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Revolutionäre werden vom Publikum geliebt. Karl Barth (1886-1968) war der Che Guevara der Protestanten. Die Barmer theologische Erklärung (1934) mit ihrer deutlichen Stellung gegen das totalitäre Hitler-Deutschland trägt seine Handschrift. Nach 1945 sprach er sich gegen die Wiederbewaffnung Deutschlands aus und weigerte sich, gegen den Kommunismus mit gleicher Schärfe wie damals gegen die Nationalsozialisten Stellung zu beziehen. Barth schaffte es auf die Titelseite des Spiegels und des Time-Magazins. Zu seinem achtzigsten Geburtstag gab es eine Sondermarke der Deutschen Post. Die dreizehn Riesenbände seiner Kirchlichen Dogmatik und sein Römerbriefkommentar gehörten über Jahrzehnte zur Standardausführung einer Theologen-Bibliothek.
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Seitenzahl: 165
Klaas Huizing
Gottes Genosse
Eine Annäherung an Karl Barth
© Kreuz Verlag GmbH, Hamburg 2018
www.kreuz-verlag.deUmschlaggestaltung: Uwe Baumann
Umschlagfoto: © Karl Barth-Archiv, Basel
Satz und E-Book-Erstellung: NagelSatz, Reutlingen
ISBN (Print) 978-3-946905-50-9
ISBN (E-Book) 978-3-946905-60-8
„Wenn es irgend ein lebensgefährliches Unternehmen gibt
auf Erden [...], dann ist es das Unternehmen einer Summa
theologica, einer Dogmatik.“
Karl Barth
© DER SPIEGEL 52/1959
Wer wie ich in den späten siebziger Jahren zunächst Theologie in Münster und dann in den Niederlanden studierte, tauchte in eine Welt ein, die Barth sprach.1 Barth war die lingua franca der protestantischen Theologie, die Mehrsprachigkeit noch kaum entdeckt, ganz wenige der jüngeren Dozentinnen und Dozenten nuschelten verschliffen und zungenunsicher wahlweise Tillich, Bultmann, Ebeling oder Pannenberg, noch waren viele damit beschäftigt, Auratisierungsprosa über den Meister Barth zu produzieren, und verblieben kuschelig in der barthschen Echokammer und Komfortzone.
Markantes Merkmal der jüngeren Studierenden waren die wundgelesenen Augen, in langen Nächten glücklich erarbeitet durch die Lesewut, die sich durch den Bücherberg der Kirchlichen Dogmatik2(KD) wühlte – Kumpel im Dienste höherer Einsicht. Ihre schlecht gelüfteten Gesichter hellten sich über Tage dann auf, wenn sie die Architektur der KD (die erste chice Abkürzung, die ich lernte) perfekt nachbauen konnten. Und ein Glanz überstrahlte ihr Gesicht, wenn sie sich aus dem Kopfregal einen Paragraphen der KD ausliehen und sich in den Seminaren Lob abholten, indem sie wie eine Funktionärsmaschine funktionierten und den barthschen Begriffszauber entfachten: Für einen holländisch Reformierten wie mich war Karl Barth die ausgelesene DNA.
Ich war also ein idealer Kandidat, um ein strebsamer Barthianer und Adorant des protestantischen „Kirchenvaters des 20. Jahrhunderts“ zu werden. Ein nachhaltiger Barthianer bin ich nicht geworden, obwohl ich in einer Melange aus Schaudern und Faszination bis heute Karl Barth bestaune.
