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Den Menschen zum guten Handeln befreien
Die unangenehme Situation einer Schamerfahrung markiert den kritischen Punkt menschlicher Freiheit, den eigenen Charakter zu formen oder aber Scham in Schuld zu verschieben – eine Verschiebung, aus der häufig Gewalt entspringt, die aber nicht zwangsläufig gewählt werden muss.
Die biblische Weisheitstheologie coacht für den richtigen Umgang mit dieser Schlüsselsituation. Die daraus resultierende milde optimistische Anthropologie lässt den lebensweltfremden Sündenbegriff hinter sich und hat erhebliche Konsequenzen in den Bereichsethiken: Hier werden Entschämungspraktiken möglich, die sowohl voreilige Dämonisierungen als auch die Entstehung von Macht- und Gewaltspiralen zu vermeiden helfen.
Intellektuell und sprachlich anregend macht diese Präventiv-Ethik deutlich: Wir können unser Leben ändern.
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Seitenzahl: 985
Klaas Huizing
Scham Ehre
Eine theologische Ethik
Gütersloher Verlagshaus
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Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln
ISBN 978-3-641-19552-6V001
www.gtvh.de
Den Schwiegersöhnen
Paul Huizing
Thomas Kusitzky
Inhalt
Vorwort und Dank Das Wüten von Maarten ’t Hart
Einleitung
Vorspiel
Scham und Ehre
Nachspiel
Shame on you! Scham als Grundbegriff der Ethik
Einleitung: Der emotional turn
1. Homo sensualis
2. Ethik, Scham und Schamhaftigkeit
3. Scham als moralische Autorität
4. Die Konstitution des ethischen Subjekts in der Scham
5. Über die Attraktivität, Scham in Schuld zu verschieben
6. Falsches und richtiges Schämen
Kleine Rekapitulation: Schammanagement
Nachspiel
Ehre, wem Ehre gebührt Karte und Gebiet einer weisheitlichen Ethik
Einleitung: Inszenierter Optimismus
1. Die biblische Weisheitsanthropologie
2. Weisheitliche Modell-Lektüren
3. Renovierung des Ehrbegriffs
4. Göttliche Atmosphären
5. Kleine Hymne auf die Bibel: Bling Bling
6. Hoch und tief. Baupläne des Hymnischen
Kleine Rekapitulation: Wohlwollende Begleitung
Nachspiel: Jubilieren
Scham, Schuld und Schulden Ethik in Zeiten der Wirtschafts- und Finanzkrise
Einleitung: Möbelhaus, später
1. Die magische Aufladung der Ökonomie
2. Der schamgeschulte Homo oeconomicus
3. Scham als ökonomische Klugheitsregel
3.1 Makroebene: Scham und Kooperationsgerechtigkeit
3.2 Mesoebene: High speed money und die Scham der alten Banker
3.3 Mikroebene: Digitale Leibeigenschaft?
Kleine Rekapitulation: Plädoyer für eine schamgesteuerte ökonomische Klugheit
Verschiebung von Scham in Schuld
Präventiv-Ethik und der richtige Umgang mit Scham
Weisheitliche Klugheit und concursus divinus
Rettungsangebot
Nachspiel
Werden wir »elektrooptisch gedopt«? Grundriss einer Medienethik
Einleitung: Baisse
1. Kehraus
2. Ezechiel und die Performer der Beschämung
3. Das Disneyland des Christentums in den Alpen
4. Der Homo medialis und seine Handlungsfelder
4.1 Das Netz: digitaler Spielplatz oder Normierungsmaschine?
4.2 Professionsethik – emanzipativer Umgang mit schambesetzten Themen
4.3 Der fehlende Schamblick im Netz
5. Medien als Maschinen der Schamsensibilisierung
Kleine Rekapitulation: Über Teflonisierung und Identitätsmanagement
Verschiebung von Scham in Schuld
Präventiv-Ethik und der richtige Umgang mit Scham
Weisheitliche Klugheit und concursus divinus
Lob der Medienträger
Nachspiel
Exkurs Selfie, Belfie, Footsie und Nudie
1. Das Wörterbuch der Selbstentblößung
Einleitung: Klausur im Dunklen, online in der hellen Kammer
Idolatrie und Teilnahme
2. Identitätsstabilisierung, Verknautschung und der kleine Alltagsroman zum Selfie
Erotischer Exzess
Nachspiel
Prometheische Scham Überlegungen zu einer theologischen Technikethik
Einleitung: Faust und Prometheus 3.0
1. Der Homo faber reloaded
2. Die Scham des Homo faber und der Hass auf das Handy
3. Technik, Kunst und die Gelassenheit
4. Der Entzauberungskünstler und die Religion
5. Theologische Technikethiken in der Kritik
6. Der Cyborg und das Ende der prometheischen Scham
Kleine Rekapitulation: Reifizierungswahn und der Charme der Ergänzung
Verschiebung von Scham in Schuld
Präventiv-Ethik und der richtige Umgang mit Scham
Weisheitliche Klugheit und concursus divinus
Abschied von der prometheischen Scham
Nachspiel
»Lust ist wahrscheinlich ein Beiname Gottes!« Eine Ethik der Sexualität, Liebe und Lebensstile
Einleitung: Sexualität – ein verwahrlostes Thema
1. In Spermiengewittern. Eine Lendenlegende
2. Die Applausmeister der Wollust und der Fruchtbarkeit
3. Biblische Lektüren der Entschämung
4. Im Treibhaus der Ehe
5. Wie zusammen leben?
6. »To be baptized in banality«. Jeff Koons Entschämungsparcours der Sexualität
Kleine Rekapitulation: Über die Feier des Orgasmus und die Metaphysik der Fruchtbarkeit
Verschiebung von Scham in Schuld
Präventiv-Ethik und der richtige Umgang mit Scham
Weisheitliche Klugheit und concursus divinus
Die Doxologie der Sexualität
Nachspiel
Die Enhancement-GesellschaftÜber Körper- und Psychopolitiken
Einleitung: BMI-Gläubigkeit
1. Beschämungspraktiken im Gesundheitsdispositiv
2. Macht Krankheit Sinn?
3. Enter. Sind Leben und Gesundheit Gaben?
4. Exit. Die Frage nach der Rück-Gabe des Lebens
Kleine Rekapitulation: Über Heil und Heilung
Verschiebung von Scham in Schuld
Präventiv-Ethik und der richtige Umgang mit Scham
Weisheitliche Klugheit und concursus divinus
Nachspiel Verhaltenes Lob der Zellulitis und des Doppelknies
Nach dem SchlachtenÜber Tier-, Pflanzen- und Umweltethik
Einleitung: Beschämungspraktiken und eine Heuristik der Scham
1. Die Sonderstellung des Menschen
2. Sphärenerweiterung I
3. Sphärenerweiterung II
4. Biblische Befunde und theologische Tier- und Umweltethiken
5. Das Internet der Tiere und die leise Beschämung durch die Kunst
Kleine Rekapitulation: Und die armen Tiere und Pflanzen auch?
Verschiebung von Scham in Schuld
Präventiv-Ethik und der richtige Umgang mit Scham
Weisheitliche Klugheit und concursus divinus
Die Erregungskommune
Nachspiel
Der Liberalismus der Scham Ein Versuch zur Rechtsethik
Einleitung: Zeugen der Scham
1. Alphabetisierte Scham
2. Die Gefühlsbasis des Rechts
3. Re-Shaming und Beschämungspraktiken
4. Der lange Schatten der Sünde
Kleine Rekapitulation: Das Rechtsgefühl als Stimulans
Verschiebung von Scham in Schuld, Schuld in Scham
Präventiv-Ethik und der richtige Umgang mit Scham
Weisheitliche Klugheit und concursus divinus
Law and Literature
Nachspiel
Exkurs: Politische EthikSelfies von Europa Über Bildpolitiken in der Migrationsdebatte
Einleitung: Willkommenskultur oder: Welches Bild von Europa hätten Sie denn gerne?
1. Schockphotos oder: Wie Bilder uns bestechen
2. Scham und Ehre als Grundbegriffe politischer Ethik
3. Scham und Ehre in biblischen Narrativen
4. Die europäische Kultursynthese, die Bildung und die Trockenheit der Herzen
Kleine Rekapitulation: Schockphotos und die Folgen
Epilog Vor der Tafel
Die Liturgie eines demütigenden Beschämungsrituals
Literatur
Filmverzeichnis
Namenregister
Vorwort und DankDas Wüten von Maarten ’t Hart
Auch noch jenseits der Siebzig wütet der niederländische Autor Maarten ’t Hart nahezu atemlos gegen seine calvinistische Erziehung und gegen das desaströse Menschenbild, das ihm vor allem durch seine Mutter vermittelt worden ist. So lässt er in seinem Roman Magdalena über die eigene Mutter sie selbst sagen: »(A)lles, was von Menschenhand geschaffen wurde, ist von der Sünde befleckt, ist mit Sünde getränkt, ist mit Sünde beschmutzt, durch Sünde gebrandmarkt.«1 Zwar hat Maarten ’t Hart seinen leisen Humor nicht eingebüßt, aber für den Calvinismus empfindet er nur laute Verachtung: »Der Calvinismus war eine abartige, bizarre, grauenhafte Form des Christentums.«2 Andere christliche Konfessionen stehen nicht in seinem Fokus, für ihn ist das Christentum aber insgesamt eine Lebensform, vor deren Nebenwirkungen dringend gewarnt werden muss, deshalb endet sein Roman Magdalena mit einer unerbittlichen und verächtlichen Gegenlesung des Credos und des Vaterunsers. Ein kleiner Katechismus der finalen Verweigerung. Kehraus mit dem Christentum. Eine Bitte um Verschonung nach der erlebten Verwüstung. Eine Schlussstrichgeste, der man die Erleichterung ansieht. Maarten ’t Hart bleiben als Trost noch die musikalischen Heroen Bach und Mozart. Immerhin. Ganz ohne vertikale Verdrahtung muss auch er nicht auskommen.
