Verzaubert leben - Klaas Huizing - E-Book

Verzaubert leben E-Book

Klaas Huizing

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Beschreibung

Warum es fromm sein kann, der Familie einen Hund zu kaufen

Die Hälfte der Deutschen will mit Religion nichts mehr zu tun haben. Warum eigentlich nicht? Wissen diese Menschen, was ihnen entgeht?

Klaas Huizing lädt ein, es mit der Religion und der lebensorientierenden Kraft, die ihr innewohnt, einmal anders zu probieren. In drei Kurzreisen sucht er Orte auf, die eine leibnahe Erfahrung des Heiligen versprechen. Erfahrungen, die die Lebensrichtung klären und den Lebensweg verändern können. Sie zuzulassen, kann man üben. Den drei Roadtrips zwischengeschaltet sind darum Übungen, die den Leib, der auf Heiligkeitserfahrungen reagiert, zum Sprechen bringen wollen. Damit aber Erfahrungen lebensdienliche Kraft entfalten, muss man sie deuten. Was dabei hilft, entfaltet der letzte Teil dieses Buches - und verharrt dabei nicht im Theologischen, sondern bietet richtungweisende, lebensnahe Anregungen.

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Seitenzahl: 223

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Die Hälfte der Deutschen will mit Religion nichts mehr zu tun haben. Warum eigentlich nicht? Wissen diese Menschen, was ihnen entgeht?

Klaas Huizing lädt ein, der lebensorientierenden Kraft der Religion einmal anders zu begegnen. In drei Kurzreisen sucht er Orte auf, die eine leibnahe Erfahrung des Heiligen versprechen. Erfahrungen, die die Lebensrichtung klären und den Lebensweg verändern können.

Sie zuzulassen, kann man üben. Den drei Roadtrips zwischengeschaltet sind darum Übungen, die den Leib zum Sprechen bringen.

Damit aber Erfahrungen lebensdienliche Kraft entfalten, muss man sie deuten. Was dabei hilft, entfaltet der letzte Teil dieses Buches.

Eine inspirierende Einladung, sich dem Heiligen in der Welt zu öffnen.

Dr. Dr. Klaas Huizing, geboren 1958, ist Professor für Systematische Theologie und theologische Gegenwartsfragen an der Universität Würzburg. Er ist einer der produktivsten Theologen der Gegenwart. Neben zahlreichen theologischen Publikationen hat er mehrere Romane veröffentlicht, die weite, auch internationale Verbreitung fanden. 2003/2004 erhielt er das Jahresstipendium im Internationalen Künstlerhaus Villa Concordia.

Klaas Huizing

Verzaubert leben

Eine Roadmap zum Heiligen

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Copyright © 2024 Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

Umschlagmotiv: © grthirteen – Adobe Stock.com

ISBN 978-3-641-32206-9V001

www.gtvh.de

Dem Saarbrücker Freundeskreis

Inhalt

Einleitung

Bigger than me

Erste Reiseetappe zum Heiligen

Borkum, Wattenmeer

Priel-Angst und Brandgans-Trost

Normandie

Die weißen Riesen und der Elefant an der Côte d’Albâtre

München

1984. Nachdrücklicher Gruß von oben

Heusweiler

Lost places oder: Das vergessene Schwimmbad

Uelsen

Schwindel auf der Himmelsleiter

Übung 1: Wahrnehmen mit dem Leib

Zweite Reiseetappe zum Heiligen

Plattling und Berg

Hundeblicke und Selbstbilder

Saarbrücken

Wagner-Opulenz oder Do-it-yourself-Punk

Buenos Aires

Stadion-Tango und Angst-Blues

Paris

Who’s afraid of Anselm Kiefer?

Emlichheim

Kirche als steingewordenes Zelt

Übung 2: Wir üben Einleibung

Dritte Reiseetappe zum Heiligen

Sankt Arthouse

Liebe auf den ersten Blick

Mainz

Labor-Day

Würzburg und Berlin

Ein Lebenssouvenir als Tagtraumschule

Rom

Wer um Himmels willen ist diese Frau?

Wamberg und Oaxaca

Friedhofsruhe und Friedhofsfest

Molwanîen

Wo? Molwanîen? Ja, Molwanîen! Also bitte!

