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In einer Künstlerkolonie auf La Gomera soll Privatdetektiv Lech Burdanowski einem Künstler auf den Zahn fühlen. Seine Ermittlungen werfen ein grelles Licht auf die aktuelle Situation von Kunst und Künstlern und auch der frühneuzeitliche Kampf der kanarischen Ureinwohner gegen die spanischen Eroberer erfährt eine bedrohliche Vergegenwärtigung.
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Seitenzahl: 221
Veröffentlichungsjahr: 2014
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Stefan Brendle
Kanaren-Krimi 2/3
ImPrint eBook, Münster 2014© 2014 ImPrint Verlag, Münster
Umschlaggestaltung unter Verwendung eines Fotos vonDori Cruz Quintero
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-936536-81-2
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Literaturtipps
Von Stefan Brendle im ImPrint Verlag bisher erschienen:
Als Dritter war Burdanowski im Hafen von Los Cristianos auf Teneriffa mit seinem Mietwagen in die laut Plan um 8.45 Uhr startende Armas-Autofähre »Volcán de Taburiente« eingefahren und nach einer starken Stunde Überfahrt – Burdanowski stand die meiste Zeit seitlich an der Reling, in Gischt und angenehm kühlem Wind – checkte er als Erster im Hafen von San Sebastián auf La Gomera aus. Burdanowski fuhr an Hafenarbeitern, wartenden Fahrzeugen, kontrollierender Guardia Civil und am Hafenterminal vorbei, am Fuß eines steinbruchartig felsigen Bergs scharf links und eine breite Straße am Yachthafen entlang und dann in einer weiten Linkskurve – rechts begann der Häuserhaufen von San Sebastián, links der Strand und beide zogen sich geschätzt einen halben Kilometer hin bis zu einem schroff ins Meer abfallenden Bergrücken – vor zu einem kleinen Kreisverkehr. Nach dem Kreisverkehr hinter einem stinkenden Kleinlaster her, fuhr Burdanowski über eine Brücke und dann parallel zur Strandpromenade immer weiter geradeaus, bis er vor mehreren Gebäuden unterhalb des Bergrückens dem Kleinlaster und der Fahrbahn ums Ende des mit hohen Sträuchern bepflanzten Mittelstreifens herum folgte. Eine verschrankte Zufahrt ermöglichte ihm den Blick auf den rechts bis zum Bergrücken reichenden Strand und durch eine zweite Zufahrt sah er einen zwischen drei Staffeleien emsig tätigen und von einem Pulk Touristen belagerten weißhaarigen Alten. Burdanowski quetschte die Schnauze des Ford Focus zwischen zwei die Promenade begrenzende Container und einen verbeulten roten Renault Express, der im offenen Teil der ansonsten durch Steinbrocken versperrten zweiten Zufahrt parkte, stellte den Motor ab, löste den Sicherheitsgurt, setzte sich bequem, kramte in seiner Gürteltasche, entnahm ihr einige Papiere, schaute sie durch, kramte erneut in der Tasche, grinste, zuckte mit den Schultern, steckte die Papiere zurück in die Tasche und zog sein Mobiltelefon heraus. Burdanowski wählte die gespeicherte Nummer der Frankfurt-Filiale der Kalkbrenner Detective GmbH, es läutete zweimal und dann hatte er auch schon Sabrina, die Sekretärin, an der Strippe.
»Na, Cowboy?«, fragte sie mit ihrer glockenhellen Stimme.