Ich bin ebenfalls in einem calvinistischen Elternhaus aufgewachsen, also Maarten ΄t Harts idealer Leser, folge seit zwanzig Jahren, während der Lektüre seiner autobiographischen Romane unweigerlich nickend, als litte ich an einem Hospitalismus, seinem nie gemütlichen Wüten. Die durch die Erziehung verschriebene Sündenbrille abzulegen, ohne dem Christentum damit abzuschwören, scheint, liest man Maarten ’t Hart, unmöglich. Als Augentraining, so der protestantische Instinkt, hilft nur die neuerliche Lektüre. Und die Lektüre hilft sehen, denn an einem biblischen Text, der Kain- und Abel-Geschichte, ging mir auf, dass die biblischen Schriftsteller gegen den ersten (und zweiten) Anschein eine weniger sündenfixierte Lesart zulassen und nahezu trotzig – ohne naiv zu sein – auf die Bildbarkeit des Menschen bauen. Biblische Schriftsteller trainieren den rechten Umgang mit Scham als Warnung davor, schuldig und sündig zu werden. Das ist eine alternative, weniger misanthropische Sicht der Dinge, die durch die asketischen calvinistischen Mütter bedient wurde. Diese neue Sicht erprobe ich in diesem Buch. Mein ethischer Entwurf ist deshalb zunächst und zumeist als Präventivethik angelegt, ohne den Tatbestand von Schuld und Sünde leugnen zu wollen. Dieser Zugang, der mit dem sündenfixierten Selbstverständnis vieler Theologen sehr grundsätzlich bricht, hat einige Vorteile. Ein entscheidender Vorteil dieser Herangehensweise ist das milde, optimistische christliche Menschenbild. Ein Gespräch mit säkularen Ethikern wird durch das Absenken der Diskursschwellen in dieser Frage sehr viel leichter möglich. Die Generation meiner Töchter und Schwiegersöhne, die nahezu täglich mit der missbrauchten Religion in vielen Facetten konfrontiert werden, können mit dem pessimistischen Menschenbild der christlichen Tradition kaum – kaum ist noch ein Euphemismus – etwas anfangen. Diese Präventivethik, die die Lebensdienlichkeit der christlichen Religion deutlich machen will, ist ein Angebot zum Dialog. Meinen beiden Schwiegersöhnen ist deshalb dieses Buch gewidmet.
Das intensive Gespräch mit meinen Assistenten Dr. Michael Bauer, Johannes Lange, Martin Schott und meinen Assistentinnen Dr. Iris Kreile und Theresa Michalik zu den Themen der Ethik hat mich in der unverbiesterten Sicht der Dinge bestärkt. Unschätzbar ist der Beitrag, den seit zehn Jahren Dr. Michael Bauer geleistet hat. Auch wenn die Diskussionen manchmal kontrovers ausfielen, war der immer von Humor geprägte Disput der Sache geschuldet. Für einen gelernten Dialogiker wie mich, ich habe in der Philosophie über Levinas promoviert, ist der Dialog die Urform des Glücks. Unser beider Hochschätzung der Literatur des Alten und Neuen Testaments – für theologische Ethiker durchaus keine Selbstverständlichkeit – gab der Arbeit immer wieder neuen Schwung. Michael Bauer gilt deshalb mein besonders herzlicher und nachhaltiger Dank.
Meine Mitarbeiterinnen am Lehrstuhl, Xena Hospes, Deborah Wildenhues, Julia Kleemann, Annika Margraf, Theresa Kuhn, Veronika Geißler und Sabrina Maiwald bedienten mit immer neuen Lieferungen meine manische Buchtrinkersucht, pflegten klaglos das ausufernde Literaturverzeichnis, beschafften Bilder und führten dem Fehlerteufel geschuldete Korrekturen aus. Vielen Dank. Aus dem Freundeskreis danke ich vor allem Wolfgang Kerkhoff, der als gelernter Journalist und stellvertretender Regierungssprecher der Saarländischen Landesregierung auf die Lesbarkeit des Buches gedrängt hat.
Diedrich Steen vom Gütersloher Verlagshaus, sein Vorname prädestiniert ihn zum Hermeneutiker, der Texte aufschließen kann, hat nicht nur vor vier Jahren vorgeschlagen, meine drei lange vergriffenen Bände der Ästhetischen Theologie in einem Band neu aufzulegen, sondern auch den Denkprozess der Ethik mit großem Engagement und extrem viel Sympathie begleitet. Dafür bin ich dankbar.
Im Juli 2016 Klaas Huizing
1 ’t Hart (2016: 275).
2 ’t Hart (2016: 276). Aus katholischer Sicht ringt beherzt mit dem Christentum der Romancier Emmanuel Carrère (2016). Carrère ist neben Paulus an Lukas interessiert: »Ich bin ein Autor, der zu verstehen versucht, wie ein anderer Autor ans Werk gegangen ist.« (328) Verblüffend sind seine poetologischen Überlegungen (315-321), aber sehr einleuchtend. Herrlich präzise diagnostiziert Carrère im Christentum einen »Schuldterrorismus« (444).
Christian Jankowski, Schamkasten, 1992, Video (1 x Digital Betacam, 1 x DVD), 120:00 min, PAL,4:3, color, sound, German, and 34 b/w photographs, each 30.4 x 23.9 cm, edition of 5, II. In collaboration with Frank Restle.
»Muss es nicht in der Lexik eines Autors immer ein Mana-Wort geben, ein Wort, dessen brennende, vielgestaltige, nicht zu fassende und gleichsam sakrale Bedeutung die Illusion gibt, dass man mit diesem Wort auf alles antworten kann?«
Roland Barthes
Einleitung
Vorspiel
»Die Ethik ist eine Optik.«
Emmanuel Levinas
»›Angst vor Gesichtsverlust‹ (der bösartigste aller Dämonen).«
Roland Barthes
»›Es fragt sich, ob das nicht Gott war‹, meinte Geir. ›Das Gefühl, gesehen zu werden, von dem auf die Knie gezwungen zu werden, was einen sieht. Wir haben nur einen anderen Namen dafür. Das Über-Ich oder die Scham.‹«
Karl Ove Knausgård
Scham und Ehre
Die vorliegende Ethik betritt Neuland, indem sie das Phänomen Scham ins Zentrum ihrer Ausführungen rückt. Meine Schamethik unterscheidet sich von bisherigen ethischen Erörterungen, die mit dem Schambegriff arbeiten, markant dadurch, nicht zum x-ten Mal ein Plädoyer für Tugendhaftigkeit im Sinne der Schamhaftigkeit zu halten.1 Solche Plädoyers verkürzen und entwerten das Phänomen der Scham. Dagegen pointiere ich die zentrale Bedeutung der Schamsituation für die Konstitution der ethischen Person und zeige, wie zahlreiche ethische Konflikte in unserer Gesellschaft durch Scham und vorweggenommene Scham gesteuert oder verursacht werden. Der konzeptuelle erste Teil meiner Schamethik bietet entsprechend eine theoretische Erörterung des Phänomens der Scham, Teil zwei wendet sich den Konflikten in unterschiedlichen ethischen Bereichsfeldern zu, identifiziert Scham als eine der oft übersehenen Ursachen und erwägt Strategien, mit der Scham klug umzugehen, um künftig Konflikte zu vermeiden.
Der erste Essay verortet die Schamethik im bisher nur vage kartographierten wissenschaftlichen Diskurs zum emotional turn. Mein Held ist der Philosoph Hermann Schmitz, der bereits einen emotional turn vollzog, als die Geisteswissenschaften noch hüftsteif in eine andere Richtung marschierten. Scham ergreift den Überwältigten mit einer normativen Autorität, die zugleich die Verletzung der sozialen Synthesis hautnah spürbar macht. Die Philosophie von Emmanuel Levinas dient mir dazu, die Schamsituation als eine primordiale Schlüsselsituation zu deuten, die für die Konstitution der ethischen Person schlechterdings notwendig ist. Nach Levinas ist die Ethik die erste Philosophie und Schäm dich! – sointerpretiere ich ihn – der erste ethische Imperativ, dem der Imperativ Töte mich nicht! beigeordnet ist. Darin kommen beide Philosophen überein: Menschen sind Antwortwesen.2 Präziser: Menschen sind schamgeboren.
Obwohl die Schamerfahrung unerlässlich ist für die Konstitution der ethischen Person, bringt sie eine Gefahr mit sich: Die Scham drängt den Beschämten in eine extrem passive Rolle. Um diese Passivität zu überwinden und wieder die aktive Rolle zu erlangen, scheint es für den Beschämten attraktiv zu sein, Scham in Schuld zu verschieben, also eine aktive Handlungsweise zu wählen, die von der Scham ablenkt, indem der Beschämte gewalttätig wird. Damit ist aber zugleich gesagt: Die Situation der Scham markiert den kritischen Punkt menschlicher Freiheit: sich zu ändern, sprich: den eigenen Charakter zu formen und Haltungen auszubilden, die Schamerfahrung zu verdrängen oder – in unterschiedlichen Graden – schuldig zu werden. Daraus ergibt sich die notwendige Schlussfolgerung: Menschen sind nicht zur Schuld verdammt. Als Ursache für die Entstehung von Gewalt wird in diesem Buch die Sehnsucht, Scham in Schuld zu verschieben, ausgemacht. Eine Schamethik will die Konfliktpotentiale und Konfliktkanten, die durch diese Generaltheorie beschreibbar werden, präventiv bearbeiten.
Scham ist ein Schlüsselbegriff im ethischen Entwurf von Ernst Tugendhat, der mit einer bewundernswerten Hartnäckigkeit und in immer neuen Anläufen und Retraktationen die Möglichkeiten und Grenzen einer autonomen Begründung der Moral untersucht, in seinem Spätwerk aber auch den mystischen Nahverkehr mit der Transzendenz zugelassen hat. In der Auseinandersetzung mit seiner Ethik, die mich von allen aktuellen säkularen Ethiken am nachhaltigsten überzeugt, wird das Verhältnis einer theologischen zu einer nichttheologischen Ethik sehr präzise beschreibbar. Das ist für beide Seiten, sofern deren Vertreterinnen3 sich darauf ohne Überlegenheitsunterstellung einlassen, ein Diskursgewinn.