1. Barth war ein großer Stilist, der unterschiedliche Stilarten beherrschte, mit expressionistischer Verve, revolutionärem Pathos, mit Witz (das auch!), in dialektischen Schleifen, in retardierenden und mäandernden Wiederholungen, in barock überschießenden Sätzen, dann auch wieder apodiktisch und autoritativ formulierte, manchmal materialermüdende Überrumpelungsprosa verfasste, sogar im Vokativ schreiben konnte.3 In einem sehr basalen Sinne ist Theologie Stil, die Kunst, eine andere Weltsicht sprachmächtig zu präsentieren. Schriftsteller von Format wie John Updike und Martin Walser zählten oder zählen zu Barths Bewunderern. Sie haben ihn als einen Verwandten wahrgenommen. Nicht zu Unrecht. In seinen letzten Lebensjahren kam es ausgehend von der Initiative Barths zu einem denkwürdigen Kontakt mit dem Schriftsteller Carl Zuckmayer. Gottes Genosse General traf auf den Autor von Des Teufels General. Am nächsten komme ich Barth in seinem Verständnis von Literatur, von Kunst überhaupt: Kunst ist für Barth dann große Kunst, wenn sie nicht dämonisch oder tragisch grundiert ist.
2. Barth besaß ein eigenes Okular für politische Weitsicht. In dieser Hinsicht gilt meine Bewunderung uneingeschränkt, weil er es gleich drei Mal unter Beweis gestellt hat. Auf die anfangs unkritische Haltung seiner Lehrer gegenüber dem Ersten Weltkrieg, darunter der Berliner Theologe Adolf Harnack (damals noch nicht adelig) und Barths Marburger Lehrer Wilhelm Herrmann, reagierte er sehr früh mit größter Reserve. In den 1920er bis 1940er Jahren handelte Barth ebenso charakterstark: Nach einer kurzen Inkubationszeit, in der er Hitler noch glaubte als Theaterpolitiker deuten zu können, gab er seine SPD-Mitgliedschaft nicht zurück, leistete nicht den Eid auf den Führer und als spiritus rector der Barmer Theologischen Erklärung bereitete er, der Schweizer, den Boden für eine (moralische) Neugeburt Deutschlands nach dem Krieg. Schließlich weigerte er sich nach dem Zweiten Weltkrieg mit viel Augenmaß, in den Kalten Krieg zu ziehen – was ihm häufig auch von ehemaligen Weggefährten verübelt worden ist. Nachdrücklich votierte er gegen die deutsche Wiederbewaffnung, eine Haltung, die ihm 1958 auf politischen Druck hin die Verleihung des Friedenpreises des Deutschen Buchhandels kostete. Diese mehrfach bewiesene politische Weitsicht war, wie zu zeigen, eine positive Konsequenz seiner prophetischen Theologie.
3. In einem sehr pointierten Sinn startete Karl Barth als prophetischer Revolutionär unter den Theologen. Das hing mit seinem radikalen Verständnis von Theologie spätestens ab dem ersten Römerbriefkommentar (1919) zusammen. Kühn hat Barth mit einer tiefen Verbeugung vor Søren Kierkegaard in der zweiten Auflage des Römerbriefkommentars (1922) eine radikale Differenz zwischen Gott und Welt aufgemacht und von einer Diastase gesprochen. Aus dieser Differenz heraus schlug er kreative Funken, die auch Freundschaften verbrennen konnten. Seinem Kollegen – ich zögere: Freund zu schreiben, obwohl er ihn bis ins Alter hinein so nannte – Emil Brunner hat er einmal auf einem Cover ein Nein! entgegengeschleudert. Allein diese prophetische Geste bewundere ich. So kritisch wie er Anderen gegenüber war, so kritisch war er auch sich selbst gegenüber. Barth war ein atemberaubender Retraktatskünstler, der sich ohne zu schämen selbst heftig ins Wort fiel. In der zweiten Auflage des Römerbriefkommentars, schrieb er über die zentrale Pointe der Erstauflage: „Unmöglich!“4 Und in der KD notierte er über die Zweitauflage seines Römerbriefkommentars ohne sich lange zu spreizen, die Rede von Gott als „der oder das ‚ganz Andere‘“ sei „unhaltbar, verkehrt und heidnisch“. (KD IV/1, 203) Die schlecht zahlenden Nachmieter in Barths Denken haben diese Grandezza oft vermissen lassen. Will man die in der gegenwärtigen Theologie grassierende Tranquilizerstimmung aufhellen, muss man, so wie Barth es getan hat, deutlich und mutig Farbe bekennen. Notfalls auch Freunden und Weggefährten gegenüber. Und notfalls kann man widerrufen.