»Yep.«
Sabrina lachte. »Lass mich raten: Lech Burdanowski hat schon wieder dieses radikal kritische Philosophenzeugs gelesen und jetzt kann er seine allerneuesten Notizen nicht mehr finden.«
»Zum Bücherlesen bin ich kaum gekommen in letzter Zeit, aber du hast Recht, die Notizen sind weg.«
»Na ja«, sagte Sabrina spitzig, »vielleicht wirst du auch ganz einfach alt – die Fünfzig sind ja nicht mehr fern.«
Burdanowski, im Rückspiegel einen schnellen Blick auf seine halblangen braungrauen Haare und den weißbraunen Stoppelbart werfend, grinste ein weiteres Mal. »Jetzt komm, ein kleines Pläuschchen ist ja auch nicht schlecht, du unterhältst dich doch gern mit mir und den letzten Fall auf Teneriffa drüben hab ich ja wohl zufriedenstellend gelöst.«
»Stimmt, alle sind sie schwer beeindruckt.«
»Moment mal!«
Burdanowski schaute nach hinten. Zwei oder drei Fahrzeuge waren ohne Probleme an seiner Karre vorbei gefahren, aber jetzt beharrte ein Sonnenbebrillter in einem gelben Citroën auf Halten und Hupen. Burdanowski legte das Handy auf den Beifahrersitz, ließ den Motor an, fuhr, so gut es ging, einen halben Meter weiter vor, stellte den Motor ab, öffnete, während der Citroën-Mann erneut hupend und voll aufs Gas tretend vorüberrauschte, die Fahrertür, griff sich das Handy vom Beifahrersitz, setzte die Füße ins Freie, stützte die Ellbogen auf den Schenkeln ab und hielt sich das Handy wieder ans Ohr.
»Übrigens, der Verkehr am Hafen und auch am Strand hier ist zwar noch recht dicht, aber irgendwie hat man tatsächlich das Gefühl, dass die Uhren auf La Gomera ein wenig langsamer ticken.«
»Dass ich dir das gesagt habe, hast du nicht vergessen.«
»Nein, und auch nicht, dass es dir deine Freundin Marion gesagt hat.«
»Die ist nun leider momentan nicht auf den Kanaren«, sagte Sabrina spöttisch, »aber dafür kannst du’s diesmal ja wirklich ruhiger angehen lassen, erst mal ein bisschen wandern und so.«
»Genau, denn zum Wandern hat’s mir auf Teneriffa beim besten Willen nicht gereicht.«
Sabrina räusperte sich. »Okay, Meisterdetektiv, was willst du wissen?«
»Na ja, um Künstler geht’s diesmal, um Künstler in der Krise, das hab ich mir gemerkt. Und dort unten, so ziemlich am hinteren Ende des Strands von San Sebastián, den ich fürs morgendliche Schwimmen genauer unter die Lupe nehmen wollte, hab ich auch schon einen gesichtet.«
»Gut«, sagte Sabrina fröhlich, »dann verklickere ich dir jetzt das Wesentliche noch einmal – langsam, zum Mitschreiben.«
»Muchas gracias.«
»Also, Alexander Reiffler, ein ehemals nahezu mittelloser Künstler, ist trotz Krise zu Geld gekommen, viel Geld. Und jetzt, endlich, kann er sich unsere Dienste, die Dienste einer Detektei, leisten, um eine offene Rechnung mit einem unter anderem auf La Gomera in einer Künstlerkolonie in Epina, oben an der Straße nach Alojera, ansässigen Künstler namens Gerd Stillkrauth zu begleichen.«
»Künstler unter sich.«
»Reiffler will Stillkrauth aber nicht wegen der alten Sache belangen, die er ihm wie ein Elefant nachträgt, nein, Reiffler hat vage Informationen über aktuelle krumme Geschäfte Stillkrauths und nun löchert er die Detektei, dass sie entsprechend gegen Stillkrauth recherchiert, denn diese aktuellen Geschäfte, so vermutet Reiffler, sind wirklich krumm genug, um Stillkrauth für lange Zeit in den Knast zu bringen.«
»Reiffler will kein Geld von Stillkrauth, er will ihn im Knast.«
»Genau. Und was wir nun bisher über Stillkrauth rausgekriegt haben, ist unter anderem Folgendes: Stillkrauth hat zunächst gutes Geld verdient mit seiner Malerei, einen entsprechenden Lebenswandel kultiviert, Frauen, teure Hobbies, und in seiner besten Zeit hat er sogar auf einer Akademie den Professor gemacht.«
»Dann die Krise.«