Übung 3: Einübung in die Kunst der spielerischen Identifizierung

Deutungsagenturen des Heiligen

Rosas Weltfrömmigkeit

Eine soziologische Theorie der Lebensführung

Die Begegnung mit den Bildern oder:

Aby Warburgs Bilder-Atlas als Lebenskunde

Aufblühen dank Martin Seligman

Positive Psychologie als Theorie gelingenden Lebens

Leibesfeier

Lebensschule mit Hermann Schmitz

Lebenslehre

Theologie als Deutungsagentur des Leibeslebens

Ihr Dankbarkeitstagebuch / Ihre Notizen

Exit

Der produktive Streit um Lebensdeutungen

Anmerkungen

Literatur

Dank

Einleitung

Bigger than me

Dieses Lied besetzte nicht nur meine Ohren. Bigger than me. Präsentiert vom englischen Singer und Songwriter Louis Tomlinson; die Single seines zweiten Studioalbums. Bis heute schaffte das Video über 6,7 Millionen Klicks auf YouTube. Zwar kein Top 1 Hit, aber eine wunderbare, verzaubernde Hymne. Ein junger Mann geht durch eine in zunehmendes Dämmerlicht getauchte, atemberaubende und geheimnisvoll erscheinende Landschaft. Ich meine, ein halb ausgetrocknetes Flussbett zu erkennen, bewacht von einladend bemoosten Klippen, vielleicht auch herrscht Ebbe an einem entlegenen und verwunschenen, sogar einen unwirtlichen Eindruck machenden Küstenstreifen. Der Sänger sammelt Treibholz, ihn lenkt ein stürmischer, energisch brausender Wind hin zu einem Lagerfeuer in der Ferne; er legt Holz auf und schaut konzentriert den Flammen zu, versammelt das Geviert, das »Weltquadrat« (Hermann Timm) von Feuer, Wasser, Luft und Licht.

Singend erzählt er eine, wenn nicht die Schlüsselsituation seines bisherigen Lebens. Wenn ihm jemand sagte, er würde sich ändern, dann versteckte er sich bisher hinter einem Lächeln. Er spricht von Angst, weil die Welt draußen offenbar auch Angst hatte, wie ihm klar wurde. Er hatte die Zeichen bisher nicht gelesen, ging andere Wege, bog links ab, wollte alles richtig machen, die richtigen Entscheidungen treffen, hörte schließlich auch die gut gemeinten und vorwurfsvollen Stimmen nicht mehr. Aber dann ereignet sich plötzlich die befreiende, ergreifende Erfahrung in dieser Landschaft im Dämmerlicht: Bigger than me. Die Intensität dieser Erfahrung transzendiert seine Alltagswirklichkeit. Ein prächtiger, stimmgewaltiger, befreiender Jubelschrei, ein verzücktes Staunen und Erschauern. Das Lied hat Feuer. Etwas ist größer, umgreifender als er. Verspricht Orientierung und vor allem: Hoffnung. Fordert aber auch. Er ist endlich, so singt er in klaren und zugleich hungrig hohen Tönen, die die Zuhörerinnen zu einer Levitation nötigen, aufgewacht und fühlt sich lebendig, neugeboren, bejaht das Leben. Vielleicht ist er jetzt auch bereit, sich mit seiner Lebenskraft und neuer Lebenseinstellung für die Lebenskraft der Welt draußen einzusetzen, die unter bedenklich erhöhter Temperatur leidet. Wahrscheinlich ist er jetzt entschlossen, aus dieser Erfahrung die Motivation für eine eigene Transformation zu schöpfen, sein Lebensmuster zu ändern, um endlich seinen Platz in der Welt zu finden. Der Hoffnungsfunken zündet.

Als Hörerin oder Hörer kann man sich in dieses befeuernde Jubilieren mitsingend einschwingen, die Füße übernehmen die Führung, vollziehen eine oder mehrere Drehungen um die eigene Achse mit geöffneten Armen. Zusammen heißen wir die Welt willkommen. Eine glückliche Weltbeziehung entsteht, die im Idealfall auch dem Alltag eine freudige Tönung und einen anderen, spielerischen Rhythmus verleiht. Um einen wirkmächtigen Satz von Friedrich Schiller zu variieren: Ein Mensch »ist nur da ganz Mensch, wo er tanzt«. Um mit diesem eingeleibten, spielerischen Schwung dann auch der fiebernden Natur und allem Lebendigen, das leidet, lindernd und nachhaltig beizustehen.

