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Eine längst überfällige, frische Theologie für die Gegenwart
Wenn es um die Gottesbeziehung des Menschen geht, hat die Theologie bisher auf die »Schuld« gesetzt: Das Heil des Menschen besteht in der Erlösung von der Sünde! Die meisten Menschen erleben sich aber gar nicht als sündig - und entsprechend gering ist das Interesse am Christentum.
Einen neuen Weg geht Klaas Huizing. Die Weisheitstheologie der Bibel entdeckt er für eine Neubestimmung der Rede von Gott. Zentral darin steht die Leiblichkeit des Menschen. Es ist das leibliche in der Welt sein, das dem Menschen Erfahrungen des Heiligen ermöglicht und es sind die Weisheitstraditionen der Bibel, die diesen Erfahrungen Gestalt und so dem Leben Orientierung geben. Sie wiederzuentdecken heißt, beim Leben selbst in die Lehre zu gehen.
Ein Augen öffnendes Buch über die ungebrochene Kraft der Bibel und des Glaubens für das 21. Jahrhundert.
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Seitenzahl: 1523
»Ich bin kein Theologe, dennoch mißfällt mir, daß sich dieses geistabenteuernde Fach in einen öden Winkel verkrochen hat und seiner Wirkmacht beraubt wurde.«
Das sagt ein Protagonist in Sibylle Lewitscharoffs Roman Das Pfingstwunder. Aus dem öden Winkel muss die Theologie in der Tat heraustreten und neue Wege gehen. Der Vorschlag dieses Buches lautet: Eine Theologie für das 21. Jahrhundert ist eine erfahrungsreiche Theologie der Leiblichkeit! Zugang zur Transzendenz geschieht über die leibliche Betroffenheit.
Im Rekurs auf die sprachmächtigen biblischen Erzählungen und die Leibphänomenologie des Philosophen Hermann Schmitz wird hier eine Lebenslehre entworfen, die ihre Quelle in einer genussfreudigen Theologie ausmacht und mit der Vokabel Sünde sehr sparsam umgeht.
Dr. Dr. Klaas Huizing,
geb. 1958, ist Professor für Systematische Theologie und theologische Gegenwartsfragen an der Universität Würzburg. Er ist einer der produktivsten Theologen der Gegenwart.
Neben zahlreichen theologischen Publikationen hat er viele Romane veröffentlicht, die weite, auch internationale Verbreitung fanden. 2003/2004 erhielt er das Jahresstipendium im Internationalen Künstlerhaus Villa Concordia.
Klaas Huizing
Lebenslehre
Eine Theologie für das 21. Jahrhundert
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2., durchgesehene Auflage, 2025Copyright © 2022 Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 Mü[email protected](Vorstehende Angaben sind zugleichPflichtinformationen nach GPSR)Umsetzung eBook: SatzWeise, Bad WünnenbergUmschlagmotiv: © fan_kie – Adobe Stock.comISBN 978-3-641-28726-9V002www.gtvh.de
Dem Lehrer Hermann TimmDen Enkeln Noah, Kirsten, Juri, Piet
»Ich bin nicht klug, ich lese nur viele Romane.«
Elena Ferrante
»Es kommt darauf an, dass man, einmalaufgeschreckt, über sich selbst verwundert bleibt.«
Dieter Henrich
»Die Weisheit ist ein Baum des Lebens allen, die sieergreifen, und glücklich sind, die sie festhalten.«
Proverbien, Sprüche Salomos 3,18
Vorwort zur 2. Auflage
Basics
Ziemlich gutEine weisheitliche Lebenslehre
1. Protestantisches Farbenspiel
2. Roadmap einer Weisheitstheologie
Antworten auf E-Mails des Lektorats
Was ist eine ziemlich gute Theologie?Ein Plädoyer für die Leibphänomenologie
Stimulus 1: Leiblich leben
1. Late to the party
2. Theologie als menschliche Selbstdeutung
3. Theologie als Widerfahrnis-Hermeneutik
4. Theologie als Metaphysik
5. Leibphänomenologie im Anschluss an Hermann Schmitz
Kleine Rekapitulation: Das subjektive Wissen der weisheitlichen Theologie
Antworten auf E-Mails nach der Vorlesung
Die Figur GottEine inszenatorische Schriftlehre
Stimulus 2: Die Bibel lesen, echt jetzt?
1. Schwierigkeiten mit der Schriftlehre
2. Genese und Geltung
3. Der Fiktionalitätsgrad und Verdichtungsprozess biblischer Texte
4. Inspiration der Lesenden und poetische Inszenierungstechniken
5. Ästhetische Andacht und Genuss
6. Die Weisheit als Kanon-Klammer
Kleine Rekapitulation: Vor Augen gemalt
Antworten auf E-Mails nach der Vorlesung
Macht und SündeCluster zu einer prospektiven Sündenlehre
Stimulus 3: Knappe Biografie eines Sündenrucksacks
1. Wege zur Sünden-Berentung
2. Die »Sündenfallgeschichte« entzaubert
3. Unbegreiflichkeit der Sünde?
4. Labile Freiheit
5. Die Sünde als Macht?
Kleine Rekapitulation: Die Sünde im Umformungsparcours
Antworten auf E-Mails nach der Vorlesung
Wege und Realisationsformen des Heiligen 1
Conceptio per aurem! Empfängnis im Ohr!Karl Barths kleiner Grenzverkehr
Antworten auf E-Mails nach der Vorlesung
ContentDie Lehre vom Göttlichen: Genuss und leben von und leben in
Cor fingens – malend mit dem HerzenBiblische Heiligkeitsatmosphären und ihre Gottesbilder
Stimulus 4: Treibstoff für die Fantasie
1. Vorspiel zur Aufheiterung: Gott und Bart
2. Die Einhausung von Heiligkeitsatmosphären in Namen und Bild
3. Priesterliche Heiligkeitsatmosphären
4. Prophetische Heiligkeitsatmosphären
5. Weisheitliche Heiligkeitsatmosphären
6. Mutmaßungen über die Schreiberelite des Alten Testaments
7. Erste Kartierung einer Weisheitstheologie
8. Nachspiel mit Dürrenmatt
Kleine Rekapitulation: Über retrospektive und prospektive Bildprogramme
Antworten auf E-Mails nach der Vorlesung
»Und sie tanzte vor Gott«Eine weisheitliche Schöpfungstheologie
Stimulus 5: Schöpfung mit Hüftschwung
1. Vorspiel: Über Kühe, eine Tänzerin und die Bildkraft der Schöpfungserzählungen
2. Anti-Babylon. Die Schöpfungserzählungen der Genesis
3. Frau Weisheit als Tänzerin und Lehrbeauftragte
4. Die Welt als Nahrung und Wohnstätte
5. Dogmatische Begriffsgeschichten
6. Welterschaffung und Individuation als Angebot von Hermann Schmitz
7. Sich besinnen, Demut und Gefühlskulturen der Dankbarkeit
Kleine Rekapitulation: Über den Sinn, von Schöpfung zu reden
Antworten auf E-Mails nach der Vorlesung
Spielerische IdentifizierungEine Leib-Anthropologie
Stimulus 6: Ich will doch nur spielen
1. Vorspiel: Was ist der Mensch? Über Medien, Sampling und Resonanz
2. Aristoteles for ever?
3. Werkstattbesuche bei den Exegeten
4. Unterwegs zur Spielanthropologie
5. Druckbetankung: Das Alphabet der Leiblichkeit nach Hermann Schmitz
Kleine Rekapitulation: Eine Elementarlehre leiblicher Lebendigkeit
Antworten auf E-Mails nach der Vorlesung
Verstauchter OptimismusEine poetische und praktische Theodizee
Stimulus 7: Relaunch der Zweideutigkeit
1. Gottesdämmerung: Besteht nur Grund zur lärmenden Klage?
2. Hiobs Botschaft: Die Theorieform einer poetischen Theodizee
3. Entstressen, verabschieden, neutralisieren, verharmlosen!
4. Die ambivalente Attraktivität der Prozesstheologie
5. Aufheiterungen: Weisheitliche Rationalisierungen
Kleine Rekapitulation: Ein »Präventivrelaunch« der Theodizee
Antworten auf E-Mails nach der Vorlesung
Wege und Realisationsformen des Heiligen 2
»Salomonisches Lernen«Gerhard Meiers Weisheitspoetik
1. Vorspiel: Anleitung zum Bau einer Glücksmaschine
2. Existieren im Verborgenen
3. Das Credo von Niederbipp
4. Das salomonische Inszenieren
5. Sinn und Geschmack für die Zusammenhänge
Antworten auf E-Mails nach der Vorlesung
Christologie oder leben mit und leben für
Der WeisheitslehrerChristologie und präventive Soteriologie
Stimulus 8: Leiteindruck und Leideindruck
1. Vorspiel mit Jesuslegende
2. Christologie und Soteriologie. Über die Fallhöhe des Diskurses
3. Soteriologie der Freude und des Statusverzichts
4. Mehr als Salomo! Und auch mehr als Jona!
5. Die Bildungsgeschichte des Weisheitslehrers
6. Liebe: Die Einzigartigkeit Jesu aus phänomenologischer Sicht
7. Kreuz als Gewalt: Erlösung als Resonanzoffenheit zum ewigen Leben
8. Nachspiel: Requiem für Toto. Sibylle Bergs Coverversion von Jesus
Kleine Rekapitulation: Eine eingeleibte Liebesatmosphäre
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Wege und Realisationsformen des Heiligen 3
Eingeschränkter BlickverkehrMichael Triegels Angebote spielerischer Identifizierung
Antworten auf E-Mails nach der Vorlesung
Wege und Realisationsformen des Heiligen 4
Der tanzende JesusDie Lebenslehre der Romane von John Maxwell Coetzee
1. Vorspiel: Re-Writing als Programm
2. Leben in der dritten Person
3. Die »mäeutische Geburtszange«
4. Mach mir den Twist!
5. Postkolonialer Inklusionshumanismus: Einige »Lehrstücke«
Antworten auf E-Mails nach der Vorlesung
Pneumatologie oder leben durch
GeistbrausEine weisheitliche Pneumatologie
Stimulus 9: Nachruf auf die Putten
1. Vorspiel: Flatten the curve oder: Geistvergessenheit und Geistdressur
2. Die Einhausung des heiligen Geistes in der Bibel
3. Dompteure des Geistes. Seine Erzieher und Käfigsprenger
4. Freude: Eine corporale Phänomenologie des heiligen Geistes
Kleine Rekapitulation: Wo taucht der Geist auf, bitte schön?