»Ja, dann die Krise, das mit dem Geld, das er dringend braucht, um es mit vollen Händen auszugeben, auch für Stillkrauth nicht mehr ganz so einfach, er lässt sich und seine Projekte zunächst verstärkt sponsern, tritt nicht nur im Fernsehen auf, sondern macht geradezu den Medienkasper und startet, indem er eine Art Agentur betreibt, unlautere Geschäfte mit Kunst und Künstlern.«
»Denen dann unter anderem auch Reiffler zum Opfer fällt.«
»Ja, und laut Reiffler ist Stillkrauth dann während eines ersten Südamerikaaufenthaltes in wirklich krumme Geschäfte eingestiegen, Reiffler vermutet mit Drogen vor allem, die Geschäfte mit Kunst und Künstlern hat Stillkrauth dann kurzerhand gestrichen und seine mediale Präsenz zurückgefahren, sponsern lässt er sich aber nach wie vor und hat, wie Reiffler erfahren haben will, sogar zwei seiner deutschen Sponsoren dazu gebracht, in seine Südamerikageschäfte zu investieren.«
»Eine echte Begabung.«
»Wie Reiffler ganz sicher zu wissen glaubt, befindet sich Stillkrauth gerade mal wieder auf La Gomera, zur traditionellen Kunsttagewoche in der Kolonie, die ist immer ab dem Dritten dieses Monats, dem Gründungstag der Kolonie, und heute ist zwar der letzte Tag dort, aber wenn wir Glück haben, reist ja Stillkrauth nicht gleich morgen wieder ab und da du dich ja auch noch auf den Kanaren aufhältst, haben wir uns gedacht, kannst du ja, bevor du den Rückflug antrittst ins schöne Deutschland, auch noch bei den Künstlern auf La Gomera vorbeischauen und sehen, was sich da so rauskriegen lässt.«
»Dann sehen wir mal.«
»Hast du alles mitgeschrieben?«
Burdanowski lachte. »Nein, ich hab’s jetzt im Kopf. Nur um den Ort mit der Künstlerkolonie mach ich mir auf der aktuellen Wanderkarte, die ich mir noch kaufen muss, einen roten Kreis.«
»Wie gesagt, Epina heißt das Kaff und oberhalb von Alojera liegt es, falls du’s dir nicht doch aufschreiben willst, bevor du deinen Kreis malen kannst.«
Burdanowski lachte erneut. »Okay, Sabrina, danke, und sonst wie immer, wenn ich noch was brauch, ruf ich bei euch an.«
Burdanowski machte das Handy aus, verstaute es in der Gürteltasche, drehte am Autoschlüssel, ließ das Seitenfenster hoch, drehte den Schlüssel zurück und zog ihn ab, griff auf dem Beifahrersitz nach seiner Baseballkappe und dem zwanzig Jahre alten La-Gomera-Reiseführer, den ihm eine nette Touristin auf Teneriffa geschenkt und in dem er während der Überfahrt, an der Reling stehend, geblättert hatte, stieg aus, warf die Fahrertür zu, schloss ab, steckte den Autoschlüssel erst in eine Tasche seiner Shorts, aber dann doch wie auch den Reiseführer in die Gürteltasche, schob die Baseballkappe in den Hosenbund und dann spazierte er in seinen leichten Wanderstiefeln die Zufahrt runter und über den erst grau kiesigen und dann braun sandigen Strand vor zum alten Künstler, dessen gegenwärtige Belagerung sich gerade, zumindest zum Teil, aufzulösen schien.
Drei Zuschauer im Badedress schlenderten ab in Richtung Meer und zwei im Wanderoutfit, augenscheinlich ein älteres Ehepaar, er mit schwerem Feldstecher um den Hals, sie mit prallem Rucksack auf dem Rücken, kamen, laut deutsch sprechend, Burdanowski entgegen.
»Frechheit, das da. Der Kerl legt den Hut aus und pappt 20-Euro-Scheine in sein Geschmiere«, sagte der Feldstechermann und schüttelte den Kopf.
»Der Hut da liegt nicht aus, der liegt nur da«, sagte die Rucksackfrau mit entschuldigendem Seitenblick auf Burdanowski.
»Aber die beiden Scheine, Petra, ich sag dir, die sind echt!«
Vier weitere Zuschauers standen noch herum, in T-Shirts und kurzen Hosen, zwei jüngere Frauen und zwei jüngere Männer, alle dünn und mit Brillen auf der Nase, aber auch sie nun offensichtlich im Aufbruch begriffen und auch sie deutsch sprechend, jedoch eher leise, und dabei kurz den Neuankömmling musternd.