Dieses animierende und Energie verleihende Lied inszeniert, das ist die Pointe, eine Heiligkeitserfahrung. Heiligkeitserfahrungen sind Erfahrungen von Tiefe, die jeweils für mich oder mein Leben mit anderem Leben bedeutsam sind, genauer: Sie gehen mich unbedingt an, wie Paul Tillich (1886-1965) formuliert hat, ein protestantischer Theologe und Philosoph, der Deutschland während der Zeit der braunen Diktatur verlassen musste und dann lange in Amerika sehr erfolgreich lehrte. Es geht letztlich um Leben und Tod. Diese Erfahrungen sind nicht nur irritierende, sondern schockierende Erfahrungen. Rudolf Otto (1869-1937), protestantischer Dogmatiker und Religionswissenschaftler, hat in seinem Bestseller Das Heilige (1917) diese eigenständige Erfahrungsqualität mit einem neuen Wort als »numinos« (von lat. numen: Heiliges/Göttliches) bestimmt, gemeint ist damit: Diese Erfahrungen von Tiefe sind erschreckend und faszinierend zugleich (tremendum et fascinans), erzeugen Gänsehaut und jagen unserem Leib Schauer über den Rücken, packen uns, lassen uns nicht kalt. Im Anschluss an Rudolf Otto hat der Kieler Philosoph Hermann Schmitz (1928-2021), der das lange verwahrloste Thema des spürenden Leibes auf die Agenda setzte, eine Pointe hinzugefügt: Die Erfahrung von Enge und Weite, tremendum et fascinans, wird in jedem Atemzug abgebildet, nämlich im Gezweit von Einatmen (Enge, Angst) und Ausatmen (Weite, Freiheit). Auffällig wird diese alltägliche Struktur, unser primärer Austausch mit der Welt, namentlich in Heiligkeitserfahrungen. Der spürende Leib ist es, an dem zunächst die Welt anstrandet: am Leib als dem »universalen Resonanzboden« (Schmitz, UG 116). Dort kommen wir in Kontakt mit einer umgreifenden Realität, die mit ihrem affektiven Appellcharakter uns herausfordert und eine leibliche, auch handgreifliche Antwort einfordert.

Das Göttliche oder Heilige ist strukturell ambivalent, denn die Erfahrung, dass etwas größer ist als ich, kann auch ängstigen, fasziniert uns aber zugleich und stiftet, soweit das involvierte Ich diese Erfahrung als Lebenssteigerung einstuft, eine Dankbarkeit ein, eine zunächst feierliche und andächtige Ergebenheit, die dann zur Handlung drängt. Und: Es gibt Agenturen, die das erschreckende Element am Heiligen rationalisieren, einhegen, mäßigen und damit geschützt erfahrbar machen: die biblischen Schriftsteller etwa, die vor uns diese Erfahrungen durchgespielt haben und uns Lesenden Zugänge erschließen; zugleich die Künste und, nicht zu vergessen, die Wissenschaft als Praxis der Entdämonisierung und Rationalisierung des auch Ungeheuerlichen etwa im Gewitter, im Hurrikan, im Tsunami, in Pandemien.

Außendienstmitarbeiter des Heiligen sind traditionell die Theolog*innen, die diese Rationalisierung, die dem Heiligen partiell den Schrecken, aber beileibe nicht den Zauber nimmt, weiter vorantreiben und im Idealfall im Innendienst in eine schöne Ordnung bringen, früher gerne Dogmatik genannt; aber dieser wenig anziehende Begriff wird heute oft zurecht verschwiegen – Systematische Theologie ist der angestrengt neue, ebenfalls etwas hüftsteife Begriff. Ich spreche lieber von einer vitalen, pulsierenden Lebenslehre, die sich am Spüren orientiert. Gesucht wird eine Theologie des Spürens.

Es geht in diesem Essay um Schlüsselsituationen, um Heiligkeits- Erfahrungen, die eineLebensorientierung bieten. In sechzehn Kurzreisen suche ich Orte auf, die leibnahe Erfahrungen des Heiligen versprechen und Hoffnung machen: eine Roadmap, die bequem in der Lektüre mitvollzogen werden kann. Es geht um die Vermessung des Heiligen im Außen- und Innenbereich. Ich spüre Eilande des Heiligen in der Natur und in der Kultur auf. Knappe Stippvisiten. Schnappschuss-Augenblicke. Es geht ins Watt, dann auf die Klippen der normannischen Steilküste, ich erinnere an ungeheure Wettererlebnisse, lade einen Neffen ins Fußballstadion ein, besuche Friedhöfe und lost places, kaufe nach Überzeugungsarbeit meiner älteren Tochter mit der Familie einen Hund, mache Visiten im Museum, im Studierzimmer, im Labor, der Bibliothek, dem Kino, dem Theater, in der Kirche und erinnere Seligkeitsdinge, »geliebte Objekte« (Tilmann Habermas), die zum Tagträumen mit überschießender Fantasie einladen. Ich suche belebende Begegnungen (vgl. Pépin, 2022) mit Menschen, Freunden, Tieren, Pflanzen, Liebespaaren, wie sie in Filmen und Büchern vor Augen gemalt werden. Dieses Buch ist eine Einladung zum Transzendieren, zum spielfreudigen, intensiven Übersteigen des Alltags, hin zu Orten und Situationen, die Erfahrungen von Neuheit, Kreativität und Entwicklungsfähigkeit erlauben. Die Pointe ist: Nachhaltige Heiligkeitserfahrungen bieten tragende Orientierung für den eigenen Lebensentwurf, versprechen Lebensgewinn und Lebensenergie, zeigen die Lebensrichtung auf, die dann in der Lebensführung handelnd, in Situationen mit anderem Leben verstrickt, eingeschlagen wird. Klug handeln, um ein gutes Leben zu führen, kann ich nur, wenn mir zunächst die Lebensrichtung klar geworden ist und ich meinen Platz in der Gesellschaft gefunden habe.