Ein zweiter Essay fragt nach der theologischen Verankerung der Schamethik, die im ersten Essay ohne explizite religiöse Anleihen auskommt. Mustert man die gängigen evangelischen Ethiken, dann entdeckt man ein Füllhorn an Begründungsinstanzen: Schöpfungslehre, Christologie, Pneumatologie, Trinitätslehre, Rechtfertigungslehre, Erwählungslehre, Eschatologie. Ich werbe für die bisher weitgehend unbeachtet gebliebene Weisheitslehre. Die biblische Weisheitslehre ist eine Wahrnehmungs- und Inszenierungsschule, die durch ihre Texte versucht, Selbst, Welt und Gott religiös erfahrbar zu machen, und zugleich eine hochsensible Persönlichkeitsbildung anbietet. Biblische Modell-Lektüren bestätigen (und erweitern) die im ersten Essay präsentierte Phänomenologie und Anthropologie der Scham. Narrationen, die Schlüsselsituationen inszenieren, verleihen durch ihre emotional gesättigten Überzeugungen orientierende Kraft und Motivation, die dort erschlossene Weltsicht zu übernehmen. Genau hierin besteht das Surplus einer narrativen Ethik.4
Weil in weisheitlicher Perspektive der Mensch trotz aller Rückschläge für fähig gehalten wird, mit Kontingenzen und der geschenkten Freiheit lebensdienlich umzugehen, ist eine weisheitliche Anthropologie in ihrer Anlage optimistisch gestimmt. Diese die Weisheitstheologie und Weisheitsethik befeuernde, milde optimistische Anthropologie macht sie allerdings hochgradig verdächtig für Theologen, die ihre pessimistische Weltsicht schnappatmend pflegen. Die biblischen Schriftsteller präsentieren einen Gott, der mit wohlwollender Beschämung und souverän mit Satire arbeitet, um das irdische Personal, an dessen Bildungsfähigkeit dieser literalisierte Gott trotz aller Rückschläge trotzig glaubt, an die Hand zu nehmen und zu schulen – und der selbst im Vollzug seiner Schulung einen von den Schriftstellern zugeschriebenen Bildungsprozess durchläuft. In dieser Hinsicht ist der Weisheitserzähler und Geschichtenerzähler Jesus von Nazaret der Vollender der weisheitlich-pädagogischen Tradition, die Altes und Neues Testament verbindet. Ich lese die Bibel aus Altem und Neuem Testament als weisheitliches Beispielbuch zur ästhetisch-ethischen Erziehung des Menschengeschlechts.
Die Weisheitstheologie deutet das eigene Leben im Kontext mit anderem Leben und eingebettet in die Welt als wohlwollend begleitet durch Gott. Die dogmatische Tradition hält dafür den Topos vom concursus divinus bereit, vulgo als göttliche Mitwirkung tradiert.5Mal diskret wie ein warmer, stabilisierender Schatten, mal nachdrücklich indiskret zeigt sich in den biblischen Texten das begleitende und schulende Handeln Gottes. Der narrativ inszenierte Optimismus ist ansteckend und bewahrt in den Bereichsethiken davor, Möglichkeiten, die durch die neuen technisch-wissenschaftlichen Leitwissenschaften erschlossen werden, theologisch reflexhaft alarmistisch zu dämonisieren.
Das Kontrastgefühl zur Scham ist die Ehre – ein vorbelastetes und etwas aus der Mode gekommenes Gefühl. Ich verstehe darunter das soziale und symbolische Kapital eines Menschen6, sein Kapital an Ansehen und Anerkennung, das in der Schamsituation auf dem Spiel steht.7 »Ehre«, so treffend Notger Slenczka, ist »ein Bewusstsein des Anerkanntseins in einem sozialen Gefüge, ein ›Sich wissen als anerkannt‹.«8 In der Schamsituation droht eine galoppierende Inflation dieses Kapitals. Wenn ich Scham und Ehre verbinde, dann greife ich die in der Antike vorgeschlagene Zuordnung wieder auf und setze mich betont von der bei Augustin und Thomas von Aquin vollzogenen Verjochung von Scham und Schuld, Scham und Sünde ab.9 Präzise in dieser Umwidmung verorte ich den Sündenfall der schuldfixierten Theologie. Biblische Lektüren legen eine andere Sicht der Dinge nahe.
»Die Ethik ist eine Optik«10– eine spezifische Sichtweise auf die Welt. Damit wird die Frage drängend, durch welche Stilmittel und welche Pragmatik weisheitliche Literatur diese Sicht für Leserinnen und Leser erschließt und bis in den Habitus hinein prägt. Wer den Inszenierungskünsten für die neue Weltsicht auf die Spur kommen will, wer also die Frage beantworten will, wie Glaube entsteht, muss die poetischen, sprich: produktionsästhetischen Kniffe der biblischen Schriftsteller untersuchen. Nichts weniger als eine Poetik des Geistes der Weisheit (oder des Heiligen Geistes) steht damit künftig auf der Agenda – ein mächtiges Projekt für eine interdisziplinäre Forschungsgemeinschaft.
Immer wieder greife ich in meinen Essays auf die biblische Literatur und nachbiblische Literatur zurück, um der Struktur der Scham und ihren möglichen Konkretionen näherzukommen. Ulrich Greiner, ehemals Feuilleton-Redakteur der ZEIT, hat eine beeindruckende kulturwissenschaftliche Studie über die Scham vorgelegt und sehr zu Recht die Literatur gefeiert: »Die Literatur ist ein hervorragendes Archiv, das die Wandlungen der Gefühlskultur sammelt und aufbewahrt. Der Komplex aus Schuld und Scham und Peinlichkeit zählt zu den stärksten Antriebskräften, die Literatur entstehen lassen: als Ausdruck eines unlösbaren Konflikts, als rückwirkende Schambewältigung, als Erklärungsversuch des Unverstandenen, vielleicht gar Unerklärbaren.«11 Anders als Ulrich Greiner votiere ich für stärkere begriffliche Differenzierungen, trenne etwa die Scham entschieden von der Schuld. Diese Differenz aufzumachen scheint mir eine Entdeckung biblischer Literatur zu sein.12 Und die Charakterisierung der Literatur als Archiv klingt semantisch etwas verstaubt und uninspiriert: Literatur, die vielfältige, eigentümliche, überraschende, lebenspralle und zugleich detailgenaue Angebote zur spielerischen Identifizierung macht, ist für mich ein pathischer Übungsraum im Umgang mit Gefühlen, nachdrücklich im Umgang mit der Scham.
Obwohl wir uns im Augenblick der Scham, eigenleiblich gespürt, absolut sicher sind, uns zu schämen, können wir uns nicht immer sicher sein, ob wir uns nicht falsch schämen, weil etwa neoliberale Dispositive der Macht13 uns dazu drängen, uns zu schämen, um unser Handeln hinterrücks zu steuern. (Literarische) Kunst, so meine These, ist ein idealer Distanzfilter, um die Autorität des Gefühls zu testen. Zentrale Partien der biblischen Literatur und der nicht-biblischen Literatur sind Lernräume im Umgang mit Scham und wohlwollender, demütigender oder funktionalisierter Beschämung. Lesen, das ist die große Stärke dieser alten Kulturtechnik, verlangt keine spontanen somatischen Reaktionen und steht somit nicht in der Gefahr, das Anerkennungskapital vor den Augen der Anderen zu entwerten. Lektüre ist – um ein semantisches Ungetüm zu wählen – schamangstfrei. Spielerisch wird der Umgang mit kontingent sich einstellenden Situationen trainiert. Eine spielerische Identifizierung mit Protagonisten der Scham, mit denen ich den Umgang mit Scham und Beschämung einübe, gelingt aber nicht nur in der alten Kulturtechnik der Lektüre, sondern selbstredend auch an anderen Orten: im Kino, im Theater oder vor dem Computer.14
In den Bereichsethiken (Essay 3-9) untersuche ich gegenwendig auch jene Verfahren, die Beschämung und Scham strategisch im Rahmen einer Biopolitik (Michel Foucault, Giorgio Agamben) oder inzwischen verstärkt in einer Psychopolitik (Byung-Chul Han, Gernot Böhme), die nicht mehr nur den Leib, sondern auch die Emotionen ausbeuten, einsetzen. Meine Schamethik versteht sich als eine kritische Theorie neoliberal gesteuerter, nahezu invisibler Beschämungspraktiken. Einleitend will ich die Fragestellungen, die ich in den Bereichsethiken15 behandle, und das Storyboard der Erzählung knapp skizzieren.
Wirtschaftsethik. Dieser Essay geht der Frage nach: Wie lassen sich Ökonomie und (theologische) Ethik konstruktiv aufeinander beziehen? Ein bisher unterschätztes Thema in wirtschaftlichen Kontexten ist die Führungsscham: Ein Auslöser der ersten Finanzkrisen (selbstredend nicht der einzige) war die nicht eingestandene Scham der ergrauten Vorständler in den Logen, die nicht begriffen, was ihre Börsenprofis auf dem Parkett trieben. Prompt verschoben die Entscheider die vorweggenommene Scham zur Schuld, indem sie die Broker gewähren ließen. Romane und Filme leisten entscheidende Sehhilfen für diese Deutung des Finanzdramas. Führungsscham verbunden mit Schamangst (Wurmser) haben Ingenieure im VW-Konzern dazu getrieben, vorgegebene Abgaswerte durch Manipulation zu erreichen. Aus Ingenieuren wurden Schurken. Auch hier hat die vorweggenommene Scham als Schamangst zu einer Verschiebung in die Schuld geführt. Sogar ganze Staaten können aufgrund ihrer wirtschaftlichen Schwäche kollektiv in einem Scham-Trauma versinken und dadurch in den gefährlichen Verschiebemechanismus von Scham zu Schuld abrutschen. Zu einem weisheitlich-entspannten Umgang mit Geld, Führungsscham und Schamangst motiviert, so meine Überzeugung, ein bis heute verblüffendes biblisches Gleichnis – obwohl ein breiter Graben die Welt der Bibel von unserer durch einen Finanzkapitalismus beherrschten Welt trennt. Inzwischen zählt Das Gleichnis vom Haushalter (Lk 16,1-8) zu meinen ethikproduktiven Schlüsseltexten. Während der ersten Lektüre zögert die Leserin, ob sie den Haushalter klug oder einfach nur korrupt nennen soll, spätestens in der zweiten Lektüre entdeckt sie die Kraft dieses Textes, die Logik des Wirtschaftens durch eine kluge Umgangsweise mit drohender Scham ethisch zu unterfüttern. Sowohl auf der staatlichen, der unternehmerischen als auch auf der Ebene des individuellen Produzenten und Konsumenten, auf der Mega-, Miso- und Mikroebene, lassen sich durch die Brille des Textes geschärft Schamprozesse identifizieren und bearbeiten.