»Man könnte meinen, der Strand hier und der Berg dort seien zu sehen, auf allen drei Bildern, aber dann auch wieder nicht«, sagte die kleinere der beiden Frauen.
»Beeindruckende Collagen jedenfalls – und tolle Farben«, sagte der größere der beiden Männer.
»Und alles wirkt wie ein Sog, ein Sog, der einen mitreißt«, sagte die größere der beiden Frauen.
»Mitreißt, mitreißt, aber nicht verschluckt«, sagte der kleinere der beiden Männer.
Auch die vier machten den Abgang, diesmal links den Strand entlang, und Burdanowski, jetzt allein hinter Kunst und Künstler stehend, trat noch einen Schritt vorwärts.
»Hola.«
Der Alte, weiße strähnige Haare, weißer stoppeliger Bart und alles, was an Haut im hageren Gesicht und am sehnigen Körper zu sehen war, braungebrannt und wie das verwaschene T-Shirt, die löchrige Kniehose und die Sandalen über und über farbbekleckert, war mit zwei Pinseln zugleich zwischen den drei Staffeleien in Aktion. Kurz betrachtete er Burdanowski aus den Augenwinkeln, dann musterte er den außer einem ausgefransten Strohhut, Malutensilien, einer kleinen Werkzeugkiste und einem einfachen 510er Mora-Messer auf mehreren Plastiksäcken auf dem Boden ausgebreiteten Müll, stellte die Pinsel neben der abgelegten Farbpalette in ein schmutziges Glas, griff sich einen löchrigen Dosenrest aus dem Müllsortiment und eine Tube mit Klebstoff aus der Werkzeugkiste, schraubte die Tube auf, verpasste dem Dosenrest ordentlich Klebstoff, stülpte ihn über einen der Drähte, die überall aus den in allen Farben leuchtenden Collagen ragten, trat etwas zurück, warf einen prüfenden Blick erst auf den gut haftenden Dosenrest, dann auf alle drei Bilder und schließlich erwiderte er Burdanowskis Gruß.
»Buenos.«
Burdanowski, nachdem auch er einen prüfenden Blick auf die Bilder geworfen hatte, fuhr auf Spanisch fort: »Na, dann die berühmte Frage: Was ist das, was stellt das dar?«
Der Alte schaute nochmals prüfend auf sein Werk, dann ebenfalls prüfend auf Burdanowski und dann, anscheinend mit allem halbwegs zufrieden und im Unterschied zu Burdanowski in muttersprachlichem Spanisch sprechend, sagte er: »Das ist Kunst, caballero, Kunst, die sich selbst überwindet. Und das, was das darstellt, ist nicht das, was das ist.«
Burdanowski grinste. »Hört sich gut an, so nach cultura.«
»Cultura?« Der Alte kratzte sich den Bart und dann schüttelte er den Kopf. »Der Kapitalismus, wenn du weißt, was ich meine, der Kapitalismus hat keine cultura. Hatte er nie. Im Kapitalismus, wo auch immer auf dieser Welt, geht’s ganz hohl und leer um Wert und Geld – und sonst gar nichts.«
Burdanowski nickte. »De acuerdo. Und darauf willst du mit deiner Kunst hier dann raus?«
»Auch. Lässt sich ja nicht vermeiden. Aber zunächst mal darauf, dass sozusagen eine Rückverwandlung ansteht, nachdem alles und jedes in Geld verwandelt wurde, in Geld und in Warenschrott. Und Rückverwandlung, die setzt Rückbesinnung voraus, kritische Rückbesinnung.«
»Kritische Rückbesinnung, aha.«
»Si, kritische Rückbesinnung, kritische Rückbesinnung auf Geschichte, kritische Rückbesinnung auf das, was war: Alles, was einem da dann so unterkommt, gegen den Strich bürsten – gegen den Kommerz, gegen die Beliebigkeit der Warenwelt, gegen die Schönfärberei.«
Der Alte schraubte die Klebstofftube zu, verstaute sie in der Werkzeugkiste, griff sich die Farbpalette und einen der im Glas stehenden Pinsel, blinzelte in Richtung Sonne und dann warf er einen schnellen Blick rundum.