Antworten auf E-Mails nach der Vorlesung
Mitten im DorfWohnen, spielen und feiern in der Kirche
Stimulus 10: Hygge in der Kirchenbank
1. Vorspiel: Wohnen unterm hohen Dach
2. Heilige Orte und Kirchbauten als Realisationsformen des Heiligen
3. »Gott essen«: Das Gottesdienstfest als Praktik spielerischer Identifizierung
4. Am Anfang war die Krippe. Kirche als Geburtskirche
5. Nochmals: Besteht eine Notwendigkeit der sichtbaren Kirche?
Kleine Rekapitulation: Realisationsformen und Praktiken des Heiligen
Antworten auf E-Mails nach der Vorlesung
Wege und Realisationsformen des Heiligen 5
Die PneumamaschineDenise Ritter als musikalische Biografin des Atems
Antworten auf E-Mails nach der Vorlesung
Übersetzen und leben bei
ÜbersetzenEine weisheitliche Eschatologie
Stimulus 11: Gruß nach drüben
1. Vorspiel: Öffnungszeiten des eschatologischen Büros
2. Eiskalte Mieter. Eine Kühlhausutopie
3. »Kompetenzausweitung Gottes«. Die Geburt der Auferstehungshoffnung
4. Unbehagen mit der Eschatologie Eine kleine Forschungsgeschichte
5. Eschatologisches Revival. Drei neue Wege
6. Die philosophische Posaune von Hermann Schmitz
7. Die Unsterblichkeit des Leibes. Scham und Friede
Kleine Rekapitulation: Neue Öffnungszeiten des eschatologischen Büros
Antworten auf E-Mails nach der Vorlesung
Wege und Realisationsformen des Heiligen 6
Literatur als »Aufschwunggeschäft«Sibylle Lewitscharoffs pneumatische Poetik
1. Vorspiel: Pneumatischer Realismus und Schreber redivivus
2. Musizieren auf der Eierharfe
3. Der Löwe und Blumenbergs Himmelfahrt
4. Roadnovel als Totenkorso
5. Paternoster reloaded
6. Sprachereignis und schwarze Anthropologie
Antworten auf E-Mails nach der Vorlesung
Results
Reader’s Digest einer weisheitlichen Leib-Theologie
Antworten auf E-Mails nach der Vorlesung
Anmerkungen
Literatur
Bildnachweis
Personenregister
Dank
Die überwiegend positive Resonanz auf meine Lebenslehre hat mich überrascht. Noch eingestaubt von den Umbauarbeiten einer evangelischen Dogmatik, zwischen wissenschaftlicher Ausnüchterung und poetischer Verzauberung taumelnd, erreichten mich viele Einladungen, um meinen Neuansatz vorzustellen. Eine dichte Roadmap zu Pfarrkonventen, Dekanatstagungen und Akademien habe ich absolviert und jeweils vor Ort lustvoll diskutiert. Eine Atmosphäre der Offenheit für neue Einsichten und unbegangene Wege war nahezu überall leibhaft spürbar. Ich habe viel Ermutigung davongetragen.
Wer in Sündenfragen milde optimistisch ist, muss auch dem Fehlerteufel selbstwirksam gegenübertreten. In der zweiten Auflage wurden etliche Druckfehler und Errata beseitigt, ohne den Anspruch zu erheben, jetzt ein makelloses Exemplar zu präsentieren. Inhaltlich blieb alles beim Neuen.
Ich danke besonders meinem ehemaligen Kollegen Prof. Dr. Horst F. Rupp und meinem langjährigen Mitarbeiter Dr. Michael Bauer für wache Augen und nie erlöschende Diskussionsfreudigkeit. Meinem Lektor Diedrich Steen, mit dem ich bereits viele Bücher auf den Weg gebracht habe, danke ich herzlich für die Treue auch im Hinblick auf künftige Buchprojekte.
Berlin, im Februar 2024
»Eine sanfte Zunge zerbricht Knochen.«Proverbien (Sprüche Salomos) 25,15
»Du bringst nie den Müll raus.«
»Du kommst immer zum Elternabend zu spät.«
»Du putzt nie das Bad.«
»Du drückst dich immer vor dem Rasenmähen.«
»Du wählst immer Fleisch, sofern der feine Herr sich dazu herablässt, zu kochen.«
Ich lasse einen Platzhalter, weil jeder aus dem eigenen Reservoir an Erfahrungen hier applausverdächtige Ergänzungen beisteuern kann.
Eleonore Höfner hat in ihrem Longseller »Die Kunst der Ehezerrüttung«1 Temporaladverbien wie immer und nie als Schwergewichte ausgemacht, die die ehelichen Balancen schleichend ruinieren. Höfner, Leiterin des Deutschen Institutes für Provokative Therapie (D.I.P.), die einen Humor einbindenden Ansatz vertritt, ist offenbar sehr erfolgreich, auch privat, denn seit über fünfzig Jahren ist sie en suite mit demselben Mann verheiratet. Man darf ihr in diesen Fragen also nachhaltig trauen.
Die Ehe steht hier pars pro toto für alle denkbaren Formen längerfristiger Beziehungen, die, das lehrt die Erfahrung, krisenanfällig sind. Das gilt auch für die Beziehung zwischen Mensch und Gott, sofern man an dieser nicht ganz konfliktarmen Verbindung interessiert ist und mit dem Wort »Gott« überhaupt noch einen Sinn verbindet. Das ist beileibe nicht mehr selbstverständlich. Aber auch für diejenigen, die weiterhin diese Beziehung pflegen, gibt es Beziehungsberater*innen2 mit staatlichem Examen: Die Theologinnen und Religionspädagoginnen.3 Keine ganz einfache Arbeitsplatzbeschreibung. Gilt das von Höfner Gesagte, dann sind auch für das Verhältnis von Gott und Mensch Immer- und Nie-Aussagen das pure Gift. Doch viele theologische Beziehungsberater im protestantischen Milieu besitzen geradezu ein Faible für dieses Vokabular, das eine Beziehungskrise nicht befriedet, sondern just anheizt: Wer nur genau hinschaue, der entdecke, dass ausnahmslos jeder Mensch immer zur Sünde neige und Sünder sei, sprich: nie auf Gnade verzichten könne. Diese Radikalität in Sündenfragen macht jedoch, wie Friedrich Nietzsche hellsichtig und überraschend gelassen formuliert, unsensibel für Gradunterschiede: »›Alle Menschen sind Sünder‹ ist eine solche Übertreibung, wie ›alle Menschen sind irre‹, auf welche Ärzte geraten könnten. Hier sind Gradunterschiede außer Acht gelassen.«4
Ulrich H. J. Körtner, Systematischer Theologe aus Wien, bringt die genuin reformatorische Denkweise auf den Punkt: »Während katholische Theologie mit einer verbleibenden Neigung zur Sünde rechnet, die als solche noch nicht Sünde ist, sondern lediglich der Anlass für eine Sünde werden kann, bezeichnet die reformatorische Tradition nicht nur die Tatsünden der Christen, sondern auch die in ihnen noch lebendige Neigung zur Sünde als Sünde selbst. Auf Lateinisch wird die in Rede stehende Neigung concupiscentia genannt.«5 Schon die Neigung zur Sünde als Sünde zu definieren, scheint mir gewaltig überzogen. Ist es nicht an der Zeit, sich von der lauten Konversionsrhetorik zu verabschieden und mit Zwischentönen zu arbeiten? In Zeiten der Genese des Protestantismus waren diese Einseitigkeit und dieser Extremismus vielleicht werbewirksame Aufmerksamkeitsgeneratoren. Reformatoren waren häufig semantische Eiferer, um die Abspaltung von gängigen Mehrheitspositionen für willige Konvertiten sichtbar und vor allem lärmend und türenschlagend zu inszenieren. Hier drohen Überstunden für einen »Tatortreiniger« und den »Sündenräumdienst«.
Mir scheint die bleibende Neigung der protestantischen Theologie zu Immer- und Nie-Formulierungen, die auffällig häufig bei dem Theologen Karl Barth (1886–1968) und bei seinen Nachmietern und Nachmieterinnen6 auszumachen sind, dem Selbstbild geschuldet, das sich der spielerischen Identifikation mit der Figur des Propheten verdankt. Karl Barth ist bestes Beispiel für den »Intellektuellentyp« des Propheten7. Der Theologe, linksliberaler Politiker und einer der Hauptvertreter des Kulturprotestantismus, Martin Rade (1857–1940), Barths früher Mentor, schreibt seinem ehemaligen Schützling nach der Lektüre der »Christlichen Dogmatik im Entwurf« (1927) mit sehr kritischem Unterton: »Ich rechne dich mit vollem Ernst unter die Propheten. Wobei wir uns das Prophetenamt nicht gleich ins Übermaß hinaus auszudenken brauchen. Aber ich habe keine andere Kategorie für dich.«8 Die Zuschreibung trifft. Barth startet als sprachmächtiger Unheilsprophet des »Nein!«- Gottes. Prophetie, namentlich die Unheilsprophetie, neigt zur Schwarz- Weiß-Malerei und zum sprachlichen Extremismus, der durchaus anziehend sein kann. Ich gestehe: Während meines Studiums in den Niederlanden, extrem lange eine Hochburg, nein uneinnehmbare Festung des Barthianismus, bewunderte ich Karl Barths frühe Versuche, auf dem Kopf zu gehen. Dann aber vollzieht Karl Barth in seinem Opus magnum »Die Kirchliche Dogmatik« (ab 1932) noch vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs eine rasante Drehung zum Heilspropheten. Diesen Mut wertschätze ich noch heute.9 Nicht ganz ohne Neid habe ich später sehnsüchtig in die linksbarthianische Ecke geschielt und deren Echos abgelauscht, weil deren Vertreter vor dem Hintergrund des Heilsversprechens mit viel Feuereifer gesellschaftliche Missstände angeprangert haben. Hier konnte meine Altersklasse, die für die 68er-Revolte bedauerliche zehn Jahre zu spät kam, noch auf den Zug der Revolte aufspringen. Ich habe den schnaufenden Zug mit tief in den Hosentaschen vergrabenen Händen fahren lassen, auch, weil ich den Anspruch eines prophetischen kirchlichen »Wächteramtes« in einem demokratischen Gemeinwesen als höchst problematisch empfand.
