Schluss mit Sünde! - Klaas Huizing - E-Book

Schluss mit Sünde! E-Book

Klaas Huizing

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Beschreibung

Die Vokabel "Sünde" besitzt eine dunkle Kraft. Sie macht klein und sorgt dafür, dass man sich schmutzig fühlt. Das hat auch Martin Luther nicht verhindert. Klaas Huizing setzt dagegen: Wir sind der Sünde nicht ausgeliefert, Schluss damit! Ein kluges Coaching durch die Geschichten des Alten und Neuen Testaments ermöglicht eine neue Reformation des Christentums.

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Seitenzahl: 122

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Klaas Huizing

Schluss

mit Sünde!

Warum wir eine neue

Reformation brauchen

Klaas Huizing, geboren 1958, lehrt an der Universität Würzburg Systematische Theologie. Neben ­zahlreichen wissenschaftlichen Werken und mittlerweile zwölf Romanen ist der promo­vierte Theologe und Philosoph ein gefragter Sachbuchautor.

© Kreuz Verlag GmbH, Hamburg 2017

Alle Rechte vorbehalten

www.kreuz-verlag.de

Gestaltung, Satz und Umschlag: Farnschläder & Mahlstedt, Hamburg

Umschlagfoto: privat

E-Book-Konvertierung: NagelSatz, Reutlingen

ISBN (E-Book) 978-946905-19-6

ISBN (Buch) 978-3-946905-08-0

Für Wolfgang Kerkhoff

Inhalt
Einleitung
Das raumgreifende Pfingstwunder
Lob der Verschlankung
oder
Das Wuchern des Textes und die Künstler der Vereinfachung
Ad fontes
oder
Luther als Verschlankungskünstler
Sündenverbiesterung
Luthers einfältige Vereinfachung
Im Korsett der Sünde
Charlotte von Kirschbaums Suche nach der befreiten Frau
Die Zerschlagung des Sündenkartells
Gott ist ein Weisheitslehrer
Wohlwollende Beschämung?
Christentum ist Gewaltunterbrechung durch Statusverzicht
Epilog
Die Reformation geht in die Verlängerung.
Ein Sendschreiben an F.C. Delius (per E-Mail)
Quellenverzeichnis
Impressum

Einleitung

Das raumgreifende Pfingstwunder

Heureka. Ich habe es gefunden. Mit diesem glückstrunkenen Ausspruch soll, nach einer von Plutarch und Vitruv überlieferten Anekdote, Archimedes von Syrakus schamfrei nackt durch die Stadt gelaufen sein, nachdem er in der Badewanne das später nach ihm benannte Archimedische Prinzip entdeckt hatte. Laut Wikipedia geht es um folgende Einsicht: »Der statische Auftrieb eines Körpers in einem Medium ist genauso groß wie die Gewichtskraft des vom Körper verdrängten Mediums.«|1|

Heureka, der Name ist inzwischen Programm, denn Heureka heißt sinnigerweise auch das Hochschul-Entwicklungs- und Umbauprogramm: RundErneuerung, Konzentration und Ausbau von Forschung und Lehre in Hessen. Diesem Entwicklungsprogramm verdankt die altehrwürdige Universitätsstadt Marburg an der Lahn einen erstaunlichen Neubau: Viergeschossig schlängelt sich ein riesiges Gebäude durch Marburgs Unterstadt und bildet eine Blick- und Wegeachse zwischen der Elisabethkirche und dem Botanischen Garten. Zwischen Gott und Natur, zwischen Lehrhaus und Baumschule schiebt sich, wer auf die naheliegende Pointe nicht verzichten will, die Wissensschlange.

Auf 18.000 Quadratmeter werden 2,5 Millionen Bücher präsent gehalten, daneben gibt es Gruppenarbeitsräume für vernetztes, interdisziplinäres Lernen und hinreichend Computerarbeitsplätze. Die Bausumme von 108 Millionen Euro fließt nach dem Entwurf des Darmstädter Architekturbüros Sinning in einen langgestreckten Baukörper, der mit der Umgebung augenzwinkernd kommuniziert: Die Höhe der umliegenden Gebäude definiert auch für die Universitätsbibliothek hübsch demütig das Maß, im Atrium wird die Sandsteinfassade der Elisabethkirche zitiert, die Außenhaut nimmt das Farbenspiel der Putzfassaden der Gründerzeitbauten auf. Eine gläserne Eingangshalle schneidet das mächtige Gebäude diagonal durch und erlaubt Blickverbindungen zwischen Elisabethkirche und Botanischem Garten. Die Vorsprünge der Atriumfassaden sollen, glaubt man der Homepage, die für Marburg typischen Fachwerkgassen zitieren und die Lesebalkone spielen mit der Optik der terrassierten Oberstadt. Urbanität simuliert das Atrium mit Cafeteria und vielen Sitzgelegenheiten. Dem Genius Loci wurde dank des Programms Heureka aufwendig gehuldigt.