»Hier auf den Kanaren, hier ging die Neuzeit los, von hier aus, sag ich dir, haben sie die Geldmacherei dann so richtig gestartet – weltweit. Hier, an den Ureinwohnern, den Guanchen, da haben sie im Kleinen schon mal geübt für Amerika und von hier, von La Gomera, von San Sebastián aus ist dann auch Kolumbus, der verdammte Drecksack, endgültig in See gestochen.«
»Verdammter Drecksack?« Burdanowski lachte. »›Verdammter Drecksack‹ ist gut. Das erste, was ich hier in San Sebastián nach einem Bad im Meer und dem zweiten Frühstück tun wollte, war den Brunnen anschauen, aus dem er, so steht’s in meinem Reiseführer, sein Wasser für den folgenden Transatlantiktrip geschöpft haben soll.«
Der Alte schüttelte den Kopf. »Kein Problem. Der Laden, das alte Zollhaus, das sie im 17. Jahrhundert um den Brunnen rum gebaut haben, ist offen bis um Eins. Und Eintritt frei.«
»Na, immerhin.«
Erneut blinzelte der Alte in Richtung Sonne.
»Pass auf, ich mach dann jetzt Schluss hier, das Licht wird zu grell.«
Mit dem Pinsel wies der Alte rüber zum verbeulten Renault Express.
»Ich packe mein Zeug in meine Karre dort, fahr die Straße vor bis etwa zur Brücke über den Rio San Sebastián und dann geh ich in der Dulceria Mendoza einen Kaffee trinken. Die Dulceria kannst du, wenn du über die Plaza de las Américas zur Plaza de la Constitución und zum alten Zollhaus gehst, nicht übersehen und ich kann sie dir, falls du bisweilen auch Süßes magst, zum zweiten Frühstück nur empfehlen.«
»Muy bien«, sagte Burdanowski, »dann lass ich das Schwimmen heute mal ausfallen, fahr auch bis da vor, geh erst kurz zum Brunnen und anschließend in die Dulceria.«
Vom alten Künstler, den Weg betreffend, noch etwas genauer instruiert, fuhr Burdanowski die Straße an der Promenade entlang zurück, parkte kurz vor der Brücke, warf, diese als Fußgänger in mittlerweile recht drückender Hitze überquerend, nach beiden Seiten einen Blick auf Meerwasserlachen im breiten, ausgetrockneten Flussbett, passierte eine gut besuchte, verglaste Bar und eine Ansammlung festinstallierter rotgelber Trainingsgeräte für Kinder und Erwachsene und spazierte, Blick rechts auf Strand, Hafen und Mole, die Promenade vor bis zum kleinen Kreisverkehr. Burdanowski trabte über die Straße, spazierte weiter unter flachkronigen, rotblütigen Bäumen die sich an zwei Seiten um die Plaza de las Américas ziehende Mauer entlang, schaute zwischen ein paar auf der Mauer sitzenden Touristen hindurch über die mäßig belebte Plaza hinweg aufs große Dulceria-Mendoza-Schild über den drei Türen eines einstöckigen gelben Flachdachgebäudes, folgte am oberen Ende der Plaza einer Reihe von Läden und Lokalen in den Erdgeschossen eines Hochhauses und anschließenden kleineren Hauses bis zu deren rechter Ecke und schaute von dort über eine Straße auf die Plaza de la Constitución und das sich links an die Plaza anschließende alte Zollhaus, ein gelbweißes Eckgebäude mit abgeblättertem Putz und an der Ecke sichtbar gelassenen Steinen, wiederum einstöckig, diesmal jedoch ziegelgedeckt und mit dem niederen Dach an die Wände höherer Gebäude stoßend. Burdanowski überquerte die Straße, genoss eine Weile den Schatten und einen überraschend kühlen Wind unter den riesigen Lorbeerbäumen auf der Plaza de la Constitución und dann ging er über die schmale Querstraße rüber zum alten Zollhaus und betrat durch das zur Hälfte offenstehende Tor den mit Platten und Steinen gepflasterten Torraum. Burdanowski warf einen Blick auf die Infotafeln links und rechts an den weiß getünchten Wänden, eine davon mit Kolumbus-Konterfei, und dann trat er durch das Innentor erst auf einen