Die Orte, die ich nenne, sind lose mit meiner Biographie verknüpft, denn es ist mein spürender Leib und es sind meine subjektiv gespürten Tatsachen, die mir als Folie dienen. Die phänomenologische Beschreibung, Stilisierungen eingeschlossen, damit die Erfahrungen verdichtet werden, hofft auf intersubjektive Anschlüsse, Wiedererkennungsblitze, die eine Übersetzung in Ihre eigene Biographie als Leserin und Leser ermöglichen. Auffallend häufig knüpfen die beschriebenen Erfahrungen an Begegnungen aus Kindheit, Jugend und frühem Erwachsenenalter an, einfach deshalb, weil in diesen Jahren das Andringen von Welt besonders nachhaltig gespürt wird – so auch im oben inszenierten YouTube-Video. In späteren Jahren verlieren wir häufig diese Fähigkeit und müssen sie neu, in zweiter, mündiger Naivität einüben, wenn wir erneut in die Rolle des Gotteskindes hineinschlüpfen. »Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder«, lautet die Redewendung, die sich an einen Spruch aus dem Matthäusevangelium (Mt 18,3) anlehnt, »werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen.«

Den drei Blöcken zwischengeschaltet sind Übungen, die den Leib, der auf Heiligkeitserfahrungen reagiert, zum Sprechen bringen wollen. Dann sind Sie als Leser*innen aktiv im Spiel! Ein Learn-Attack. Im Zentrum steht der spürende Leib, der offen ist für Erfahrungen von atmosphärischen oder personal verdichteten Begegnungen, die uns leiblich affizieren und die wir am eigenen Leib spüren. Menschliches Leben vollzieht sich stets in atmosphärisch getränkten Situationen, ist Leben in einer Umgebung mit mitmenschlichem und nichtmenschlichem Leben. Sein und Raum, nicht Sein und Zeit ist das Thema. Drei basale Übungen sollen, so mein Angebot, von Ihnen lesenderseits vollzogen und nachgespielt werden. Übungen, die den spürenden Leib zunächst erfahrbar machen; Übungen, die die Reichweite des spürenden Leibes als selbstwirksame Einleibung erkunden; schließlich Übungen, die zur spielerischen Identifizierung einladen – auch zur spielerischen Identifizierung mit Heilsbringern und Heilsbringerinnen (Michael Stausberg) oder maßgebenden Menschen (Karl Jaspers), die das Leben orientieren und umbilden. Mein Sprachlehrer für dieses Leibgeschehen ist der Leib-Philosoph Hermann Schmitz.

Der letzte Teil fragt nach den Deutungsagenturen, die diese subjektive Kartierung von Heiligkeitserfahrung lesbar und lebbar machen. Das Heilige ist schon seit geraumer Zeit nicht mehr nur in der Theologie beheimatet, sondern es hat freundliche (nicht feindliche) Übernahmen aus anderen Fächern gegeben, die sich dem riesigen, unerschöpflichen Pool des Heiligen zugewandt haben. Ich präsentiere die theologische Deutungskompetenz und suche den überlappenden Konsens mit der Philosophie (Hermann Schmitz’ zweiter, konziser Auftritt), der (Positiven) Psychologie (Martin Seligman), der Kunstwissenschaft (Aby Warburg) und der Soziologie (Hartmut Rosa), die jeweils Deutungsangebote für die Führung eines guten Lebens im Umgang mit Heiligkeitserfahrungen versprechen. Es gibt eine Vielfalt, eine Diversität von Deutungsagenturen und die Theologie ist ein Angebot unter mehreren Anbietern.

Diese Lebenslehre 2 ist die Slimfit-Ausgabe meiner adipös geratenen Lebenslehre (2022), sie schlägt zugleich einen anderen Weg ein und nimmt den Ausgang von eingängigen Szenen religiöser Heiligkeitserfahrung. Ich starte in diesem Essay mit dem Heiligen oder dem heiligen Geist, nicht, wie die traditionelle Systematische Theologie, mit der Gotteslehre. Orte der Erfahrung des Heiligen sind nicht auf Orte wie Tempel oder Kirchen oder traditionelle heilige Orte als Realisationsformen des Heiligen festgelegt. Überall und in allen Lebenssituationen lassen sich Erfahrungen des Heiligen aufspüren, die für das eigene Leben spielentscheidend sein können.

