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Am 10. Juli 2009 feiert die protestantische Welt den 500. Geburtstag von Johannes Calvin. In seinem Geburtstagsjahr wird sich endgültig herumsprechen, dass Calvin (1509 –1564) die Reformation ebenso vorangebracht hat wie Luther. Und nicht nur im theologischen Sinn. Er veränderte das Leben seiner Zeitgenossen – und er prägt noch das unsere. In Genf inspirierte und gründete er ein eigenwilliges Gemeinwesen, in dem strikte Gottesfurcht herrschte, aber auch die Vorform eines demokratisch-transparenten Staates.
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Seitenzahl: 190
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Klaas Huizing
Calvin
… und was vom Reformator übrig bleibt
FürBill Watterson,
den Schöpfer von Calvin und Hobbes
Alceste
Fragen Sie mich nicht.
Sie fänden mein Urteil allzu krass.
Denn meine Schwäche besteht darin,
dass ich zu offen spreche.
Molière
Der Menschenfeind
Johannes Calvin (1509 - 1564) . . . und was vom Reformator übrig bleibt
Cover
Titel
Widmung / Zitat
Der Vergessene
Comic-Charme
Gelüftete Erinnerungen
„TÜV“ für Gegenwartstauglichkeit
Der Streber
Gesichterlesen
Anfänge
Der erste Wurf
Der Bekehrte
Spurensuche
Calvins Selbstinterpretation
Der Reformer
Genf heute und gestern
Von Basel über Genf nach Straßburg
Zurück in Genf
Der Organisator
Krisenmanagement
Großkrisen: der Bolsec-Skandal und der Servet-Skandal
Machtsicherung und Abschied
Der Glaubensarchitekt
Über die Fettsucht von Büchern
Der Grundriss der Institutio
Welcher Gott?
Der Advocatus Dei
Halbbildung
Stoa und Vorsehung
Calvins Umdeutung
Calvin und die Calvinisten
Der Züchtige
Die Sache mit der Kirchenzucht
Der milde König
Kirchenleitung als repräsentative Demokratie
Der gläserne Gläubige
Calvins demokratische Spätwirkung
Der Fruchtbare
Die Balance von Schriftlehre und Erfahrung
Der rechte Calvinismus
Der linke Calvinismus
Calvin heute
Calvin für postsäkulare Zeitgenossen
Klaas Huizing
Anhang
Fußnoten
Personenregister
Primärliteratur
Literatur und Lesetipps
Impressum
Über protzige Autos, Comics und die Sündenbank eine Annäherung
Calvin?
Calvin!
Wann genau lebte Calvin? Mittelalter oder zwanzigstes Jahrhundert? Und wer genau war oder ist Calvin eigentlich? Muss man den Menschen Calvin überhaupt kennen?
Wir leben in Zeiten historischer Amnesie. Es fehlt das sichere Geländer memorierter Daten. Calvin? Wahrscheinlich: Fehlanzeige! Einige andere Daten hat man abgespeichert. Etwa: 333.Bei Issos Keilerei. Ich gestehe, ich habe soeben einen flüchtigen Blick ins Internet geworfen, weil ich meiner Erinnerung nicht mehr traute, wer hier gegen wen kriegerisch auffällig wurde. Also: Alexander der Große kämpfte gegen den Perser Dareios III, weil die Perser hundertfünfzig Jahre vorher den Griechen eine empfindliche Niederlage beigebracht hatten. (Offenbar besaß in diesen Jahrhunderten die Rache noch Zeit, sich zu entwickeln. Das stimmt wehmütig.) Das Datum ist durchaus würdig, gespeichert zu werden, markiert dieses Datum doch den Beginn des Hellenismus, die Erinnerung verdankt sich aber dem Charme des Reims. Wer allerdings über diese Eselsbrücke gehen muss, so die kleine Gemeinheit, verharrt deutlich unterhalb der Schwelle des Genies.