überdachten, den Innenhof auf drei Seiten umlaufenden gepflasterten Gang und von dort mit ein paar Schritten an den berühmten Brunnen vor einer krummen Palme in der Mitte des gepflasterten Hofs. Burdanowski schaute übers umlaufende Gitter weg ins rundgemauerte Brunnenloch, wo in etwa zwei Meter Tiefe ein Aststück bewegungslos in einer braunen Brühe schwamm, und dann ging er zurück auf den Gang und durch eine offene Tür in den nur mit weiteren Infotafeln und einem kleinen Fenster versehenen Raum neben dem Torraum und von dort über die knarrenden Holzdielen und durch eine offene Innentür in den anschließenden Eckraum, dieser jetzt mit je einem größeren Fenster an den Außenwänden und zur Ergänzung der Infotafeln an den Wänden in der Mitte des Raums mit einem Schiffsmodell der Santa Maria im Glaskasten ausgestattet. Burdanowski setzte sich erst auf die eine und dann auch auf die andere der beiden unter den Fenstern in die hölzernen Rahmen eingelassenen Sitzbänke, umkreiste einmal das Schiffsmodell, ging durch die Tür neben der Innentür wieder raus auf den Gang und von dort durch die nächste Tür in den Informationsraum. Burdanowski griff sich zwei La-Gomera-Faltblattkarten aus einem Plastikständer auf der Infotheke, hinter der ein fleißiger Bediensteter irgendwelche Formulare ausfüllte, warf noch einen Blick rechts in den abgeteilten Büroraum und dann ging er an den beiden gerade eingetretenen Touristen vorbei durch die Außentür raus auf die Straße. Sich umdrehend, schaute er zurück durch die Tür und dann links die Straße runter, wo ihm vorm übernächsten Haus in der Reihe Ständer mit Postkarten ins Auge fielen. Burdanowski schlenderte zu den Ständern, die auch Karten und Bücher enthielten, zog sich eine preiswerte La-Gomera-Touring-Map, eine weniger preiswerte La-Gomera-Tour&Trail-Map und einen Kompass-Wanderführer La Gomera heraus, zahlte im Laden und dann, den Einkauf und auch die beiden Faltblattkarten in einer kleinen Plastiktüte verstaut, spazierte er zurück und am alten Zollhaus und an der Plaza de la Constitución vorbei zum gelben Flachdachgebäude. Vor dessen Vorderfront stehend, blickte er kurz hoch zum großen Schild über den drei offenen Türen und dann erwiderte er das Lächeln der hübschen Kellnerin, die, halblange, dunkle Haare, knappes Trägerhemd, kurze Jeans und braune schlanke Beine, hinter den fünf unbesetzten Blechtischen unter der zerrissenen türkisfarbenen Markise im Rahmen der rechten Tür lehnte und halblauter Popmusik aus den 70er Jahren lauschte, die aus dem Inneren der Dulceria ertönte. Burdanowski setzte sich in einen der mit blauen Plastikschnüren bespannten Metallrohrsessel an einen der Blechtische, nahm Karten und Wanderführer aus der Plastiktüte und legte alles, auch die Tüte, auf den Tisch und dann schaute er der Dunklen entgegen, die sich mit leichtem Hüftschwung und auf klappernden Holzsohlen zu ihm in Bewegung gesetzt hatte. Burdanowski bestellte eine Dose Cola light, einen Cortado leche leche und – auf Empfehlung des Hauses – ein großes Stück Torta bilana, öffnete die La-Gomera-Touring-Map, schloss sie wieder, blätterte im Wanderführer, bekam sein Cola, seinen Milch-und-Milch-Kaffee und auch den Kartoffel-Mandel-Rosinen-Kuchen, trank und aß in Ruhe, blätterte erneut im Wanderführer und hatte bereits bezahlt und wollte gerade gehen, als der Alte, diesmal mit Strohhut auf dem Kopf, vor ihm am Tisch stand.
»Tut mir leid«, sagte er, »bin aufgehalten worden. Erst wollte ich nur kurz noch was korrigieren, aber dann konnte ich mich, wie das so ist, nicht mehr losreißen.«
»No hay ningún problema«, sagte Burdanowski.