Zunächst aber setzen wir über auf eine ostfriesische Insel, nach Borkum. Auf ein (H)Eiland. Auf google-map: oben ganz links. Den tief in einem Schrank versteckten Ostfriesennerz hervorholen und einpacken, bitte. Und jetzt: Schuhe aus, Gummistiefel an, das Watt ruft.

Hörtipp / Lesetipp:

Louis Tomlinson: Bigger than me: https://www.youtube.com/watch?v=Ece21themfE.Bruno Latour: Jubilieren. Über religiöse Rede. Aus dem Französischen von Achim Russer, Frankfurt am Main 2016.

Erste Reiseetappe zum Heiligen

Borkum, Wattenmeer

Priel-Angst und Brandgans-Trost

Wattwanderung im Schlick der Nordseeküsten

Foto: © matho – AdobeStock.com

Ein Wort hatte in meiner Jugend einen magischen Klang: Golfstrom. Meine Mutter dehnte das Wort aus, als wäre es eine Verheißung. Wegen meiner pfeifenden Bronchien musste ich ab dem 9. Lebensjahr jährlich nach Borkum auf Kur, weil nur an Borkum (nicht etwa an Juist oder Norderney, diesen deutlich mondäneren Inseln) der mysteriöse Golfstrom vorbeifloss und mein Asthma zu heilen versprach. Dann wurde der Volvo 164 vollgepackt und Heinz, einer der Arbeiter in der Firma meines Vaters und meiner Mutter, der normalerweisen einen riesigen LKW, einen Hentschel, später einen Magirus fuhr, kutschierte uns nach Emden zum Schiff. Heinz, den meine Schwestern und ich Onkel Heinz nannten, weil er schon seit Ewigkeiten im Unternehmen war, trug auch bei Hitze und geschlossenen Autofenstern (überall drohte eine Erkältung, der grimmige Ostwind aus Russland hatte im Vokabular meiner Mutter einen festen Platz) einen dunklen Anzug, als müsse er auf eine Beerdigung. Ich saß wegen meines Magens, der, wie meine Mutter sagte, gerne Sperenzchen machte, auf dem Beifahrersitz, meine Mutter auf der Rückbank in der Mitte zwischen meinen beiden älteren Schwestern, die aber nur wenige Male mitfahren durften. Ich ging auf Kur nach Borkum stets in den Randzeiten, etwa in der Woche vor Ostern oder in den Herbstferien, weil dann, so die Auskunft, die Wirkkraft des Golfstroms besonders nachhaltige Ergebnisse garantierte. Meistens waren dann beide Kinos auf der Insel und auch der Minigolfpark noch oder schon wieder geschlossen. Dick eingemummt ging ich jeden Tag stundenlang im steifen Wind auf der Promenade spazieren, häufig in Begleitung meiner Mutter, manchmal ging ich rückwärts, dann kam ich schneller voran. Jeden dritten Tag bekam ich ein magenschonendes Soft-Eis – Eiswaffel mit Schokokuss. Lernte ich an einem Tag fehlerfrei mehr als dreißig englische Vokabeln, ich hatte in jenem Jahr die Grundschule gerade hinter mir, bekam ich ein Soft-Eis extra.

Weil der inzwischen ergreiste Homöopath meiner Mutter, dem sie blind vertraute, war er es doch, der sie von ihrer Schwindsucht, an der sie kurz vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges sterbenskrank litt, heilte, weil also dieser Homöopath ihr zur Linderung meines Asthmas neben den Kuren auch eine Wattwanderung empfohlen hatte, durfte ich, obwohl meine Mutter eine lange Liste von Bedenken aufsagen konnte, nach vielen Vertröstungen mitwandern. Noch in der Nacht hatten Regen und Wind gemeinsam getobt, jetzt schwiegen beide, das Grau des Morgens hatte Farbe aufgesogen. Wolken, reingewaschen, spielten Fangen, schlugen einander ab und zogen gemeinsam weiter. Das Wetter gab ein okay, was meiner Mutter die Stimmung eintrübte, aber ich, little me, stand im Ostfriesennerz und in Gummistiefeln mit einem Eimer ausgestattet aufgeregt am vereinbarten Sammelpunkt. Sieben Männer und Frauen, ich war das einzige Kind. Der Wattführer, den ich bereits im Heimatmuseum kennengelernt hatte, redete sehr beruhigend auf meine Mutter ein, die sich wegen ihrer Rückenprobleme nicht traute mitzuwandern. Ich drehte mich noch mehrfach nach ihr, die mir etwas nachzurufen schien, um, dann konnte ich sie nicht mehr ausmachen.