Konzeptskizze der neuen Universitätsbibliothek in Marburg.

(Foto: Entwurf sinning architekten, Darmstadt)

Visualisierung der neuen Universitätsbibliothek in Marburg.

(Foto: Entwurf sinning architekten, Darmstadt; Visualisierung: agatastudio)

Dieses raumgreifende Pfingstwunder tritt an gegen die gemütliche Verrohung vieler Universitätsstädte. Zugleich ist das Gebäude gegenläufig zum grassierenden Elitenbashing ein steingewordenes Lob der Bildung und ein vielstimmiges »Lob der Elite«|2|. Der gläserne Durchbruch soll als Einladung verstanden werden und versinnbildlicht die Idee der Barrierefreiheit: die leichte Zugänglichkeit als Inklusionsangebot auch für sogenannte bildungsferne Schichten. Durch den kräftigen Einsatz von Glas der Geste des Prunkens zu widerstehen, vielmehr mit negativer Opulenz zu punkten, gelingt freilich nur in Maßen: Der triumphalische Wissensbau ist auch ein Sperrriegel, der abschreckt.

Wer soll das alles lesen, bitteschön? Bereits die gigantische Masse der gehorteten und präsentierten Bücher fasziniert und lässt schaudern gleichermaßen. Dieses Erhabenheits-Erlebnis provoziert prompt den Wunsch nach schneller Orientierung und Einfachheit. Geht das zusammen, und wenn ja, wie geht das zusammen?

Die Wikipedia-Kultur macht Angebote zur Verschlankung in Zeiten zunehmender Unübersichtlichkeit bei gleichzeitiger Zeitnot, bietet aber nur verdichteten Wissensrapport, nicht das, was man von einem Buch im Idealfall auch erwartet: eine Herzensbildung und ein Sinnreservoir. Existenzielle Gründe für eine Verschlankung des Wissens sind mit Händen zu greifen. Wucherung, wohin man schaut. Die Informationsflut – auch von alternativen Wahrheiten – hat sich zu einem Tsunami entwickelt. Davon ist auch das religiöse Feld nicht ausgenommen. Auch hier herrscht ein harter Konkurrenzkampf und entsprechend eine Wucherung von Sinnfindungsangeboten. Welche Leistungskraft und Lebensdienlichkeit die christliche Religion besitzt, ist für viele potenzielle Leserinnen in der Wucherung der Angebote offenbar nicht erkennbar oder erscheint als Angebot unattraktiv, unverständlich und unzeitgemäß.

Lässt sich aus 2,5 Millionen Büchern ein lebensdienliches Buch machen, vielleicht sogar nur ein Kurznarrativ, ein Florilegium an Weisheitssprüchen, ein Bändchen mit Beispielgeschichten, ein schmales Buch aus 95 Thesen – gerne sogar leicht zugänglich gemacht auf dem iPad?

Vielleicht nicht zufällig steht diese Bibliothek von Alexandria reloaded im protestantisch geprägten Marburg, denn es ist die von Luther angeschobene Reformation, die die Idee eines niederschwelligen Leseparadieses auf den Weg brachte. Luthers totzitiertes Bonmot, er wolle dem Volk aufs Maul schauen, diente ihm selbst dazu, das Schrift-Deutsch massentauglich und kraftvoller zu machen, damit der künftige Leser und die künftige Leserin die biblia teutsch mit allen Sinnen aufnehmen konnte. Daraus entstand später Deutschland als Leseland. Diese Entwicklung war nur möglich, weil Luther der (religiösen) Wissenselite, die auf Latein schrieb und das Wissen eifersüchtig hortete und gegen die Massen abschottete, den Kampf ansagte. Er ist es auch gewesen, der gegen die Wucherungen der religiösen Texte mit dem von Melanchthon, dem Dauermitglied seiner Peergroup, geliehenen Weckruf Ad Fontes, Zu den Quellen, eine Verschlankung auf ein einziges Buch einklagte und in diesem Buch eine gleichermaßen einfache und befreiende, von allen Höllenängsten erlösende frohe Botschaft ausmachte: die Rechtfertigung aus dem Glauben. Diese Einsicht freilich hat im Gegenzug eine Flut an theologischen Texten – mal zustimmend, mal ablehnend – auf den Weg gebracht. 500 Jahre nach Luthers Thesenanschlag herrscht erneute Unübersichtlichkeit. Wie lautet heute eine klare und einfache Botschaft? Ist der Wunsch nach einfachen und zugleich nicht flachen Botschaften in unserer komplexen Lebenswelt überhaupt noch zu erfüllen?

