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Lech Burdanowski, hartgesottener Privatdetektiv, Ex-Bulle und Karateka, räumt auf, inmitten einer aus dem Ruder laufenden Krisenwelt, in der es nur noch um eins zu gehen scheint - um Geld, und zwar um jeden Preis. Unübersehbar und alle Bereiche betreffend, sind die Wirkungen der globalen ökonomischen Krise auch im Alltag der sogenannten Ersten Welt angekommen. Von einer alten Bekannten um Hilfe gebeten und die Idee vom "guten Leben" im Hinterkopf, bahnt sich Lech Burdanowski, hartgesottener Privatdetektiv, Ex-Bulle und Karateka, seinen Weg durch den Dschungel einer außer Rand und Band geratenen Krisenwelt. Als Zeuge massiver Rationalisierungsmaßnahmen und unbeeindruckt vom verlogenen politischen Gefasel tritt Burdanowski an gegen rechtsradikales Unwesen, gegen Umweltverbrechen und Drogenhandel, gegen Gotteskrieger und Amokläufer, gegen nicht nur korrupte, sondern durch und durch kriminelle Ex-Kollegen und dabei scheut er selbst nicht zurück vorm Deal mit dem organisierten Verbrechen, um seine Ziele zu erreichen.
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Seitenzahl: 327
Veröffentlichungsjahr: 2012
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Stefan Brendle
Kriminalroman
ImPrint eBook, Münster 2012
© 2009 ImPrint Verlag, Mü[email protected]
Umschlaggestaltung unter Verwendung eines Fotos von© Alan Ottley – Fotolia
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-936536-90-4
1
Seinen mittelgroßen austrainierten Körper in den viel zu weichen Ledersessel gefläzt, schaute Burdanowski kurz hoch zum massiven Gebälk der Wohnzimmerdecke und dann rüber zu Claudine Heikenstedt, die barfuß und gebückt zwischen den beiden schnurrenden Katzen stand, einer gelblich weißen und einer schwarzbraun getigerten.
Claudine, die Haare dunkel und halblang, Claudine, sonnengebräunt, sportlich und schlank in ihrem Spaghetti-Träger-Top und den 7/8-Jeans, streichelte den Dachhasen abwechselnd über die Köpfe.
Burdanowski kratzte sich die grauen Stoppeln unterm Kinn.
»Na ja, Claudine«, sagte er, »wenn es Rechte waren, wenn es Glatzen waren, die es auf deinen Alten als Grünen oder auch Ex-Grünen abgesehen haben, einfach so, dann ist unser Fall hier ein Fass ohne Boden. Wenn dich dein unbestimmtes Gefühl nicht trügt, wenn er erpresst wird, dein Erzeuger, dann lässt sich vielleicht was machen.«
Claudine richtete sich auf, ihr Blick wanderte zwischen den Katzen und Burdanowski hin und her.
»Sondra und Renée«, sagte sie, »Sondra und Renée werden von Frau Mühlbauer, die meinem Alten hier den Haushalt macht, bestens versorgt. Sondra und Renée sind das Freilaufen gewohnt, ich kann sie nicht mit zum Studieren nach München nehmen. Dort, wo ich wohne, überfährt man sie noch am ersten Tag.«
Claudine fasste Burdanowski scharf ins Auge.
»Ich möchte das verdammte Schwein zur Rechenschaft ziehen, das Bruce die Kehle durchgeschnitten und ihn meinem Alten vor die Haustür gelegt hat. Und vor allem möchte ich Sondra und Renée hier vor weiteren Anschlägen schützen!«
Claudine musterte Burdanowskis Outfit: das fadenscheinige T-Shirt mit der Knopfleiste ohne Knöpfe, die ausgebleichten Kord-Jeans, die leichten, zerschrammten Bergstiefel an seinen Füßen und die verwaschen grüne US-Feldjacke neben dem Ledersessel auf dem Boden.
»Aber, Lech, wie ich dich kenne – nur wegen einer Katze mehr oder weniger bist du hier ganz sicher nicht aufgekreuzt. Du bist nur gekommen, …«
»… um dich mal wieder zu sehen.« Burdanowski lehnte sich noch weiter zurück und faltete die Hände hinter dem Nacken. »Klar, vor allem um dich mal wieder zu sehen. Und um nachzuschauen, was deine Selbst- und Sinnsuche so macht – und vor allem deine ›schwierige Beziehungskiste‹.«
Burdanowski bleckte die weißen Zähne. Claudine strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn und schaute zum Panoramafenster raus in die Sonne.
»Meine ›schwierige Beziehungskiste‹, meine Beziehungskiste von vor zwei Jahren – die hat sich erledigt.« Claudine fasste Burdanowski wieder scharf ins Auge. »Aber du, du bist nur gekommen, weil du auch hier mit deinem abgeschabten Rucksack, der garantiert bei dir im Auto liegt, auf deine blöden Berge kraxeln kannst. Die bayerischen Alpen hier, die sind zwar nicht die Rockies, und Rothäute gibt es hier auch keine – aber ein kleiner Trip nach Oberbayern ist auch für dich immer noch billiger als der billigste Billigflug in die USA.«
Claudine stemmte die Fäuste in die Hüften und drückte den Busen raus.
»Ja, ja, der Herr der Berge! In aktiver Gleichgültigkeit gegenüber dem eigenen Tod sucht und findet es sich selbst, das männliche Subjekt! Die unbezwingbare Schicksalsmacht der Berge bezwingt es, dieses Subjekt, und in eigener Inszenierung! In seiner unbedingten Willenskraft erlebt es sich – und dann schwelgt es im großartigen Gefühl: Ich, ja, ich – ich hab mal wieder überlebt!«
Burdanowski betrachtete sein zerschrammtes Schuhwerk.
»Na ja, was das Überleben anbelangt, da macht der Alltag wohl schon Mühe genug.« Burdanowski kratzte sich erneut die Stoppeln unterm Kinn. »Ja, und wenn es mich dann in die Berge zieht, dann geht’s mir vor allem um frische Luft, meine Ruhe und vielleicht um ein paar Katas auf dem Gipfelgrat: Unsu, Gojushiho-Dai, Gojushiho-Sho.«
Claudine nickte wissend.
»Ja, genau, da oben, da kannst du dann den Alm-Öhis Karate beibringen – wie vor zwei Jahren den Navajos am San Juan River.«
Claudine ging in Vorwärtsstellung und versuchte es mit einem Gegenfauststoß.
»Da – ich kann auch noch was!«
Burdanowski beugte sich vor und stützte die Ellbogen auf die Knie.
»Ja, nicht schlecht«, gab er zu, »aber mehr aus der Hüfte – die Hüfte richtig rausdrehen!«
Ein Schlüssel fuhr ins Haustürschloss.