Unterwegs durfte ich meine Gummistiefel ausziehen und eine Frau half mir, die Hose umzukrempeln. Ich stelzte zunächst, war über die Kälte erschrocken, versuchte, meine Hose nicht zu verschmutzen, aber mit jedem neuen Schritt genoss ich es, nachdem wir die Rippelstellen hinter uns hatten, wie der Schlick sich zwischen meinen Zehen quietschend hindurchdrückte, ich dreckig wurde und mit jedem schmatzenden Schritt Spuren hinterließ. Ich schmeckte Salz, die Luft war klebrig, ein Geruch wie die Sülze bei unserem Schlachter um die Ecke. Auf glibberige Quallen machte der Wattführer aufmerksam, zeigte Seeringelwürmer, Käferschnecken, Herz- und Pfeffermuscheln, den Steinschmätzer und den Austernfischer, Seesterne, kleine Einsiedlerkrebse. Und er hielt einen Nachruf, er nahm sogar seine Wilhelm-Heinrich-Mütze ab, auf das Seepferdchen, das er seit drei Saisons nicht mehr entdeckt habe. Das mache ihn traurig. Ich war trotzdem glücklich. In den Pfützen spiegelte sich der Himmel samt Wolken. Mehrfach sprang ich mit Lust in die Pfützen und brachte so die Wolken zum Platzen, erschrak dann aber: Wenn Gott hinter den Wolken wohnte, zerstörte ich seine Wohnung! Ich bekam Gänsehaut, drehte mich um, aber einer der Männer hielt den Daumen hoch und lachte. Ich lachte auch, umlief jetzt aber vorsichtig jede Wasserlache. Ich wollte nicht schuldig werden. Ich wollte Gottes Haus nicht einreißen.

Ich erinnere mich noch, wie der Wattführer, der die Erwachsenen oft zum posaunenden Lachen verführte, nachdrücklich vor See-Nebel, aufziehenden Gewittern und ja, ja den Prielen warnte. Es reiche nicht hin, die stehenden großen Priele oder Priellöcher, die dauerhaft Wasser führen, großräumig zu umwandern oder kleinere Priele mit dem Priel-Stab auf die Tiefe hin zu testen. Er hielt seinen Priel-Stab hoch wie den Stab, mit dem Mose damals aus einem Felsen am Berg Horeb für das murrende Volk Israel Wasser hervorzauberte. Diesem Mose durfte ich vertrauen. Ihm und seinen Warnungen wollte ich folgen.

Jedes Jahr würden Touristen, die sich ohne ausgebildete Führer auf den Weg machten, von der plötzlich zurückkehrenden Flut überrascht und eingekesselt. Man müsse die kleinen Priele im Auge behalten, die sich schlängelnden Wasserläufe, die plötzlich mächtig anwachsen könnten, dem auch geübte Schwimmer auf Dauer nichts entgegenzusetzen hätten. Jedes Jahr würden unbegleitete Touristen ihren Ausflug ins Watt mit dem Leben bezahlen. Wenn das Wasser da ist, ist alles zu spät. Und die Kraft meines Priel-Stabs reicht nicht hin, um die Wassermassen dann zu teilen.

Plötzlich schwiegen wieder alle. Auch Mose. Ich blickte jetzt doch verstohlen zu dem Punkt, wo ich noch immer meine Mutter vermutete. Eine Szene von quälender Länge. Dann ein tröstliches, pfeifend-schwirrendes Fluggeräusch, das der Wattführer als Flügelschlag einer Brandgans identifizierte. Als Erste fand die Frau, die mir mit dem Umkrepeln der Hosenbeine geholfen hatte, ihre Stimme wieder und redete gestikulierend auf den Wattführer ein, ich versuchte zu entdecken, ob irgendein Priel vielleicht heimlich volllaufe.

Dann, endlich, gingen wir langsam zurück. An einer sicheren Stelle, kurz vor dem Ende der Wanderung, konnten wir erkennen, wie eine kleine Rinne sich extrem schnell mit Wasser füllte. Wo wir vor Minuten noch sicher durch das Watt gezogen waren, hatte das Wasser das Land bereits zurückerobert. Eine Frau, die während der ganzen Wattwanderung geschwiegen hatte, schüttelte sich und strich sich mehrfach über die Arme. Ist ganz, ganz schön und auch wohl ganz schrecklich, sagte sie.

Ich erzählte meiner Mutter, zurück in der sicheren Ferienwohnung, sehr lange vom Priel, dem Mose, dem ich begegnet war, und wie gefährlich es sei, sich ohne Wattführer ins Watt zu wagen. Meine Mutter legte nur den Kopf leicht schief und musterte mich lange, hielt währenddessen meine noch immer blaubleichen Füße in ihren warmen Händen gebettet. In der Nacht träumte ich von einer riesigen Welle, die auf mich zuraste. Mein Magen machte Sperenzchen. Aber es war ein glücklicher Tag. Das ja. Tief ins Gedächtnis eingebrannt. Ich hatte Mose getroffen. Den Mann mit dem Gottesstab.