Mein Essay hat sechs Teile. Ein erster Teil deutet in neuer Perspektive die Wissensgeschichte als eine Wellenbewegung von Wucherung und Verdichtung. Ein sich stetig ausweitender Großtext wird in unregelmäßigen Phasen durch außerordentliche Autoren auf ganz unterschiedlichen Feldern einer Verdichtung unterzogen: etwa durch Platon, durch Kallimachos, den Bibliothekar von Alexandrien, durch den römischen Aristokraten Caecus, den Parabelkünstler Jesus von Nazareth oder Martin Luther. Der Latinist Walter Wimmel hat in seiner kleinen Schrift Die Kultur holt uns ein diese Reduktionskünstler entdeckt und inventarisiert. Das Buch fand innerhalb der Wissensgesellschaft wenig Resonanz, wurde schnöde vergessen, auch meine Kopie des Buches versteckte sich in Ordnern, die ich bei einem der vielen Umzüge unkonzentriert entsorgte. Im Internet wurde ich erneut fündig. Es ist ein schmales Buch, dessen Zeit gekommen ist: Unsere Wissensgeschichte ist eine Geschichte von Wucherung und Verdichtung.

Mit der reformatorischen Kernvokabel sola scriptura, allein durch die Schrift, ist eine religiöse Verdichtungsgröße gefunden, die jeden künftigen religiösen Großtext der Christentumsgeschichte immer wieder an einer kanonischen Verdichtung, der Bibel nämlich, letztgültig messen kann. Ich lese die Reformation als gigantische Verschlankungsgeschichte. Diese Verschlankungsgeschichte und den Verschlankungskünstler Luther will ich im zweiten Teil knapp skizzieren. Luther ist ein Elitenbasher von Format: Er besitzt Mut zur Wahrheit und richtet sich gegen Eliten und herrschende Meinungen. Der späte Michel Foucault, einer der Heroen der französischen Philosophie, hat diesen Mut zur Wahrheit, in der Antike unter dem Stichwort Parrhesia verhandelt, wiederentdeckt. Martin Luther ist ein Parrhesiast, ein angstloser Wahrsprecher, wie er im Buche steht.

Ein dritter Teil hinterfragt die inhaltliche Lösung der Vereinfachung, die Luther angeboten hat. Seine Grundfrage war: Wie bekomme ich einen gnädigen Gott? Diese Frage ist definitiv nicht mehr meine Frage – und wahrscheinlich gilt dieser abschlägige Bescheid für die meisten Menschen der Gegenwart, die nicht von Höllenängsten herumgeworfen werden, sondern wissen wollen, wie Leben gelingen kann, ohne sich überfordern zu müssen. Und damit verlieren auch die angebotenen Antworten auf die von Luther gestellte Frage, die lutherische Rechtfertigungslehre und seine Umwertung der sogenannten guten Werke für mich und meine Lebenswelt an unmittelbarer Überzeugungskraft. Im Hintergrund der lutherischen Theologie steht zudem ein unattraktives, pessimistisches Menschenbild: Der Augustinermönch Luther deutet den Menschen im Sinne Augustins als ein bereits bei der Zeugung durch die Sünde total korrumpiertes Wesen. Dieses sündenverbiesterte Menschenbild wurde jahrhundertelang übernommen und damit gelangte der Ruf nach Enthierarchisierung und emanzipatorischer Freiheit, der mit Luthers Reformation in die Welt kam, nur teilweise zum Durchbruch. Das sündenverbiesterte Menschenbild, das, wie ich zeigen werde, nicht durchgängig biblisch ist, gehört endlich kritisiert. Leider hat sich dieser Grundfehler auch noch nach der Aufklärung stetig weitervererbt und reicht bis zur wirkmächtigsten Sündentheologie des 20. Jahrhunderts, bis zu Karl Barth und seiner immer noch kräftigen Schülertruppe. Die Sündentheologie ist die Erbsünde protestantischer Denkkultur.