Claudine erhob den Zeigefinger: »Aha, mein Alter – er kommt.«
Claudine hatte in einen weiten Grätschstand gewechselt und jetzt beugte sie das linke Knie und saß auf die Ferse ab.
»Eigentlich hat der ja Urlaub, ein paar Tage. Warum, das weiß er wohl selber nicht. Wenn er hier ist, läuft er nur nervös hin und her. Zum Glück klingelt dauernd sein Handy und sie rufen ihn in die Firma – zur Dauerkrisensitzung, was weiß ich.«
Dietmar Heikenstedt trat durch die offene Wohnzimmertür. Claudine wandte kurz den Kopf und dann wechselte sie den Fersensitz.
»Das ist Lech, Lech Burdanowski jun., der Detektiv, von dem ich dir erzählt habe.«
Claudine federte hoch und schüttelte die Beine aus.
»Ich hab Lech schon ein paar Tipps gegeben. Ich hab ihm gesagt, dass es vielleicht die Rechten waren, die Rechtsradikalen von BACHMÖLLER Hoch Tief, die es auf dich abgesehen haben.«
Heikenstedt schaute runter auf Sondra, die ihm um die Beine strich.
»Ach was, deine Katze!« Heikenstedt winkte ab. »Deine Katze, die hast du beerdigt! Und das mit der Katze, das waren keine Rechtsradikalen, das waren keine Rechten!«
Heikenstedt musterte Burdanowski, der sich zur Begrüßung erhoben und wieder gesetzt hatte.
»Sicher – es lässt sich nur schwer vermeiden, dass rechte Ideologien um sich greifen, bei Arbeitslosen oder bei Leuten, die von Entlassung bedroht sind.«
Heikenstedt fuhr sich mit der flachen Hand über das schneidig geschnittene, schröderbraune Haar und dann rückte er seine Krawatte zurecht.
»Der Blick, der Blick aufs große Ganze – der ist eben nicht leicht zu vermitteln. Es ist schwer für die Masse der Globalisierungsverlierer, die Entlassungen, die der unumgänglichen Umstrukturierung dienen, als notwendig zu verstehen.«
Heikenstedt machte eine bedauernde Geste.
»Aber wo man nichts machen kann, da kann man nichts machen. Und die Gnade des Herrn – sie ist und war schon immer mit denen, die sich ins Unabänderliche fügen!«
Heikenstedt schob Sondra mit dem maßgefertigten Schuh zur Seite und bewegte seinen schlanken Körper rüber zum Panoramafenster. Sein Handy klingelte.
»Das Paradigma der Revolution, das Revolutions-Paradigma – das hat sich ja erschöpft, wie jedermann weiß, der denken kann. Heutzutage, ja, heutzutage – da gibt es keine Alternative mehr zu einer grünen, und das heißt doch: zu einer wirklich klugen Politik der Reformen, zu einer grünen Reformpolitik!«
Heikenstedt hatte das Handy aus der rechten Seitentasche seines wildledernen Trachtenjacketts gefummelt und klappte es auf.
»Krisen, Krisen – die sind dazu da, dass man sie meistert! Das Kapital ist flexibel und anpassungsfähig, Geld ist im Grunde genug da und wartet doch nur darauf, durch kluge Reformprojekte richtig eingesetzt zu werden!«
Heikenstedt bellte ein »Ja, ja, ich komm, ich komm!« ins Handy, steckte es weg, schien einen Moment zu überlegen und dann wandte er sich abrupt in Richtung Burdanowski.
»Aber wie auch immer – was Sie betrifft, Herr … äh … Burdanowski, ich fürchte, Sie verschwenden hier nur Ihre Zeit. Das mit der Katze, das waren keine Rechtsradikalen, nein, das waren keine Rechten! Das mit der Katze, das waren irgendwelche harmlosen Kids aus der Nachbarschaft!«
Heikenstedt hatte es plötzlich sehr eilig. Schon fast durch die Wohnzimmertür blieb er aber doch noch, sich umdrehend, kurz stehen.
»Gewalt bei den Kids heutzutage – man kennt das ja! Videos, Computerspiele! Die Kids, die wollten sich einen Spaß erlauben, ja, die wollten sich einen Spaß erlauben und haben hier irgendein Computerspiel mit der Realität verwechselt!«
Die Haustür kräftig zuschlagend, machte Heikenstedt seinen Abgang. Claudine setzte ihre Karate-Gymnastik fort, sie stand schulterbreit und kippte, drehte und kreiste den Kopf.
»Ja, mein Alter – der stammt aus einem evangelischen Pfarrhaus bei Lüneburg. Und seit Neuestem motzt er die grüne Realpolitik, die er nach wie vor verkündet, mit protestantischem Gequatsche auf. Und seine bayerische Hausburg hier, die dekoriert er mit katholischem Nippes.«
Claudine wies rüber zum strohblumengeschmückten Kruzifix in der Ecke, dann schwang sie die Arme zurück, abwechselnd angewinkelt und gestreckt.
»Ja, ich hab dir das ja schon mal lang und breit erzählt: Mein Alter und meine Alte – früher, ganz früher, da waren die richtig links – mittlerweile aber geht’s nur noch ums Geld.«
Claudine drosselte das Tempo.
»Meine Alte, wie du weißt, meine Alte ist Ärztin: Frau Doktor Doktor. Und meine Alte, die hat in den letzten Jahren eh nur noch sporadisch hier reingeguckt. Und nachdem mein Alter dann in seiner Leib- und Magen-Partei ausgebootet wurde, und zwar richtig, und zudem die scheiß Messesystembaufirma, an der er als Ingenieur prozentual beteiligt ist, immer weniger Kohle abwirft, da hat sie hier endgültig den Abflug gemacht.«
Claudine zog das Tempo wieder an.
»Ja, denn schließlich sei sie hier kein Hausmuttchen, hat sie ihm gesagt, kein Hausmuttchen für einen blöden Versager.«
Claudine schüttelte die Arme aus.
»Eigentlich bin ich ja nur hierher gekommen, zu meinem Alten, um die Katzen mal wieder zu besuchen. Ja, und weil ab morgen in Lenggries ein einwöchiges Selbsterfahrungsseminar angeboten wird, von verschiedenen Therapeuten, unter anderem von Ottmar Plankenhorn – und der ist ja in punkto Selbsterfahrung zur Zeit der absolute Renner.«
Claudine griff sich die maunzende Sondra.