Zeuge der Prophetenkür war ich während unzähliger Gottesdienstbesuche in meiner Kindheit und Jugend, jeden Sonntag jeweils um 10 und 14 Uhr. (In den Nachmittagsgottesdiensten war stets eine Frage des Heidelberger Katechismus Thema der Predigt. Keine leichte Kost.) Zunächst wurde in schwärzesten Farben das Immer- und Nie-Vokabular in der Sünden-Strafpredigt über uns ausgeschüttet. Prophetische Theologie ist Bluthochdruck-Theologie. Anschließend kam es zur sichtbaren Verwandlung, weil der Pastor mit einer tollkühnen Spitzkehre in das Heilsvokabular hinüberwechselte: Plötzlich strahlte das weiße Beffchen auf dem tiefschwarzen Talar. Und unser sprachmächtiger Pastor, der später für einige Zeit mein Professor für Neues Testament in den Niederlanden wurde, ausgestattet mit einem Fanfarenmund, füllte mit gewaltiger Kraft und sichtbar zufrieden seine Rolle aus: ganz Sünder geworden, leuchtete uns Christus als alleiniger Retter und ausschließlicher Heilsbringer umso heller. Dem Immer und Nie korrespondierten das Allein und Ausschließlich (sola) der Gnade. Bei mir haben diese dramatischen, aber stets nach dem gleichen Muster choreografierten Auftritte zu einer wachsenden religiösen Appetitlosigkeit geführt; ich verstehe aber heute die Attraktivität, sich als Pastorin oder Pastor spielerisch mit dem Typus des Propheten zu identifizieren: das Selbstbild verspricht nachhaltige Autorität.10
Auch vom Naturell her bin ich nicht dafür prädestiniert, als berufenes Mundstück Gottes aufzutreten. Wer wie ich in einem strengen calvinistischen Gespinst aufgewachsen ist, wurde mit der Vokabel Berufung gerne fürsorglich belagert. Berufung! Meine Großmutter pflegte in einem fein austarierten zeitlichen Rhythmus mir einzuschärfen: Zum Pfarramt oder zum Predigtamt muss man sich berufen fühlen! Für uns reformierte Christen war klar: Nur ein Pastor (Pastorinnen waren noch nicht zugelassen) hat einen Beruf dank Berufung. Niemand sonst. Damit konnte ich nicht dienen, bin deshalb mit der Philosophie gestartet und über diesen Umweg und die schöne Literatur final bei der Theologie gelandet. Wenn ich eine Berufung erlebt habe, dann durch die Romane und Poesie, die mir die biblischen Texte, einige zählen zur Weltliteratur, wieder nähergebracht haben. Mir fehlen bis heute kräftig ausgeprägte cholerische Anteile, die für einen (Unheils-)Propheten nahezu unabdingbar sind, deshalb suchte ich eine andere Arbeitsplatzbeschreibung. Denn Theologinnen müssen sich nicht zwangsläufig dem Typus des mit Emphase und Inbrunst auftretenden Propheten oder einer Prophetin verschreiben. Die theologische Tradition kennt durchaus alternative Selbstbilder und Theorieformate, die ebenso legitim sind und vielleicht sogar resonanter auf das aktuelle Lebensgefühl vieler Menschen reagieren. Zu diesen Theorieformaten gehört die Weisheitstheologie, für die ich hier vielseitig werben will.
Lange galt die biblische Weisheitstheologie als theologisches Souterrain. Als latent unernste, aus anderen Quellen importierte »Hallodri-Theologie«, die daher auch nicht als Quelle systematisch-theologischen Denkens in Frage kam. Es war die alttestamentliche Wissenschaft, zunächst in der Gestalt ihres Großmeisters Gerhard von Rad (1901–1971)11, unterstützt und nachdrücklich inspiriert vom damals jungen Systematischen Theologen Hermann Timm, die dieses Thema auf die Agenda setzte. Inzwischen ist es, nach mehreren Anläufen, auf der Aufmerksamkeitsskala der alttestamentlichen Wissenschaft weit nach oben gerückt. Auch in der neutestamentlichen Wissenschaft ist der Blick auf weisheitliche Traditionen keine Randerscheinung mehr.12 Nur die Systematische Theologie reagierte auf diesen Hype zumeist mit einer Kontaktallergie. Ich hingegen suche den Kontakt und konzipiere die Weisheitstheologie als neues Theoriedesign Systematischer Theologie. Der Idealtypus des Weisheitstheologen arbeitet nicht mit Zerrüttungs- und Drohvokabular, sondern wirbt (gelegentlich auch nachdrücklich) um Zuspruch. Weisheitslehrerinnen verfügen über die weiche Zunge und unterrichten zumeist in einem angenehmen, engagierten Tonfall, der auf extreme Hitzegrade und prophetische Unter- oder Obertöne verzichtet. Nur im Übereifer wird mal getriezt. Von den Lernenden verlangen die Weisheitslehrer nicht mehr als ziemlich gut13, milde optimistisch und vorausschauend zu handeln. Ich positioniere die Figur der Weisheitslehrerin gegen die Figur des autoritär auftretenden Propheten und auch die des Priesters oder Pastors, der sich mit dem Nimbus der Heiligkeit und Unnahbarkeit umgibt, sein Charisma aber seinem Amt verdankt, das mit der Zeit den Rang einer unabdingbaren Mittlerinstanz des Verkehrs mit dem Heiligen erworben hat.
Will man ein Raster gängiger Theorieformate erstellen, so gelangt man zu diesen drei Grundtypen: prophetische, priesterliche und weisheitliche Theologie. Alle drei Typen kommen darin überein, auf ihre Art und Weise Erfahrungen des Heiligen zu bearbeiten und als Inszenierungen für Dritte zugänglich zu machen. Mit dieser These ordne ich mich in die Denktradition des evangelischen Theologen und Religionswissenschaftlers Rudolf Otto (1869–1937) ein, der in den hinterlassenen Schriften, mit Jörg Lauster gesagt, »Dogmatik als notwendigen Rationalisierungsmodus religiöser Erfahrung des Numinosen«14 beschrieb. Als numinos qualifiziert Otto gleichermaßen faszinierende wie erschreckende, berückende wie beängstigende religiöse Erfahrungen, die mich oft wie ein Schock heimsuchen und aufschrecken lassen. Otto selbst aber pflegte eine entschiedene und entschieden einseitige Vorliebe für die Figur des Propheten.
Zwischenfallartige Erfahrungen in der Lebenswelt, die diese Qualität aufweisen, sind schnell benannt und werden nicht zufällig durch Vokabeln beschrieben, die von leiblichem Spüren künden: »Ich bekomme Gänsehaut«, »spüre wohlige oder ohnmächtige Schauer«, »mir stockt der Atem«; bei einem Gewitter im Gebirge; beim Surfen, wenn eine Monsterwelle anrollt (habe ich mir von Fachfrauen sagen lassen); beim Blick auf einen schaurig schönen Lavastrom nach einem Vulkanausbruch; ich werde in einen Film hineingezogen und traue mich kaum hinzuschauen; mitten in einer wogenden Masse im Fußballstadion sich befindend, fühle ich mich aufgehoben und gleichzeitig gefangen. Religiös im engeren Sinne sind es existentielle Erfahrungen, die über einen Zwischenfall hinausgehen und eine Qualität aufweisen, die man gerne durch die Metapher der Tiefe andeutet – gemeint sind Erfahrungen, die mich leiblich so aufwühlen, dass sie mir, nachdem ich den Ernst der Anmutung geprüft habe, einen Lebenssinn15, eine Lebensrichtung oder ein Lebensbild vor Augen stellen, mit dem ich mich spielerisch als Lebensform identifiziere. Diese überwältigenden, das alltägliche Dahinleben unterbrechende Erfahrungen werden dann zu einer Leben stiftenden Begegnung, die mir Kraft und oft Lebensfreude und Lebenslust einspeist. In diesen Augenblicken gehe ich aus mir heraus, verliere im besten Sinne die Fassung, weil sich plötzlich kreative Spielräume öffnen. Das Leben wird tiefer und erfüllter.
Ich rezipiere Rudolf Otto in der Um- und Weiterdeutung des Philosophen und Leibphänomenologen Hermann Schmitz (1928–2021), der die Erfahrung des Heiligen als eigentümliche Atmosphäre der leiblichen Betroffenheit qualifiziert. Die animierende Stärke dieses Autors besteht darin, numinale Erfahrungen, also nachhaltig irritierende Erfahrungen des Heiligen oder Göttlichen am Urmedium und Resonanzraum des jemeinigen Leibes als unvertretbare, sprich subjektive Tatsachen, vor Ort des leiblichen Spürens auszuweisen. Der »Leib selbst [ist] nichts anderes als das ausgedehnte Spüren.«16 Die drängende Frage nach der Glaubensgewissheit hat im theologischen Diskurs wiederholt adipöse Werke hervorgebracht, aber Schmitz kann die Antwort, wie zu zeigen, sehr elegant verschlanken. (Das ist häufig ein Kriterium für Qualität.) Schmitz entwickelt konsequent von einem neuen Gefühlskonzept aus, das Gefühle als Atmosphären, die herandrängen, beschreibt, den Religionsbegriff. Durchaus vollmundig fordert er: »Die fundamentalen Dogmen des Christentums bedürfen der Revision im Licht der Entdeckung der subjektiven Tatsachen.«17 Präzise diesem Geschäft will ich nachgehen.
Eine ziemlich gute Dogmatik hat einen konkreten lebensweltlichen Phänomenbereich zu ihrem Gegenstand und geht von der Beobachtung aus, dass Menschen in ihrem Leben leibnahe Erfahrungen des Heiligen machen, nämlich als Erfahrungen der sie betreffenden Bedeutsamkeit. Peter Sloterdijk der Prächtige hat sehr präzise und trefflich mit einer hübschen Volte gesagt: »Glaube ist die Unmöglichkeit, unbedeutend zu sein.«18 Statt von Offenbarung und Glaube – weiterhin zwei wichtige Fahnenwörter gegenwärtiger Theologie – spreche ich mit Schmitz von leiblicher oder affektiver Betroffenheit, die unserem Leben Orientierung verschafft. Zugang zur Transzendenz, das ist die Pointe, bietet zunächst und zumeist der Leib. Deshalb spielen Leiberfahrungen die alles entscheidende Rolle in meiner Dogmatik. Und statt von einer Glaubenslehre spreche ich von einer Lebenslehre.
Längst ist der Begriff Leben zu einem Containerbegriff geworden.19 Im geisteswissenschaftlichen Horizont, wenn über das gelingende oder das gute Leben20, über Lebenskunst und das glückliche Leben21 nachgedacht wird, überkreuzen sich philosophische Traditionen wie etwa der Vitalismus der Lebensphilosophie und Importe aus Nietzsches Denkkosmos. Nachdrücklich werden Anleihen bei Bergsons Theorie des Elan vital gezeichnet, gerne auch Schopenhauers Rede vom Willen zum Leben adoptiert. Hermann Schmitz verknüpft Einsichten aus Goethes Altersdenken mit Traditionen der Lebensphilosophie und der von ihm entworfenen Leib-Phänomenologie.22 Ich trage zusätzliche Einsichten aus der Exegese, der biblischen Anthropologie, der Christentumsgeschichte und der Phänomenologie bei.23Lebenslehre hat gegenüber den Begriffen der Lebensführung und der Lebenskunst den entscheidenden Vorteil, mit dem Begriff der Lehre nachdrücklich auf die pädagogische Tönung einer Weisheitstheologie hinzuweisen.24 Pädagogik gilt häufig nicht als »sexy«. Ich versuche den Gegenbeweis anzutreten. Weisheitstheologie ist im Wortsinn pädagogisch wertvoll.