Und ich genoss von da an jeden Atemzug. Kein Röcheln. Kein übermäßiges Engegefühl. Die »Atemschaukel« (Herta Müller) funktionierte. Aber wie gerne hätte ich ein kurzschnäuziges Seepferdchen beobachtet.

Ich erinnere das Glück meiner Töchter, wenn sie nach der bestandenen Schwimmprüfung den Sticker Seepferdchen auf ihre Schwimmanzüge klebten. Inzwischen tauchen verstärkt Seepferdchen auch im Watt wieder auf, wie mir berichtet wurde. Ein angelaufener Silberstreifen am Horizont.

Lesetipp:

Mathijs Deen: Der Holländer. Aus dem Niederländischen von Andreas Ecke, Hamburg 2022.

Normandie

Die weißen Riesen und der Elefant an der Côte d’Albâtre

Les Petites Dalles – Normandie

Foto: Superjuju 10, Wikimedi Commons

Alabasterhaut – so lautete im Barock das Schönheitsideal adeliger Frauen, eine weiße, durchsichtig scheinende Haut mit leichtem, unaufdringlichem Glanz. Als Mineral kommt es, wenig exquisit, sehr häufig vor und ist eine Variante des Minerals Gips, ein Baustoff, auf den mein Vater als Asthmatiker besonders heftig allergisch reagierte. Ich habe mich in dieses Mineral in Gestalt der weißen Klippen in der Normandie verliebt, ein 120 km langer, mächtiger und erhaben-verspielter Küstenzug – dagegen sind die Kreidefelsen auf Rügen nur die bitterarmen Schwestern. Das schönste Küsten-Kino bietet Étretat: Guy de Maupassant deutete die Falaise d’Aval als einen weißen Elefanten, der den Rüssel ins Wasser hält. Étretat war und ist ein Inspirationsort für Künstler – und wird im Sommer von Tagestouristen überflutet.

Wir verbringen einige Wochen im Jahr in der Nähe des kleinen Badeortes Les Petites Dalles, der sich von Touristenströmen auch nicht ganz freihalten konnte, weil hier 1874 im Schlosshotel die österreichische Kaiserin Sisi (franz.: Sissi) aus Gründen, die jedes Jahr in der Gerüchteküche delikat neu arrangiert werden, einen Sommer verbrachte. Deshalb liebe ich die Alabasterküste: Hitzeperioden fallen bescheiden aus, kein surrender und schnaufender Ventilator stört die Arbeitsruhe, häufiger gießt der Regen mit großer Lust und ein wenig angeberisch die meterhohen Hortensien mit ihren blauen und rosafarbenen Dolden. In der Badehütte am Strand (auf dem Foto die sechstletzte Hütte von links) habe ich einen prächtigen Blick auf die Falaises, die sich rechts und links stolz erheben. Häufig mache ich zusammen mit Barbara einen Spaziergang vom Dorf aus auf die Klippen und laufe zum nächsten Badeort, Grandes Dalles, dann auf dem Rückweg bei Ebbe am Meer vorbei, lege öfter eine Hand auf den Stein, der, anders als der kalte Marmor, die Hitze handwarm speichert. Marmor gegen Alabaster, kalter Logos gegen warmen Eros.

Auf dem Hinweg kommen wir an einer Stelle vorbei, die gefährlich nah an den Klippenrand führt. Keine Brüstung, nirgends. Diese Stelle hat eine traurige Berühmtheit, denn nahezu jährlich stürzen sich von diesem Punkt aus Menschen in die Tiefe, auch eine Frau, Mutter von zwei noch kleinen Kindern, die im Dorf in einer mächtigen Orangerie Einrichtungsgegenstände vor allem für die Ferienhäuser verkaufte. Häufig haben wir dort kleine Möbel und Seligkeitsdinge erstanden und uns kurz mit ihr unterhalten. Jedes Mal, wenn ich bei den Besuchen an der Alabasterküste am verwaisten Wintergarten vorbeifahre, verkantet sich mein Atem. Noch immer steht das Gesicht der Frau mir konturenscharf vor Augen und verblasst nicht.