4. Mit Karl Barth teile ich seine Vorliebe für die dialogische Bewegung um Martin Buber. Zum wirklichen Menschen, so die Grundeinsicht, wird man in der Begegnung mit einem anderen Menschen. Barth bekundete diese Liebe allerdings sehr spät und brannte dann vor Ehrgeiz, Buber zu überbieten. Ein idealer Gesprächspartner wäre Emmanuel Levinas gewesen, der wie Barth Dialogik, Prophetie und Totalitätskritik zusammenband. Barth hat ihn, wenn überhaupt, allenfalls am Rande wahrgenommen. Beide Autoren teilen die Stärken und Schwächen einer radikalen Totalitätskritik, die stets in der Gefahr steht, selbst totalitär zu werden.
5. Barth war ein Athlet der Bibellektüre. Das barthsche Meisternarrativ ruht auf den biblischen Texten. Für die theologische Richtung, aus der Barth stammte, galt diese Rückbindung nicht zwingend. Gegen den Historismus seiner Lehrer, der die geschichtliche Bedingtheit und damit auch Relativität alles Gewordenen unterstellt, wurde ihm die Lektüre des Römerbriefs zu einer existentiellen Erfahrung, die den von Gotthold Ephraim Lessing entdeckten breiten Graben zwischen den biblischen Texten und der Gegenwart leichtfüßig übersprang. Biblische Texte waren nicht länger abständig, sondern kommentierten die Gegenwart ganz unmittelbar. Dieses Angebot einer radikalen Horizontverschmelzung imponierte den Leserinnen und Lesern. Der Eindruck des Neuerers verfestigte sich noch, weil Barth mit einer atemberaubenden Unterscheidung von Offenbarung und Religion die anwachsende Atheismus-Ängstlichkeit therapierte. Barth plädierte für einen radikalen Subjektwechsel. Theologie sollte gefälligst ihren Ausgangspunkt nicht von der Anthropologie, sondern von der Selbstoffenbarung Gottes nehmen. Und allenfalls in diesem Sinne, von der Idee der Offenbarung her, war das Christentum für Barth die wahre Religion – auch wenn die empirische Gestalt der protestantischen Kirche diesem Ideal nicht zwingend entsprach. Für Barth legten die biblischen Texte Zeugnis ab von der Selbstoffenbarung Gottes. Ob er mit dieser engen Sichtweise der Qualität der biblischen Texte gerecht wurde, ist allerdings sehr die Frage. An dieser Stelle hätte ich mir Barth deutlich kritischer gewünscht.
6. Barth war ein Triathlet mit zweiter Luft. Diese zweite Luft spendete auch Charlotte von Kirschbaum, die mehr als drei Jahrzehnte an der KD mitarbeitete. Täglich wurden mindestens vier bis acht Seiten produziert! Beide ratifizierten ein wahrlich calvinistisches Arbeitsethos. Auch das ehrt ihn: Barth hat aus seinem Liebesverhältnis zu Charlotte von Kirschbaum, Lollo genannt, kein Versteckspiel gemacht, verbrachte Urlaube mit ihr auf dem berühmten Bergli, ein Ferienhaus oberhalb des Zürichsees. Liebesnest und Widerstandsnest gegen die liberale Theologie seiner Lehrer gleichermaßen. Die inzwischen publizierten Briefe lassen keine verzopften Deutungsspiele zu: Es war eine große, auch sexuelle Liebesgeschichte. Fraglos: Das Leben zu dritt war nicht einfach, das hässliche Wort von der Notgemeinschaft machte die Runde. Aber: Der Theologe Karl Barth ist ohne Charlotte von Kirschbaum nicht zu haben, auch wenn sie im neuen Barth-Handbuch skandalös auf schlanken fünf Seiten abgehandelt wird.5 (Von den 82 Artikeln des Handbuches wurden nur zwei der Artikel von Frauen verfasst. Die Altmännerriege herrscht in der barthschen Theologie nahezu ungebrochen weiter. Ein Grund zum Fremdschämen.)