Hermann Schmitz war zunächst nicht mein Favorit. Mein erster philosophischer Lehrer, Dieter Henrich, den ich in Heidelberg mit großer Lust erlebte, war Doyen einer Theorie bewussten Lebens.25 In einem langen Wintersemester kamen wir über die ersten zehn Seiten der Vorrede von Hegels »Phänomenologie des Geistes« nicht hinaus. Meine damaligen Aufzeichnungen sind ziemlich krude, ich notierte aber jede Woche die Farben von Henrichs extravaganten Halstüchern, die mir damals (und bis heute) als einzig angemessene Mode für die personale Inkarnation des Weltgeistes erschienen. Geblieben ist mir die Nähe zur Phänomenologie, allerdings in deutlich anderer Ausprägung. Nach Studien zu Husserl, Heidegger und Levinas26 habe ich zunächst zögernd Hermann Schmitz27 allen anderen Autoren vorgezogen, weil bei Schmitz die Leiblichkeit prominenter, äußerst differenziert und mit dem Anspruch eines Systems – Ende der Siebziger, Anfang der Achtziger Jahre glaubte wahrlich niemand mehr an ein »System der Philosophie« – in den Fokus rückt. Hermann Schmitz, der Systembauer von Kiel, hat der Philosophie ein ganz neues Vokabular geschenkt, das dabei hilft, die Leiberfahrungen besser zu deuten. Den subjektivitätstheoretischen Frame, namentlich im Bewusstsein Zugänge zur Transzendenz zu erkunden, habe ich verlassen, bin also gewissermaßen aus dem Rahmen gesprungen. Nicht im Bewusstsein, auch nicht im Wort Gottes oder in der Geschichte, sondern primär ausgehend vom Leib wird ein Zugang zur Transzendenz erschlossen. Und in dieser Frage ist Schmitz die erste Adresse. Nachdem ich mich als »Schmitzianer« geoutete habe, sitzt Schmitz in diesem Buch immer fröhlich winkend und gestikulierend als Pate im Beiwagen und zeigt an, wo ich abbiegen muss. Neben den Arbeiten zur »Phänomenologie des Heiligen Geistes« meines theologischen Lehrers Hermann Timm28, ist es die Ethik von Trutz Rendtorff 29, die Theologie als Theorie der menschlichen Lebensführung präsentiert und für mich als Gewächs Münchner Theologie ein weiterer Orientierungspunkt bleibt. Mir geht es freilich um eine leibtheoretische Neuformulierung, die die »Liebe zum Leben«30 feiert.
Das bei Emmanuel Levinas31 und Corine Pelluchon32 aufgelesene und neu arrangierte und erweiterte Ordnungsprinzip meiner Theologie strukturiert Leben in seinen präpositional-relationalen Ausrichtungen:
leben von und leben in,
leben mit und leben für,
leben durch und
leben bei.
Leben von: Sobald wir zur Welt kommen, lernen wir uns in unserer Leiblichkeit kennen und mit ihr die Welt33, die andringt und uns genussreich nährt. Unser Leib und die persönliche Situation, in der wir erwachsen werden, ist uns kontingent, wie ein Schicksal vorgegeben und will wertgeschätzt (nicht nur anerkannt) werden. Vor dem Hintergrund dieser Kontingenz, unseres persönlichen Schicksals, horizontalisiert sich die Aufgabe, ein selbstbestimmtes Leben im Kontext unserer sozialen Biografie zu führen, indem wir uns auf Lebensmöglichkeiten entwerfen. In einer provozierend bäuerlichen Sprachform hat Martin Heidegger (1889–1976) diese existentiale Struktur als »geworfenen Entwurf«34 charakterisiert. Religiös gedeutet und sprachlich geglättet geht es um die Geschöpflichkeit oder Geburtlichkeit (Hannah Arendt) des Menschen in seiner Leiblichkeit, der im Andringen der Welt immer wieder phänomenale, sprich atemberaubende und aufschreckende, Erfahrungen von Kreativität, spontaner Lebendigkeit und Entwicklungsmöglichkeiten macht, die, wie ich zeigen will, eine Schöpfungstheologie durch tradierte Erzählungen zu deuten erlaubt: Die Welt hat eine wunderbar-kreative Matrix, die uns stärkt. Wir leben von und leben in der Welt als Nahrung, die andächtig genossen, aber nicht als Ressource vernutzt werden will.
Leben mit und leben für: Ein gelingendes Leben bedarf einer Außenleitung oder eines Kompasses von außen, der eine Lebensrichtung vorgibt. In unserer Leibexistenz sind wir in unübersichtlich vielen Bezügen verstrickt, die einen liebenden Blick von außen verlangt, der die Freiheitspotenziale unseres Lebens entdeckt und freilegt. Hermann Schmitz macht neben dem mit der Brille Goethes gedeuteten atemberaubenden Andringen von Welt zwei weitere Angebote: die Erfahrung einer Paarliebe, die im Idealfall ein gegenseitiges Leitbild erschließt, oder religiös die spielerische Identifizierung mit der Verleiblichung der Liebesatmosphäre in Jesus Christus, die kreative Lebenssicherheit in der Atmosphäre tiefer Freude verspricht. Anders gewendet: Im Leben mit anderen vermitteln sich Leiteindrücke und Leitbilder zur temporären oder länger tragenden Orientierung. Religionen unterbreiten Texte, Riten und Sichtweisen, die diesen Vorgang unterstützen können. Der in den biblischen Texten literarisch porträtierte Jesus Christus macht ein ausgezeichnetes und attraktives Angebot, die Lebensrichtung mit einem Distanzschritt zu reflektieren, und eröffnet dadurch Freiheit und die Steigerung von Handlungsoptionen – beides solide Werkzeuge einer prospektiven Lebenslehre, die auch den Statusverzicht und das leben für kennt. Es gibt gute Argumente dafür, nachdrücklich »Follower« von Jesus Christus zu werden.
Leben durch: Menschen erfahren Einwohnungen oder Einleibungen jener Kraft, die dem Einzelnen helfen, seiner Lebensorientierung in der Gegenwart neue Impulse zu verleihen, neue und andere Wege einzuschlagen, irritierbar und verwundert zu bleiben, Neues auszuprobieren oder dem bereits Gewonnenen gestärkt zuzupflichten. Verwunderung hervorrufende lebensweltliche Zwischenfälle und Tiefenerfahrungen habe ich genannt. Aber diese Erfahrungen sind auch intra muros ecclesiae zu haben. Im Idealfall bietet die Kirche bereits als gestalteter Raum eine atmosphärische Einstimmung, die vorbereitet auf eine Feier, die ich als Gesamtkunstwerk der spielerischen Identifizierung mit Jesus Christus deute. Auch das Gottesdienstfest, das religiöse Festspiel, bietet, namentlich in der Predigt, Irritationen, die neue Einsichten zeugen und doch Lebenssicherheit versprechen. Außerhalb der Kirche sind häufig Bildende Kunst und Literatur, Kunst überhaupt, Praktiken und Realisationsformen oder Einwohnungen des Heiligen und Trigger von Lebensaufbrüchen.35 Dem grassierenden Kulturpessimismus, häufig eine philosophisch halbherzig angehübschte Tarnung einer prophetischen Weltsicht, kann ich, ein Spät- oder Nachgeborener des Kulturprotestantismus, dagegen ganz wenig abgewinnen.36
Achtung Spoiler-Alarm: In der abschließenden Eschatologie, leben bei forme ich die traditionelle Unsterblichkeitslehre um zur Lehre von der Unsterblichkeit des Leibes – nicht der Seele! Die reformulierte Sündenlehre bietet ein entscheidendes Argument: In einer Theologie der weisheitlichen Lebendigkeit darf der Tod als Festschreibung menschlicher Lebendigkeit und Freiheit nicht das letzte Wort haben. Bekanntlich ist auch die Festschreibung des Lebens Jesu am Kreuz nicht das letzte Wort. Attraktiv ist das Angebot von Hermann Schmitz, diesen Hoffnungsaspekt und das Vertrauen auf ewige Lebendigkeit mit neuen Argumenten zu unterfüttern. Das entscheidende Argument ist die zugesagte Freiheit, sprich die zu erlangende Erlösung von Festschreibungen der Lebendigkeit durch die eigene Lebensgeschichte.
Meine Dogmatik bettet die Lebenslehre als Freiheitslehre ein in eine reformulierte Vorsehungslehre, die in jüngeren Dogmatiken lange zurückhaltend gepflegt wurde. Und das mit gutem Grund. Wer von Vorsehungslehre spricht, muss sofort mit dem Vorwurf rechnen, von Vorsehung zu sprechen sei angesichts des existenziellen Leidens in der Welt geradezu zynisch. Hinzu kommt, dass durch das Vordringen der Naturwissenschaft der traditionelle metaphysisch-kosmologische Rahmen der Vorsehungslehre ebenso erodiert ist wie der Optimismus einer Geschichtsphilosophie, die davon ausgeht, »Gott sitze im Regimente«37 und lenke die Welt zu einem glücklichen Ende (gubernatio). Auch die Vorstellung eines begleitenden Handeln Gottes (concursus divinus) droht schnell in ein »Konkurrenzverhältnis«38 zum menschlichen Handeln umzukippen, wie Martin Laube, Systematischer Theologe in Göttingen, zu bedenken gibt. Laube erinnert auch daran: »Die dogmatische Vorsehungslehre ist nicht zuletzt deshalb in Misskredit geraten, weil sie sich umstandslos für politisch-ideologische Legimitationszwecke hat missbrauchen lassen. […] Die Versuchung, mit der Rede von der göttlichen Geschichtsmacht letztlich doch nur menschliche Macht- und Deutungsansprüche zu verbrämen, ist groß.«39
Weiterführend ist der zunächst von Arnulf von Scheliha unternommene Versuch, die Vorsehungslehre auf die Frage nach der Lebensführung zuzuspitzen; genauer: als klugen Umgang mit Kontingenzerfahrungen in der Lebenswelt, die nach einer letztgültigen Sinngebung fragen lassen.40 Martin Laube gibt als künftiges Programm aus: »Die Grundidee lautet, die dogmatische Rechenschaft über die symbolischen Sinngehalte des christlichen Glaubens – und damit auch diese Gehalte selbst – konsequent auf die Aufgabe und Praxis der menschlichen Lebensführung zu beziehen.«41 Prächtig formuliert! Innerhalb dieser von Laube formulierten Grundidee gibt es freilich durchaus Spielraum für sehr differente Zugangsweisen. Martin Laube selbst deutet die Symbolgehalte als »Verheißungsfiguren«, die einen »Freiheitsgewinn«42 versprechen. Ich mache einen anders gelagerten Vorschlag, der allen Nachdruck auf die kreative Schöpfungstheologie legt.