Zu Calvin führt nicht einmal eine Eselsbrücke! Eine Mehrzahl der Amerikaner denkt, wie eine neuere Studie belegt hat, bei dem Namen Homer zunächst an die Comicfigur Homer Simpson, ein Mann mit schrägen Talenten, nicht an den abendländischen Erzvater und Sänger unserer Kultur. Auch Calvin (kalwin) wird wahrscheinlich bei vielen Zeitgenossen allenfalls über Umwege erinnert. Wer heute den Namen Calvin fallenlässt, muss damit rechnen, spontan verbessert zu werden. Das englischsprachige Calvin (sprich: kælwin) ist vertraut. Der Vorname hat auch bei uns Konjunktur. Und dann gibt’s natürlich noch den trendigen Modemacher Calvin Klein, berühmt für aufregende Dessous, hautenge Jeans und Anzüge mit einer dezidiert homoerotischen Ausstrahlung. Nicht unwahrscheinlich, dass viele Leser mit dem Namen Calvin zunächst dieses Label erinnern. Es würde immerhin guten Geschmack verraten.
Einfacher gelingt der Zugang über Calvin und Hobbes, ein Comic von Bill Watterson, erschienen auf Deutsch im Carlsen-Verlag. Namensgeber sind in der Tat Johannes Calvin und Thomas Hobbes. Calvin ist ein sechsjähriger Junge, der in einem dieser langweiligen Vororte einer gesichtslosen amerikanischen Großstadt lebt. Hobbes ist Calvins Stofftiger, der im Umgang mit ihm lebendig wird und immer Lust verspürt, rasante Abenteuer zu erleben. Calvin und Hobbes – das ist Comicgenuss auf höchstem Niveau.
Wikipedia, das Online-Lexikon mit nahezu seriösem Breitbandwissen, nennt wichtige Fakten:
„Calvin muss sich immer wieder mit dem Schulschläger Moe auseinandersetzen und wird dadurch des Öfteren vermöbelt.
Seine Lehrerin Fräulein Wurmholz ist die große Gegnerin Calvins. Sie raucht wegen ihm zwei Päckchen Zigaretten am Tag, und Calvin ist sich nicht sicher, ob ihr Arzt weiß, dass sie so viele verschiedene Tabletten gleichzeitig schluckt.
Calvin und Hobbes haben ihren eigenen Club, genannt E.
M.
S.
V. (,Eklige Mädchen sollen verduften‘), im englischen Original, G.
R.
O.
S. S.‘ (,Get Rid Of Slimy GirlS‘), die Tagungen finden jeweils im Baumhaus statt.
Calvin und Hobbes halten nicht allzu viel von gesunder Ernährung. Hobbes liebt Thunfisch-Sandwiches, Calvin bevorzugt seine Schoko-Bomben (,Chocolate frosted sugarbombs‘) zum Frühstück.
Calvin wird des Öfteren von Gegenständen angegriffen, z.
B. Mathebüchern, Spinat und seinem Fahrrad. Grundsätzlich sind es Dinge, die Calvin nicht mag.
Calvins Vater arbeitet in einem Hochhausbüro in der Stadt, privat ist er begeisterter Fahrradfahrer und liebt das Zelten und Fischen, sehr zum Leidwesen von Calvin, der sich dabei langweilt. Calvins Vater erklärt ihm auch gerne die großen wissenschaftlichen Zusammenhänge unserer Welt. (Explodiert der Kopf, wenn man sich beim Niesen den Mund zuhält?)
Calvins erklärter Feind (zumeist in Schneeballschlachten) ist das Nachbarmädchen Susi Derkins.
Calvin und Hobbes sind erfinderisch sehr begabt. Zu erwähnen sind vor allem die Zeitmaschine, der, Duplikator‘ sowie der, Zellumwandler‘.
Legendär sind Calvins und Hobbes’ Fahrten mit dem Schlitten und dem, Radio Flyer‘. Sie pflegen dabei über die steilsten Hänge und gefährlichsten Schluchten zu fahren und führen nebenbei interessante philosophische Gespräche.