Ein vierter Teil zeigt am Beispiel einer kleinen Schrift der Charlotte von Kirschbaum, Mitarbeiterin und bekanntlich Geliebte von Karl Barth, wie die tradierte und von Barth in seiner Verschlankung der Theologie vollzogene Verschärfung der Sündenanthropologie die Gleichberechtigung der Frauen und Schwulen auch noch im 20. Jahrhundert nahezu unmöglich machte. Die Sündentheologie ist ein gigantischer Emanzipations- und Autonomie-Hemmer.

Der Lebensdienlichkeit steht diese Sündentheologie im Wege. Ecclesia semper reformanda, eine Formulierung, die wahrscheinlich auf Jodocus van Lodenstein (1620–1677) zurückgeht: Die Kirche und die Theologie müssen immer reformiert werden. Kritik und Gestaltung gehören zur DNA des Protestantismus.|3| Wer aber wie ich die Sündentheologie und damit die verbiesterte Sicht des Menschen angreift, rüttelt an einem zentralen Selbstverständnis. Ich hinterfrage in einem fünften Teil die Sündenverbiesterung protestantischer Theologie, die sich erstaunlich durchhält. Im Rückgriff auf einen biblischen Text, die Kain- und Abel-Erzählung, kritisiere ich die pessimistische Anthropologie von Luther und allen Reformatoren, die sich in einem großen Traditionsstrom weiterschlängelt. Es geht mir um die schwierige Freiheit, um das Abenteuer Freiheit|4| zunächst im Diesseits von Schuld und Sünde. Mit großer Könnerschaft inszenieren die biblischen Schriftsteller emotional hoch aufgeladene Schlüsselsituationen, die davor warnen, sich eindimensional an neidbesetzten Statusfragen zu orientieren, und präsentieren einen Gott als Weisheitslehrer, der durch wohlwollende Beschämungen die Protagonisten zu einer Affektkontrolle und Herzensbildung anhält, damit Leben auf Augenhöhe gelingen kann. Jesus von Nazaret deute ich als neutestamentliche Personifizierung der Weisheit. Die Figur Gott als Weisheitslehrer dient mir als gesamtbiblischer Rahmen für die starken Erzählungen beider Testamente. Weisheit statt Heil lautet das Programm einer Erziehung zur Mündigkeit.

Ein letzter Abschnitt testet die neue Lesart evangelischer Freiheit vor dem Hintergrund unserer neoliberal organisierten Gesellschaft, die nahezu unbegrenzte Optionen für Optimierungen und Glücksversprechen anbietet und oft bei den Protagonisten in einer komatösen Konsumhaltung, in Selbstperformungsexzessen, in Statusangst oder im Burn-out endet. Die evangelische Freiheit ist kein Konsumgut|5|, sondern eine erwachsene Freiheit, die um die Gefährdung menschlichen Lebens weiß, aber, und das ist die im Verhältnis zur Antike und zur Gegenwart gleichermaßen überraschende Lesart, menschliches Leben nicht als Tragik deutet. Leben kann in der Endlichkeit gelingen, sofern man nicht verlangt, dass das Leben zu »jedem Zeitpunkt aus einem Guss«|6| besteht. Ich deute die biblischen Erzählungen als Bildung zur Mündigkeit, die den Ursprung von Gewalt in der Status- und Schamangst ausmacht. Christliche Weisheit erzieht zum Gewaltverzicht durch einen klugen Umgang mit Statusfragen. Die Botschaft ist klar und – obwohl komplex – einfach. Nicht-tragisch ist die menschliche Existenz schließlich auch deshalb, weil die kreativen Erzählungen der biblischen Texte eine glückliche Rundung außerhalb der Endlichkeit versprechen. Ob diese Sicht für Leser und Leserinnen nachvollziehbar und attraktiv ist, liegt entscheidend an der Wirkkraft der Erzählungen.

Meine vorgeschlagene Neulektüre biblischer Texte und damit eingeschlossen die Neuformatierung einer religiösen Anthropologie ist selbstredend das Ergebnis längerer Aufenthalte in Bibliotheken. Man muss sich lange in einem Wissensgebäude wegschließen, um auf jene Bücher und Texte zu treffen, die die entscheidenden Intuitionen vermitteln. Protestanten sind dank Luther und Calvin bleibend lesegläubig. Und manchmal stößt man auf das richtige Buch. Manchmal sogar auf deren zwei. Dann ist das Glück vollkommen.