Medienethik. In der Mediengesellschaft wird die Beschämung gerne öffentlich inszeniert, um durch wenig elegante Motivationsverstärkungen eine Veränderung des Verhaltens beim Publikum zu erzwingen: Englische Boulevard-Zeitungen veröffentlichen mit Vorliebe auf der ersten Seite Bilder von prominenten Verhafteten, die es an Anstand haben fehlen lassen, name and shame, wie die Briten, phonetisch nicht unbegabt, es nennen. Facebook und Twitter sind, gleichsam im Nebenerwerb, zu einer basisdemokratischen Strip-Show und zu einem digitalen Pranger geworden, an dem die User, je nach Geschmack, aus Lust am Fremdschämen oder um der Arbeit an der Entschämung willen, teilnehmen. Qua Shitstorm kann jeder User selbst zum Dämon und Medienzombie werden. Unter den Händen etwas vorlauter theologischer Medienkritiker verkümmert die Medienethik allerdings oft zur niveaulosen Medienschelte. Das ist unbegründet, zumal die Medienethik für die Theologie durchaus kein Nebenerwerb ist, arbeitet die Theologie doch seit ihren Anfängen mit einem starken Medienbegriff: Medien bringen das Fernste (Gott) nahe. An vielen Medienrevolutionen war die Theologie beteiligt. Am Beispiel der Professionsethik von Journalisten zeige ich, wie ein Journalismus, der sich an der Einzigartigkeit von Schicksalen orientiert, Scham auch als emanzipatorische Kategorie einsetzen kann. Eine Mediennutzerethik sollte allerdings auch über die Probleme eines durchaus positiv zu bewertenden Identitätsmanagements im Netz aufklären: So droht durch die ausufernde Selbstpreisgabe im Netz die Scham- und Peinlichkeitsschwelle abzusinken. Zu den Aufgaben einer neu zu organisierenden Medienpädagogik zählt die Aufklärung darüber, dass die Preisgabe von Daten, die zu einer kurzfristigen Bereicherung in der Währung der Aufmerksamkeit oder zu monetären Vorteilen führt, langfristig Nachteile bringen kann. Mich interessieren schließlich jene Beispiele, die in den Medien Probleme der Mediennutzung aufgreifen und künstlerisch verdichtet Medienkritik und Medienethik betreiben. Ein besonders gelungenes Beispiel aus der Welt des Films heißt nicht zufällig: Shame. Ein Exkurs feiert das Selfie als glückendes Kleinritual.
Technikethik. Eng mit der Wirtschaftsethik und der Medienethik ist die Technikethik verknüpft. Christliche Technikethiken neigen häufig dazu, die Technik zu dämonisieren, und ihre Verfechter lassen sich gerne zu Maschinenstürmern umschulen. Theologische Technikethiken deuten, mit wenigen Ausnahmen, nahezu immer Technik als Hybris. Mir geht es um eine Entdämonisierung von Technik und um eine Therapie der von Günther Anders frühzeitig diagnostizierten prometheischen Scham. Die Gedankenfigur des concursus divinus setzte ich ein, um Handlungsspielräume für ein lebenskluges technisches Handeln zu erschließen. Auch ein Cyborg ist kein transhumanes Gespenst, sondern der Cyborg schickt die prometheische Scham selbstbewusst in Rente. Und woher nimmt Martin Heidegger die Gelassenheit im Umgang mit der Technik? Hilft sein Versuch, Kunst und Technik in eine Beziehung zu setzen, dazu, Technik genauer zu bewerten? Gibt es eine Logik der Weltbilder, wie Günter Dux will, die zwangsläufig im wissenschaftlich-technischen Weltbild mündet? Ist dieses Weltbild nicht eine sehr grundsätzliche Beschämung des theologischen Weltbildes? Und zugleich der Triumph einer instrumentellen Vernunft? Endspiel der Entzauberung?
Sexualethik. Mit der Fleischeslust hatte der Protestantismus – mit Ausnahme einer kurzen Phase während der Romantik – immer seine Probleme. Eine Ethik der Scham wird sehr grundsätzlich der Frage nachgehen, ob nicht die Sexualität einen gelungenen Umgang mit der Scham bietet. Zwar nicht durchgängig, aber gefühlsintensiv wird das Problem der Vereinzelung und Unvollkommenheit im Sexualakt, in welcher Kombination auch immer, zeitweise geschlossen – auch wenn die Kondition nicht, wie bei den zwei Protagonisten in Péter Nádas’ Roman Parallelgeschichten, zu einem viertägigen Akt reicht.16 Die Sexualität ist der Königsweg im Umgang mit der (sexuellen) Scham, weil hier Personalität und Sozialität glücklich zusammenfinden, sofern der Sexualakt nicht zum egoisme à deux verkommt. Hermann Schmitz hat nicht zufällig sprachmächtig den Orgasmus als Neuanfang, als Initium beschrieben! Die Homo-Ehe ist der Stresstest für eine gegenwartstaugliche religiöse Sexualethik. Entschämung ist das Gebot der Stunde. Wie zusammen leben?, diese von Roland Barthes17 mit einem leichten Seufzer ausgegebene Frage, ermuntert zur Suche nach neuen, schamfreien Lebensformen.
Gesundheitsethik. Scham steuert unterschwellig viele Felder der Medizin- oder Gesundheitsethik. Besonders medienwirksam wird der Wellness-Wahn beklatscht und Gesundheit zur Religion hochgeschrieben. Krankheiten wie Depression oder Burnout, für die sich die leistungswilligen Protagonisten schämen, sind offenbar Folgen unserer neoliberalen Leistungsgesellschaft, wie der Philosoph Byung-Chul Han und der Soziologe Hartmut Rosa behaupten. Am Beispiel von Adipositas zeigt der Essay, wie das Gesundheitsdispositiv Fettleibigkeit von einer ästhetischen Norm, die beschämende Blicke auf sich zieht, zu einer moralischen Norm, die empörte Blicke auf sich zieht, umcodiert. Fettleibige müssen mit empfindlichen Beschränkungen, etwa einer verweigerten Verbeamtung, die einer Bestrafung gleichkommen, rechnen. Droht, wie Juli Zeh in ihrer Dystopie Corpus delicti beschwört, eine Gesundheitsdiktatur? Müssen wir uns also für Krankheiten schämen? Den Stifter der christlichen Religion porträtiere ich als großen Entschämer, der Krankheiten aus der Umklammerung von Schuld, Sünde und Strafe befreit. Weil Krankheit und Leiden keinen Sinn macht, hilft die jesuanische Entschämungspraxis, die Frage nach der Gabe des Lebens genauer zu betrachten. Alarmismus und Hysterie sind auch aus theologischer Perspektive zur Bewertung medizintechnischer Möglichkeiten wie der Präimplantationsdiagnostik (PID) und Pränataldiagnostik (PND) nicht angebracht, sondern verlangen eine besonnene Einzelfallentscheidung. Scham bestimmt nicht wenige Probleme der medizinethischen Gerontologie. So besteht eine große Gefahr darin, dass ältere Menschen sich für auftretende Gebrechen schämen und deshalb zum Lebensende hin aus Scham weitreichende Entscheidungen treffen, die vermuteten Erwartungen entsprechen und verstärkend auf die gesamtgesellschaftliche Mentalitätslage zurückwirken. Darf man die Gabe des Lebens auch selbstbestimmt zurückgeben?
Tier-, Pflanzen- und Umweltethik. Ist der Anthropozentrismus in Fragen der Tier- und Umweltethik überholt? Die Karriere von pathozentrischen und biozentrischen Ansätzen lässt ein entschiedenes Ja vermuten. Die Antwort ist komplizierter. Zumindest ein epistemischer Anthropozentrismus scheint unvermeidlich. Evolutionsanthropologische Forschung (Tomasello) macht wahrscheinlich, dass Tiere keine moralischen Subjekte sind. Tiere können sich nicht schämen. Ich zeige anhand der autonomen Moralbegründung bei Tugendhat, warum Scham ein für moralische Subjekte geteiltes Gefühl ist, wir uns aber nicht zwingend im Angesicht von malträtierten Tieren schämen oder Mitleid empfinden müssen, weil sie nicht zur Klasse der moralischen Subjekte zählen, die sich wechselseitig Respekt und Mitleid schulden. Universal Mitleid für Tiere zu fordern setzt, so die vielleicht überraschende Pointe, ›religiös-mystische‹ (Tugendhat) oder (versteckt) metaphysische Hintergrundtheorien voraus. Wir Menschen können nicht zwingend gegenseitig von uns fordern, uns mitleidig Tieren gegenüber zu verhalten, können es uns aber wünschen. Um diesen Wunsch zu stützen, helfen technische, aber auch poetische und dramaturgisch inszenierte Erfahrungen der Eigentümlichkeiten von Tieren (und Pflanzen).
Rechtsethik. Mit Hermann Schmitz frage ich nach der Gefühlsbasis des Rechts und entdecke sie in Scham und Zorn. Der Jurist Dieter Krimphove versucht, Scham und Recht neu aufeinander zu beziehen, und fordert Täterscham von den Angeklagten. Die vor allem in Amerika, jetzt aber auch in Deutschland in der Gefängnisseelsorge in den Focus tretende Re-Shaming-Methode im Umgang mit Tätern, versucht, die der Tat vielleicht vorangegangene Schamsituation zu bearbeiten und besser aufzulösen. Trotz der großen Risiken, die diese Methode mit sich führt (Retraumatisierung des Täters, Funktionalisierung der Scham), halte ich Re-Shaming für eine Option, sofern nicht der Staat als Beschämer auftritt. Im Rahmen meiner Präventivethik kann Re-Shaming als mögliche Prävention künftiger Straftaten gewürdigt werden. Protestantische Rechtsethiken deuten die Institution des Rechts häufig als notwendige Institution für den durch die Sünde korrumpierten Menschen oder als Förderer der Freiheit im Rahmen einer transformierenden Gerechtigkeit. Ich inventarisiere Stärken und Schwächen dieser Ansätze und deute Beschämungsdispositive der Kunst als ideale Sensibilisierungsschule für versteckte Gewalt und kreative Formen gelingenden Zusammenlebens. Die vor allem im angelsächsischen Raum etablierte Forschungsrichtung von Law and Literature untersucht die Dechiffrierkunst der Literatur. Nicht zufällig stammt einer der wirkmächtigsten Romane zum Thema Scham und Schuld, Der Vorleser, aus der Feder eines Staatsrechtlers. Ein Exkurs zur politischen Ethik schließlich untersucht die Bildpolitiken in der Flüchtlings- und Migrationsdebatte. Schockphotos (im Sinne von Roland Barthes) dienen als Beschämungsszenario, dem man sich nicht entziehen kann und sich auch nicht entziehen soll(te). Gibt es Auswege aus dem dann häufig drohenden Samariterdilemma? Lassen sich Gesinnungsethik und Verantwortungsethik versöhnen oder droht ein clash of morals (Ott)?