Der Alte gab der Kellnerin ein Zeichen, warf einen Blick auf den Wanderführer und die Karten auf dem Tisch, drehte sich eine der La-Gomera-Faltblattkarten in Leserichtung, drehte sie zurück, schaute kurz rüber zum alten Zollhaus und dann setzte er sich Burdanowski gegenüber an den Tisch.
»Gut« sagte er, »das Casa de Aduanas hast du abgehakt, jetzt fehlt dir noch der Torre.«
»Der Torre?«
Mit dem Daumen deutete der Alte über die Schulter. »Si, der Festungsturm dort hinter den Häusern im Park. Geschichtlich wichtig, sehr wichtig: Feuerwaffen zum einen, Festungen zum anderen. Dafür haben sie dann Geld gebraucht, und zwar viel Geld, mehr Geld als jemals zuvor. Und so wurde dann das mit dem Geld, wie man es heute so kennt, losgetreten – und zwar richtig.«
»Aha. Und Kolumbus?«
»Kolumbus? Na ja, auch der wusste, dass die Erde rund ist, wie jeder mit ein bisschen Bildung damals. Und irgendwann, der Landweg ins gewinnträchtige Asien war durch die Türken, der Seeweg um Afrika rum durch die Portugiesen blockiert, da hat er’s geschafft: Das spanische Königspaar finanzierte ihm seinen speziellen Segeltörn, dazu gab’s noch zehn Prozent vom Gewinn, die Gouverneursherrschaft über neu entdeckte Gebiete und den Titel eines Admirals des Ozeans. In seinen Berichten dann jede Menge religiöses Blabla, aber die Frage, die ihn am meisten interessierte, war: Wo ist das Gold? Ja, und demgemäß hat er in der Neuen Welt dann auch gehaust.«
Die hübsche Dunkle kam ein weiteres Mal herangeklappert, sagte lächelnd »Hola«, stellte einen Café solo vor den Alten und strich ihm mit dem Handrücken über die bärtige Wange. Der Alte sagte ebenfalls »Hola«, riss die Zuckertüte auf, rührte den Zucker in seinen Kaffee und dann tätschelte er der Dunklen das pralle Hinterteil in den engen Jeans.
Grinsend verstaute Burdanowski den Wanderführer und alle Karten in der kleinen Plastiktüte und dann rückte er mit seinem Sessel zurück.
»Na gut, dann will ich mal nicht länger stören, hab noch einiges vor heute.«
Burdanowski, Blick erst auf die Dunkle und dann auf den Alten, erhob sich.
»Wenn man sich für Kunst interessiert, in Epina bei Alojera soll’s ja eine größere Künstlerkolonie geben. Schon mal was gehört davon – oder lebst du am Ende auch dort?«
Der Alte, Burdanowski betrachtend, hatte seinen Strohhut auf den Tisch geworfen und sich im Sessel ausgestreckt.
»Si, davon gehört, si, aber in einer Künstlerkolonie leben – ich?«
Der Alte schüttelte den Kopf.
»Seit ich aus Venezuela zurück bin, wohne ich in Pavón, links oben in einem kleinen Haus. Allein. Hat meinem verstorbenen Bruder gehört, das Haus, und davor meinem Großvater. Alter Familienbesitz, sozusagen. Wenn du mich mal besuchen willst, frag einfach nach Lorenzo, kein Problem, auf der Insel hier kennt jeder jeden und ich bin zudem in der ganzen Gegend dort bekannt wie ein bunter Hund.«
Burdanowski nickte.
Gemächlich verschränkte Lorenzo die Hände im Nacken. »›Künstler gedeihen nicht in Kolonien. Ameisen eher.‹«
»Das ist gut.« Burdanowski grinste breit.