Mein Essay hat sechs Teile. Für eilige Leserinnen und Leser erinnere ich im ersten Teil die wichtigsten biographischen Stationen dieses im besten Sinne bewegten, spannenden und mutigen Lebens. Barth war einer der prägenden Figuren der Zeitgeschichte im 20. Jahrhundert. Und privat lebte er ganz anders, als man es in den bürgerlichen theologischen Milieus gewohnt war.
Ein zweiter Teil nähert sich den Anfängen bis zum berühmten Römerbriefkommentar in der ersten (1919) und zweiten Auflage (1922). Das ist die für alle Lesenden jener Jahre sichtbare Geburtsstunde des revolutionären und prophetischen Barths, der sich von seinen liberalen Lehrern abwendet und mit viel Verve eine radikale Wende einschlägt. Dabei teilt er mit seinen Lehrern, namentlich mit Wilhelm Herrmann (1846–1922), die Sorge um die unverwechselbare Persönlichkeit, die in den wilden zwanziger Jahren droht zerrieben zu werden. Retten aber, so seine ursprüngliche Einsicht, lässt sich die Persönlichkeit nicht im Rekurs auf religiöse Erfahrung, sondern nur im Rekurs auf Gott als den ganz Anderen. Und Karl Barth ist mit der geliehenen Stimme von Paulus der Prophet dieses ganz Anderen. Ich folge seiner auch sprunghaften Entwicklung und stelle kritische Rückfragen.
Im dritten Teil untersuche ich, wie Barth in kreativen Schüben seine religionskritischen Einsichten verdichtet und in kreativen Sprüngen das Modell seiner Kirchlichen Dogmatik entwickelt, das unter der Marke Wort-Gottes-Theologie Karriere macht. Die prophetische Theologie wird zu einem Jahrhundert-Projekt.
Der vierte Teil konzentriert sich auf den hermeneutischen General-Schlüssel des Opus magnum: die Erwählungslehre oder die Lehre von der Gnadenwahl. Es ist Barths Angebot einer radikalen Entängstigung, Evangelium, frohe Botschaft im Wortsinn. Barth ist jetzt nicht länger primär ein Warner und Unheilsprophet, sondern ein Heilsprophet im besten Sinne des Wortes. An Barths Verständnis von Literatur verdeutliche ich die Stärke dieser konstruktiven Idee. Erschienen ist dieser Band der KD im Jahr 1942. Mitten im Krieg entwirft Karl Barth eine Erwählungslehre, die niemanden ausschließt! Ein gleichermaßen provokanter und tröstender Gestus.
Für frühe und treue Barth-Leser war es eine Überraschung, als in der KD zunehmend weniger als in den Römerbriefkommentaren von Gott als dem Richter die Rede ist, sondern die Menschlichkeit Gottes ins Zentrum rückt. Nicht länger wird in Bausch und Bogen die Anthropologie denunziert, aber statt von Anthropologie spricht der späte Barth ausdrücklich von Theanthropologie. Im fünften Teil meines Essays entpuppt sich Barth als verspäteter Anhänger der dialogischen Bewegung um Martin Buber mit eingelagerter Überbietungsrhetorik.
Ein sechster Teil zeigt an der auflagenstarken kleinen Schrift Theologische Existenz heute! und an der Schrift Christengemeinde und Bürgergemeinde die auch politisch revolutionäre und ethische Sprengkraft dieses Ansatzes. In der vorliegenden Gestalt ist diese politische Ethik zwar nicht gegenwartstüchtig, aber – und das fasziniert – die Thesen dieses schmalen Werks zeigen Barth als einen Propheten von Wikileaks und in seiner Parteienverdrossenheit als Propheten einer postdemokratischen politischen Bewegungskultur. En marche!