Die Bachelorisierung unserer Universitätslandschaft hat zum stetigen Anwachsen der Lehrbuchproduktion geführt. Verfasser eines Lehrbuches müssen immer den Eindruck erwecken, sie wüssten Definitives zu sagen. Diese scheinbar souveränen Gesten sind stets mit Macht legiert. Mir jedenfalls sind Lehrbuchgesten peinlich. Ich habe deshalb das Buch als Essay-Sammlung angelegt, die in immer neuen Anläufen und geschwungenen Linien das Thema bearbeitet. Vielleicht sah William Hogath, der englische Kupferstecher, richtig, als er die geschwungene Linie als The Line of Beauty and Grace18 auszeichnete.
Nachspiel
»›Schämen Sie sich, allein in einem Lokal zu sitzen?‹ Diese Frage müsste ich mit Ja beantworten. Ich schäme mich, allein in einem Lokal zu sitzen. Weil es so aussehen könnte, als hätte man mich versetzt. Da hilft alles nichts. Das in Anankastikerkreisen empfohlene Mitbringen von Lektüre zur Überbrückung der Wartezeit wird von Kreisen mit qualifiziertem Geschmack, denen ich ebenfalls angehöre, strikt abgelehnt. Gerade hier in Ostberlin ist das Kneipenlesertum unangenehm verbreitet. Ich habe schon Leute gesehen, die bei Kerzenschein und Tumult drei Stunden Adorno vortäuschten. Es ist offensichtlich, dass diese Leute nicht mal jemanden haben, mit dem sie sich verabreden könnten, damit er sie versetzt.«19
1 Der Begriff »Schamethik«, mit dem diese Ethik arbeitet, ist bisher kein eingeführter Begriff. Sichtet man die spärlichen Belege, so zeigt sich schnell, dass darunter zumeist die Tugend der Schamhaftigkeit verbucht wird: Schneuwly (1954: 6, 14, 89 u.ö.); Schmidt (1986: 62); Emecheta/ Nwapa (2002: 268).
2 Diese Lesart untermauern auch Bernhard Waldenfels (2000; 2007) und aus soziologischer Perspektive Hartmut Rosa (2016).
3 Ich mische in diesem Text feminine und maskuline Formen, immer mitgemeint sind alle anderen Geschlechtervarianten.
4 Siehe dazu Lesch (2003: 184-199).
5 Zur dogmatischen Verortung des Begriffs siehe Härle (2000: 287-296).
6 Bourdieu (2007).
7 Ein subtiler Text zum Thema stammt von Michael Walzer (2006: 356-369): Der Kampf um Anerkennung. Eine Soziologie der Titel. Die Rede vom Kampf scheint etwas misslich zu sein, wie noch zu zeigen, versuche ich deshalb die kompetitiven Elemente aus dem renovierten Ehrbegriff herauszuhalten.
8 Slenczka (2014: 253).
9 Siehe dazu den konzisen Artikel von Elisabeth Gräb-Schmidt (2015b: 174-181).
10 Levinas (2003: 23).
11 Greiner (2014: 21f.) legt »eine strukturelle Betrachtung« vor und verfolgt die These, »dass an die Stelle der alten Schuldkultur und der noch älteren Schamkultur eine neue Kultur getreten ist: die Kultur der Peinlichkeit.« (24) Judith N. Shklar (1997) sieht die Aufgabe von Literatur darin, für alle Formen von Verletzungen, Demütigungen, üblen Beschämungen und Grausamkeiten zu sensibilisieren; ähnlich argumentiert Rorty (1989); vgl. Berthould/Elderkin/Bünger (2013: 253). Zu den emotionalen Wirkungspotentialen von Erzähltexten siehe Hillebrandt (2011). Jacobs (2014: 134-154) ist unterwegs zu einer neurokognitiven Poetik am Beispiel des Lesens.
12 Dazu ausführlich Huizing (2012a).
13 Den Begriff des Dispositivs verwende ich im Anschluss an Michel Foucault und Giorgio Agamben (2008: 26f.): »Als Dispositiv bezeichne ich alles, was irgendwie dazu imstande ist, die Gesten, das Betragen, die Meinungen und die Reden der Lebewesen zu ergreifen, zu lenken, zu bestimmen, zu hemmen, zu formen, zu kontrollieren und zu sichern. Also nicht nur die Gefängnisse, die Irrenanstalten, das Panoptikum, die Schulen, die Beichte, die Fabriken, die Disziplinen, die juristischen Maßnahmen etc., deren Zusammenhang mit der Macht in gewissem Sinne offensichtlich ist, sondern auch der Federhalter, die Schrift, die Literatur, die Philosophie, die Landwirtschaft, die Zigarette, die Schifffahrt, die Computer, die Mobiltelefone und – warum nicht – die Sprache selbst, die das vielleicht älteste Dispositiv ist. […] Kurz, wir haben […] zwei große Klassen, die Lebewesen (oder die Substanzen) und die Dispositive. Und zwischen den beiden, als Drittes, die Subjekte. Subjekte nenne ich das, was aus der Beziehung, sozusagen dem Nahkampf zwischen den Lebewesen und den Dispositiven hervorgeht.«
14Eine Kulturgeschichte der Szene von Aischylos bis YouTube bietet Heiko Christians (2016). Vielleicht gelingt diese Einübungskunst auch während des Computerspiels. Daniel Michael Feige (2015) hat eine hoch inspirierende Ästhetik des Computerspiels vorgelegt.
15 Dieser Titel, aus dem amerikanischen Kontext als »applied ethics« in den 1960er-Jahren importiert, hat inzwischen Karriere gemacht. Vgl. Pieper/Thurnherr (1998); Nida-Rümelin (2005); Bayertz (1991). Fischer (2008: 95f.) weist zu Recht darauf hin, dass die Bereichsethiken nicht einfach Anwendungen Allgemeiner Ethiken auf konkrete Fälle bieten, sondern häufig auftretende Probleme in den Bereichsethiken zu Korrekturen an Allgemeinen Ethiken nötigten, so drängte exemplarisch die Ökokrise zu einer Revision anthropozentrischer Ethikkonzeptionen. Diese Schamethik ist protestantisch geprägt, wer sich über die Bereichsethiken der Weltreligionen informieren will, wird bestens bedient in dem Handbuch von Michael Klöcker und Udo Tworuschka (2015).
16 Nádas (2012: 364).
17 Barthes (2007a).
18 Hogarth (2002: 2). In ihrem Roman Gnade spielt Linn Ullmann (2004) auf diese Tradition an, wenn sie ihre Protagonistin wiederholt mit einer Bürste die geschwungene Schönheitslinie ihrer Haare nachfahren lässt.
19 Herrndorf (2015: 382).
Shame on you!Scham als Grundbegriff der Ethik
»Die Grunderfahrung der Scham besteht darin, dass ich von den falschen Leuten in einer falschen und unangenehmen Lage auf unangenehme Weise gesehen werde.«
Bernard Williams
»Schamgefühl: Gefühl, ›in den Boden zu versinken‹. Die Bedrohung der ganzen Existenz und Würde, d.h. dessen, was unverkäuflich und nach Verlust nicht wiederzuerlangen ist, ja, nicht die Bedrohung, sondern der Verlust, das ist die Scham. Entstehen aus dieser Gefühlslage Aktionen, so ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass ein Mensch sich schuldig macht. Er wird hierdurch neuen Grund zur Scham haben. Es entsteht die Scham-Schuld-Spirale.«
Alexander Kluge
Einleitung: Der emotional turn
Wir Geisteswissenschaftler besitzen ein ausgemachtes Faible für den Begriff des turns1, der immer häufiger bemüht und mit dem Brustton der Überzeugung kursiv aufgerufen wird, um methodologische Zäsuren zu markieren oder neue Gegenstandsbereiche der Untersuchung zu vermessen oder um sich in der klaustrophobischen und lärmenden Wissenschaftsgesellschaft nachdrücklich Gehör zu verschaffen. Turn ist ein Begriff, der von den Geisteswissenschaftlern grundsätzlich gelikt wird. Gefällt mir. Daumen hoch. Ob der vielen Spitzkehren droht der Geist, der auf der Höhe des Zitatenkartells sein will, freilich schnell schwindelig und orientierungslos zu werden. Ein peinlicher Sturz auf dem Theorieparkett wäre die Folge. Eine immerhin stabile, länger als zwanzig Jahre währende Nachhaltigkeit hat sich der emotional turn erarbeitet, der inzwischen auch im Alltagsdiskurs durch die Selbstkommentierung auf dem Handy mit mehr oder minder phantasievollen, mehr oder minder peinlichen emoticons heimisch wurde.
Protestantische Theologen, eher als Begriffsgangster bekannt und gefürchtet, haben sich lange spröde gegenüber dem emotional turn verhalten. Präzise in diesen, offenbar nicht einer schnellen, kurzatmigen Mode gehorchenden Kontext verorte ich meine Schamethik. Zunächst kartographiere ich den Diskurs zum emotional turn mit besonderer Berücksichtigung der Ethik, fasse dann den Fokus enger und frage nach dem zentralen moralischen Gefühl: Es gibt gute Gründe dafür, die Scham (neben der Empörung) auszuzeichnen, wie Ernst Tugendhat vorgeschlagen hat. Diese Auszeichnung der Scham nimmt auch der Begründer der Neuen Phänomenologie, Hermann Schmitz, vor, dessen vielbändig entwickelte Gefühls- und Leibphilosophie ich in meiner Phänomenologie der Scham folge. Schmitz spricht von einer extremen Autorität der Scham, die er, im Verbund mit dem Zorn, als »rechtlich-moralische Grundgefühle«2 auszeichnet.