»Gestern Abend, beim Joggen, da hab ich Korbi getroffen, Korbinian Hunsinger, den Prof., den Philosophen und Ethnologen, der mich, wie ich dir ja erzählt habe, auf den New-Mexico-Ethno-Trip vor zwei Jahren gebracht hat.«
Die Katze auf dem Arm, schlängelte sich Claudine zwischen Burdanowski und dem Glastisch durch und warf sich in die Ledercouch.
»Korbi ist mit seinem verbeulten Uralt-Landrover an mir vorbeigefahren, hat angehalten und dann haben wir uns eine halbe Stunde oder so unterhalten.«
Claudine legte die Füße auf den Tisch und streichelte ihre Katze.
»Korbi ist jetzt emeritiert. Und wenn er nicht auf einer seiner vielen Touren ist, dann lebt er oben in seiner Berghütte, wie er das alte Schwaighof-Teil dort nennt, in seiner Pensionärs-Klause. Korbi ist dort jetzt mit Sack und Pack raufgezogen, für ganz.«
Claudine ließ die unruhige Sondra auf den Boden springen.
»Korbi hat’s vor allem mit der Sprache, ich hab dir das ja schon erzählt, mit der Sprache und ihrem Gebrauch. Über das Selbsterfahrungsseminar, über den ganzen Subjektsuch-Quatsch, wie er sagt, hat er laut gelacht und mir mal wieder Wittgenstein zur Lektüre empfohlen, Wittgenstein und Marxsche Theorie.«
Claudines linke Fußspitze zeigte in Richtung Burdanowski.
»Hast du schon mal probiert, sprachanalytische Philosophie zu lesen?«
Burdanowski grinste breit, dann schüttelte er den Kopf. Claudine nahm die Füße vom Tisch.
»Na ja, auf jeden Fall: Korbi hat heute Morgen wieder hier unten zu tun und wir haben uns zum Weißwurstessen verabredet, im ›Sound Stüberl‹, einer linken, oder wohl besser: ehemals linken Szenen-Kneipe. Gute Musik gibt’s dort immer noch, von Zeit zu Zeit: Blues, Cajun, Alpenrock.«
Claudine hüpfte in die Senkrechte.
»Wenn du Lust hast, fahren wir da jetzt hin.« Claudine deutete mit den Armen zwei Abwehrtechniken an, eine obere und eine seitliche von innen. »Ja, und wenn du Glück hast, treffen wir dort auch gleich auf ein paar von den Rechtsradikalen der BACHMÖLLER GmbH. Wie Korbi gehört hat, tauchen die dort jetzt regelmäßig auf, in kleinen Trupps, und dann pöbeln sie dort rum.«
Claudine in ihrem alten Golf und Burdanowski in seinem neuen Skoda Fabia, kämpften sie sich hintereinander durch den morgendlichen Verkehr bis ans andere Ende der Stadt. Auf einem größeren Parkplatz stellten sie ihre Blechhaufen links und rechts neben Hunsingers Landrover und dann querten sie die Straße und spazierten durch das baumstammgefügte ›Sound-Stüberl‹-Tor in den Biergarten vor dem jahrhundertealten bayerischen halb-Holz-halb-Stein-Gebäude.
Es war heiß geworden in der Septembersonne und im Biergarten unter den Bäumen hinter der mannshohen Hecke war es schattig und angenehm. Der Garten war erst mäßig besucht und Korbinian Hunsingers kräftige, braungebrannte Gestalt mit weißem Rauschebart, Lesebrille, Stirnglatze und Stoppelhaarfrisur an dem Tisch unter der ausladenden Linde war unübersehbar.
Hunsinger, zwischen Notebook und Bücherstapel das Weißbier schon vor sich stehend, hatte Claudine über die Brille hinweg entdeckt und hob die Hand mit der Maiskolbenpfeife, die er sich gerade stopfte, zum Gruß. Claudine und Burdanowski schlenderten über den sauber geharkten Kies und nach kurzer Zeit waren sie alle drei mit frischen Weißwürsten, süßem Senf, knusprigen Brezeln und Weißbier versehen und saßen essend und trinkend und sich angeregt unterhaltend um den Tisch – wobei es Hunsinger nicht versäumte, immer wieder in seinen Computer zu hacken.
Gerade schob sich auch Burdanowski, der überaus langsam und bedächtig aß und auch vom Bier nur in kleinen Schlucken trank, den letzten Rest seiner Brotzeit in den Mund, da legte ihm Claudine, mit einer Kopfbewegung zum Tor weisend, die Hand auf die Schulter.
»Na, Lech, wer sagt es denn, heute ist dein Glückstag, heute ist tatsächlich dein Glückstag – dort kommt dein Dessert!«
Drei muskelbepackte Vierschröter, einer mit hochglanzpoliertem Kahlkopf, einer mit öliger Seitenscheitelfrisur und einer mit Wehrmachtsmütze und tätowierten Runen über Backen und Hals, waren durchs Tor getreten, standen jetzt breitbeinig im Garten und warfen herausfordernde Blicke in die Runde.
Der Hochglanzpolierte schaute rüber zu ihrem Tisch.
»Da, Kameraden, dort!« Der Finger des Hochglanzpolierten zeigte auf Claudine. »Dort neben dem Judenbart am Tisch – das Töchterchen von der grünen Sau!«
Gewichtig kamen die Vierschröter über den knirschenden Kies, in knappem Abstand vor dem Tisch blieben sie stehen. Claudine musterte das springerbestiefelte Trio und dann, nach kurzem Blick auf Burdanowski, schüttelte sie den Kopf.
»Ich an eurer Stelle, ich würde das Maul nicht so voll nehmen, heute Morgen schon – das könnte nämlich sonst ganz schön ins Auge gehen!«
Der Hochglanzpolierte und der Tätowierte lachten laut, nur der Seitengescheitelte, die Sprecherin anstarrend, verzog keine Miene.
»Wer redet denn mit dir, keiner redet hier mit dir! Weiber und Kanaken – die halten bei uns das Maul!«
Der Starrblick des Seitengescheitelten wechselte auf den Bücherstapel, den Laptop und dann auf Hunsinger.
»Wir reden nur mit der linken Schwätz-Sau da, dem Judenbart!«
Der Tätowierte nickte zustimmend.
»Ja, mit dem linken Theorieschwätzer da! Und wenn er fertig ist mit seinem Gequatsche, dann schneiden wir ihm den Bart ab, den verdammten Judenbart!«
Die drei Vierschröter im Blick griff Hunsinger nach seiner frisch gestopften Pfeife, die er vor dem Essen zur Seite gelegt hatte.
