Wange Wohlwollen bedeutete - ja, Sören kannte die Sehnen und Muskeln in diesem Gesicht, ihre Anzahl und Lage, er war ein Meisteranatom. Obwohl er noch nie einen Fuß in eine Schule gesetzt hatte, las er in diesem Gesicht wie in einem offenen Buch. Er rannte bereits zur großen Truhe, wenn seines Vaters Gesicht verriet, er finde jetzt die Muße, mit ihm in einer Fibel zu blättern, die sie an einer Krambude erstanden hatten, diese Fibel, die er, obwohl abgegriffen und abgestoßen, über alles liebte: die Fibel der Helden.
Sören saß auf dem Schoß seines Vaters und betrachtete sein Lieblingsbild. Auf einem starken Schimmel, dessen Muskeln bereits angespannt waren, um loszustürmen, thronte ein Mann; das Gesicht war reine Entschlossenheit, konzentrierter Wille, die Augen hatten das Ziel fest im Blick, der Arm, diese energische Verlängerung des Willens, deutete für die Umstehenden die Richtung an und war gleichermaßen Befehl:
Umwelthinweis:
Dieses Buch und sein Schutzumschlag wurden auf chlorfrei gebleichtem Papier gedruckt.
Die vor Verschmutzung schützende Einschrumpffolie ist aus umweltschonender und recyclingfähiger PE-Folie.
 
 
 
 
 
 
1. Auflage
Copyright © 2003 Albrecht Knaus Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Umschlaggestaltung: Design Team München Gesetzt aus: 10.6/15.6 pt. Baskerville BQ Satz: Filmsatz Schröter, München Druck und Bindung: GGP Media, Pößneck Printed in Germany
eISBN : 978-3-641-01070-6
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Leseprobe
 

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