Calvin interessiert sich brennend für prähistorische Tiere, vor allem Dinosaurier.“
Beinahe zum Bildungskanon gehören folgende Zitate:
Calvin: „Manchmal glaube ich, der beste Beweis dafür, dass es anderswo im Weltall intelligentes Leben gibt, ist der, dass noch niemand versucht hat, Kontakt mit uns aufzunehmen.“
Calvin: „Die Leute glauben, dass es toll sein muss, ein Genie zu sein, aber sie kapieren einfach nicht, wie hart es ist, sich mit den ganzen Idioten auf der Welt herumschlagen zu müssen.“
Calvin: „Weißt du, Hobbes, an manchen Tagen helfen nicht mal meine Glücksraumschiffunterhosen.“
Calvin: „Ich bin nicht dumm. Ich verfüge nur über jede Menge unverwertbarer Informationen.“
Hobbes: „Ich glaube, wir träumen, damit wir nicht so lange getrennt sind. Wenn wir voneinander träumen, können wir die ganze Nacht zusammen spielen.“
Calvin: „Es ist schwer, fromm zu sein, wenn auf gewisse Menschen nie ein Blitzstrahl niedersaust.“
Und wunderbar leichtfüßig kommt in diesem Comic immer wieder die Rede auf die Religion. Ohne vor sperrigen Themen haltzumachen. Das geht oft in einer einzigen Bildsequenz. Etwa der Comic über die Auferstehung.
Dieser Comic-Calvin ist gleichermaßen calvinistisch, komisch und im besten Sinne witzig.
Ich bin in einer bevorzugten Position. Ich bin gelernter holländischer Calvinist, ich benötige keine Umwege, ich muss allenfalls meine Erinnerungen lüften. Sie beziehen sich zunächst selbstredend auf die sehr langen Predigten, die durch das Kreisen von hosenwarmen Pfefferminzrollen aufgelockert wurden. (Es gehört zu den bisher unaufgeklärten Rätseln unserer Zivilisation, warum in den Kirchen Pfefferminz gelutscht wird und im Flugzeug alle Menschen dickflüssigen Tomatensaft mit Pfeffer trinken.) Danach verhakt sich das Gedächtnis an den Bildern eines Autosalons vor den Kirchentüren. Mein Vater, der sonntags im Gottesdienst mit scheinbarer Mühelosigkeit die Orgel spielte, werktags seine Firma leitete, fuhr einen Volvo 164, blaumetallic, aus dickem Schwedenstahl gefertigt, der hohe Kühler nicht zufällig an einen Rolls-Royce erinnernd. Mein Vater war der Erste, der im Landkreis diesen Wagen fuhr, nach seiner Autokarriere über Volkswagen, Fiat (Fiatfahrer grüßen sich, so hieß die Werbung) und BMW. Der Mercedes war für die Großbauern der Region reserviert. Samstagmittags ließ mein Vater den Wagen waschen, monatlich polieren. Vor den Kirchenportalen buhlte dieser Wagen mit anderen Marken, höheren Mittelklassewagen und Premiummodellen, um die Aufmerksamkeit. An keinem anderen Ort der Stadt traf man auf eine vergleichbare Ansammlung protziger Autos wie vor der calvinistischen Kirche. Ja. Es waren protzige Autos, aber alle fuhren diese Autos mit schlechtem Gewissen. Nach dem Gottesdienst und dem obligatorischen Schwätzchen schlichen die Besitzer ohne Besitzerstolz zu ihren Autos und fuhren bedächtig – nie forsch – nach Hause. Ich habe selten zwei Männer über ihre Autos gebeugt fachsimpeln hören. Kaufte mein Vater sich einen neuen Wagen, ging er wochenlang zu Fuß zur Kirche, erst dann lenkte er nahezu demütig seinen neuen Wagen auf den Parkplatz. Der Wagen war dann nicht mehr ganz neu! Angeberei? Wirklich nicht.
Ich habe meinen Vater nie gefragt, warum er sich Autos kaufte, für die er sich auch ein wenig schämte. Er lenkte den Wagen mit eingezogenem Kopf. Wie alle Calvinisten bildete er mit dieser Kopfhaltung ein Sicherheitsrisiko im Straßenverkehr. Sehr viel später habe ich verstanden, was der Hintergrund dieses seltsamen, anti-aristokratischen Verhaltens war. Es ging um Angst. Größtmögliche Angst. Es ging um ewige Verdammnis. Was für die religiös eher entfremdeten Gesellschaftsschichten der Psychiater, war für die Calvinisten der Autohändler!