»Ja, Kameraden, so ist das und so wird das bleiben: Jedes dumme Arschloch, das zu feige ist, auch nur einen wirklich kritischen Gedanken zu denken, das braucht, um all das in Schach zu halten, was es ums Verrecken nicht wissen will, die Projektion eines ›absolut Schlechten‹, eines ›Bösen‹; ja, vor allem in Krisenzeiten, in kapitalistischen Krisenzeiten braucht es die Projektion eines solchen Bösen, eines Bösen, das ganz und gar anders ist und von außen kommt.«
Hunsinger fingerte das Feuerzeug aus der Brusttasche seines ungebügelten kurzärmeligen Hemdes.
»Einfache Untermenschen können als dieses Böse nicht herhalten; es würde ja gegen die Ehre solcher Herrenarschlöcher wie euch verstoßen, von irgendwelchen Kanaken oder Weibern nicht nur wegkonkurriert, sondern im innersten Wesen bedroht zu werden.«
Hunsinger setzte den Tabak in Brand, legte das Feuerzeug auf den Tisch und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück.
»Ja, Kameraden, in Krisenzeiten, in kapitalistischen Krisenzeiten, da legt nicht nur die Bedrohung zu, da will auch der Hass verstärkt projektiv entsorgt sein – der Hass auf die krisenhaft gesteigerte Negativität einer Lebenstätigkeit, die auf Maloche um jeden Preis reduziert ist; und der Hass auf sich selber als feiger, zahnloser Mitmacher. Ja, und dann genügen gewöhnliche Untermenschen als Hassobjekte so wenig wie linke Theorie oder deren Theoretiker; um all das projektiv zu entsorgen, braucht es mindestens eine ›böse Gegenrasse‹, eine ›böse Gegenrasse‹ muss herhalten, eine ›böse Gegenrasse‹ von ›negativen Übermenschen‹ – und die schafft man sich dann in Gestalt der Juden.«
Hunsinger paffte seine Pfeife.
»Ja, das Böse, das Böse ist der Jude – und für diese windelweiche Arschloch-Projektion findet sich ja gerade bei uns hier, bei uns in Alemania, eine herausstechende Tradition, die in ihrer ideologischen Grundlegung zurückreicht bis weit in vorkapitalistische Zeiten.«
Der Seitengescheitelte unterbrach das Starren und bedachte seine beiden Mitstreiter mit kurzem Blick.
»Hat irgendjemand irgendwas von dem, was der da quatscht, kapiert?«
Der Tätowierte kratzte sich hinterm Ohr.
»Was hat der gesagt?«
Der Hochglanzpolierte runzelte die Stirn.
»Hat der was gesagt?«
Der Seitengescheitelte, wieder unverwandt auf Hunsinger starrend, schüttelte den Kopf.
»Wenn der Judenbart nicht so viel Scheiße quatschen würde, die kein anständiger Mensch versteht, dann hätten wir hier kein Problem!«
Nachdrücklich nickte der Tätowierte.
»Ja, Judenbart, hör doch einfach auf mit dem linken Geschwätz! Hör auf damit und rede wie ein normaler Mensch!«
Der Hochglanzpolierte ballte die rechte Faust und war mit dem Spiel seiner Unterarmmuskulatur sichtlich zufrieden.
»Aber reden wie ein normaler Mensch – das will sie nicht, die linke Sau, das will sie einfach nicht!«
Hunsinger, der die Pfeife in seiner Hand betrachtete, schüttelte den Kopf.
»Sofern es mich angeht, Kameraden, ich bin ganz sicher nicht rechts – aber auch nicht links.«
Hunsinger hob den Blick und dann schaute er freundlich von einem muskelbepackten Vierschröter zum anderen.
»Links oder rechts, Kameraden, das ist hier ein politischer Gegensatz; und nicht erst seit heute, wo Politik nur noch als Wirtschaftspolitik läuft, ist man von links bis rechts bedingungslos geil auf Maloche, liegt auf dem Bauch vor ihr und betet sie an. Ja, Kameraden, und wenn sich nun mit den mikroelektronischen Wegrationalisierungspotentialen der dritten industriellen Revolution eure heilige Maloche erledigt, weil sie sich nicht mehr rechnet, dann bedeutet das nicht nur das Ende der Politik, sondern auch das Ende einer ›Linken‹, die die Maloche zum Wesen des Menschen verklärt hat.«
Erneut unterbrach der Seitengescheitelte das Starren und bedachte die Mitstreiter mit kurzem Blick.
»Was hat der Judenbart gesagt? Was hat der jetzt wieder gesagt? Hab ich mich verhört – oder macht der sich tatsächlich über die Arbeit lustig – über unsere Arbeit?«
Der Tätowierte schob sich die feldgraue Mütze ins Genick.
»Verdammt, verdammt – die linke Schwätz-Sau da – in ihrem ganzen Leben hat sie sich noch nie die vornehmen Finger schmutzig gemacht – und jetzt macht sie sich über die Arbeit lustig!«
Der Hochglanzpolierte spuckte auf den Kies.
»Der verfluchte Bildungsprotz – zu fein ist sich der für Dreck an den Fingern, ja, zu fein ist sich der für rechtschaffene Arbeit!«
Scheinbar gedankenvoll rieb sich der Seitengescheitelte über die Stirn.
»Nein, rechtschaffene Arbeit – die hat der Judenbart nicht nötig, da steht der drüber! Ja, da steht der haushoch drüber und sieht runter auf uns – auf uns, auf uns – auf ordentliche deutsche Menschen und ihre ehrliche Arbeit!«
Burdanowski hatte seinen Stuhl nach hinten gerückt und sich langsam erhoben.
»So – Schluss jetzt.«
Burdanowski stellte den Stuhl zurück und dann machte er drei Schritte vom Tisch weg.
»Wie auch immer es der Professor da mit der Arbeit hält – was mich betrifft, ich hab mit Dreck an den Fingern kein Problem.«
Locker und in Rechtsauslage den Vierschrötern zugewandt, zuckte Burdanowski mit den Schultern.
»Also, entweder ihr marschiert jetzt hier im Stechschritt raus – oder es gibt wirklich heute morgen noch gewaltig was aufs Maul.«
Der Seitengescheitelte hatte sich langsam zur Seite gedreht und das Starren auf Burdanowski verlegt.
»Was ist denn das für einer? Wer ist denn das jetzt?«
Die rechte Hand des Hochglanzpolierten machte eine unbestimmte Bewegung.
»Ein Hippie ist das, ein Alt-Hippie. Da, dem hängt das angegraute Gemüse doch schon richtig über die Ohren!«
Der Tätowierte hatte sich Burdanowski gegenüber neu positioniert und jetzt nickte er zustimmend.
»Ja, und rasiert hat der sich auch schon lange nicht mehr, mindestens eine Woche!«
Der Seitengescheitelte wechselte ebenfalls die Stellung, machte einen großen Schritt nach links, und dann schüttelte er den Kopf.