Emmanuel Levinas hat die Autorität der Scham nochmals verschärft und eine schamgetränkte Schlüsselsituation beschrieben. Einleitend will ich diese Schlüsselsituation kurz skizzieren, um den Horizont der Untersuchung abzustecken. In der Schlüsselsituation wird, so die Pointe, die ethische Person allererst konstituiert, sofern das naiv (aber durchaus glücklich) dahinlebende Ich seine eigene Unvollkommenheit in der Begegnung mit dem zugleich beschämenden und wehrlosen Blick oder Antlitz eines anderen Menschen erfährt. Diese im Blick des Anderen liegende ethische Verpflichtung, die mein Dahinleben jäh unterbricht, wird als Störung, als Heimsuchung und als Kränkung erfahren, weil der Andere in seiner Verletzlichkeit das naive Ich über seine eigene responsorische Verfasstheit aufklärt. Eine für das naive Ich zutiefst beschämende Erfahrung: das Inkarnat erglüht, die Atemfrequenz und Pulsfrequenz steigt beträchtlich, die Hände werden vor das Gesicht geschlagen, der Rücken gekrümmt, Flucht- oder Gewaltstrategien werden intuitiv erkundet. Um der Passivität der Schamerfahrung zu entgehen, um wieder aktiv zu werden, scheint neben der Flucht und der Verdrängung ein möglicher Weg zu sein, gewalttätig gegenüber dem Anderen zu werden und dabei die eigene Scham in die Schuld zu verschieben. Nach Levinas spricht aus dem verwundbaren Antlitz der Imperativ: Töte mich nicht!, um die der Szene eingeschriebene inhärente Gewalt abzupuffern. Es steht jetzt in der Freiheit des über seine eigene Verfasstheit aufgeklärten naiven Ichs, sein soeben erobertes eigenes Personsein als Antwort auf die ethische Verpflichtung zu leben oder sich der Verpflichtung durch die negative Antwort der Flucht oder durch Gewalt, die sogar bis zum Mord oder Selbstmord reichen kann, zu entziehen. Eine ethische Person, so die Überzeugung von Levinas, wird nur derjenige, der jene Erfahrung durchlebt hat und in dieser Situation nicht havariert. Jede Schamsituation im Alltag partizipiert mehr oder minder explizit an dieser idealtypisch beschriebenen Situation: Die ethische Person muss sich immer wieder gegen eine offensive Reparatur der in der Schamsituation erlittenen Verwüstung des eigenen Selbstbildes durch die Verschiebung der Scham in Schuld entscheiden. Die nahezu traumatische Geburt der eigenen Freiheit in der Schamsituation will immer neu durchlitten werden.
Hermann Schmitz wiederum macht stärker noch als Levinas darauf aufmerksam, dass Schamsituationen als Beschämungssituationen, auf die ein Protagonist unzweideutig anspringt, daraufhin geprüft werden müssen, welche Macht oder Gewalt sich in der Situation zeigt: eine gute, sprich: wohlwollende, aus der Schwäche resultierende Macht, eine offen demütigende Macht oder eine instrumentalisierende, nennen wir sie zunächst neoliberale Macht, die sich geschickt als wehrlos kostümiert. Zwar sind wir uns im Augenblick der Scham täuschungsfrei sicher, uns zu schämen, gleichwohl können wir uns in bestimmten Situationen, durch Dispositive der Macht gesteuert, bei Verstößen gegen ästhetische Standards, Konventionen oder Gütern (wie etwa Gesundheit) auch falsch schämen. (Literarische) Kunst, so der Vorschlag, ist, obgleich selbst ein Dispositiv der Macht, ein idealer Distanzfilter im Umgang mit leibhafter Betroffenheit in der Scham, um den richtigen Umgang mit Scham einzuüben.
Selbstverursachte Verstöße gegen moralische Normen dagegen, deren Einhaltung wir gegenseitig voneinander fordern können, weil sie die Fähigkeit und Befähigung zu Kooperation abstecken, muss bei allen Personen Scham und bei den Schamzeugen Empörung oder Zorn hervorrufen. In diesen Kontexten sind Scham und die entsprechenden Gefühle der Schamzeugen geteilte Gefühle, wie Ernst Tugendhat deutlich machen kann.
1. Homo sensualis
Es gibt keinen Moment, in dem wir als Menschen nicht fühlen. Einen gefühllosen Zustand kennen Menschen, die bei Bewusstsein sind, nicht.3 Zu behaupten, dass daher Gefühle eine elementare Bedeutung besitzen, um den Menschen, seine Wahrnehmung von sich, seiner Umwelt und der Welt sowie die daraus resultierenden Handlungen zu verstehen, ist kein revolutionärer Gedanke. Und dass Emotionen zumindest von nicht geringer Bedeutung für die moralische Orientierung sind, ist seit jeher in der Philosophie und – seit der Ausdifferenzierung der Wissenschaften – von der (Religions-)Psychologie, Soziologie, der Verhaltens-, Evolutions- und Neurobiologie gesehen worden.4 Zwar liegt die Vermutung nahe, dass zumindest die Psychologie ihr Hauptaugenmerk stets auf Emotionen richtete, jedoch trügt der Eindruck; denn erst seit den 1980er-Jahren fordern Psychologen zunehmend, die Emotionen in der Psychologie stärker zu berücksichtigen und eine Emotionale Wende zu vollziehen. So konnte Heinz-Günter Vester 1999 feststellen: »However, the situation has changed during the last ten or fifteen years. Emotions are back again […] After behaviourism and cognitivism psychology has experienced an emotional turn.«5 Auch in den Kulturwissenschaften rückten erst zu diesem Zeitpunkt die Emotionen (wieder) ins Zentrum des Interesses, so dass Thomas Anz 2006 einen emotional turn sowohl diagnostizieren, als auch fordern konnte.6 Inzwischen ist die Rede vom emotional turn oder affective turn bzw. vom Homo Sentimentalis oder Animal emotionale nahezu inflationär geworden.7Wenn, wie Robert Frank in seinem frühen Klassiker Passions within Reason (deutsch: Die Strategie der Emotionen) Ende der 1980er-Jahre feststellte, »Emotionen anscheinend die unmittelbaren Ursachen der meisten Verhaltensweisen«8sind, dann ist es nötig, Gefühle und Emotionen nachdrücklicher in die Theologie und theologische Ethik einzubeziehen. Dabei geht es nicht nur um die kognitiven Anteile am Gefühl, die die Wahrnehmung leiten, sondern auch um die inzwischen philosophisch und soziologisch kuratierte Einsicht, wie stark Menschen affektiv rückgebunden sind an Erfahrungen, die uns von außerhalb unserer selbst betreffen.9 Ohne den Rekurs auf Gefühle bleibt letztlich ungeklärt, wie moralisches Handeln entsteht.
Eng verbunden ist der emotional turn mit einem verstärkten Einbezug des Leibes in die wissenschaftlichen Untersuchungen, mitunter nicht selten von der Leibphilosophie beeinflusst, deshalb haben Begriffe wie body turn, somatic turn oder corporeal turn Konjunktur.10 In der Philosophie trägt vor allem die lange von Kollegen absichtsvoll und schnöde übersehene Leibphilosophie von Hermann Schmitz, entwickelt in seinem »System der Philosophie« seit den späten 1960er-Jahren, dazu bei, Gefühle, verstanden als »räumlich ergossene Atmosphären und leiblich ergreifende Mächte«, als zentralen Gegenstand der Philosophie zu erkunden.11 Längst zählt diese Leibphilosophie von Hermann Schmitz, die die – wie er markig – sagt: »Menschspaltung«12 in Körper und Seele rückgängig machen will, zu den neuen Klassikern der Debatte. Die wirkmächtige Renaissance der Philosophie Max Schelers, zwischenzeitlich in den Archiven vergraben und dann doch exhumiert, stabilisierte die Forschung.13 In diesen Kanon eingereiht gehören auch die Arbeiten von Bernhard Waldenfels, oft in einer ingeniösen Auseinandersetzung mit Merleau-Ponty verfasst.14
Weil ich, aus Gründen, die noch zu belegen sind, die Gefühls- und Leibphilosophie von Hermann Schmitz als den idealen Partner für den Reimport der Gefühle in die Theologie und vor allem in die Ethik ansehe, spreche ich künftig primär von Gefühlen, nicht von Emotionen. Vor allem die neuere Emotionsforschung unterscheidet sprachlich strikt zwischen Gefühl (feeling) als Selbstwahrnehmung und den Emotionen (emotions), die die Intentionalität von Gefühlen (»sich fürchten vor«) zum Ausdruck bringen sollen.15 Nach Schmitz sind Gefühle zunächst und zumeist keine subjektiven Zustände, und die Intentionalität geht von den Gefühlen als Atmosphären aus, die auf den resonanten Leib treffen und zugleich normative Ansprüche erheben. Im Diskurs von Schmitz taucht der Begriff der Emotion nur auf, wenn er von Erregung spricht, aber auch an dieser Stelle zurückhaltend, um nicht wieder in die ›Menschspaltung‹ zurückzufallen.16
In der Theologie zeigte bisher in dieser Frage die religionspädagogische und praktisch-theologische Forschung am wenigsten Scheu.17 In den exegetischen Disziplinen ist inzwischen das Interesse sowohl im Alten Testament18 als auch im Neuen Testament erwacht.19 Mit der Monographie Erleben und Verhalten der ersten Christen. Eine Psychologie des Urchristentums, setzte der Heidelberger Neutestamentler Gerd Theißen20 auch international Maßstäbe. In systematisch-theologischer Perspektive erschienen erst in jüngster Zeit tastende Untersuchungen – oft naheliegend im versuchten Anschluss an Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768-1834), der in seinen berüchtigten Reden über die Religion das Wesen der Religion bekanntlich als »Anschauung und Gefühl«21 und in seiner späteren Glaubenslehre Frömmigkeit als »Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit« bestimmte.22 Schleiermacher23 unterschied in den Reden einen Strauß von religiösen Gefühlen: Ehrfurcht, Demut, Liebe, Zuneigung, Dankbarkeit, Mitleid und Reue – Scham taucht nicht explizit auf.24 Inzwischen gibt es auf dem Buchmarkt eigenständige, sich nicht sklavisch an Schleiermacher anlehnende Versuche zu einer Theologie der Gefühle, die folgenden Fragen nachgehen wollen: Gibt es religiöse Gefühle – und sofern ja, wie lässt sich ihr Spezifikum bestimmten? Gibt es eine dem Gefühl eigene Rationalität oder ist das Gefühl das Andere der Vernunft? Beinhaltet eine Theologie der Gefühle auch eine Kritik oder Pädagogik der Gefühle?25 (Die Antworten, übertragen auf eine Ethik der Gefühle, lauten: vorsichtiges Nein, Ja, Ja. Aber dazu später ausführlich.)