Dicke Autos verschafften eine kleine Verschnaufpause, vielleicht sogar himmlische Ruhe. Wer sich dicke Autos leisten konnte, durfte davon ausgehen, dass Gott ihn erwählt und nicht verworfen hatte. (Ob Kredite die subjektive Gewissheit einschränkten, vermag ich nicht zu entscheiden.)
Bis heute hat mich diese horrible Gedankenfigur des Johannes Calvin beschäftigt, die sogenannte Lehre von der Doppelten Prädestination. Diese Lehre besagt, Gott habe Menschen erwählt: Konsequenz seiner Güte, und Menschen verworfen: Konsequenz seiner Gerechtigkeit. Dieser zweite Beschluss ist ein Beschluss, der, wie es heißt, Menschen „in Angst versetzen muss“. Calvin nennt es ein Decretum horribile! In der Tat. Das Wort trifft den Sachverhalt sehr genau.
Mit dieser Angst umzugehen, ist alles andere als einfach. Krampfhaft such(t)en Anhänger dieser Religion, also Calvinisten, nach Anzeichen, ob sie zu den Auserwählten oder Verworfenen gehör(t)en. Große Autos können dann ein Zeichen sein, wenn sie mit der nötigen Demut gefahren werden.
Und die Frauen?
Es ist beinahe banal, aber die Frauen trugen (und tragen) teure Marken, immer dezent, aber doch sichtbar teuer. Komplimente werden allenfalls angedeutet. Mehr nicht. Und auch die Häuser haben gediegene, Ikea-resistente Atmosphären.
Dient also der Erfolg der Stärkung der Heilsgewissheit? Sind dicke Autos Zeichen des Gnadenstandes? Dieser Syllogismus practicus geht allerdings, es gehört zur Fairness, das sofort zu ergänzen, nicht auf Calvin selbst zurück. Für Calvin, das sagt er in seinem Hauptwerk, der Institutio christianae religionis (zu Deutsch: Unterricht in der christlichen Religion), unmissverständlich, ist nur der feste Glaube Zeichen der Erwählung1. Erfolg und gute Werke sind für Calvin kein Erkenntnisgrund des eigenen Heils, weil auch die Erkenntnis, zu den Erwählten zu zählen, ein Geschenk der Gnade ist. Erst spätere Generationen deuteten auch den Wohlstand als Erkenntnisgrund, von Gott nicht verworfen zu sein. Man muss also sehr genau zwischen Calvin und Calvinismus unterscheiden.
Max Weber, der große deutsche Soziologe, hat nicht zufällig den Calvinismus als Motor des Kapitalismus ausgemacht. Der sprichwörtliche Fleiß der Calvinisten, die sparten, um sich künftig Haus und Autos leisten zu können, beförderten die Akkumulation von Kapital. Angetrieben wurde der Fleiß aber durch die Angst. Angst, religiöse Angst, gemischt mit Hoffnung, war also das Schmierfett des Kapitalismus. In einer gewissen Abschwächung und Brechung – gelegentlich auch Umkehrung – hat sich diese Mentalität erhalten, und auch wenn die Triebkräfte dieses Verhaltens heute oft verdunkelt sind, die verhaltensgenetischen Codes funktionieren noch bestens. Und deshalb ist Calvin kein Mann der Vergangenheit, zumindest unterschwellig ist er und der von ihm ausgehende Calvinismus in unserer westlichen Gesellschaft extrem präsent.
Gibt es noch andere Einflüsse? In meiner Gehirnkammer sind noch weitere Erfahrungen gespeichert, die Nachwirkungen zeigten: die Sonntagsheiligung, die Kirchenzucht und das Bilderverbot.