»Nein, das ist kein Hippie – schaut euch doch seinen verschissenen Kittel an! Das ist kein Hippie – das ist ein Scheiß-Ami, das ist einer von den Ledernacken!«
Der Hochglanzpolierte, der noch etwas nach vorne trat, ließ die Finger knacken.
»Ja, stimmt, das ist einer von den Ledernacken – mit dunklen Stellen auf dem Kittel! Ja, das ist einer von den Ledernacken – degradiert und entlassen!«
Das Messer, das der Tätowierte plötzlich in der Hand hielt, sprang auf.
»Hippie oder Ledernacke – scheißegal! Der Kerl braucht eine Rasur! Und da wir sowieso zum Bartschneiden da sind, können wir auch mit ihm anfangen!«
Der Tätowierte wechselte einen Blick mit dem Hochglanzpolierten und beide setzten sie sich in Bewegung. Der Hochglanzpolierte, wie die anderen Vierschröter mehr als einen halben Kopf größer als Burdanowski und mindestens einen halben Zentner schwerer, schien sich auf seine schiere Muskelkraft zu verlassen. Leicht geduckt, die Arme angewinkelt und als erster am Gegner, wollte er sich den kleineren Mann wohl einfach greifen.
Der Hochglanzpolierte sah Burdanowski kurz lachen, nahm auch noch schattenartig die rückwärtige Drehung der Hüfte und des leicht aus der Senkrechten gekippten Oberkörpers des Gegners wahr, und dann, so hart wie genau, traf ihn auch schon Burdanowskis linke Ferse auf den völlig ungedeckten Solarplexus.
Burdanowski hielt sich nicht weiter auf. Kaum hatte er den Fußstoß nach hinten schnappend zurückgerissen und Hüfte und Oberkörper in Richtung des Tätowierten gedreht, beschrieb sein hinteres Bein auch schon eine kreisförmige Fußabwehr gegen die Messerhand.
Auch der Tätowierte, noch völlig verblüfft über das blitzschnelle Ausknocken des Hochglanzpolierten und jetzt auch noch ohne sein Messer, das ihm aus der Hand geflogen war, nahm eine rückwärtige Drehung von Hüfte und Oberkörper des Gegners wahr, versuchte sogar noch die Arme vor Brust und Bauch zu kreuzen – aber diesmal galt Burdanowskis Angriff nicht dem Nervenzentrum in Körpermitte, sondern über einen kreisförmigen Rückwärtsfußstoß ums vordere rechte Bein der linken Schläfe.
Burdanowski, von Links- in Rechtsauslage wechselnd, wandte sich dem verbliebenen Vierschröter zu. Der Seitengescheitelte, bisher mehr oder weniger untätig und zuletzt noch ungläubig auch auf den zweiten Mitstreiter am Boden starrend, stieß einen Wutschrei aus und dann, mit fliegenden Fäusten, lief er Sturm.
Burdanowski wich einem rechten Kopfhaken nach hinten aus, wehrte einen Leberhaken mit kurzem Hüftimpuls nach unten ab, ließ einen rechten Cross knapp am Kopf vorbei ins Leere sausen und dann, aus explosiver Beinstreckung und stärkstem Hüfteinsatz, krachte sein linker Gegenfauststoß über den Cross-Arm weg auf den rechten Kinnwinkel des Seitengescheitelten.
Der Letzte der Vierschröter pendelte gummiartig hin und her und schließlich fiel er um wie ein gefällter Baum.
Die meisten Biergartenbesucher waren von den Tischen aufgestanden und standen in weitem Halbkreis um den Ort des Geschehens. Ein stämmiger ›Sound-Stüberl‹-Bediensteter, wohl von der Kellnerin alarmiert, kam mit wehender Schürze im Eilschritt heran und sondierte die Lage.
Der Stämmige wechselte seinen zerschrammten Baseballschläger von der Rechten in die Linke, schürzte die Unterlippe und nickte Burdanowski anerkennend zu. Gemeinsam mit einem beherzten Biergartenbesucher packte er den Hochglanzpolierten, der sich japsend hochzustemmen versuchte, unter den Achseln und beförderte ihn, rückwärts, mit schleifenden Stiefelabsätzen, aus dem Garten durchs Tor auf die Straße.
Recht zügig kehrten die beiden zurück und schnappten sich den wankenden Seitengescheitelten, den Hunsinger und Claudine gerade mit viel Mühe auf die Beine gestellt hatten.
Hunsinger ging langsam rüber in Richtung des Tätowierten, dem es mittlerweile gelungen war, zu einem Tisch zu robben und sich dort mittels Stuhl und Tischkante mehr schlecht als recht in die Senkrechte zu befördern.
Hunsinger sammelte in aller Ruhe das Messer ein und dann die Wehrmachtsmütze, die der Tätowierte verloren hatte.
»Die Finger weg – lass bloß die Finger weg von mir, linke Sau!«
Der Tätowierte, nur mit Mühe auf die Tischkante gestützt, starrte hasserfüllt auf Hunsinger.
»Deine Revolution, linke Ratte, deine verdammte Revolution – die kriegst du noch, ja, die kriegst du noch von uns!«
Durch die Zähne pfeifend, marschierten der Stämmige und der Beherzte, die auch ihren zweiten Transport erfolgreich hinter sich gebracht hatten, an Hunsinger vorbei und packten den Tätowierten links und rechts an den Armen – doch der schaffte es, den rechten Arm loszureißen und Hunsinger mit der Faust zu drohen.
»Nein, Judenbart – mit dir sind wir noch nicht fertig! Deine Revolution, die kriegst du noch von uns – mit dem Strick kriegst du die, mit dem Strick um den Hals!«
Hunsinger ließ die Klinge zurückschnappen, versenkte das Messer des Tätowierten in der Tasche und dann brachte er die Wehrmachtsmütze in Form.
»Ja, ja, Kamerad, das Leben kann bisweilen ganz schön schwierig sein: Links bin ich nicht – und Revolutionär bin ich auch keiner.«
Der Stämmige und der Beherzte, den Tätowierten jetzt fest im Griff, hatten ihren Schleppdienst in Bewegung gesetzt und Hunsinger klatschte dem Vierschröter zum Abschied die Mütze auf den Kopf.
»Ja, ja, Kamerad, denn spätestens mit der dritten industriellen Revolution ist die politische ein für allemal ausgereizt. Keine Revolution steht mehr an, so gesehen, keine politische Emanzipation – nur noch eine menschliche!«
2
Burdanowski, der in den Hosentaschen nach Kleingeld kramte, ließ dem Uniformierten den Vortritt.