Ein Schlusskapitel wirft einen Seitenblick auf die Barthianer und fragt nach den Konsequenzen für eine gegenwartstaugliche Theologie. Wie sähe eine radikale Antwort auf Barth aus, die ebenfalls kein Rollback zu längst vergangenen Positionen einschlägt? Gibt es ein markantes Gegenmodell zu einer prophetischen Theologie?
Mein Essay lässt Barth in längeren Zitaten zu Wort kommen, um den Barth-Sound einzufangen. Barth kann knallig formulieren, aber die Gedankengänge sind komplex. Das sollte man nicht verschweigen. Es gibt auch den zelebralen Barth. Barth füllte in seinem lebenslangen Schreiben – stellt man neben die KD die vielen Bücher, die aus dem Nachlass noch immer erscheinen – ein Ikea-Billy-Regal. Barth für Dummies? Eher nicht. Man muss ihn gründlich lesen, um seine über viele Jahrzehnte anhaltende Anziehungskraft zu verstehen. Meine Interpretationsthese lautet: Karl Barths Neuerung ist der Versuch, eine prophetische Theologie für die Gegenwart zu entwerfen. Unterwegs entwickelt er sich vom revolutionären Gerichts- zum radikalen Heilspropheten.
Auch heute noch ist Barth beschämend aktuell, weil die gemeinschaftstreue Persönlichkeit, deren prophetischer Anwalt Barth stets war, erneut unter Druck gerät: durch mediale Umbrüche, durch oft an sich selbst adressierte Überforderungsansprüche, durch ökonomischen und politischen (oft kaschierten) Gleichschaltungswillen, durch versteckte Dressurmaßnahmen und durch Algorithmen, die unser Leben beeinflussen. Eine prophetische Theologie,6 wie sie Barth vorgelegt hat, und eine prophetische Philosophie, wie sie Levinas präsentierte, sind als radikale Totalitätskritiken – trotz meiner Vorbehalte – auch gegenwärtig eine Option. Und beide machen wahrscheinlich, dass man für eine radikale Totalitätskritik Gott braucht.
Als Gestus freilich ist jede auf Dauer gestellte prophetische Theologie und prophetische Philosophie unerträglich, weil sie unentwegt eine reine, geschichtsindifferente Wahrheit im Munde führt. Obwohl ich noch einmal einen Umweg über die prophetische Philosophie von Levinas genommen habe,7 bin ich als Theologe kein Barthianer geworden: Mir ist die prophetische Geste letztlich sehr fremd. Eine entschiedene Antwort auf Barth ist deshalb für mich eine biblisch grundierte und geerdete Weisheitstheologie, die ein ideales Widerlager zur prophetischen Theologie eines Karl Barth bieten kann.