Der Epilog ist ein Sendschreiben an den Schriftsteller F.C. Delius. Er streitet listig in einer kleinen Schrift gegen die Sündenverbiesterung im Protestantismus. Ich habe ihm eine Solidaritätsadresse per E-Mail geschickt.

Lob der Verschlankung

oder

Das Wuchern des Textes und die Künstler der Vereinfachung

Mitte Januar 2017 stand ein in sich verkrümmter Postbote, in den Händen ein zwar relativ kleines, aber offenbar schweres Paket, vor meiner Tür, er überreichte es mir, richtete sich dankbar auf, ich unterschrieb die Empfangsbestätigung auf seinem iPad, er zog seines Weges fröhlich. Im Paket verbargen sich drei dicke, fest eingebundene Bücher, gemeinsam zu einem mächtigen Bücherberg zusammengeschweißt, das opus magnum meines ehemals in Tübingen lehrenden Kollegen Eilert Herms: Systematische Theologie. Das Wesen des Christentums. In Wahrheit und aus Gnade leben, 3468 Seiten, Gewicht: 4,6 Kilogramm, 149 Euro.|7| Ich hatte es mir als Rezensionsexemplar kommen lassen, hatte zwar ein dickes Werk erwartet, war dann aber doch über den Umfang ziemlich erschrocken – eine Herausforderung auch für Buchtrinker. Ein Werk bewundernswerter protestantischer Gelehrsamkeit, aber allein der Umfang erschlägt denjenigen, der einfach wissen will, warum das christliche Leben attraktiv ist. Offenbar ist das nicht ganz leicht zu sagen. Ich deute das dreiteilige Werk (Theologen lieben Dreiteiligkeit), zunächst ganz unabhängig vom Inhalt, als Ergebnis einer angestrengten Komplexitätsbewältigung, die offenbar nicht schlanker vermittelt werden kann. Habent sua fata libelli, Bücher haben ihr eigenes Schicksal, lautet ein häufig zitiertes Sprichwort. Vollständig heißt es: Pro captu lectoris habent sua fata libelli, je nach Auffassungsgabe des Lesers haben Bücher ihr eigenes Schicksal. Ich werde mein Bestes geben, damit die Bände, Denkmäler theologischer Elitenkultur|8|, nicht zu Bibliotheksleichen verkommen. Die Frage bleibt: Gibt es nicht Verdichtungen, Elementarisierungen, kreative Reduktionsleistungen, die Komplexität reduzieren, ohne das Niveau zu unterbieten? Benötigen wir nicht dringend eine Verdichtung?

Habent sua fata libelli. Seit zwanzig Jahren geht mir ein Buch durch den Kopf, das sich diesen Fragen passgenau stellt. Die Erfahrung vor der Haustür war Anlass, das schmale Buch Die Kultur holt uns ein von Walter Wimmel antiquarisch zu erstehen und erneut zu lesen. Der Latinist Walter Wimmel|9|, der über zwanzig Jahre einen Lehrstuhl in Marburg inne hatte, beschreibt das Zeitalter der Schriftlichkeit – darin unterschieden von oralen, also mündlichen Kulturen – als Zeitalter dauerhafter Fixierung, die, weil nichts vergessen und alles gesammelt und in Bibliotheken gehortet wird, immer schon von einer Übersteigerung und Eskalation bedroht ist. Deshalb tendieren Literaturen irgendwann zu Übersättigung, Monotonie und Ermüdung, Erschöpfung und Entfremdung. Tritt diese Situation mit wachsendem Textbestand ein, bedarf es kreativer Reduktionen, die Wimmel in seinem Buch mit großer Sensibilität aufspürt.

Walter Wimmel will die Signatur der Epochen anhand von drei Urvorstellungen deuten: So bearbeitet die griechische Literatur in der Nachfolge Homers die »Urvorstellung«: »Mensch als Geistwesen«|10|; die römische Literatur tritt anschließend an, die »Urvorstellung« »gutes Reich«|11| zu beschreiben; nach Wimmel wird erst mit der christlichen Antike das Religiöse zum »Hauptziel der Textbewegung«, weil erst hier »von der Geschichte bis zum Alltag das Dasein« im religiösen Sinne geregelt wird.|12|