»Bevor die verdammte Spekulantenbrut unser schönes Deutschland ganz ruiniert – was, außer Mitmachen, bleibt da dem kleinen Mann denn übrig?«
Der Kuttenträger schien keine Antwort zu erwarten. Er pulte das Rausgeld aus dem Automaten, griff sich die Fanta-Flasche, die unten durchgefallen war, und dann eilte er durch die offene Tür zurück in den Aufenthaltsraum, in dem n-tv lief und jede Menge Kollegen lautstark die Börsennotierungen der Dax-Werte diskutierten.
Burdanowski, mittlerweile genügend Münzen in der Hand, trat zurück und machte den beiden dürren Lieferanten Platz, die immer noch mehr Kartons mit Computern, Monitoren und Druckern hereinschleppten, um sie an der gegenüberliegenden Wand des schmalen Flurs zu reihen und zu stapeln. Und dann ließ er einen dicken Polizisten vorbei, der – »Bahn frei, hier kommt der Nachschub!« – auf einem riesigen Tablett einen gewaltigen Berg dampfender Leberkäsbrötchen vor sich her trug und den sie im Aufenthaltsraum dann grölend empfingen.
Und fast hatte er es dann geschafft, den Automaten ausreichend mit Kohle zu füttern, da legte eine vertraute Bassstimme los:
»He, macht die Grenzen dicht – die Polacken kommen! Lech Burdanowski in seiner Schimanski-Jacke!«
Burdanowski steckte ein letztes 10-Cent-Stück in den Schlitz, drückte auf die Getränketaste seiner Wahl und dann drehte er sich um.
»He, Burdanowski – was macht die edle Kampfkunst?«
Ausgebeulte Mustang-Jeans zum pissgelben kurzärmeligen Hemd und die P6 im Dienstholster am Gewebegürtel weit nach vorne geschoben, schlug ein hünenhafter Hauptwachtmeister dem schmächtigen Kollegen, der neben ihm stand, kräftig ins Kreuz.
»Da, Gneitinger, da – das ist Burdanowski, Lech Burdanowski, ein Karateka, wie er im Buche steht! Vor zwanzig Jahren, da waren wir zusammen im Nationalkader! Und jede Menge Meistertitel hat der Kerl eingesackt, mehr als jeder andere!«
Freudig streckte der Hüne die Pranke aus.
»He, Burdanowski, was ist los? Suchst du Arbeit, viel Arbeit für wenig Geld? He, was ist los, willst du zurück zu uns, zu den Bullen, in den warmen Stall?«
Burdanowski versenkte das überflüssige Kleingeld in der Tasche und dann schüttelte er dem Hünen die Hand.
»Nein, nein, Ostermayer, beruhig dich, ich such keine brotlose Beschäftigung – und schon gar nicht in eurem Scheißladen hier.«
Ostermayers Linke winkte ab.
»Klar, Burdanowski, klar – schon klar! Ich hab ja noch besten Kontakt zu Dressner und Ladstätter und bin voll informiert!«
Ostermayer wandte sich zum Schmächtigen.
»Ja, ja, Gneitinger, sagen wir es mal so: Burdanowski hier, dem haben unsere sauberen Kollegen im schönen Rheinland nahegelegt, seinen Bullenjob an den Nagel zu hängen. Ja, und das hat er dann auch gemacht. Jetzt ist er freier Mitarbeiter bei der KALKBRENNER DETECTIVE GmbH. Die haben ihre Filialen mittlerweile im ganzen Bundesgebiet, von Flensburg bis Passau. Da kann er sich’s raussuchen, da bleibt er flexibel, da kommt er rum.«
Anerkennend nickte Ostermayer vor sich hin.
»Ja, und auch in Ladstätters SUPERPOWER-Fitnesscenterkette hat er ordentlich einen Fuß mit drin. Und kann dort, wann immer er Lust hat, den Sensai machen, für Selbstverteidiger und Freizeit-Karatekas.«
Erneut schlug Ostermayer dem Schmächtigen ins Kreuz.
»Ja, Gneitinger, fernöstliche Kurse, das wär doch auch was für uns, das könnten doch auch wir noch anbieten! Karate, das deck ich ab, das mach ich. Den Schreibkram, den erledigst du. Und dann besorgen wir uns noch eine Joga-Tante und eine, was weiß ich, für Tai-Chi!«
Mit Daumen und Zeigefinger befühlte Ostermayer Burdanowskis Jackenärmel.
»He, Burdanowski, und deine Jacke da, immer noch dieselbe? Seit zwanzig Jahren, was – seit zwanzig Jahren immer nur die eine Jacke?«
Ostermayers rechte Pranke legte sich auf die Schulter des Schmächtigen.
»Hier, Gneitinger und ich, was Jacken betrifft, da besorgen wir dir alles, was das Herz begehrt – und zum supergünstigen Freundschaftspreis: Allround-Jacken aus geräuscharmem Mikro-Oxford-Material, Goretex-Kombijacken mit auszippbarem Fleece-Wendeblouson, Jagdjacken aus G-1000 mit Hydratic -Membran!«
Ein silberhaariger Ziviler im Leinensakko, den prallen Leitz-Ordner unterm Arm, schob seitlich an ihnen vorbei.
»Ja, ja, der Herr Hauptwachtmeister – auch schon wieder beim Kunden-Dialog mit dem Bürger.«
Den Hünen fest im Blick, korrigierte der Silberhaarige den Sitz seiner randlosen Brille.
»Ostermayer – treiben Sie’s bloß nicht zu bunt! Wir sind hier eine Behörde, kein Basar – wir sind hier in Bayern, nicht bei den Kameltreibern!«
Der Blick des Silberhaarigen streifte den Schmächtigen.
»Und für Sie, Gneitinger, für Sie gilt dasselbe!«
Stramm marschierte der Silberhaarige den Flur runter, an den dürren Lieferanten vorbei, die seit geraumer Zeit abwechselnd in ein Handy schimpften.
»Siehst du Gneitinger, Burdanowski hier, Burdanowski an unserer Stelle, der hätte den verdammten Sesselfurzer schon längst aus dem Anzug gehauen. Burdanowski hier, der hat da nämlich überhaupt kein Problem. Reihenweise hat er die Klugscheißer und Dummschwätzer schon umgeschlagen, in Uniform und in Zivil, quer durch Rheinland-Pfalz, und bis rauf zum Kriminaldirektor.«
Ostermayers kantiges Kinn war noch kantiger geworden.
»He, Burdanowski, wie war das mit dem Mainzer Obermotz: Beim Betriebsausflug hast du den doch zum Baden geschickt, vom Ausflugskahn aus, volle Kanne in den Rhein?«
Burdanowski, der sich seine 0,33-Flasche Coca-Cola light gegriffen hatte, zuckte mit den Schultern.