Die Familie Barth in den frühen 1930er Jahren (von links nach rechts): Grete Karwehl, Peter Barth, Markus, Charlotte von Kirschbaum, Hans Jakob, Karl Barth, Franziska, Christoph, Matthias, Nelly Barth © Karl Barth-Archiv, Basel
„Mein Vater war auch schon Theologe, ein Theologieprofessor von mild konservativer Gesinnung, nicht orthodox, aber ‚positiv‘, wie man das damals zu nennen pflegte. Und meine Eltern haben mich und meine Brüder aufgezogen, wie ich jetzt nachträglich jedenfalls sagen muß, in einem guten, christlichen Geiste.“8
Ich beginne ganz sachlich. (Sachlichkeit war lebenslang ein Lieblingswort von Karl Barth!) Am 10. Mai 1886 wird Karl Barth als das älteste Kind des Ehepaares Johann Friedrich Barth und Anna Katharina Barth, geb. Sartorius – sie entstammt einem streng reformierten Pfarrhaus – in einem bildungsbürgerlichen Milieu in Basel geboren. Karl folgen noch zwei Schwestern, Gertrud (1886) und Katharina, die 1899 mit sechs Jahren stirbt, und seine Brüder Peter (1888–1940, später Pfarrer und Calvin-Forscher) und Heinrich (1890–1965, später Professor für Philosophie in Basel). 1889 zieht die Familie nach Bern um, dort wird Barths Vater zunächst Privatdozent, dann 1891 außerordentlicher Professor und 1895 Ordinarius für Neues Testament und für ältere und mittlere Kirchengeschichte.9
„Dann müßte ich als nächste Person, die mir Eindruck gemacht hat und dann für meine Entwicklung wichtig wurde, den Pfarrer nennen, der mich unterrichtet und zur Konfirmation geführt hat. Das war ein Berner Pfarrer namens Robert Aeschbacher, ein damals sehr anerkannter und beliebter Prediger in Bern. [...] Ich war der einzige unter der Bubenschar, der schon wie ein Student fast wörtlich nachgeschrieben hat, was der Mann uns gesagt hat. Und am Ende dieses Unterrichts war es mir klar: ich muß Theologe werden.“10 Nach der Matura 1904 beginnt Barth das Studium zunächst in Bern, hört bei seinem Vater Vorlesungen und besucht seine Seminare, geht dann für ein Wintersemester 1906/07 nach Berlin, studiert dort bei dem damaligen akademischen Star des deutschen Kaiserreichs, bei dem Kirchenhistoriker Adolf Harnack, beim Alttestamentler Hermann Gunkel und bei Julius Kaftan, der den ehemaligen Lehrstuhl von Schleiermacher bekleidet. Für das Sommersemester kehrt er nach Bern zurück, verlernt dort immerhin das Gruseln. „Was ich jenen Berner Meistern trotz allem verdanke: ich habe damals das Gruseln verlernt, habe nämlich die ‚historisch-kritische‘ Schule in ihrer älteren Gestalt damals so gründlich durchlaufen, daß mir die Äußerungen ihrer späteren und heutigen Nachfolger nicht mehr unter die Haut oder gar zu Herzen, sondern, als nur zu bekannt, nur noch auf die Nerven gehen konnten.“11
Auf nachdrücklichen Wunsch seines Vaters hin wechselt er für ein Semester nach Tübingen, besucht dort Vorlesungen bei Adolf Schlatter, aber „seine Art zu argumentieren hat mir tief mißfallen“12. Ab 1908 in Marburg kommt er in Kontakt mit dem dortigen Marburger Neukantianismus in Gestalt von Hermann Cohen und studiert intensiv bei dem liberalen Theologen Wilhelm Herrmann: „Dort fand ich, was ich gesucht hatte: eine Theologie, aufgebaut auf die ‚Kritik der praktischen Vernunft‘ von Kant. Denn das interessierte mich eigentlich: die ‚praktische Vernunft‘, der ethische Einschlag dort. [...] (I)ch [...] bin nun ein treuer Herrmann-Schüler geworden. [...] (F)ür Herrmann – das habe ich eben von ihm gelernt – war doch der christozentrische Anstoß“13 entscheidend. Sein Examen besteht Barth in Bern am 28. Oktober 1908, wird dann in Marburg für zehn Monate Redaktionsassistent der Zeitschrift Die Christliche Welt, die Martin Rade herausgibt. Im Blick zurück schreibt Barth: „Die ‚Christliche Welt‘ war ja das große Organ dieser modernen theologischen Richtung des Neuprotestantismus ...“14 In dieser Zeit lernt er Rudolf Bultmann kennen.