Die biblischen Schöpfungserzählungen haben mich immer fasziniert, über ihre Funktion war ich aber lange unschlüssig. Das späte Weisheitsgedicht aus den Proverbien 8, das davon erzählt, Gott habe uranfänglich eine hochindividuelle Frau Weisheit gewoben, die tanzend und spielend ihn zur Schöpfung animierte und als schöpferische Matrix der Welt eingeschrieben ist, habe ich konsequent übersehen. Inzwischen ist sie mir die liebste, weil sie Erfahrungen und Erfahrungsqualitäten von Kreativität, Lebendigkeit und Entwicklungskraft in der Lebenswelt zu deuten erlaubt und damit die Bedeutung der Rede von Vorsehung und dem begleitenden Handeln Gottes (concursus divinus) für die eigene Lebensführung durchsichtig macht.43 Sie ist der Schlüssel zu dieser Dogmatik.44 Warum gibt es Theopoesien? Sie sind fiktive Rationalisierungen von irritierenden und begeisternden Lebenswelterfahrungen. Für mich ist das Weisheitsgedicht aus Proverbien 8 eine Dichtertheologie, die die staunenswerten Erfahrungen von Kreativität (und damit auch aller Dichtertheologien) zu deuten hilft und Lebendigkeit und Kreativität einstiftet. Und: Sie ist die ideale leibgestützte Wahrnehmungsschule für eine gelingende Lebensführung als Lebenslehre.
Kreativität steht für die faszinierenden und irritierenden Erfahrungen des Neuen, die häufig mein eigenes Selbstbild hinterfragen und ein flexibles Selbstbild einfordern.45Lebendigkeit beschreibt die Resonanzfähigkeit und Aufgeschlossenheit des Leibes, um auf die Erfahrung affektiver Betroffenheit zu reagieren, die, sofern es Erfahrungsqualitäten sind, die mich mit letztem Ernst betreffen, mich dazu ermuntern, den dort erschlossenen Richtungssinn des Lebens einzuschlagen. Unter dem Stichwort der Entwicklungsfähigkeit verbirgt sich mein anthropologischer Optimismus: Wenn Erfahrungen von affektiver Betroffenheit mich zu einer Korrektur meines Selbstbildes ermuntern, bekomme ich ein Gespür dafür, dass mein bisheriges Selbstbild bei mir zu Irrtümern geführt hat, die ich auch Dritten gegenüber, die darunter vielleicht gelitten haben, zugeben kann und Geschädigte um Nachsicht und Verzeihung bitte. Jene Resonanzfähigkeit des Leibes ist die Bedingung für meinen Optimismus, dass sich Leben in der Gemeinschaft entwickelt und Versöhnung möglich ist, sofern das ›Wunder der Verzeihung‹ (Nussbaum) eintritt.
Für verspätete Kulturprotestanten46 wird die Erfahrung von Kreativität gerne an ästhetischen Phänomenen ausgemacht, die häufig gleichermaßen irritieren und neue Spielräume erschließen. Das freilich ist eine Engführung. Bestaunen und bewundern konnten wir jüngst eine lebensrettende Kreativität in der für alle Fachleute völlig überraschend schnellen Erfindung eines Coronaimpfstoffes, eine optimistisch stimmende Erfahrung, die die Frage nach Technikfreundlichkeit und Technikfeindlichkeit neu stellte. Die Schöpfungserzählung aus Proverbien 8 erlaubt auch diese sagenhafte Erfahrung zu deuten. Richtig. Auch die Kreativität, hier: die technische Kreativität, birgt Risiken, weil sie inzwischen das Potenzial besitzt, Entdeckungen zu machen, die die Welt im Ganzen zerstören.47 Auch deshalb muss der Fokus präventiv auf mögliche Folgen hin ausgerichtet werden. Aber die erfahrbare (und erfahrene) Kreativität bildet ein Gegengewicht zum grassierenden Hang, sich in bildstarken Dystopien, von säkularen Propheten ersonnen, zu verausgaben. Ich plädiere dafür, mit einem anderen, nicht verdüsterten Blick auf die Lebenswelt zu schauen. Eine Anamnese des rapiden Bedeutungsverlustes der Theologie in unserer Gesellschaft muss hier ansetzen. Es gibt Grund für entlastenden Optimismus. Ziel ist eine leibsensible, genussfreudige Theologie.
Ich habe in der akademischen Lehre immer wieder erfahren, wie riesig und nachhaltig das Interesse der Studierenden an Fragen der Lebensführung ist. Es grassiert ein riesiger »Content-Hunger« und Orientierungsbedarf. Während dieser existenziellen Suche herrscht übrigens keine Kontaktscheu zur Theologie bei Studierenden aus anderen Fächern, die in Massen in die Vorlesung kommen und ausgelost werden müssen. Mit breiter Brust gesagt: Wir haben ein offenbar bis auf weiteres hoch attraktives Angebot.
Meine Verortung der Lebenslehre in der Vorsehungslehre reagiert zugleich entschieden auf Semantiken des Upgrade-Sprechs im Kontext von überhitzten Selbstoptimierungsversuchen am Ende der neoliberalen Epoche, die häufig als großangelegte Konzepte der Todesverdrängung auftreten und die Frage nach dem Ganzen des menschlichen Lebens, das ist traditionell die Frage der Theologie, ausblenden. Die Arbeit am Selbst, genauer die Selbstsorge, wird damit nicht diffamiert, aber jede (auch versteckte) Instrumentalisierung des anderen abgelehnt. Statusverzicht oder Selbstzurücknahme ist ein Movens meiner Lebenslehre, die Selbstsorge steht im Dienste einer Teilhabe aller an einer gerechten und nachhaltigen Welt. Optimierung darf nicht das enggeführte Programm einer urbanen Elite sein, sondern bekommt einen präventiven Dreh verpasst: Fortschritt misst sich an der Eindämmung von Kontingenzrisiken menschlichen und nichtmenschlichen Lebens. Theologie, das ist die Pointe, ist die lebensdienliche Rationalisierung von lebenswichtigen Kontingenzerfahrungen. Und diese Rationalisierung zeigt auch: Man muss nicht alles selbst machen, der Welt ist stützende Kreativität mitgegeben und eingeschrieben.48
Leben von und in
Lebensanfang und Lebensgenuss
Gott
Dankbarkeit
Leben mit und für
Lebensorientierung und spielerische Identifizierung
Jesus Christus
Liebe
Leben durch
Lebensmacht und kreative Lebendigkeit
heiliger Geist
Freude
Leben bei
Lebensfeier
Ewigkeit
Friede
In meinem Denkbild habe ich im Anschluss an die relationalen Bezüge Passagen des Lebenswegs genannt, dann den Passsagen dogmatische Deutungskategorien zugeordnet und anschließend »Hauptgefühle« (Schmitz) beigesellt. In der berühmten 2. Rede »Über das Wesen der Religion« in seiner frühen Religionsschrift Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern unterscheidet Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher sechs religiöse Gefühle, nämlich Ehrfurcht, Demut, Liebe, Dankbarkeit, Mitleid, Reue, hebt zugleich die ersten beiden Gefühle hervor.49 Ich habe mich auf vier Hauptgefühle beschränkt, in die durchaus andere Gefühle atmosphärisch mit hineinspielen, so etwa in die Dankbarkeit als Wertschätzung auch Atmosphären der Demut. Für die weisheitliche Tradition ist die wiederholte Nennung der ›Furcht JHWHs‹, Ehrfurcht spielt mit hinein, lange ein atmosphärischer Stolperstein gewesen, der Alttestamentler Bernd Schipper hat in seinem Kommentar zu den Proverbien vorgeschlagen, die JHWH-Furcht mit dem »Hassen des Bösen«50 gleichzusetzen und hat sie damit ethisch, oder in meiner Sprache: präventiv-ethisch gewendet. Im atmosphärischen Gefühlskonzept von Hermann Schmitz ist Liebe fraglos ein Hauptgefühl51, die sich kontextuell als Gefühl der Sicherheit oder – ein leider etwas aus der Mode gekommener Begriff – als Obhut52 beschreiben lässt, die wiederum Dankbarkeit aufruft und zugleich auch ethische Konsequenzen einfordert wie etwa von Herzen kommende Liebesbeweise als Selbstrücknahme. Als ›Urstoff des heiligen Geistes‹ qualifiziert Schmitz die Freude, mir scheint sie das Hauptgefühl jüdisch-christlicher Lebensführung53 zu sein, die immer wieder in Praktiken inszeniert und realisiert werden will. Für die Ewigkeit habe ich als atmosphärischen Zielbegriff den ›himmlischen‹ Frieden ausgemacht, dem freilich die Täter-Scham54 vorgeschaltet wird, damit in der Atmosphäre der Liebe die Opfer den reuigen Tätern verzeihen können und »Gerechtigkeit und Friede sich küssen« (Ps 85,11).55
Ganz traditionell, Dogmatik ist keine Wundertüte, starte ich mit den Basics, der Fundamentaltheologie. Zunächst wird mein Theologieverständnis im Gespräch mit anderen Ansätzen näher geklärt. Dogmatik konzipiere ich als eine weisheitliche Lebenslehre, die den Ausgang von kontingenten Resonanzerfahrungen des Leiblichen nimmt. Der spürbare Leib stand bisher nicht im Fokus der Theologie – vor allem die Systematische Theologie war erschreckend lange gefühlstaub.
An die Verortung im theologischen Diskurs schließt eine neu konzipierte Schriftlehre an, die rezeptionsästhetische mit produktionsästhetischen Überlegungen zusammenbindet. Worin besteht die Qualität biblischer Texte? Wie setzen die biblischen Autoren die Deutungskategorie Gott als Figur ein, um Erfahrungen des Heiligen und religiöse Ergriffenheit bei den Leserinnen zu wecken, die die Fantasie anregt? Welche Autorität besitzt die Heilige Schrift? Wie bekommen wir Zugang zum Heiligen? Wie werden wir zunächst und zumeist durch die biblischen Narrationen inspiriert? Lässt sich religiöse Erfahrung überhaupt inszenieren? Die Ausführlichkeit der Schriftlehre dokumentiert die Wichtigkeit, die ich dieser etwas »verwahrlosten« protestantischen Kernkompetenz beimesse. Eine Entfremdung der Systematischen Theologie von der Exegese hat nicht nur zu Kalamitäten der Verständigung zwischen den Fächern geführt, sondern die Systematische Theologie hat auch die Springquelle religiöser Beschäftigung, die leibsatten Erzählungen, häufig außer Acht gelassen – eine Haltung zum Fremdschämen.