Ich habe als Jugendlicher irgendwann die sedierten Sonntage gehasst, weil die Rhythmik zweier Gottesdienste um 10Uhr und um 14Uhr die Freizeitplanung stark einschränkte – sofern man von Freizeitplanung wegen des strengen Gebots der Sonntagsheiligung überhaupt sprechen konnte. Ein Besuch von Lokalen, der Besuch des Freibades und der Besuch von Sportveranstaltungen waren verboten. Für meine Großmutter war auch das Kartenspiel ein Teufelsgebetbuch. Meine Karriere als Handballtorwart, die ich sehr fanatisch verfolgt habe, fand ein jähes Ende, als die Spiele in der A-Jugend an Sonntagen stattfanden. Mein Vater, in vieler Hinsicht ein Antibild zum autoritären Gott-Vater Calvins, teilte mir mit roten Ohren und schwitzenden Händen mit, dass ich den Sonntagssport nicht ausüben könne, weil der Kirchenrat beschlossen habe, Jugendlichen, die am Sonntag Sport trieben, die Konfirmation (bei uns nannte man es: das Ablegen des Glaubensbekenntnisses, es fand mit 18Jahren statt) zu verweigern. Man hatte, wie ich wusste, bereits ein Exempel statuiert und einen eleganten, hochbegabten Fußballer, der sich dem Willen des Kirchenrates nicht gebeugt hatte, von der Konfirmation ausgeschlossen. Allerdings: Die Feier zur Konfirmation fiel eher reduziert aus und man erhielt natürlich mit Ausnahme der Bibel keine Geschenke. Und der Anzugzwang war im Holozän der Spätpubertät ein Graus. Vom erwarteten Pflichtbesuch beim Friseur, der mir übrigens mütterlicherseits erlassen wurde, ganz zu schweigen. Ich habe meine Knieschützer in der Tat an den Nagel gehängt. Ein Akt äußerlicher Barbarei für eine inwendige Bildung. Die guten Reflexe sind mir geblieben.
Und: Ich gehe heute mit gutem Gewissen an Sonntagen in Lokale oder ins Kino oder ins Theater. Aber die Entängstigung war ein sehr langer Prozess, wahrscheinlich ein unvollendetes Projekt. Und trotzdem: Gegen die immer stärker um sich greifende Ökonomisierung des Sonntags bin ich inzwischen wieder ein gemäßigter Anhänger der Sonntagsruhe.
Bei groben Verstößen im alltäglichen Lebenswandel konnte der Kirchenrat sich ebenfalls dazu entschließen, sehr grob einzugreifen. Ich erinnere mich an einen Fall, dass einer Frau aus unserer unmittelbaren Nachbarschaft vom Kirchenrat die Teilnahme am Abendmahl verboten wurde, weil man sie des Ehebruchs bezichtigte. In meiner Erinnerung war diese Frau die einzige Frau, die auf uns Jugendliche faszinierend und lebendig wirkte. Sie trug Schuhe mit Absätzen, die sie, wie alle Gemeindemitglieder meinten, allzu sehr selbst erhöhten. Der Skandal war natürlich übermächtig. Stigmatisiert wurden auch ihr Ehemann und ihre Söhne. Die ganze Geschichte endete in einem ziemlichen Fiasko. Der Mann starb sehr früh an Krebs, die Kinder flohen in alle Himmelsrichtungen.
Diese Geschichte spielte in den Siebzigern – also nach 68! Erst in den späten Fünfzigern war das „Strafbänkchen“ abgeschafft worden. Auf das Strafbänkchen – im Eishockey hat es überlebt! – wurde verbannt, wer Sex vor der Ehe hatte, mit unübersehbaren Folgen. Die Braut durfte dann auch kein jungfräuliches Weiß tragen, sondern wurde gezwungen, sich in demütiges Schwarz zu hüllen. Selbstredend drückte diese Situation auf die Stimmung während des Traugottesdienstes. Die Predigt verkam zur Mahnrede. Auf der Strafbank musste man übrigens so lange ausharren, bis ein anderes sündiges Pärchen den Reigen fortsetzte. In den Sommermonaten, so habe ich mir sagen lassen, konnte das manchmal sehr lange dauern.
Erinnerungen sind nicht immer gute Beraterinnen. Versteckt sich in der Kirchenzucht vielleicht doch ein weiterführender Sinn, den man nicht auf den ersten Blick erahnt?