Ein Beleg dafür, dass sich in den letzten 20 Jahren auch Ethikerinnen und Ethiker, die nicht der Neuen Phänomenologie zuzurechnen sind, mit gesteigertem Interesse dem Thema »Emotionen« zuwenden, bieten die verschiedenen Auflagen von Frido Rickens »Allgemeine Ethik«. Während die erste Auflage von 1983 noch keinen gesonderten Abschnitt zur Erörterung »moralischer Emotionen« besaß, wartet der Grundkurs seit der dritten Auflage von 1998 mit einem markanten Kapitel auf.26 Gleichwohl ist der Stellenwert der Emotionen in der Ethik häufig umstritten. Ethiker verweisen zwar gern darauf, dass zur motivationalen Begründung einer Handlung Akteure nicht selten Gefühle anführen und Gefühle an moralischen Entscheidungen beteiligt sind, aber zugleich wird etwa von Annemarie Pieper eingewandt, dass damit höchstens Handlungsweisen »zu einem gewissen Grad erklärt und verständlich« werden, »nicht aber schon moralisch gerechtfertigt. Denn kein noch so intensives Gefühl (der Zu- oder Abneigung, der Billigung oder Mißbilligung, der Sympathie oder Antipathie, des Wohlwollens oder Widerwillens) kann die Verbindlichkeit einer moralischen Norm beanspruchen. Es wäre absurd, wollte man jemandem vorschreiben, er solle ein bestimmtes Gefühl haben bzw. nicht haben. Moralische Normen erheben ja einen allgemeinen Geltungsanspruch. […] Obwohl moralische Argumentationen oft sehr emotionsgeladen sind, ist der Rekurs auf ein Gefühl somit nicht hinreichend, um die Moralität einer Handlung zu begründen. Vielmehr muß […] das sich im und als Gefühl äußernde Werturteil erst kritisch auf seine Rechtmäßigkeit hin befragt werden, bevor eine Handlung zu Recht als moralisch bezeichnet werden kann. […] Wenn also bestimmte Gefühle als gute Gründe für eine Handlung herhalten müssen, ist stets zu fragen, welches Werturteil sich in oder hinter diesen verbirgt, und dieses Werturteil gilt es zu problematisieren.«27 Annemarie Pieper gibt mit diesen Bemerkungen das zu haltende Niveau der Debatte vor. In meiner Schamethik werde ich ihr mit Tugendhat in einem zentralen Punkt widersprechen: Scham ist – wie die ihr korrespondierende Empörung – ein von allen moralischen Subjekten in moralischen Angelegenheiten, die man gegenseitig voneinander fordern kann, geteiltes Gefühl! In nichtmoralischen Kontexten (Konventionen, ästhetischen Standards, relativen Gütern) ist die Scham dagegen nicht zwingend ein geteiltes Gefühl und statt Empörung kann etwa eine Belustigung vorherrschen.
Die theologische Ethik zeigte sich lange extrem zögerlich gegenüber den Gefühlen, weil in der Ethik traditionell die Gefühle in der Tugendethik verhandelt werden, die in der protestantischen Theologie in Verdacht stand, den Menschen als Sünder nicht ernst zu nehmen und Gedanken der Werkgerechtigkeit durch die Hintertür Einlass zu bieten. Erst Konrad Stock verstößt mutig gegen das Ignoranzmanagement und plädiert Mitte der 1990er-Jahre gegen alle seit der Reformation mitgeführten Vorbehalte gegen die Tugendethik für die Renaissance einer theologischen Tugendethik, indem er freilich für eine grundsätzliche Trennung zwischen dem Selbstgefühl als einer durch den Glauben erlangten »Daseinsgewißeit« und alltäglichen Emotionen unterscheidet28. »Dieser [Diskurs um Emotionen] läßt allerdings die fundamentalanthropologische Unterscheidung zw. dem ›Gefühl‹ (Selbstgefühl) und den bes. E.[motionen] außer Acht, die für die theol. Deutung des affektiven Lebens grundlegend ist. Ist das Gefühl der Ort einer Daseinsgewißheit und der mit ihr gegebenen Sicht eines Lebensziels, so indizieren die bes. E.[motionen] die Selbstbetroffenheit der Person durch Ereignisse oder Sachverhalte, die ihr im Lichte ihrer Daseinsgewißheit als gut oder als böse erscheinen. E.[motionen] sind – der philos. und der humanwiss. Diskurs übersieht das gerne – rel.-sittlich konstituiert. Weil der Glaube an Jesus als den Christus Gottes die Person in den lebenslangen Übergang von verfehlter zu wahrer Daseinsgewißheit versetzt, bewirkt er auch eine Neuorientierung bzw. eine Heiligung der emotionalen Schemata, als deren Quelle sich die Liebe – das Lebensinteresse am Geschehen des Willens Gottes auf den Interaktionsfeldern der Sittlichkeit – erweist. Während verfehlte Daseinsgewißheit sich in den E.[motionen] des amor mundi und der Selbstgerechtigkeit äußert, führt wahre Daseinsgewißheit zum amor Dei und zur Freude an der Gerechtigkeit Gottes und bindet die Selbstbetroffenheit der Person an die ›Erfüllung des Gesetzes‹ (Röm 13,10). In einer vollständigen theol. Ethik ist die Neuorientierung der E.[motionen] durch die Liebe des Glaubens Gegenstand einer Tugendlehre, die im Anschluß an F. Schleiermacher und R. Rothe das Wahrheitsmoment der Lehre vom moralischen Gefühl aufnehmen können wird.«29
Stock nimmt sich dem Thema zwar an, reserviert aber die Semantik des Gefühls für die Daseinsgewissheit des Glaubens, ohne zu zeigen, in welchem gefühlsgesteuerten Prozess dieser Glaube sich einstellt. Problematisch ist, dass Stock die faktische Umgangsweise des Menschen mit Gefühlen (in seiner Sprache: Emotionen) ausblendet. Emotionen treten nur insofern ins Blickfeld, als dargelegt wird, wie die im Glauben geschenkte christliche Liebe die emotionalen Schemata reinigt und den Charakter der Gläubigen formt.30
Selbstlose Leidenschaften titelt Ingolf U. Dalferth seine Studie über die menschlichen Passionen, die sich wie Prolegomena zu einer theologischen Ethik liest. Dalferth startet mit einer fundamental-anthropologischen Pointe: »Wir haben nicht nur Gefühle, sondern wir sind, wie wir fühlen.«31 Trotz einiger semantischer Differenzen zu Stock steht auch für Dalferth das Christentum ebenfalls für einen spezifischen Umgang mit Gefühlen. »Weder der Zugewinn einer besonderen geistigen Sinnlichkeit bzw. sinnlichen Geistigkeit, noch das Auftreten bzw. Fehlen bestimmter Emotionen, Affekte, Gefühle oder Passionen zeichnen ein christliches Leben aus. Christlicher Enthusiasmus ist nüchtern und klarsichtig, nicht überschwänglich und gefühlstrunken. Nicht dass man sich fürchtet und zittert, erbebt oder erbleicht, einen Weinkrampf oder einen Lachanfall bekommt, Angst hat oder vor Liebe brennt, zornig ist, Mitleid empfindet, jemanden traut oder sich misstraut, ist das christlich Bemerkenswerte, sondern wie man das ist, wenn man es ist, und wie man es tut, wenn man es tut. Nicht die Leidenschaften sind christlich oder nicht christlich, sondern der Umgang mit ihnen.«32 Dalferth beeilt sich zu ergänzen: »Ihren wahren Sinn enthüllen die Leidenschaften im Leben eines Selbst, das […] nicht selbstisch, sondern selbstlos ist, sich also nicht an sich selbst oder an anderen misst, sondern an dem, der beiden erst zur Wahrheit verhilft: an Gott.«33 Nur konsequent wird Liebe dann im Rekurs auf gängige Vorschläge aus den Nachbardisziplinen etwa als »Kulturinstitution«, »Metagefühl« und »Verhaltensdisposition« ausgezeichnet: »Liebe ist dann kein Gefühl, sondern ein Orientierungsmuster zum Umgang mit Gefühlen anderer und sich selbst gegenüber.«34 Menschliche Leidenschaften müssen, so fordert Dalferth, »in den Transformationsprozessen des Glaubens in ihrem spezifischen Sinn erhellt werden. Christliches Leben unterscheidet sich von anderem menschlichen Leben ja nicht dadurch, dass es nicht menschlich wäre, sondern darin, dass die Menschlichkeit auf besondere Weise gelebt wird, als menschliches Leben in einem bestimmten Modus ist. […] Glaube […] zeigt sich vielmehr darin, wie man leidenschaftlich lebt«, nämlich, und jetzt überschlägt sich die Sprache förmlich und hyperventiliert, »in der Orientierung an Gottes Liebe liebend liebt.«35 Anders gewendet: »Der Glaube kann dementsprechend als umfassende Affektbestimmung des ganzen menschlichen Lebens verstanden werden; und sein Gegenteil, der Unglaube, ebenso: Glaube ist die Bestimmung des Lebens durch die Affekte der Gottesliebe und Gottesfurcht.«36
Das Ergebnis ist trotz vieler Einsichten, die ich teile, milde enttäuschend. Letztlich weigert sich Dalferth zu tanzen, geschweige denn zu schwofen, dreht sich in den emotional turn ein, um ihn beschwichtigend und dann im virilen Zugriff vom Parkett zu führen; denn die Fokussierung auf die Liebe verunmöglicht es, hellsichtig für andere Gefühle zu werden. Wenn die Liebe schlussendlich gar kein Gefühl ist, wird der Diskurs um eine Theologie der Gefühle vielwortig sofort wieder verabschiedet und die Chance vertan, zu zeigen, wie Gefühle Glaube wecken. Dalferths Faible für theologische Spitzkehren, die olympische Fähigkeiten in theologischer Gymnastik erfordern – mir fehlt offenbar dafür ein Gelenk –, erschweren unnötig auch ein Gespräch mit den Nachbardisziplinen.