Neu ist mein Vorschlag, die Sündenlehre (Hamartiologie) in die Fundamentaltheologie aufzunehmen, weil eine oft pessimistische Anthropologie als geheimes Organisationszentrum die Dogmatik über Jahrhunderte gesteuert hat. Wer neue Koordinaten setzen will, tut dies am besten gleich zu Beginn. Heil wird in der traditionellen Dogmatik als Erlösung von der Sünde verstanden, in die jeder Mensch verstrickt ist. Am Beispiel der unheilsprophetisch strukturierten frühen Theologie Karl Barths zeige ich an einem Tympanon, einem reliefgeschmückten Giebelfeld an der Marienkapelle in Würzburg, wie Barths Sündenlehre sein Gottesbild dominiert und er, mit einem Verweis auf das Würzburger Tympanon, sich genötigt sieht, Verbildlichungsleistungen der Jungfrauengeburt nachdrücklich zu verteidigen, gefeiert unter dem Stichwort: Conceptio per aurem, Empfängnis im Ohr. Ein kleiner Grenzverkehr. Exemplarisch lässt sich zeigen, wie die zentral positionierte Sündenlehre den Diskurs in amüsante, sehr fantasievolle und kreative Wunderlichkeiten abgleiten lässt.
Meine Lebenslehre konzentriert sich auf die Bewahrung des Heils. Die Grundintention ist die präventive Sicht: Heil ist stets eine positive Erfahrungsqualität. Nicht länger geht es um die Wiedererlangung eines verlorenen Heils (Stichwort: Sündenfall), sondern um die Bewahrung des Heils. Heil wird aus phänomenologischer Sicht von der leiblichen Betroffenheit her evident als tiefe Freude erfahren. Zugleich macht die evidente Erfahrung des Heiligen / Göttlichen in einem Atemzug sensibel für die Spurensuche des Heiligen / Göttlichen in der Lebenswelt.
Biblische Autoren wollen nichts weniger als in sehr unterschiedlichen Formen den »Himmel zum Sprechen bringen«56 und machen Angebote, diese Erfahrungen im Medium des Textes zu vollziehen. Ein nächster Essay konzentriert sich deshalb zunächst auf die theologische Diversity im Alten Testament. Ich unterscheide theologische Rationalisierungen von Heiligkeitsatmosphären, die zu den Idealtypen Priester, Prophetin und Weisheitslehrerin führen. Im Anschluss an Vorschläge der Exegetinnen und Exegeten zeige ich, wie diese unterschiedlichen Rationalisierungen stilistisch eingefangen werden und Angebote für die Leserinnen machen, sich damit spielerisch zu identifizieren. Daran schließt eine erste Kartierung der Weisheitstheologie an.
In der Schöpfungslehre favorisiere ich nach der Evaluierung der zentralen Texte die Rede von der Frau Weisheit in Prov 1–9. Diese Schöpfungslehre erschließt eine Alternative zu den traditionellen Schöpfungstheologien aus Gen 1–9 und ihrer zentralen Semantik, die »wundgeliebte« Begriffe wie Sprachereignis favorisiert und eine Figur Gott vor Augen stellt, die in der ersten Schöpfungserzählung autoritativ die Welt ins Seins ruft. Dank der bisher häufig vergessenen, strikt weisheitlichen Schöpfungstheologie bekommt die vorherrschende Schöpfungstheologie eine ganz andere, sprich heitere, Tönung, die sich im genussvollen Leben von den Köstlichkeiten der geschaffenen Welt einstellt und jene Dankbarkeit und Wertschätzung einstiftet, die dazu ermuntert, diese Welt, verstanden als Nahrung (Levinas, Pelluchon), auch für fernere Generationen zu schonen. Dieses Habitat, das wir bewohnen, soll wohnlich bleiben. Mir geht es um einen atmosphärischen Neustart, der auch die erotische Ökonomie des jüdisch-christlichen Denkformats feiert. Jener von Wilfried Härle, vor seiner Emeritierung Systematischer Theologe in Heidelberg, unterbreitete epochaler Vorschlag, »die Eigenschaften Gottes konsequent als Eigenschaften der Liebe Gottes zu denken«57, muss den Liebesbegriff in ganzer Breite auskosten, darf sich nicht auf geschwisterliche Liebe (Agape) und freundschaftliche Liebe (Philia) beschränken, sondern den Eros aus dem Halbdunkel befreien: Die von »Gott« zunächst hoch kreativ »gewobene« Frau Weisheit begeistert »Gott«. Dieser Eros zeigt sich in den Anmutungsqualitäten der Welt, von Rad kann deshalb von der »Selbstoffenbarung der Schöpfung«58 sprechen, die zu einer Liebe der Welt einlädt, in der man lustvoll baden kann. Primordial ist diese positive Weltliebe, unser leben von ihr. Und diese Weltlust macht sensibel für Fehlbestände, für ein Leiden der Kreatur, auf das wir Menschen dank unseres Existenzials der leiblichen Verwundbarkeit59 aufmerksam reagieren und präventiv handeln.
Darin besteht der Reiz der Dichtertheologie aus Prov 1–9: Als Künstler erschafft sich Gott eine hochindividuelle Inspirationsquelle, die dabei hilft, die Welt zu einer amikablen Wohnung zu machen, die Welt ist hygge, ist Nahrung in der Breite der Bedeutung, die ästhetisch goutiert wird und auch Selbstzurücknahme einfordert, weil der Fokus nicht nur auf das menschliche Leben ausgerichtet ist. Auch die Natur, nicht nur die Tier- und Pflanzenwelt rührt uns an, weckt unser leibliches Spüren. Landschaften können heiter sein und uns selbst heiter stimmen. Wir sind emotional engagiert. Philosophie und Theologie, die mit Schmitz auf das eigenleibliche Spüren als Basis des Weltzugangs achten, besinnen sich auf das leibliche Leben im Habitat. Die Figur der Frau Weisheit lehrt die Besinnung auf das Leben in der Umgebung. Überbordende Kreativität, Lebendigkeit und Entwicklungsfähigkeit, die wir lebensweltlich erfahren, wird deutbar durch diese weisheitliche Erzählung, die zugleich den andächtigen Dank für diese atemberaubenden Erfahrungen zu adressieren erlaubt.
Für einen der Aufklärung verbundenen Theologen nicht ungewöhnlich, liegt ein Schwergewicht auf der Anthropologie. Dass mein Menschenbild optimistisch und nicht »sündenverbiestert« auftritt, ist der Umbauarbeit am Sündenbegriff geschuldet. Damit fällt später der Theodizeefrage, also der Frage, woher das Böse kommt (unde malum?), eine zusätzliche Begründungslast zu. Mit Hermann Schmitz plädiere ich nachhaltig für eine Leibanthropologie.
Das biblische »Plakat«60 Jesus Christus (Christologie) verdichtet und belebt das Bild des Weisheitslehrers, der mit seinem ausstrahlenden, immersiven Eindruck Leserinnen und Leser in die Geschichten hineinzieht und das Angebot eines Richtungssinns unterbreitet. Die bei Hermann Schmitz aufgelesene Schlüsselformulierung seiner Symboltheorie, ein genialer Zugriff, lautet: spielerische Identifizierung, die uns zu selbstbewussten Darstellungen im Alltag kräftigt und animiert. Diese Spitzenformulierung bietet sich auch dazu an, die sakramentalen Fragen, namentlich das Abendmahl, später im Text neu zu gewichten.
Die Lehre vom heiligen Geist entwickle ich als praktische Pneumatologie. Eine weisheitliche Lebenslehre beschreibt ein vorausschauendes Leben im Spielraum des heiligen Geistes als leben durch die Erfahrung des Heiligen. Meine Weisheitstheologie hat eine starke Drift zur schöpfungstheologisch verankerten Pneumatologie, die die numinale Breite des Heiligen / Göttlichen in den Blick bringt.61 Sie erschließt somit einen offenen Diskursraum für interreligiöse Debatten und zugleich einen Dialograum mit den Charismatikern, die von der universitären Theologie gerne als bucklige Verwandtschaft behandelt wird. Diese Arroganz wirkt ziemlich peinlich. Mir geht es freilich nicht primär um strikt außerordentliche und spektakuläre Erfahrungen, sondern um Alltagserfahrungen des heiligen Geistes, die eine Energie einspeisen, um gegen die Macht negativer Atmosphären, die Leben beeinträchtigen, Stellung zu beziehen. Gegenläufig zur Tradition, die es sich in ihrer Lieblingsvokabel der Unverfügbarkeit bequem gemacht hat, zeige ich, wie der unstete heilige Geist sehr gerne lebensweltlich Wohnung nimmt, etwa im Atelier, im Schneideraum der Filmstudios, im Gehäus der Schreibenden, auf der Theaterbühne. Menschen erfahren Kraft spendende Bedeutsamkeit in allen möglichen Lebenslagen auch außerhalb der Kirchenmauern: im Gespräch, im Sport, in der leiblichen Liebe (besonders wichtig bei Hermann Schmitz), in der Wertschätzung (Corine Pelluchon), auf dem Berggipfel, der Surfwelle, in der Kultur, ohne Frage auch in der Kirche. Religiöse Energie für die Lebendigkeit lässt sich in (außerordentlichen) Kirchengebäuden leiblich erfahren. Vom Begriff des Raumes und des Wohnens her, ein egalitäres Mahl eingeschlossen, erschließe ich deshalb die Ekklesiologie als Theorie des Festspiels. Kirche kommt von der Basisatmosphäre der Freude her in den Blick.
Im letzten Kapitel der Lebenslehre, in der Eschatologie, wird das leben bei präziser gefasst. Thema ist das von Festschreibungen erlöste ewige Leben in der Atmosphäre ewigen Friedens. Ein knapper Anhang trägt Ergebnisse der Weisheitstheologie zu einer Lebenslehre zusammen.