Calvinistische Kirchen haben, freundlich formuliert, einen spröden Charme. Kein Bild buhlt um Aufmerksamkeit. Calvin war in der Bilderfrage ganz entschieden. Nichts durfte die Aufmerksamkeit auf das göttliche Wort trüben. Es war alles eine Frage der Ehrerbietung Gottes. Bei den langatmigen Sermonen in meiner Kinderzeit – quälend lange dreißig Minuten plus x – hatte das Auge keine Chance, zu desertieren. Es blieb nur die Flucht in die eigenen Gehirnkammern, wo Bilder gespeichert waren. Und die Pastoren? Sie hatten, bei manchmal mangelhaftem Talent, ein nahezu unerschöpfliches Reservoir an Aufmerksamkeit. Das empfand ich schon damals als ungerecht.
Führt in der Bilderflut der Gegenwart eine unideologische Diät in Bilderfragen aber vielleicht doch einen positiven Sinn mit sich?
Doppelte Prädestination, Sonntagsheiligung, Bilderverbot, Kirchenzucht – auf den ersten Blick eine Liste des Schreckens. In den Kammern meiner eigenen Erinnerung finde ich aber durchaus auch positive Szenen, die mit dem Stichwort „Calvinismus“ verbunden sind. Im Konfirmandenunterricht nahmen wir sehr ausführlich die Abendmahlslehre durch, die bekanntlich bei den Heroen der Reformation zu einigen Verwerfungen führte. Calvin plädierte für ein sehr moderates Verständnis des Abendmahls, vermittelte zwischen Zwingli, für den das Abendmahl ein reines Gedächtnismahl war – die Elemente Brot und Wein symbolisieren nur Christi Leib und Blut–, und Luthers Lehre von der Consubstantiation, also der Vorstellung, dass nach der Wandlung Brot- und Weinsubstanz neben Leib und Blut Christi weiterbestehen. Calvin hat dagegen die Betonung der Gegenwart Christi in den Elementen aufgegeben und die leibliche Gegenwart durch das Wirken des Heiligen Geistes bestimmt. Ein Pastor nannte während einer Veranstaltung einmal die Vorstellung der Katholiken, die von einer realen Wandlung (Transsubstantiation) der Elemente von Brot und Wein in den Leib und das Blut Christi ausgehen, aber auch die Lehre der Lutheraner mit einem süffisanten Lächeln „unappetitlich“.
In der Evangelischen Akademie in Tutzing hing viele Jahre lang ein provokantes Bild von Harald Duwe: Abendmahl. In der Mitte des Bildes erkennt man den Maler mit einem Löffel in der Hand, umringt von Freunden. Wein und Brot haben sich in der Tat verwandelt, die Feier wird zu einer monströsen kannibalischen Veranstaltung. Unappetitlich. (Offenbar geraten Künstler, die religiöse Bilder malen, sehr leicht in die Nähe einer katholischen Symbolik. Das gibt zu denken!)
Harald Duwe, Abendmahl, 1978
Und zumindest an den positiven Klang einer Vokabel erinnere ich mich, wenn der Name Calvin früher fiel. Er sei viele Jahre ein Humanist und begnadeter Philologe gewesen, betonte ein Religionslehrer auf unserem Gymnasium immer, und humanistisch galt auf unserem Gymnasium stets als besondere Auszeichnung. Wer humanistisch gesinnt war, konnte nicht als Barbar auftreten. In dieser Perspektive war die Verbrennung des spanischen Theologen Servet als Ketzer auf dem Scheiterhaufen, an der Calvin federführend beteiligt war, einfach ein peinlicher Betriebsunfall.
Versuche ich die Tönung meines Gedächtnisses bei der Nennung des Namens Calvin zu beschreiben, so überwiegen leicht die dunklen Anteile. Gibt es eine stressfreie Aneignung von Calvin und eine entschädigende Erinnerung? Vorurteile und auch eigene Erfahrungen blockieren oft die Fähigkeit, sich einer historisch erfolgreichen Idee neu zu öffnen. Calvins Denkleistung besitzt eine Würde, der man nur gerecht wird, wenn man nicht die Leistung auf fragwürdige Auswüchse reduziert und die Gedankenhöhe einebnet.