»Den fünften Dan haben sie ihm auch nicht gegeben, weil er einen aus dem zuständigen Verleiherausschuss … na, Gneitinger, du errätst es nicht!« Ostermayers rechte Faust krachte in die offene Linke. »Oder, Burdanowski, hast du den Fünften mittlerweile?«
Wieder zuckte Burdanowski mit den Schultern, dann schüttelte er den Kopf.
»Ja, ja, Gneitinger, unserem Burdanowski da, dem geht so was doch am Arsch vorbei, unser Burdanowski da, der scheißt auf alle Hierarchie! Respekt, den kennt der nicht! Ja, und trotzdem hat er es dann bis zum vierten Dan geschafft! Und in unserem Verein hier sogar bis zum Kriminalhauptkommissar – bei den Mordermittlern!«
Seinen Ex-Kollegen aufmerksam betrachtend, schien sich Ostermayer langsam zu entspannen.
»Na ja, aber mittlerweile ist er ja auch schon ganz schön grau geworden. Und wenn man älter wird, dann kühlt sich das Mütchen. Und unser Burdanowski da, früher oder später findet auch er sich mit der Natur der Dinge ab, sieht ein, dass die Dinge nun mal so sind, wie sie sind, sieht ein, dass der Alltag eben der Alltag ist. Ja, früher oder später schminkt sich auch unser Burdanowski da seinen Idealismus ab, seinen schlagkräftigen, und sieht ein, dass sich, wie am Privatleben der Bürger, auch in einer Behörde im Grunde so wenig ändern lässt wie an irgendeinem naturgesetzlichen Geschehen.«
Ostermayer grinste breit.
»Ja, und so eine Behörde, die ist ja auch nicht das Schlechteste, man hat einen gewissen Pensionsanspruch im Rücken und man kann in Ruhe seinem Nebenerwerb nachgehen – und so bisweilen dem einen oder anderen zu einer preiswerten neuen Jacke verhelfen!«
Ostermayer schüttelte den Kopf.
»Wirklich, Gneitinger, seit ich ihn kenne, läuft er mit dieser Jacke rum!«
Burdanowski schaute an seiner Jacke runter.
»Scheiße, Ostermayer, ich hab einen ganzen Schrank voll mit diesen Jacken. Diese Jacken, das sind ausrangierte Jacken von meinem Alten. Sie sind praktisch – sie sind nicht kaputt zu kriegen und man kann damit alles machen, was man will.«
Burdanowski hob den Blick.
»Aber, Ostermayer, ich bin nicht hier, um über verdammte Jacken zu quatschen.« Burdanowski schraubte seine Cola-Flasche auf. »Ich bin freizeitmäßig hier, zum einen, urlaubsmäßig, um ein paar längere Touren zu machen, in euren weißblauen Postkartenbergen hier.« Burdanowski nippte am kalten Getränk. »Ja, und dann, zum anderen, bin ich hier, um einer alten Bekannten – Claudine, Claudine Heikenstedt, wenn euch das was sagt – ein bisschen bei der Suche nach einem Katzenkiller zu helfen, einem Arschloch, das Katzen den Hals aufschlitzt und sie dann Herrchen vor die Haustür wirft.«
Ostermayer breitete die Arme aus.
»Es ist raus, jetzt ist’s raus – einen Katzenkiller sucht er, Gneitinger, einen Katzenkiller – oder vielleicht eine ganze Bande? Und für Dietmar Heikenstedts kleines Töchterchen, ja, für Dietmar Heikenstedts scharfes kleines Töchterchen!«
Ostermayer stützte beide Pranken in die Hüften.
»Klar, Burdanowski, klar, und jetzt willst du von uns wissen, ob’s hier Fälle ähnlicher Art gab, in letzter Zeit, ob hier Tierquäler gesucht oder bekannt sind, Tierquäler, Tierschänder und so! Klar, und auch Infos über Herrchen – und das heißt ja wohl: über Heikenstedt, über Papi Heikenstedt – kannst du gut gebrauchen!«
Schwer legte sich Ostermayers Linke auf die Schulter des Ex-Kollegen.
»Burdanowski, du hast Glück, du hast einfach Glück! Und nicht nur, wie’s der liebe Zufall so will, weil du mich hier triffst!« Ostermayers Rechte deutete auf den Schmächtigen. »Hier, Gneitinger, unser alter Ermittlungsdienstler, was kleine Kriminalität anbelangt, die ist sein Steckenpferd, die hat er drauf, da schiebt er den vollen Durchblick!«
Der Schmächtige schien einen Moment zu überlegen, dann schüttelte er den Kopf.
»Nix, nix liegt vor, nix, gar nix!«
Geheimnisvoll winkend war Ostermayer in die Tür zum Aufenthaltsraum getreten. Erst an zwei hübschen Beamtinnen vorbei und dann durchs Börsen-Gedränge unter der von der Decke hängenden Glotze hindurch erreichten sie nacheinander einen langen Tisch, auf dem sich zwischen Flaschen, Bechern und dem Tablett mit ein paar restlichen Brötchen jede Menge Zeitungen und Zeitschriften stapelten.
Neben einem mampfenden Pickelgesicht in Uniform beugte sich Ostermayer über den Tisch, schob einen bunten Stapel Zeitschriften zur Seite, zog einen anderen heran und schlug mit der flachen Hand oben drauf.
»Da, hier, Burdanowski – das sind Mückenburgs ausrangierte Tittenhefte. Wenn sie Mückenburg langweilig werden, dann stiftet er sie der Gemeinschaft.«
Eine Zeitschrift nach der anderen kurz durchsehend, begann Ostermayer den Stapel über den Tisch zu verteilen.
»Ja, scheiß aufs Internet – bei so einem schönen altmodischen Tittenheft, da hat man doch gleich noch was in der Hand!«
Endlich schien er gefunden zu haben, was er suchte.
»So, und da, Burdanowski, jetzt kommt’s, hier – Überraschung, Burdanowski, Überraschung: deine kleine Heikenstedt – und in voller Schönheit!«
Ostermayer hielt ein aufgeschlagenes Heft in die Höhe.
»Na, Burdanowski, was sagst du jetzt? Das ist sie doch, deine hübsche Bekannte, das ist sie doch?«
Burdanowski griff sich das Heft. Seine Cola-Flasche zwischen zwei Fingern, begann er zu blättern. Claudine, Claudine nur mit Mütze und Schal – und auch ohne.
»Sie will von ihrem Alten kein Geld. Und von ihrer Alten auch nicht. Und ohne Nebenerwerb kommt ja, wie’s scheint, auch von euch beiden hier keiner mehr über die Runden.«
Ostermayer langte sich ein Leberkäsbrötchen vom Tablett und dann schaute er Burdanowski über die Schulter.