Konzentriertere Aufmerksamkeit schenkt Johannes Fischer den Emotionen im Rahmen seiner ingeniösen narrativen Ethik, gehüllt in den weit offenen Mantel Jüngelscher Theologie, und grenzt sich dabei sehr grundsätzlich von einer strikt argumentativ begründeten Moral37 ab, die Emotionen häufig nur rudimentär ins Blickfeld bringt und die sich nach seiner Einschätzung zu einseitig am modernen Handlungsbegriff orientiert. Die Konzentration auf den Handlungsbegriff, so die Pointe, dränge die religiöse Dimension der Moral in eine »Latenz«38 ab, weil jetzt Gefühle zu ›bloßen‹ Gefühlen verkommen und ihre (theologisch anschlussfähige) Passivitätsstruktur gar nicht in den Blick gerät.39 Strikte Regelethiken erweisen sich zudem – so ein beeindruckend starkes Argument – als unfähig, intuitives Wissen, das im Alltag schnelle Orientierung verschafft, zuzulassen.40 Bei Fischer erhalten Emotionen eine im Vergleich der handelsüblichen evangelischen Ethiken gesteigerte Bedeutung. Dabei weigert er sich, den Einfluss von Erzählungen für die Wahrnehmungs- und Einstellungsänderung lediglich als »Auslöser für die affektive Reaktion auf die wahrgenomme Situation«41 zu verstehen. Er bestreitet eine scharfe Trennung von Kognition und Affekt und schließt sich damit den neueren Ergebnissen der Philosophie und kognitiven Emotionsforschung an: Kognition und Emotion lassen sich nicht trennen. Emotionen sind vielmehr »Wahrnehmungen« und damit auch »kognitive Akte«.42
Gegen den verbreiteten Begründungsgestus der Ethik als Handlungstheorie lehrt Fischer die Ethik als Theorie des Verstehens, die sich von der Überzeugungsrhetorik der Regelethiken abwendet.43 Verbunden ist damit ein »anderes Verständnis von Wesen und Aufgabe der Ethik«44: »Die Frage, was Dinge für uns moralisch bedeutsam macht und worin deren Bedeutung für uns besteht, zielt nicht auf ein Begründen normativer Geltung (von ›ethischen Prinzipien‹ oder Normen), sondern auf ein Verstehen unserer moralischen Orientierung und Praxis. Leitend ist dabei nicht bloß ein moralpsychologisches Interesse, sondern das ethische Interesse, zu einem vertieften Verständnis dieser Praxis und somit zu einer adäquateren, bewussteren und verantwortlicheren Wahrnehmung dieser Praxis zu gelangen bzw. anzuleiten. Weil es nicht um die Begründung normativer Geltung, sondern um Verstehen geht, sind die diesbezüglichen Untersuchungen nicht der normativen, sondern der deskriptiven Ethik zuzuordnen. Versteht man Ethik als ein bloßes Begründungsunternehmen, dann bewegt man sich also gewissermaßen an der Oberfläche der moralischen Orientierung.«45 Das ist Fischers zentrale These. Einer der Kernsätze lautet: »Für die sittliche Orientierung hängt […] alles davon ab, wie Menschen in ihrer sittlichen Perzeption eingestellt sind bzw. wodurch sie sich in ihrer sittlichen Perzeption einstellen lassen.«46 Sittliche Orientierung gelingt nur im Rekurs auf konkrete Situationen, die narrativ vor Augen gemalt werden: »Das geschieht dadurch, dass sie geschildert werden, und insofern macht es Sinn von einer narrativen Begründung (Hervorhebung von mir, K.H.) zu sprechen.«47
Eine theologische Ethik der Gegenwart darf sich gleichwohl, so Fischer, nicht darin bescheiden, internalisierte Wahrnehmungsmuster des Alltags zu thematisieren, sondern sie will christliche Wahrnehmungsdeutungen in ihrer Lebensdienlichkeit explizieren. »Die Theologische Ethik hat daher zwar zuerst und vor allem den christlichen Glauben hinsichtlich seiner lebenspraktischen Bedeutung zum Gegenstand ihres Nachdenkens. Aber sie muss auch auf die Beziehung reflektieren, in der dieser zu den geltenden Anschauungen und Normen in den verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen steht, um denen, die darin als Christen zu leben versuchen, eine Kohärenz ihrer Überzeugungen zu ermöglichen.«48 Für die Wirklichkeitserkenntnis des Glaubens freilich ist eigentümlich, »dass die Wirklichkeitserkenntnis des Glaubens als praktische Erkenntnis begriffen werden muss in dem Sinne, dass sie den oder die Erkennenden lokalisiert in den Raum des Erkannten«49. Anders gewendet: Der Glaubende gibt die unbeteiligte Erkenntnishaltung, die in der theoretischen Erkenntnis vorherrscht, auf und wird versetzt oder lokalisiert in einen Wirklichkeitszusammenhang, an dem er emotional beteiligt ist.
Frido Ricken fragt, welche »positive Funktion der christliche Glaube für die sittliche Erkenntnis«50 und für den Umgang mit Emotionen bietet. Fischer gibt als Antwort: »Es geht nicht darum, da, wo die philosophische Ethik Gründe des Wissens aufbietet, theologisch die Moral in Gründen des Glaubens zu fundieren. Vielmehr ist das moralisch Gute auch unter religiösen Vorzeichen nicht eine Sache des Glaubens, sondern der Erkenntnis und des Wissens. Die Beteiligung des Glaubens besteht darin, dass dieser sich auf die Wirklichkeit bezieht, die im Akt dieser Erkenntnis als zu dieser befähigend und bestimmend erfahren wird.«51 Fischer will diese andere Wirklichkeitssicht als »spirituelle Erfahrung«52 deuten, allerdings bleibt der über biblische Texte und Leseerfahrung erschlossene Zugang in seinen Studien verblüffend schmal, bezieht sich in fast allen Texten monoman auf das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter und übersieht trotzdem die entscheidenden Pointen des Textes.53 Des Theologen verständliche Liebe für asymmetrische Strukturen und Widerfahrnisse, die ich teile, sediert zu häufig die Anstrengung nachzufragen, wie Texte spirituelle Erfahrungen inszenieren. Dieses Geschäft dürfen Menschen, die religiös weniger musikalisch sind, von den Theologen erwarten – auch dann, wenn die spirituelle Gefolgschaft ausbleibt.
So richtig und weiterführend es ist, biblische Texte als emotional orientierende Wahrnehmungsschule auszuzeichnen54, so teilweise unbefriedigt lässt einen Leser der Entwurf zurück, weil produktionsästhetische Fragen kaum bearbeitet werden. Applaus verdient Fischer, wenn er gegen eine desengagierte Vernunft aufbegehrt, aber handstreichartig wird mit dem Stichwort narrative Begründung eine honorige Tradition verabschiedet, die an einer universalistischen Begründung festhält. Obwohl Fischers narrative Begründung sich auf eine spezifische Tradition bezieht, schwingt auch hier eine seltsam anmutende Überlegenheitsunterstellung mit. Es muss – und an dieser Stelle klafft bei Stock, Dalferth und Fischer gleichermaßen eine empfindliche Lücke – diskursiv ausgewiesen werden, worin denn über die Orientierung und das Engagement hinaus das Surplus einer biblisch und pneumatologisch gesteuerten Wirklichkeitswahrnehmung im Unterschied zu säkularen Ethiken liegt. Unpräzise bleibt auch die Rede von der biblischen Wirklichkeitsdeutung, die hier angeboten wird: eine gesamtbiblische Wirklichkeitsdeutung doch wohl kaum! Und wie selbstverständlich schleppen alle genannten Autoren die Sündenanthropologie wie einen Buckel mit sich herum. Ob schließlich eine narrative Ethik rein deskriptiv verfährt, ist doch sehr die Frage, weil Gefühle, wie noch zu zeigen, mit normativer Autorität heimsuchen.
Ich setze deshalb anders an. Es geht mir primär nicht darum, abermals auszuweisen, welche Bedeutung Emotionen für das menschliche Verhalten von Menschen im Allgemeinen haben. Das wurde schon vielfältig ausgewiesen. Ich behandle auch nicht alle Emotionen. Vielmehr möchte ich den Blick auf eine, nach meiner Einschätzung: die zentrale Emotion oder besser: das zentrale Gefühl lenken: Die Scham. Nur im Durchgang durch eine Schamerfahrung und die darin eingelagerten Imperative konstituiert sich eine ethische Person. Das ist die These. Ethik ist dann die Explikation dieser hochmoralischen Schamerfahrung – mit spürbaren Folgen für die Charakterformung und die Theorie gelingender Lebensführung.55 Ich verfolge diese Idee zunächst innerhalb der Philosophie, um erst in einem zweiten Schritt nach theologischen Anschlussmöglichkeiten zu fahnden. Die Brücke ist das Gefühl der Scham. Der Glaube als Berufungsverfahren für theologische Ethiker bildet nicht den Ausgang der Untersuchung, sondern das Ziel. Breiter auch als Johannes Fischer will ich herausstreichen, wie stark biblische Texte des Alten und Neuen Testaments mit wohlwollenden Beschämungsstrategien und Entschämungsstrategien arbeiten – nur so wird eine kanongemäße Wirklichkeitsdeutung skizzierbar. Übersehen wurde von allen theologischen Autoren bisher der innere Zusammenhang von Scham und Liebe: Die wichtigste Agentur der göttlichen Liebe ist die Scham als liebevolle Beschämung, die auf eine Charakterschulung oder Tugendbildung zielt.
2. Ethik, Scham und Schamhaftigkeit
In der Forschung mehren sich die Stimmen, der Scham56 eine zentrale Bedeutung zuzusprechen: Anja Lietzmann deutet in Anlehnung an Helmuth Plessners Anthropologie Scham als ein »›Wesensmerkmal‹ […] des Menschen«57. »Scham stellt weder ein rein historisches Phänomen dar, das im Laufe der Geschichte kommt und geht, noch existieren schamfreie Gesellschaften oder Personen. Vielmehr ist Scham ein Merkmal, das für jeden Menschen charakteristisch ist. Sie gehört dem Menschen zu, insofern dieser exzentrisch positioniert ist. Sie gehört dem Menschen zu, insofern er ein doppeldeutiges, ein sich selbst vermitteltes Wesen ist, das an der Herstellung seiner personalen Einheit scheitern kann. Scham kommt dem Menschen zu, insofern sie ihre Ursache in dieser Doppeldeutigkeit findet. Der Mensch als ein exzentrisches, doppeldeutiges Wesen muss unabänderlich in Schamsituationen geraten. Da die exzentrische Existenzweise allen Menschen gleichermaßen eigen ist, ist Scham ein Merkmal aller Menschen. Umgekehrt gilt, dass ein Wesen, das sich nicht schämen kann, kein doppeldeutiges Wesen, also kein Mensch ist.«58 Weil nach Plessner menschliche Subjekte leiblich agieren und leiblich wahrnehmen, zugleich als Körper ein Objekt in der Welt sind, weil Menschen Leib sind und Körper haben, geraten sie aufgrund dieser Doppeldeutigkeit immer wieder in Schamsituationen hinein. Wenn also Lietzmann Recht hat, dass die Scham ein Wesensmerkmal des Menschen ist, dann hat diese anthropologische Erkenntnis auch enorme Auswirkungen auf den ethischen Diskurs.
In seinen Vorlesungen über Ethik