In diesem Essay geht es mir nicht um eine Abrechnung. Mein biografischer Hintergrund und die zum Teil desaströsen Erfahrungen, die ich mit dem Calvinismus gemacht habe, hätten diese Vorgehensweise vielleicht sogar nahegelegt. Ich schlage einen anderen Weg ein: Ich will verstehen, wie Calvin zu seinen die Welt verändernden Einsichten kam und was daraus geworden ist.
Biografisch kann man diesem Calvin nur sehr schwer nahekommen, die Quellen sind sehr dürftig und er selbst hat sich nicht gerne in den Vordergrund gespielt. Und doch will ich, so weit wie möglich, dieser Figur biografisch folgen, danach wichtige Elemente seiner Lehre vorstellen und auf Gegenwartstauglichkeit prüfen.
Lässt sich mit Calvin in einer „postsäkularen Gesellschaft“2, die säkulare und religiöse Überzeugungen seiner Bürger gleichberechtigt gelten lässt, von beiden Parteien aber erwartet, dass sie sich gegenseitig verständlich machen, Staat machen? Was bleibt also von Calvin übrig?
Dabei wird sich in der Analyse herausstellen, dass in Calvins Denken die Idee der Kirchenzucht das Funktionieren einer offenen (transparenten) brüderlichen Gemeinschaft garantieren soll. Der nichtreligiöse Begriff Transparenz ermöglicht es, die enge Verbindung zwischen Calvins Denken und der Entwicklung der Demokratie genauer zu vermessen. Calvin, so meine These, ist ein Erzvater der Demokratie.
Ein vergleichbares Verfahren wende ich bei der Idee der Doppelten Prädestination an. Der nichtreligiöse Begriff der Entängstigung dient mir als Richtschnur, um den Wert des religiösen Begriffs zu messen. Man wird den Begriff der DoppeltenPrädestination deutlich umwidmen müssen, will man die Einsichten Calvins gegenwartstauglich machen.
Und die Herunterlassung oder Erniedrigung Gottes (theologisch: kenosis), vor allem die von Calvin immer wieder betonte Anpassung Gottes an die menschliche Sprache, macht eine Interpretation der (heiligen) Texte nötig.
In einem Schlussteil werfe ich einen Blick auf den Calvinismus, seine Anverwandlung durch Karl Barth und den holländischen Theologen Abraham Kuijper. Danach folgt ein Blick auf einen Maler, der die calvinistische Lehre ins Bild gebannt hat: Piet Mondrian. Er ist ein bilderstürmender Vorzeigecalvinist, den beinahe kein Kunsthistoriker als Calvinisten identifiziert. Das kann auch von Vorteil sein. Aber auch die sogenannte Liberale Theologie in der Nachfolge Schleiermachers zeichnet, wie ich zeigen werde, viele Anleihen bei Calvin.
Wer die Texte von Calvin lesen will, der muss einige mentale Stärken aufweisen. Eine Calvin-Lektüre ist für ungeübte Leser durchaus Hochleistungssport. Man benötigt intellektuellen Bizeps. Aber die Anstrengung lohnt sich.
Calvin also?
Ein religiöser Reformator mit bleibendem Einfluss. Wer ihn verstanden hat, versteht, so lautet meine These, auch die Gegenwart besser. Werfen wir aber zunächst einen Blick auf sein Gesicht und gehen dann zurück an seinen Geburtsort: nach Noyon in Frankreich.