Bei Ebbe gehe ich gerne weit hinaus, um einen Weitwinkel-Blick auf die Klippen zu werfen. Ich lese sie als alte, leicht verwitterte Papiere, die eine mit wenigen Schnörkeln auskommende Handschrift, die sich eingeritzt hat, verraten. Oben am Rand sind Einkerbungen und Abbruchkanten auszumachen, dann wird die Schrift nahezu unleserlich, verlangt kreative Fantasie, um die Lücke sinnfüllend zu schließen. Aber es gibt auch Wundmale in der Schrift, dort, wo jüngere Abgänge helle oder bereits verwitterte Narben geschlagen haben. Eine neue Herausforderung für die Dechiffrierkunst. Eine kleinteilige Klippenschrift, die nicht einmal Google Translate oder DeepL entziffern können.

Natürlich warnen Schilder davor, sich bei Flut zu nah an den Steilfelsen vorbeizuzwängen. Und doch ist die Versuchung groß, den Handteller auf den warmen Stein zu drücken, sich mit dem Rücken in eine kleine Ausbuchtung zu lehnen, um die abstrahlende Wärme an Tagen, an denen die Wolken einen entschlossenen Spaß daran finden, sich dauernd vor die Sonne zu schieben, am ganzen Körper zu spüren, eine Umarmung, die auch erschaudern lässt, weil sie dem Noli me tangere nicht nachkommt.

Das Meer kennt an dieser Stelle ein eigenes Abstandsgebot, schützt sich vor dem Ansturm der Badewilligen durch den Steinstrand, eine kibbelige Barriere, die zunächst überwunden werden muss, bevor der Körper leicht wird. Wer ohne passendes Schuhwerk ins Wasser will, führt eine unwürdige Choreographie auf, die sich wiederholt, wenn der steinige Weg zurück aus dem Wasser zum Handtuch oder zur Badehütte ansteht. Ohne Würdeverlust kann man sich diesem Wasser nicht nähern. Der Steinstrand in Les Petites Dalles, darin unterschieden von den angeberischen Sandstränden in Cabourg, hält auf sich.

Und dann ist es doch einmal passiert. Der weiße Riese trompetete. Ich saß vor der Hütte, ein fetter Roman lag beleidigt, weil ich ihm keine Aufmerksamkeit schenkte, auf den Knien, ich döste etwas, blinzelte zum Strand, eingehüllt von dem tröstlichen Geschrei und Lachen der Badenden. Dann mischte sich ein zunächst leises, dumpfes Knarzen und Grollen in das festliche Lärmen und zerstörte als übermächtiger Trompetenstoß den Spaß. Plötzlich trat eine schauderhafte Stille ein, alle Köpfe richteten sich wie in einer geheimen Choreographie Richtung Klippen aus. Die Zeit dehnte sich im Schrecken, bis Namen gerufen wurden, ängstlich, oft kreischend. Gott sei Dank war noch Flut, die Orte, wo Kinder bei Ebbe nahe der Felsen häufig Muscheln suchten, waren unter Wasser. Durch das Megaphon forderte der Bademeister, vom Schreien alarmiert, dazu auf, einen Teil des Strandes zu räumen und Personen, die vermisst würden, sofort zu melden. Polizei und Feuerwehr erschienen. Ein Chaos blieb aus, der Schrecken geordnet.

Es war nicht eine markante Nase am Gipfelrand, die ich stets für riskant und abbruchgefährdet gehalten hatte, die sich nach Tiefe sehnte, sondern aus der Mitte der Klippe war ein mächtiger Teil abgerutscht. Wir standen lange in großen Trauben nebeneinander. Ein Hüttennachbar bot uns einen Calvados an, das ist der Tröster der Normandie. Jeder kannte eine Geschichte eines Abgangs, oft lagen sie Jahre, sogar Jahrzehnte zurück. Es würden einfach viel zu viele Tages-Touristen über den Grat wandern. Der vermaledeite Massen-Tourismus mache alles kaputt. Man müsse dringend, wirklich dringend ein Ticketsystem einführen. Anwohner natürlich ausgenommen. Ich nickte und bekam noch einen Calvados. Aber: Nein. Ganz verzichten wolle man nicht darauf, an den Klippen vorbei zum nächsten Badeort zu wandern. Im gebührenden Abstand natürlich. Und möglichst bei Ebbe. An diesem Abend waren die Restaurants, obwohl Nachsaison war, überfüllt. Ein rotes Absperrband erinnerte am nächsten Tag an das Beben. Erst am letzten Ferientag traute ich mich, zu der Abbruchstelle zu gehen und meine Hand auf das warme Gestein dieses weißen Riesen zu drücken. Aufgeschreckt und irritiert, verwundert und nachdenklich.

Und verzaubert.

Étretat, Falaise d’Aval, Der weiße Elefant

Foto: © zavgsg – AdobeStock.com

Lesetipps:

Gert Heidenreich: Die Steinesammlerin von Etretat, Neuausgabe Hamburg 2004.Gert Heidenreich: Das Meer. Atlantischer Gesang, Weitra 2022.