Beigeordnet wird den Kapiteln über Gott, Jesus Christus und den heiligen Geist jeweils ein Essay, der einen privattheologischen Blick aus der Feder von Schriftstellerinnen und Schriftstellern auf die Erfahrungsbestände (jüdisch-christlichen) Lebens wirft. Diese externen Perspektiven sollen einerseits der stets drohenden Betriebsblindheit vorbeugen. Aber nicht nur das. Schriftstellerinnen und Schriftsteller partizipieren, so die These, an der Kreativität und Lebendigkeit, die der Welt eingeschrieben ist. Autorinnen erschließen bunte und diverse Lebenswelten und Lebensmöglichkeiten, neue Lebensstile und Lebensrichtungen und ermöglichen mir, mich selbst anders zu sehen. Bunt und divers ist der Romankosmos. Romane deute ich – wie auch bildende Kunst, Kunst überhaupt – als Wege und Realisationsformen des Heiligen. Sie sind wichtige Lebensmächte (neben Recht, Moral, Politik und fraglos auch Religion) und nachdrücklich für die Orientierung zuständig, inszenieren irritierende Sichten auf das menschliche Leben und auf die Welt, bestätigen die kreative Tiefenstruktur der Welt. Gute und schlechte Literatur bewerte ich nach diesem Vermögen. Wer sich als Lesender mit einer Protagonistin, einem Protagonisten spielerisch identifiziert, übt eine andere Sicht der Dinge ein, die es einem ermöglicht, diese neue Perspektive auf das eigene Leben, auch im Alltag, zu ratifizieren. Starke Literatur erschließt Ansichten der Welt und des Lebens, Krisen und Scheitern eingeschlossen, im Probedurchlauf. Ich kann probend leben lernen, Grundsituationen des Lebens durchspielen und präventiv mit dieser Erfahrung Krisen besser durchstehen. Literatur dient im besten Sinne als Distanzfilter, erschließt mit Hermann Schmitz gesagt eine »Distanz in der Betroffenheit«: Ich kann jederzeit aus der »spielerischen Identifizierung« (nochmals Schmitz) aussteigen, etwa, weil mich die Geschichte zu sehr mitnimmt, oder weil sie mich langweilt, mich nicht anspricht oder Kitschgefühle aufruft, die mich nerven. Romane sind Irritationsmaschinen, sie leisten damit das, was biblische Groß- und Kleinnarrative ebenfalls provozieren: die Hinterfragung des eigenen Selbstbildes. Große Romane rütteln wie die biblischen Narrationen an den Selbstbildblockaden und (ideologischen) Weltbildverfestigungen. In dieser Funktion leisten die avancierten Romane noch mehr: Sie beobachten als altes Medium zugleich die neuen Medien, ob die neuen Medien nämlich diese (ideologiekritische) Kunst der Selbsthinterfragung auch leisten, oder ob sie wie Echokammern wirken, die das eigene Selbst- und Weltbild stabilisieren. Kann (literarische) Kunst erlösen? Von den eigenen, eingefrorenen Selbstbildern allemal.62 Drei Intensivlektüren machen die Probe aufs Exempel. Und: Lektüren sind wiederholbar, wer als Roman eine zweite Lektüre übersteht, wird zum Kanon im Kanon einer Bibliothek. Ich kann immer wieder danach greifen, um mich irritieren zu lassen und Neues (und Vertrautes) zu entdecken. Romane, die eine »Lebenswirkung« (Dilthey) auslösen, sind nicht starr, sondern elastisch und wachsen und reifen mit den Leserinnen mit. Aber auch das leistet die Literatur: Zugänge zu subjektiven Tatsachen Dritter und sich daraus entwickelnden Lebensmustern erschließen; Selbstlebensbeschreibungen, Tagebücher, Autofiktionen (Meier, Coetzee), biographische oder philosophische Romane (Lewitscharoff, Coetzee).
Für einen bekennenden Büchertrinker wie mich war die Auswahl der Autorinnen und Autoren ein quälender Parcours. Drei Kriterien waren zunächst entscheidend: 1. In die Vorauswahl kam, wer in seinen gegenwartsnahen Romanen eine religiöse Deutung lesbar reflexiv ausprobiert. So lassen sich religiöse Zuschreibungen von außen vermeiden. 2. So spannend writer’s-writer-Literatur sein kann, die ausgewählten Literaten und Literatinnen sollten keine Elitenliteratur, aber auch keinen plotsüchtigen Mainstream bedienen und abwaschbare Figuren vor Augen malen. 3. Meinem dritten Kriterium, mich von schwarzer, dystopischer Anthropologie freizuhalten, bin ich selbst untreu geworden. Viele Autoren, die dem ersten Kriterium entsprechen, favorisieren als religiöses Deutungsmuster und als Selbstdeutungsmuster den Typus Prophet und die storyline einer konservativen Heilsgeschichte. Dazu zählen etwa, um nur wenige zu nennen, Lew Tolstoi und die mutigen Arbeiter im Weinberg der Mythenproduktion wie das Freundschaftsduo C. S. Lewis (The Chronicles of Narnia) und J. J. R. Tolkien (The Lord of the Rings). Die Werke beider Autoren (Lewis war Protestant, Tolkien Katholik) waren häufig Thema von engagiert geschriebenen Bachelor-, Zulassungs- und Magisterarbeiten.63 Und unbedingt muss genannt werden: Gene Roddenberry, Schöpfer der Star-Trek-Drehbücher und Filme, die Jünger nennen sich bekanntlich Trekkies.64 Zugunsten von Sibylle Lewitscharoff, die in anthropologischen Fragen zwar die Farbe schwarz wählt, bin ich final schwach geworden, weil sie wundersame pneumatische Literatur schreibt. Meinem Herzen am nächsten wohnt aber weiterhin John Maxwell Coetzee. Die biblischen Texte haben uns Menschen erfunden und inspirieren bis heute die Literatur.65
Eine kleine Fehlanzeige. Weil in meinem leibphänomenologischen Diskurs der Leib das Urmedium religiöser Erfahrung ist, bleibe ich in Fragen der Trinität zurückhaltend. Trinität ist, wie bereits Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768–1834) in einem etwas anders gelagerten Theoriemodell einschärfte, keine »unmittelbare Aussage über christliches Selbstbewußtsein, sondern nur eine Verknüpfung mehrerer solcher.«66 In meinem Modell gesagt: eine subjektive Tatsache ist die Trinitätslehre nicht.
Schließlich: Ich habe die Essays als Vorlesung gehalten und um Rückfragen und Impulse von Seiten der Studierenden gebeten. Ich dokumentiere hier in Auszügen den E-Mail-Verkehr, der mich immer wieder positiv irritiert hat. Zunächst aber hat mein Lektor das Wort.
Arnulf von Scheliha: Der Glaube an die göttliche Vorsehung. Eine religionssoziologische, geschichtsphilosophische und theologiegeschichtliche Untersuchung, Stuttgart 1999.
Reinhold Bernhardt: Was heißt »Handeln Gottes«? Eine Rekonstruktion der Lehre von der Vorsehung, Göttingen 22008.
Für eilige Leser*innen: Martin Laube: Freiheitsgewinn: Dogmatische Überlegungen zur Vorsehungslehre, ZThK 117 (2020), 196–217.
Lieber Herr Huizing, ich habe bereits während des zurückliegenden Wochenendes einen intensiven Blick in das PDF geworfen, bin aber mit vielen Projekten Land unter und schon bald droht die Planungskonferenz. Wir haben bereits viele Bücher zusammen auf den Weg gebracht, darf ich Sie deshalb ganz ungeschminkt fragen: Können Sie nochmals knapp zusammenfassen, was die Leser und Leserinnen Neues aus Ihrer Werkstatt der Theologie erfahren? […]
Lieber Herr Steen, Land unter! Kenne ich, meinen Schreibtisch überschwemmen noch etliche Hausarbeiten aus dem letzten Semester. Deshalb ganz knapp: Ich habe die Absicht, die traditionellen Bestände der Dogmatik kräftig umzuformen. Dogmatik konzentriert sich bei mir auf Fragen der Selbstdurchsichtigkeit und Lebensführung, die auch eine ganz neue Sicht auf die dogmatische Vorsehungslehre erlaubt. Auch deshalb wähle ich statt der Bezeichnung Dogmatik den Titel Lebenslehre, um die pädagogische Ausrichtung dieser Lebenslehre zu pointieren. Ich behalte nach langem Zögern – wir sprachen wiederholt darüber – den üblichen Aufbau einer Dogmatik weitgehend bei, um anschlussfähig zu bleiben an eingeübte Denkmuster.
Inhaltlich vollziehe ich eine grundsätzliche Umformung des Sündenbegriffs (1), sodass er seine alles überwölbende Dominanz verliert, dafür aber präventiv gewendet wird: Wie lassen sich Schuld und Sünde vermeiden? Ich plädiere deshalb für eine Aufhellung der theologischen Anthropologie (2). Diese dezent optimistisch zu nennende Anthropologie geht einher mit einer Hochschätzung der Weisheitstheologie als eine spezifische Rationalisierungsform des Heiligen (3). In der Spur des Leibphänomenologen Hermann Schmitz partizipiere ich ganz entschieden am emotional turn und am body turn. Zugang zur Transzendenz geschieht über die Leiberfahrung! Das ist das zentrale Thema für eine Theologie des 21. Jahrhunderts (4). Stand in traditionellen Dogmatiken der Glaubensbegriff im Zentrum, spreche ich von affektiver Betroffenheit im Rekurs auf das Urmedium des Leibes und den Ur-Sinn leiblichen Spürens (5). Ich entwerfe eine inszenatorische Schriftlehre (6), die den Fokus auf die Inszenierung religiöser Erfahrung legt. Im Zentrum steht eine weisheitliche Schöpfungslehre (7), die überwältigende Erfahrungen von Kreativität und Lebendigkeit und Entwicklungsfähigkeit im Alltag zu deuten erlaubt. Christologie verstehe ich als Einleibung der kreativen Liebesatmosphäre, die eine Lebensrichtung erschließt (8). Mein Umformungsvorhaben rückt eine praktische Pneumatologie mit der Mehrsprachigkeit des Heiligen in den Mittelpunkt (9) und justiert die Ekklesiologie als Fest der spielerischen Identifizierung in der Atmosphäre entspannter Freude. Auch die Sakramente werden unter diesem Leitbegriff verhandelt (10). Eine neue Theorie der Unsterblichkeit als Unsterblichkeit des Leibes – Kann der Leib aus dem Körper ausreisen? – (11) schließt die Lebenslehre ab, die ich als lebensweltsensible Vorsehungslehre (12) präsentiere. Für einen Protestanten nicht übermäßig überraschend: Meine Lebenslehre ist eine Theorie geschenkter Freiheit.
Ich suche das Gespräch und einen overlapping concensus mit der Philosophie und zugleich mit der Literaturwissenschaft. So »fette« Blöcke zur Belletristik wie in dieser Dogmatik waren bisher in dogmatischen Entwürfen nicht anzutreffen, präsentieren aber gegenwartsstarke Wege, Praktiken und Realisationsformen des Heiligen. So lauten die wichtigsten Neuerungen. Ziel ist ein literaturaffines Theologisieren. Die resonanzreiche Sprache der Literatur ist der ausgenüchterten Sprache der dogmatischen Theologie oft himmelweit überlegen. Dogmatische Theologie schmeckt häufig allenfalls nach Teebeuteltee.
Als Essays sind die einzelnen Kapitel angelegt. Das ermöglicht es den Lesenden ohne schlechtes Gewissen im Buch »spazieren zu gehen«. Wer an den nicht ganz einfachen Fachdiskursen über das theologische Theoriedesign und die dort ausgelebte Lust am Katzbalgen nicht sonderlich interessiert ist oder an Fragen der protestantischen Schriftlehre, kann weiterschlendern. Oder mit den Essays zur Literatur starten. Oder mit den Blöcken zu Hermann Schmitz – etwa in der Anthropologie. Oder neugierig das Buch von hinten aufschlagen. Weil ich so viel umschneidere, gibt es diese Theologie zunächst nicht in einer »Slimfitausgabe«. Aber fette Bücher sind auch Inseln der Nachhaltigkeit. Und eine knappe, nicht mehr als 130 Seiten umfassende Lebenslehre kompakt ist in Vorbereitung.