1907 verliebt er sich in die Bernerin Rosy Münger, die Eltern Barths sind allerdings not amused – auch deshalb, weil Rosy aus einem liberalen Elternhaus stammt –, 1910 trennt Karl sich durch das nachdrückliche Betreiben seiner Mutter von ihr: „Ich habe dieses Mädchen – sie ist 1925 gestorben – nie vergessen können.“15 Ein starker Satz, der viel über den Charakter von Barth verrät. In Genf, auf seiner Hilfspredigerstelle ab 1909, lernt er seine Konfirmandin Nelly Hoffmann (geb. 26. August 1893) näher kennen, die er 1913 heiratet. Zehn Jahre, von 1911 bis 1921 arbeitet Barth als Pfarrer in der Arbeiter- und Bauerngemeinde Safenwil im Kanton Aargau. Dort engagiert er sich in der Bewegung des Religiösen Sozialismus, die in der Schweiz von den Theologen Hermann Kutter (1863–1931), Pfarrer am Neumünster in Zürich, Leonard Ragaz (1868–1945), einige Jahre Pfarrer am Basler Münster, gegründet worden war. Erschrocken über die prekäre Lage der Arbeiter und Arbeiterinnen, reagiert Barth ganz pragmatisch und bietet etwa für die Frauen in den Fabriken Kurse in Gesundheitslehre an und nimmt für die Gewerkschaften Partei. Barth denkt intensiv über eine Synthese von Sozialismus und Evangelium nach. Schnell erarbeitet er sich einen Ruf als roter Pfarrer von Safenwil. In dieser Zeit befreundet er sich mit dem Kollegen Eduard Thurneysen, den er bereits aus der Studentenverbindung Zofingia – in dieser Verbindung lernte er das Biertrinken und das Pfeiferauchen – kennt und der in der Nachbargemeinde Leutwil Pfarrer ist.16 Es bleibt eine lebenslange enge Freundschaft und über viele Jahre auch eine enge Arbeitsgemeinschaft. 1912 stirbt überraschend Barths Vater an einer Blutvergiftung. In Safenwil werden die Kinder Franziska Nelly (1914), Karl Markus (1915), Christoph Friedrich (1917), Robert Matthias (1921), in Göttingen schließlich 1925 Hans Jakob geboren. In seinem privaten Umfeld nennt er seine Kinder gerne ironisch seine „gesammelten Werke“.
Einen Einschnitt markiert im Rückblick der 4. Oktober 1914, denn obwohl sich Barth 1914 bereits von seinen liberalen Vätern entfremdet hat, nimmt er mit großer Verstörung und Empörung zur Kenntnis, dass seine Lehrer Harnack, Herrmann und Schlatter zu den Unterzeichnern des Aufrufs An die Kulturwelt! gehören, in dem 93 Intellektuelle jede Schuld Deutschlands für den Ausbruch des Ersten Weltkrieges abstreiten und unterstellte Kriegsverbrechen und die Missachtung des Völkerrechts als Verleumdung durch die Feinde kleinreden. Das Manifest der 93 ist gleichermaßen Ausdruck der Kriegsbegeisterung in Deutschland und heizt die Begeisterung weiter an. „Da gab es für mich eine große Erschütterung, nämlich eine doppelte Erschütterung: daß ich [zum einen] sah, wie meine sämtlichen theologischen Lehrer aus Deutschland mitgingen. Alle! – Adolf von Harnack an der Spitze, aber auch mein Herrmann war da, und – alle!“17 Barth spricht von einer doppelten Erschütterung, weil auch die deutschen Sozialdemokraten im Deutschen Reichstag die Kriegskredite bewilligten. In einer hübsch dialektischen Volte tritt Barth prompt in die Sozialdemokratische Partei der Schweiz ein: „Ich bin nun in die sozialdemokratische Partei eingetreten“, schreibt Karl Barth am 5. Februar 1915 an seinen Freund Eduard Thurneysen. „Gerade weil ich mich bemühe, Sonntag für Sonntag von den letzten Dingen zu reden, ließ es es [sic!] mir nicht mehr zu, persönlich in den Wolken über der jetzigen bösen Welt zu schweben, sondern es mußte gerade jetzt gezeigt werden, daß der Glaube an das Größte die Arbeit und das Leiden im Unvollkommenen nicht aus- sondern einschließt.“18