Auch Lorenzo grinste jetzt. »Das ist nicht von mir. Das ist von Henry Miller.«
Zurück bei seiner Karre, setzte sich Burdanowski hinters Steuer, steckte den Schlüssel ins Schloss, drehte ihn nach rechts, ließ die linke Seitenscheibe runter, nahm eine der Faltblattkarten aus der Plastiktüte und verstaute die Tüte mit den restlichen Karten und dem Wanderführer im Handschuhfach. Burdanowski öffnete die Faltblattkarte, suchte und fand erst Alojera und dann Epina, machte zur schnellen Orientierung und in Ermangelung eines Rotstifts mit dem Kugelschreiber aus seiner Gürteltasche einen blauen Kreis ums Künstlerkaff und legte nach einem kurzen Strecken- und Distanzcheck – nur ungefähr fünfzehn Kilometer Luftlinie von San Sebastián im Osten nach Epina im Nordwesten der kleinen und fast runden Insel – die offene Faltblattkarte auf den Beifahrersitz. Burdanowski startete, fuhr über die Brücke, dann rechts am trockenen Flussbett entlang bis zu einem Kreisverkehr, von dort links wieder über eine Brücke und durch einen weiteren Kreisverkehr und dann im Bogen erst links und dann rechts raus aus San Sebastián, die Carretera principal GM-2 in Richtung Playa Santiago, Parque Nacional de Garajonay, Valle Gran Rey und Alajeró. Bei überraschend wenig Verkehr fuhr Burdanowski auf dem breiten, dunklen Band der wie neu wirkenden Straße in weiten Kurven und steilen Kehren die braungelben Berghänge hinauf, vor einem umzäunten, verlassen erscheinenden Containerbarackenlager auf einem kahlen Bergrücken hoch über dem Meer an einem mit zwei Mann besetzten Geländewagen der Guardia Civil vorbei und dann immer weiter zwischen brachliegenden Terrassenfeldern, aufragenden Felsen und überall im Gelände verstreuten Palmen hindurch. Burdanowski ließ ein hinter einem Parkplatz in einem auffällig an den Steilhangrand gebauten Haus befindliches Restaurant mit dem Namen »Degollada de Peraza« links liegen, fuhr die jetzt von mannshohen Sträuchern gesäumte Straße weiter, passierte den Abzweig der GM-3 nach Playa Santiago, parkte, nachdem er, der Straße folgend, um einen links die Straße eindrücklich überragenden Felsturm gebogen war, rechts auf einem Parkplatz, ging über die Straße und schaute zwischen einem Metallmonument rechts und dem Felsturm links runter in ein tiefeingeschnittenes Tal, in das ein ausgeschilderter Fußweg abging: Benchijigua 2,7 km, Playa de Santiago 12,4 km. Burdanowski fuhr weiter, am Mirador de Los Roques, am Abzweig nach El Cedro und Hermigua und am Mirador de Tajaqué vorbei und dann – die Sonne war plötzlich von dunklen Wolken bedeckt – folgte er nach einem Kreisverkehr der Straße rechts in Richtung Valle Gran Rey und Vallehermoso. Burdanowski passierte einen Weg hoch zum Gipfel des Garajonay, dann La Laguna Grande und den Abzweig in Richtung Las Hayas und Chipude und schließlich fuhr er – bei leichtem Nieselregen jetzt – auf der GM-3 in Kurven und Kehren durch den Wald abwärts in Richtung Vallehermoso. Burdanowski schaute links auf Schluchten und Meer, fuhr am Weg zu den Quellen von Epina und an einem zweistöckigen Lokal vorbei und dann – mittlerweile kein Regen mehr, aber dafür dichter Nebel – bog er nach einer Rechtskehre links weg auf die Nebenstraße in Richtung Taguluche und Alojera. Rechts lag ein mehr zu vermutendes als zu erkennendes Tal, links erhoben sich steinbruchartige rote Felsen, nach einer leichten Linkskurve umfuhr Burdanowski mehrere Steinbrocken, die auf der Straße lagen, und dann, nach einer scharfen Linkskehre, kurvte er gemächlich abwärts, links jetzt steiler, bewaldeter Berg, rechts das Tal, und dann, rechts, im Ansatz einer Rechtskurve, konnte er im Nebel den Beginn einer Reihe geparkter Fahrzeuge erkennen, links eine Bushaltestelle mit natursteingemauertem Wartehäuschen und sperrig mitten auf der Straße zwei gescheckte Ziegen, die ihm, sich nicht von der Stelle rührend, neugierig entgegen sahen.