»Na ja, Mückenburgs Wichsvorlagen da, die sind nicht ganz der Playboy; aber wenn man dein Grünen-Töchterchen so anschaut – für den Playboy müsste es doch locker reichen!«
Sein aufgeklapptes Brötchen begutachtend, stieß Ostermayer den kleineren Ex-Kollegen mit dem Ellbogen an.
»Und, Burdanowski, wo hast du dein Playmate kennen gelernt, dein zukünftiges? In München – auf der Erotikmesse?«
Ungerührt blätterte Burdanowski im Heft.
»In den Staaten, in den Staaten hab ich sie kennen gelernt. Zwei Jahre her. Hab mal wieder bei meinem Alten vorbeigeschaut, in New Mexico, auf seiner Ranch, und in der Nähe der Tesuque Pueblos, da hab ich sie dann getroffen.«
Ostermayer, mit voller Kraft in sein Brötchen beißend, wandte sich an den Schmächtigen.
»Siehst du, Gneitinger, unser Burdanowski da – sein Alter, der war hier Besatzungskraft! Ja, unser Burdanowski da, der ist ein halber Ami! Und den Viehtreiber in Dodge City, den muss er nicht groß spielen, den hat er einfach drauf!«
Ostermayers Pranke mit dem Brötchen winkte ab.
»Aber, Gneitinger, keine Angst: Viehtreiber hin, Viehtreiber her, unser Burdanowski da, der geht uns in keine Prärie verloren – schließlich ist er doch auch ein halber Deutscher! Und seine kulturelle Identität als Deutscher, tief und echt, wie sie nun mal ist, die setzt sich immer wieder durch und bringt ihn zurück zu uns, zurück ins Land der Dichter und Denker!«
Der picklige Jungbulle, der mittlerweile auf dem Tischrand saß, klaubte sich die Gurkenscheibe, die ihm gerade aus dem Brötchen gefallen war, von der Hose.
»Ja, Kultur, Kultur und Identität – so was gibt’s doch bei den verdammten Kaugummifressern gar nicht! Ja, denn Kultur, wahre Kultur und Identität – die kann man nicht nachmachen und die kann man sich auch nicht kaufen!«
Sorgfältig legte der Pickelgesichtige die Gurkenscheibe zurück ins Brötchen. Burdanowski schloss das Tittenheft.
»Jetzt pass mal auf, Gurkenmann, und auch du, Ostermayer: Mit dem National-Scheiß, wie auch immer, hab ich schon zu Kader-Zeiten nichts anfangen können. Noch nie wollte es mir in den Kopf, dass es bei Leuten mit gleichem Pass über die formale Staatszugehörigkeit hinaus großartige Gemeinsamkeiten geben sollte, die sie dann grundlegend von Leuten mit anderen Pässen unterscheiden.«
Burdanowski schaute von einem zum anderen.
»Was unterscheidet ein paar Deutsche radikal vom Rest der Welt? Ihre verschiedenen Mundarten, ihr gemeinsamer hochsprachlicher Bezug? Dass sie miteinander Scheiße reden können, ohne dafür eine Fremdsprache lernen zu müssen?«
Burdanowski machte einen Schritt rüber zum Tisch.
»Und was meine oder eure Identität betrifft: Ich kann mühelos ich sagen oder meinen Namen nennen und bin zudem in der Lage, meinen Pass vorzuzeigen, normalerweise; und ich kann einem, der euch nicht kennt, genau sagen, wer von euch Ostermayer und wer der Gurkenmann ist.«
Burdanowski warf das Tittenheft zu den anderen.
»Ja, und wenn ihr mit eurem Identitäts-Geschwätz meint, dass sich für denkende Menschen beim Handeln, das ansteht, immer wieder die Frage stellt, wer sie sind und wer sie sein wollen: Was mich betrifft, ich drücke mich hier nicht vor selbstständigem Überlegen und Entscheiden – indem ich mich auf eine wie auch immer geartete ›Kultur‹berufe, auf einen überkommenen Hintergrund von, was weiß ich, Rechten, Traditionen, Religionen, der dann ums Verrecken nicht mehr zur Diskussion stehen soll.«
Ostermayers Brötchenhand hatte sich erhoben.
»Na, na, Burdanowski, nicht übertreiben – selbst die Linksradikalen haben ihre ›nationalen Befreiungsbewegungen‹ in der Dritten Welt abgefeiert. Und nicht etwa nur die SPD, nein, auch die Grünen besinnen sich mittlerweile auf unsere kulturelle Identität, auf unsere deutsche Kultur!«
Ostermayers Hand mit dem Brötchen senkte sich.
»Nützen, nützen tut’s freilich nichts – die Arbeitslosigkeit in unserem schönen Vaterland, die legt nach wie vor zu; und auch die Messebau-, nein: die Messesystembaufirma, an der dein sauberer Heikenstedt beteiligt ist, die schrubbt, wie man so hört, regelmäßig an der Insolvenz vorbei!«
Nachdenklich nickte Ostermayer vor sich hin.
»Ja, ja, die Grünen – die haben ihr alternatives Maul bei uns hier schon immer weiter aufgerissen als sonst wo in Bayern! Und Heikenstedt immer ganz vorne auf der Bühne! Und wie sie ihn schließlich abgesägt haben, seine Parteifreunde, da war das dann Stadtgespräch, ja, wochenlang war das Stadtgespräch!«
Ein Schmerzensschrei schrillte durch den Flur, ein weiterer folgte und dann – wie sie durchs Börsen-Gedränge unter der Glotze erkennen konnten – stolperte und stürzte ein mit Handschellen Gefesselter draußen an der Tür vorbei.
Nach einer kurzen Pause trat eine untersetzte Gewichtheber-Gestalt in den Türrahmen, rotblond, breitbeinig und mit einem enormen Schnauzbart bestückt.
Lässig zeigte der rechte Daumen des Rotblonden über die gesteppte Schießschulter seines schilffarbenen Safari-Anzugs weg auf die gereihten und gestapelten Kartons.
»Ah, Leute, tatsächlich, der Fortschritt – der Fortschritt zieht endlich ein, auch bei uns!«
Zurück in den Flur tretend, gab der Rotblonde die Tür frei, durch die jetzt, kräftig in den Rücken gestoßen, ein weiterer Gefesselter in den Aufenthaltsraum stolperte.
Im Türrahmen erschien ein zweiter Safari-Mann, hellblond diesmal, aber sonst ganz und gar der Doppelgänger des ersten.
»Ja, Leute, bevor wir die beiden Ratten da richtig versorgen, haben wir uns gedacht, da müssen wir doch erst mal die überfällige neue Hardware in Augenschein nehmen!«