Über die Anfänge Calvins
Machen Sie einen Versuch in der Kunst des Gesichterlesens, bitte! Die Physiognomie eines Gesichts verrät viel. Vielleicht alles. Schauen Sie also in diese zwei Gesichter:
Johannes Calvin
Martin Luther
Auf beinahe allen Porträts, die es von Calvin gibt (es ist übrigens nicht belegt, dass Calvin jemals für ein Bild Modell gesessen hat), trägt er immer diese Mütze mit den angenähten Ohrenschützern und Ohrenwärmern – ein sehr schlichtes Gelehrtenbarett. Es unterstreicht bei Calvin die Schmalheit des Gesichts, das (vielleicht vom Fasten?) ausgezehrt wirkt, fröstelnd, ein wenig anorektisch, der intensive Blick der fraglos klugen Augen ist gleichermaßen leidenschaftlich und ernst, aber auch müde, eine Spur besorgt, aber auch entschlossen (die Augen wirken leidend, vielleicht ein Hinweis auf Migräne?), die Ringe um die Augen zeugen von nächtlichen Grübeleien, die Nase verrät Unbeugsamkeit, der schmale, unsinnliche, ein wenig verbissen wirkende Mund zeigt Zähigkeit an, der spitze, das Gesicht verlängernde Bart verstärkt den Gesamteindruck: Ein Gesicht wie ein Ausrufezeichen!
Vergleicht man mit diesem Gesicht das runde, ein wenig feiste und feierfreundliche Gesicht Martin Luthers mit den einladenden Augen, wird der Abstand zwischen beiden Reformatoren auf einen Blick sinnfällig.
Seiner Selbsteinschätzung zufolge vereinigte Calvin „Bescheidenheit, Sanftmut und Milde“3, nennt sich von Natur aus „schüchtern, sanft und zaghaft“4. Bescheidenheit ja, das zeigt das einfache, schmucklose Pastorengewand, das uneitle Barett, aber sein Gesichtsausdruck spricht eine andere Sprache: Offensichtlich hat dieser Mann hier lebenslang gegen seine Natur gearbeitet, um seine Vorstellung von einer – im Doppelsinn – reformierten Kirche durchzusetzen. Sieht so Milde aus?
Seine Kritiker haben ihn prompt ganz anders wahrgenommen. Von Milde keine Spur. Vor allem sein Verhalten im Ketzerprozess gegen den spanischen Arzt und Theologen Servet hat sein Bild nachhaltig negativ beeinflusst. Berühmt geworden ist Stefan Zweigs Buch Castellio gegen Calvin oder Ein Gewissen gegen die Gewalt5. Eindrucksvoll schildert Zweig die finale Begegnung zwischen Calvin und Servet: „Wichtig ist seiner besessenen Rechthaberei auch jetzt nur noch eines: aus dem Todgeweihten vor dem letzten Atemzug das Bekenntnis herauszupressen, daß Servet unrecht habe und er, Calvin, recht. Aber da Servet spürt, daß dieser inhumane Zelot ihm noch das einzige entreißen möchte, was in seinem verlorenen Leib lebendig und für ihn unsterblich lebt: seinen Glauben, seine Überzeugung, da bäumt sich der Gepeinigte auf. Entschlossen weist er jedes Zugeständnis ab. Damit scheint Calvin jedes weitere Wort überflüssig: Ein Mensch, der sich in religiösen Dingen nicht ganz unterwirft, ist für ihn kein Bruder in Christo mehr, sondern ein Satansknecht und ein Sünder, an den jedes freundliche Wort nur vergeudet wäre. Wozu noch ein Senfkorn Güte für einen Ketzer? Hart wendet sich Calvin ab, wortlos und ohne freundlichen Blick verläßt er sein Opfer. Hinter ihm klirrt eisern der Riegel, und mit den furchtbar fühllosen Worten schließt dieser zelotische Ankläger seinen ihn selbst in alle Ewigkeiten anklagenden Bericht: ‚Da ich durch Zureden und Warnungen nichts ausrichten konnte, wollte ich nicht weiser sein, als mein Meister es erlaubt. Ich befolgte die Regel des heiligen Paulus und zog mich von dem ketzerischen Menschen zurück, der sich selber sein Urteil gesprochen.‘“6
Wie mit diesem Widerspruch zwischen Härte und Milde umgehen? Hier hilft nur ein Blick auf Calvins Entwicklungsgang. Wie gesagt: Die Selbstauskünfte Calvins sind eher marginal. „De me non libenter loquor“ – von mir selbst spreche ich nicht gerne, diese häufig zitierte Maxime7