Danke. Sehe viel klarer. Können Sie noch präzise beschreiben, wer Ihr Zielpublikum ist? Im Vertrieb wollen das immer alle wissen! Die Scham wird mich überleben.
[…] Zunächst die religiösen Erziehungsberaterinnen, also Religionspädagoginnen und Pfarrerinnen. Sodann aber denke ich an alle am Christentum (noch) – auch in der Abgrenzung – interessierten Leser. Ich plädiere nachdrücklich für ein neues geisteswissenschaftliches Schengener Abkommen. Die Grenzpfähle zwischen Sachbuch und Fachbuch gehören abgebaut. Weil ich aber ein entschiedener Anhänger der Lektüre von Primärtexten bin, lasse ich die Autoren auch immer wieder länger selbst zu Wort kommen. So ist wenigstens ein kleiner Transfer von Originalstimmen möglich. Aber ja, es ist auch Schwarzbrot im Menü dabei, wenn Positionen kritisch inventarisiert werden. Dogmatik, oder besser: Systematische Theologie, ist eine hoch elaborierte Wissenschaft. Ich bin aber weiterhin von der Idee der Bildungsbürgerin überzeugt, die sich auch Anstrengungen zumutet. Wer Sport treibt, der weiß: Irgendwann setzt der flow ein. Ganz sicher. Wer mag dieses Leibgefühl von Weite missen? Und 800 Seiten sind ein echter Marathon. Unterwegs gibt’s aber Verpflegung: Spannende Bilder.
Wir sollten als Aufmacher schreiben: Eine Theologie für das 21. Jahrhundert ist eine Theologie der Leiblichkeit! Es geht um das gemeinschaftliche menschliche und nichtmenschliche Leben in unserer Weltwohnung. Oder so ähnlich. Dann ist auch der Vertrieb zufrieden. Vorsichtig wäre ich bei den »Manna-Wörtern« Atmen, Tanz, Einleibung, Sensibilität –, wenn wir diese Begriffe gehäuft bewerben, dann landet das Buch vielleicht auf dem falschen Regalbrett und ich werde bei Buchvorstellungen gebeten, meinen Namen zu tanzen.
»Die fundamentalen Dogmen des Christentums bedürfen der Revision im Licht der Entdeckung der subjektiven Tatsachen.«Hermann Schmitz
Das ist auffällig: Innerhalb der Christentumsgeschichte stand der Leib selten im Zentrum der Debatte, allenfalls wird vernuschelt von einer Leibfeindlichkeit im Christentum geredet, die aber griechischem Input geschuldet sei. Ich möchte den Leib ins helle Licht rücken und ihn zum Ankerpunkt der gesamten Dogmatik machen. Daraus folgt, dass im Gegensatz zu vielen anderen Dogmatikentwürfen vom menschlichen Leib her die dogmatischen Themen und Fragen bearbeitet werden. Um den Gegensatz verständlich zu machen, verorte ich in diesem Kapitel meinen Ansatz in Bezug auf und in Abgrenzung zu gegenwärtigen Dogmatiktypen. Mein Vorhaben ruht auf zwei Eckpfeilern. Der erste Pfeiler ist die alt- und neutestamentliche Weisheitstheologie, die im Gehäuse der Dogmatik bisher ein Aschenputtel-Dasein führte, aber für den anthropologischen Ausgangspunkt hervorragende Impulse liefert. Ich rechne es zu meinen urprotestantischen Instinkten, die Lebenslehre mit biblischen Narrativen zu unterfüttern. Bei dem zweiten Pfeiler handelt es sich um externe Hilfe: Mit einem veritablen Paukenschlag hat der sein ganzes akademisches Leben in Kiel lehrende Hermann Schmitz, Intuitionen namentlich vom späten Goethe aufnehmend, den von Gefühlen heimgesuchten Leib in den Mittelpunkt seiner Neuen Phänomenologie gestellt. Hier ist der betreffbare Leib das Urmedium und der Resonanzraum schlechthin, hier spielt die Musik. Gleichzeitig wird der Dualismus von Leib und Seele vermieden und Gefühle werden neu, nämlich als Andrängen von Atmosphären eingespielt. Der jemeinige Leib, gleichermaßen verletzlich und genussfähig, ist die empirische Bedingung der Möglichkeit für Betreffbarkeit, auch für die Betreffbarkeit von Atmosphären des Göttlichen. Hierin besteht die theologische Relevanz des Importes der Leibphänomenologie, die ebenfalls in einem ersten Zugriff in diesem Kapitel vorgestellt wird. Zwar ist seit den vergangenen zehn Jahren der emotional turn im Verbund mit dem body turn auch in der Theologie in aller Munde, fremdelt aber noch auf der Zunge. Schmitz ist der ideale Logopäde. Eine Lebenslehre, die die Leibphänomenologie integriert, gibt zu verstehen, wie ein Mensch im dauerhaften Leben in Atmosphären, die auf den Leib andrängen, zur Welt kommt und sein Leben versucht zu meistern.
Posto fassen. In diesem Abschnitt geht es mir darum, die Lebenslehre im gegenwärtigen Diskurs der Dogmatik selbstbewusst zu verorten. Zu welcher theologischen Strömung besteht eine engere Verwandtschaft? Gegenüber welchen Typen der Dogmatik herrscht dagegen größere Distanz?
Eine erste Grundüberzeugung dieser Lebenslehre lautet: Jede neue Dogmatik ist als Muster sichtbar in ihren historischen Kontexten verwoben. Das zeigt eindrücklich Dietrich Korsch, vor seiner Emeritierung Systematischer Theologe in Marburg, indem er in sicherem Zugriff an drei großen dogmatischen Ansätzen die »historische Logik der Dogmatik in der Moderne«1 erkundet.
1. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher reagiert auf Kants Revolution der Denkungsart, »Gott nicht in der Welt der Erscheinungen, sondern in unserem eigenen Bewußtsein zu suchen«, indem er »die Transzendenz Gottes am menschlichen Bewußtsein selbst« aufweist: »Gott ist der Grund der menschlichen Freiheit, von der jeder Mensch in seinem endlichen Leben Gebrauch macht. Damit gehört Gott so nah zum Menschen wie nichts, was ein Teil der Welt ist; darum begleitet Gott den Menschen aber auch in allem seinem Umgang mit der Welt und den anderen Menschen. Über Jesus von Nazareth ist diese Bestimmung Gottes ohne jede Einschränkung klar geworden, und durch den Geist Jesu wirkt sie sich auch in unserem Leben aus. An Jesus selbst lernen wir es, uns in unserer Freiheit ganz auf Gott zu verlassen. So versteht Schleiermacher die durch Jesus von Nazareth in die Welt gekommene Erlösung.«2
2. Der mitgeschleifte, vor allem bei Albrecht Ritschl (1822–1889) zum Ausdruck kommende Optimismus liberaler Theologie im Anschluss an Schleiermacher, die moderne Gesellschaft werde sich zum Reich Gottes entwickeln, gerät spätestens durch die desaströsen Erfahrungen des Ersten Weltkriegs in die Krise. »An die Stelle der allgemeinen Bewußtseins-Transzendenz bei Schleiermacher tritt die spezifisch religiöse Transzendenz des Wortes Gottes in der Dialektischen Theologie, namentlich bei Karl Barth (1886–1968); und diese äußert sich in einem methodisch neuartigen Gebrauch der religiösen Sprache, mit deren Hilfe diese religiöse Transzendenz eröffnet werden soll. […] (D)as Wort Gottes ist Anrede, sein Inhalt setzt das Gesprochensein voraus. Diese den Menschen bestimmende Anrede ist nach der Logik der dialektischen Theologie als ›Offenbarung‹ zu verstehen. Sodann ist im Wort Gottes die Geschöpflichkeit des Ursprungs zu unterstreichen.«3 Auch hier liegt eine Kommentierung der Geschichte durch die Theologie vor, wie Korsch zeigen kann: »Die Allianz von krisenhaftem und kriegstreiberischem Bürgertum mit der christlichen Religion im 20. Jahrhundert macht es für Barth nötig, das Ursprungsgeschehen der göttlichen Bestimmung des Menschenlebens als eigenständigen Vorgang zu akzentuieren, der auch den Erschütterungen der Geschichte standhält.«4
3. Nach den Erfahrungen der Nazi-Herrschaft und des Zweiten Weltkrieges wird in der Theologie des Nachkriegsdeutschlands die Frage »nach Sinn und Ziel der Geschichte in theologischer Deutung«5 gestellt. Diese Wende will die »Transzendenz nicht im Bewußtsein, auch nicht im Wort Gottes«, vielmehr »über die Geschichte vermittelt«6 denken. Die Diskursführer Jürgen Moltmann (* 1926), langjähriger Ordinarius für Systematische Theologie in Tübingen und sein Kollege Wolfhart Pannenberg (1928–2014) mit Lehrstuhl in München, waren sich darin einig, »daß sie die geschichtsbestimmende Einheit von Offenbarung und Geschichte in der Auferstehung Jesu Christi erkennen, die einen Vorblick auf das Ende der Welt und die Vollendung der Geschichte erlaubt.«7
Doch hat sich auch diese Deutung »inzwischen erschöpft«, so Korsch, weil man »im gegenwärtigen Bewußtsein […] von einer Einheit der Geschichte kaum reden«8 kann. Insofern steht die gegenwärtige Theologie wieder, so seine Einschätzung, vor einer neuerlichen Wende und der Herausforderung, ein Theorieformat zu entwickeln, das die gegenwärtigen Herausforderungen erschließungskräftig bearbeitet. Korsch setzt ganz auf die Einsicht, dass sich Transzendenz als »Bestimmung des je eigenen Lebens [erschließe]; sie muss in der individuellen geschichtlichen Lebensführung zu bemerken sein. Damit kehrt das gegenwärtige Bewusstsein in gewisser Weise zu der Positionsbestimmung zurück, wie sie bei Schleiermacher vorlag, angereichert freilich durch die Erfahrungen der letzten zwei Jahrhunderte.«9 Korschs erneute Zentrierung auf Schleiermacher holt damit allerdings die im aktuellen Wissenschaftsdiskurs geforderte Aufmerksamkeit für Raum und Räumlichkeiten, für den Leib und die Gefühle nicht vollständig ein.10 Deshalb lautet mein Vorschlag, der gegenwärtigen Einsicht in die konstitutive Bedeutung des Raumes und des Leibes Rechnung zu tragen und von dort her religiöse Erfahrung neu zu explizieren. Pointiert gesagt: Transzendenz wird vor Ort des Leibes als Urraum der Resonanz (auch) des Göttlichen ausgemacht.